Das Geheimnis unter der Rose - Matthias W. Seidel - E-Book

Das Geheimnis unter der Rose E-Book

Matthias W. Seidel

4,7

Beschreibung

Christina lebt bei ihrem Vater, Sebastian bei seiner Mutter. Beide haben so ihre Schwierigkeiten. Während Sebastian sich mit Mathe herumschlägt, fühlt sich Christina in ihrem Liebeskummer sehr allein. Deshalb setzt sie sich an den PC ihres Vaters, um sich alle Sorgen und Nöte von der Seele zu schreiben. Sebastian und sein Freund Kevin bekommen die Nachricht in die Hand und machen sich gemeinsam auf die Suche nach der Absenderin. Damit beginnt ein Abenteuer, mit dessen weiterem Verlauf niemand gerechnet hat. Sebastians erste Liebe kommt unverhofft, und plötzlich ist nichts mehr wie zuvor... Das Geheimnis unter der Rose ist eine spannende Geschichte über Liebe und Freundschaft für Jugendliche und jung gebliebene Erwachsene. (ab 12 Jahren)

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Für Marian, der die Welt neu entdeckt!

Inhaltsverzeichnis

EIN FREITAG WIE DER XIII.

DIE BOTSCHAFT

DIE ERZWUNGENE BEGEGNUNG

EINE UNAUSGESPROCHENE ABMACHUNG

DIE ERSTEN LEKTIONEN

RENDEZVOUS?

DAS GEHEIMNIS

SCHATTEN DER VERGANGENHEIT

SCHWEIGEN IST GOLD?

VERBORGENE KRÄFTE

UNTER DER ROSE

EIN FREITAG WIE DER XIII.

E s war ein schwülwarmer 21. Juni, ein Sommeranfang eben, wie man ihn allerhöchstens im Freibad genießen konnte. Stattdessen saß Christina zusammengesunken auf dem Beifahrersitz und verfolgte gelangweilt die wechselnden Autosilhouetten im Außenspiegel des Wagens, den sie sich extra, zum Leidwesen ihrer Mutter, passend eingestellt hatte. Spannung lag in der Luft, und daran war gewiss nicht nur das Wetter oder der verdrehte Spiegel schuld.

»Kannst du nicht schneller fahren?«, fragte Christina in einem Ton, der ihre Unzufriedenheit deutlich zum Ausdruck brachte.

»Willst du nach Hause oder ins Krankenhaus?«, schallte es von der anderen Seite ebenso gereizt zurück. Der Motor heulte auf, und die Schaltung meldete sich lautstark zu Wort.

»Meinst du nicht auch, du solltest dir vielleicht doch einmal einen neueren Wagen zulegen?«, fragte Christina so spöttisch, dass es ihrer Mutter unwillkürlich die Mundwinkel verzog.

»Wenn dein Vater mehr Unterhalt bezahlen würde, wäre das kein Problem«, antwortete sie barsch. Dann bog sie in die nächste Seitenstraße ein und stoppte wenig später vor einer Garageneinfahrt, ohne einen einzigen Blick auf das dahinter liegende Haus mit dem großen Mansardenfester zu werfen.

Christina beugte sich nach vorne, zog den braunen Lederrucksack aus dem Fußraum und öffnete rasch die Beifahrertür. Mit einem Satz war sie am Gartentor angelangt.

»Und überleg dir die Sache noch einmal!«, rief ihr die Mutter hinterher: »Wenn du dich entschieden hast, ruf mich kurz an, ja? Ansonsten bis Mittwoch, okay?«

»Ja, ciao«, antwortete Christina, ohne sich nochmals umzuwenden. Sie ließ das Gartentor hart ins Schloss fallen und stolzierte an blühenden Büschen und Sträuchern vorbei. Den säuberlich gemähten Rasen, für den ihr Vater extra einen Gartenservice beauftragt hatte, würdigte sie keines Blickes.

An der Haustür kramte sie in ihren Hosentaschen nach dem Schlüsselbund, während der Wagen ihrer Mutter auf der Straße wendete und sich mit einem heiseren Hupkonzert entfernte. Im Windfang zog Christina die Schuhe aus, stellte sie neben die Porzellanvase, die als Schirmständer benutzt wurde, und kontrollierte im Spiegel der Garderobe den Zustand ihrer Frisur. Unter der schwarzbraunen Mähne funkelten ihr zwei kastanienfarbene Augen entgegen, die sich zu Schlitzen verengt hatten. Ihr Gesicht wirkte angespannt – irgendwie erwachsen. Sie durchquerte den Flur und bog in die Küche ein, wo sie ihren Rucksack neben den Müllsortierer warf und sogleich mit einem gekonnten Fußtritt in die nächstbeste Ecke beförderte.

»Chrissi, bist du’s?«, hallte es ihr von oben entgegen.

»Nein, der Weihnachtsmann!«, rief sie zurück, während sie aus dem Kühlschrank eine Cola nahm. Sie öffnete die Dose und sog die schwarze, prickelnde Flüssigkeit genüsslich ein.

»Chrissi?«, meldete sich abermals die Stimme.

Das Mädchen stellte die halbleere Dose auf der Arbeitsfläche neben dem Spülbecken ab und verließ die Küche.

Im Dachgeschoss gab es einen großen, lichtdurchfluteten Raum, den ihr Vater als Büro nutzte. Als Christina lustlos die Treppe erklommen hatte und ins Zimmer blickte, saß er wie immer an seinem Computer. Sicher gab er Daten für irgendwelche Häuser ein, die er mit einer Leichtigkeit entwarf, als ginge es nur darum, die kleinen Pappmodelle zu bauen, die überall im Raum verteilt waren.

»Ich hab deiner Mutter bestimmt schon hundertmal gesagt, sie soll die verdammte Huperei lassen«, monierte ihr Vater, während er auf die leere Straße hinunterstarrte. Dann drehte er sich in dem schwarzen Ledersessel zur Tür. »Hi, Schatz!« Er stand auf, drückte seiner Tochter im Vorbeigehen einen flüchtigen Schmatz auf die Stirn und verließ den Raum.

»Hi, Dad«, antwortete Christina und wischte sich schnell mit dem Handrücken über das Gesicht. »Wahrscheinlich musst du es ihr auch noch hunderteinmal sagen«, fügte sie hinzu.

»Was meinst du, Schatz?«

»Ach, nichts«, entgegnete Christina und machte sich auf den Rückweg zur Küche.

»Und vergiss nicht, ich bin heute Abend bei Eberts eingeladen. Mach dir keine Sorgen, wenn es später wird. Falls etwas sein sollte, ruf mich an. Die Nummer liegt auf deinem Schreibtisch.«

»Schon klar, ich kann sie inzwischen auswendig!«, rief sie ihm hinterher. Sie trank in einem Zug den Rest der Cola aus und trottete in ihr Zimmer hinüber, wo sie sich sogleich aufs Bett fallen ließ. Christina hasste Tage, an denen sie nicht wusste, was sie tun sollte, an denen jeder etwas von ihr wollte und sie es augenscheinlich keinem recht machen konnte. Was erwarteten eigentlich alle von ihr? Dass sie mit dreizehn Jahren ein selbständiges Leben führte? Oder hatte sie noch immer das kleine Mädchen zu mimen?

Sie hasste Tage, an denen sie Entscheidungen überdenken sollte, die für sie ohnehin feststanden. Willst du nicht mit nach Spanien fahren?, hatte ihre Mutter gefragt. Zwei Wochen Costa Brava. Jürgen würde sich freuen, wenn du dabei wärst. Jürgen? Igitt! Er sah sie immer so komisch an. Und ständig diese blöden Antiwitze. Was um alles in der Welt fand ihre Mutter an diesem Mann? Ohne Frage hatte auch Vater schlechte Angewohnheiten, aber im Vergleich schnitt er tausendmal besser ab als dieser Typ, der nicht einmal wusste, dass Brahms Komponist und Pianist gewesen war, nicht Freiheitskämpfer.

Und überhaupt: Was hatte sich vor knapp eineinhalb Jahren eigentlich nicht geändert, als ihre Mutter von zu Hause ausgezogen war, angeblich, weil sie für einige Zeit ihren Vater rund um die Uhr pflegen musste? Gewiss, Opa hatte damals einen Autounfall gehabt, aber erstens war dieser äußerst glimpflich verlaufen, und zweitens wäre Oma sehr wohl imstande gewesen, ihren Mann selbst zu pflegen. Schließlich war ihre Mutter eines Tages damit herausgerückt, dass sie sich eine Zweizimmerwohnung am anderen Ende der Stadt genommen habe, in der zu allem Überfluss der Antimann Jürgen tagtäglich ein und aus ging.

Sicherlich gaben sich alle sehr viel Mühe mit Christina. Mutter kochte an den Tagen, die sie bei ihr verbringen durfte, ausnahmslos deren Leibgerichte. Sie löste mit ihr knifflige Schularbeiten und unternahm lustige Tagesausflüge. Mutter konnte man zur Not auch kleinere Geheimnisse anvertrauen. Vater dagegen hatte nie viel Zeit für sie übrig gehabt. Meistens fand man ihn auf irgendwelchen Bauplätzen, und wenn er mal daheim war, vergrub er sich im Büro hinter Bergen von Dringlichkeiten. Dafür bezahlte er seiner Tochter freiwillig jede Reit- und Klavierstunde. Auch die Großeltern bedachten sie bei jeder Gelegenheit mit Aufmerksamkeiten und versuchten sich an Geburtstagen und Weihnachten gegenseitig zu überbieten.

Es war eben alles so, wie es war, daran konnte im Nachhinein nichts mehr geändert werden. Wie so oft hob Christina den Kopf und starrte verträumt auf die Fotos an der Wand über ihrem Bett. Da hingen sie, all die Erinnerungen an längst vergangene Tage: Mom und Dad bei der allerersten Ausfahrt mit ihrem Töchterchen im knallblauen Kinderwagen … Christina mit der Zuckertüte unter dem Arm und Dad, der gerade Naschereien aus der Tüte stibitzt … Urlaubsfotos aus Spanien, Kreta und so weiter … Ihre kleine Sammlung schöner unbedarfter Stunden. Hatten sie wirklich jemals stattgefunden?

*

»Seiferts haben ein neues Auto. Hast du das gewusst? Ist natürlich geleast, was sonst? Die haben ja nicht mal Geld, um ihren Kindern vernünftige Kleidung zu kaufen. Na ja, es geht mich eigentlich nichts an …« Sebastians Mutter stand, in eine blaukarierte Schürze verpackt, am Spültisch und schälte mit wahrer Hingabe Kartoffeln. Diese waren für einen Auflauf gedacht, den der Junge morgen Mittag aufwärmen sollte, da sie an Samstagen immer erst später vom Supermarkt zurückkehrte. Während solcher und ähnlicher Küchenarbeiten liebte sie es, den Klatsch des Tages zu erzählen. Wenn er gerade anwesend war, musste sich Sebastian den monotonen Singsang gefallen lassen, denn es konnte im Handumdrehen unglaublichen Ärger geben, wenn er gegen ihre Lieblingsbeschäftigung auch nur die geringsten Einwände vorbrachte.

So saß er am Küchentisch und blätterte geistesabwesend in der Programmzeitschrift. Er verstand es, das Gerede seiner Mutter auszublenden, wann immer er wollte. Er hörte einfach nicht hin, sondern war weit weg in einer Welt aus selbst erfundenen Klängen, aus Melodien, die in seiner Fantasie immer neue Formen und Gestalten annahmen, denn was interessierte ihn schon der dumme Klatsch aus der Nachbarschaft.

Etwas schwieriger war das bei seiner dreijährigen Schwester. Wahrscheinlich lag es daran, dass die Geräusche, die sie von sich gab, eben nicht die nötige Gleichmäßigkeit besaßen. Obendrein zog der kleine Quälgeist gern die Aufmerksamkeit auf sich, indem er irgendwelche Sachen durch den Raum warf. Nicht selten bekamen ihre Püppchen Flügel und segelten wie flügge gewordene Vogeljunge durchs Zimmer. Momentan saß Marina unter dem Tisch auf dem Fußboden und malte voller Inbrunst mit Wachsmalkreiden bunte Kreise auf Papier und PVC-Belag. Sebastian hatte seine Füße in Sicherheit gebracht, weil sonst auch sie eine neue Farbgebung erhalten hätten.

»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?« Die veränderte Stimmlage machte ihm die Anwesenheit seiner Mutter bewusst.

»Wieso? Heute ist Freitag. Ich hab das ganze Wochenende Zeit dafür.«

»Du weißt genau, was Herr Heinz gesagt hat. Wenn er dich noch einmal frühmorgens beim Abschreiben erwischt, ist ein verschärfter Verweis fällig.«

»Ich weiß«, keuchte Sebastian und verscheuchte den Gedanken an den bevorstehenden Montag.

»Das Wissen allein hilft dir auch nicht weiter«, stellte seine Mutter fest. »Du solltest dich lieber am Riemen reißen. Was glaubst du eigentlich, warum wir dich damals auf die Realschule haben gehen lassen? Bestimmt nicht, damit du dich dort ausruhen kannst!«

»Ich weiß.«

Schweineheinz, wie ihn alle nannten, die das zweifelhafte Vergnügen hatten, ihn näher kennenzulernen, war auf der Unbeliebtheitsskala der Lehrer seit Jahren mit Abstand die Nummer eins. Er war ein Pauker der alten Schule, wie er selbst nicht müde wurde zu verdeutlichen. Diese Einstellung gefährdete nicht nur den schulischen Frieden, sondern für Sebastian auch die Erreichung des Klassenziels. Er wusste nicht, was geschehen würde, sollte er tatsächlich die neunte Jahrgangsstufe wiederholen müssen. Ebenso war ihm aber bis gestern absolut nicht eingefallen, wie er das drohende Unheil abwenden konnte. Mathe und Physik konstant fünf war eine steinharte Nuss, die es erst einmal zu knacken galt.

»Was ist nun mit den Hausaufgaben?«, hakte seine Mutter abermals unerbittlich nach.

»Nichts, Mama, ich mach sie morgen«, antwortete Sebastian genervt. »Da ich bis mittags Babysitter spielen muss, ist der Tag ohnehin versaut.«

»Mit sechzehn hatte ich bereits zwei Jahre in der Hutfabrik gearbeitet – Akkord, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Fünfzehn.«

»Was?«

»Ich bin fünfzehn!« Er stand auf, schnappte sich im Vorbeigehen aus der Schale auf dem Fensterbrett einen Schokoriegel und verließ die Küche.

In dem engen Flur, der durch die Milchglasscheibe der Badezimmertür spärlich beleuchtet wurde, tastete er auf dem Schuhschränkchen nach seiner Baseballmütze, spannte sie sich gekonnt lässig über den Kopf und öffnete die Wohnungstür.

Im Treppenhaus parkte sein Skateboard an der ehemals grasgrünen, jetzt weiß verspachtelten und verschmierten Wand. Bei meinem Vater hätte es das nicht gegeben, dachte er jedes Mal, wenn er die unfachmännisch ausgebesserte Wand betrachtete. Vor drei Jahren, an einem Dienstag, den er seit damals in tausend Varianten wieder und wieder durchlebt hatte und sein Lebtag nicht vergessen würde, war sein Vater bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. Seit dieser Zeit hatte die Hausverwaltung vergeblich nach einem guten Hausmeister Ausschau gehalten. Aber so leicht war er eben nicht zu ersetzen, sein Vater, von dem ihm nur einige wenige Bilder und viele kleine Erinnerungen geblieben waren, die er wie einen Schatz hütete, immer in der Angst, ihrer beraubt zu werden. Mit einem geräuschvollen Kick schnellte das Skateboard nach oben und landete zielsicher unter seinem linken Arm.

»Sebastian!« Seine Mutter riss die Tür auf. »Wie oft muss ich dir eigentlich sagen, dass du im Treppenhaus keinen Lärm machen sollst? Frau Klement hat sich erst kürzlich wieder bei mir beschwert.«

Frau Klement, pah! Eine unausstehliche, fette alte Jungfer, die an allem rumzumeckern hatte, die Kinder, Lärm und Männer hasste. Ohne sich umzusehen lief Sebastian die drei Stockwerke abwärts und trat durch die offen stehende Haustür ins Freie.

Schwül und drückend empfing ihn dieser erste Sommernachmittag. Sebastian sog die warme Luft in seine Lungen. Er befreite die Schokolade aus der Verpackung, schob sich den Riegel, der in seiner Hand schon weich geworden war, in den Mund, schnippte das Papier zwischen die Reihe Mülleimer und wischte sich die Finger an seinem dunkelblauen T-Shirt ab. Anschließend ließ er das Skateboard zu Boden gleiten, hüpfte auf das Brett, rumpelte über die Bordsteinkante und glitt die Straße hinunter. Er brauchte jetzt Zeit und Ruhe, um seinen Plan Schritt für Schritt zu überdenken.

*

Die Tür zu Christinas Zimmer wurde geöffnet. »Chrissi! Ich geh jetzt. Und wie gesagt, wenn etwas sein sollte, ruf mich an.«

»Klar doch«, entfuhr es ihr schlaftrunken.

»Brauchst du Geld?«

»Nein.«

»Dann bis später. Übrigens, am Wochenende fahre ich mit Susanne und Katja nach Frankfurt zu Susannes Eltern. Wäre nett, wenn du mitkommen würdest!«

Noch ehe sie sich umdrehen, hochrappeln oder gar antworten konnte, war die Tür geschlossen worden. So schleppte sie sich ans Fenster und beobachtete, wie ihr Vater mit einem Bündel Unterlagen unter dem Arm hektisch die Garage betrat. Wenig später verließ sein roter Kombi das Grundstück.

Susanne und Katja, die neue Flamme ihres Vaters samt Tochter, waren etwas, wozu sie bisher geschwiegen hatte. Nicht weil sie es wohlwollend hinnahm oder gar glücklich darüber war, dass ihr Vater nicht mit ihr allein leben mochte. Susanne war drauf und dran, den Platz ihrer Mutter einzunehmen (zumindest in den Punkten, die Christina schon früher missfallen hatten), und drängte sich zwischen sie und ihren Vater wie ein spitzer Keil. Katja war ein lästiges Anhängsel, aber mit ihr konnte sie sich arrangieren. Schlimm, wirklich schlimm war die Tatsache, dass die beiden so viel von der kostbaren Zeit stahlen, die ihr Dad sonst für sie und ihr Leben reserviert hatte. Seit Monaten kannte sie ihn nur mehr vom Kommen und Gehen, vom Arbeiten und Keine-Zeit-haben. Gänzlich unbekannt war er ihr als treu sorgender Vater geworden, als Kumpel und Freund, mit dem man durch dick und dünn gehen konnte und den man bei Schwierigkeiten um Rat bat, ohne eine Moralpredigt erwarten zu müssen. Scheinbar vergötterte er die beiden Tussis, die Hektik und den Stress der Arbeit, in dem er gefangen war wie ein Hering im Schleppnetz eines Fischkutters. Das war doch pervers, oder?

Christina rannte zur Zimmertür hinaus. Wenig später kam sie mit dem Telefon in der Hand zurück und ließ sich bäuchlings auf das Bett fallen. Sie tippte auf die Nummer sieben der Festspeichertasten und presste die Muschel an ihr Ohr. Ungeduldig erwartete sie das erste Klingelzeichen, während ihr Zeigefinger aus ihren Haaren Zöpfe zu drehen versuchte.

»Hier ist Chrissi. Ist Tanja zu Hause? – Danke.« Sie löste den Finger aus ihrem Haar, stemmte sich hoch und ließ sich im Schneidersitz nieder. »Hi! Was machst du gerade?«, sprudelte es aus ihr hervor. »Prima. Ich bin gleich da, ciao!« Sie sprang vom Bett auf, warf das Telefon zwischen die Kissen und kramte in ihrem Kleiderschrank herum.

Es waren kaum drei Minuten vergangen, da zog sie die Haustür hinter sich ins Schloss. Nachdem sie ihr Mountainbike aus der Garage geschoben hatte, ließ sie das Tor herunterfahren und schwang sich auf den Drahtesel. Die drei Kilometer bis zum See waren für Christina ein Kinderspiel. Weil Tanja ohnehin den weiteren Weg hatte, konnte sie sich eigentlich Zeit lassen. Aber sie tat es nicht, sondern trat wie eine Wilde in die Pedale. Mit etwas Glück würde Michael auch dort sein.

*

Die Schwüle des Nachmittags begann sich zu verflüchtigen, und ein leichter Westwind sorgte für Abkühlung. Die Straßen waren nahezu leer gefegt. Wer sich nicht bereits im Freibad oder am See räkelte, hatte es sich bestimmt auf Balkon oder Terrasse bequem gemacht. Der große Zeiger der Uhr auf dem roten Ziegeldach rutschte auf die Zwölf, während der kleine starr auf der Sieben verharrte. Sebastian stand auf dem breiten, geteerten Weg zum Eingang seiner Schule. Er konnte die innere Anspannung nicht loswerden, die ihn von seinem Vorhaben abhalten wollte. Er holte tief Luft. Sein Plan war doch hieb- und stichfest, oder etwa nicht? Herr Schröder, der Hausmeister mit dem Corega-Tabs-Lächeln, saß jetzt vor dem Fernseher und sah sich die Nachrichten an, wie jeden Tag um diese Zeit. Der Parkplatz war leer, und nach einer halben Stunde war die Arbeit ohnehin erledigt. Niemand würde etwas mitbekommen.

Sebastian sprang über die niedrige Betonmauer und das angrenzende Chrysanthemenbeet. Er überquerte den Rasen in einer Hast, als würde er von einem Rudel hungriger Wölfe gejagt. Inmitten von unzähligen dicht beblätterten Stauden rang er geduckt nach Atem, alsdann kroch er den letzten Meter zur Hausmauer und an der Reihe niedriger Kellerfenster entlang. Er stoppte, wo einige Pfingstrosenbüsche besonders dicht beieinander standen. Der halb verborgene Fensterrahmen ließ sich mühelos nach innen aufdrücken. Vorsichtig kletterte er in den Raum hinunter und schloss auf Zehenspitzen das Fenster.

»Puh!«, keuchte er erleichtert, als er an einigen zerschrammten Werkbänken entlang zu der Tür lief, von der jeder wusste, dass sie nie verschlossen wurde. Weiter ging es durch das Treppenhaus hinauf in den dritten Stock. An der Tür der Rektorin und Englischlehrerin aunt reddish (wie man sie nannte, weil sie bei bestimmten Bemerkungen aus den Reihen der Schüler jedes Mal einen knallroten Kopf bekam) stoppte Sebastian, atmete abermals tief durch und drückte vorsichtig die Klinke nach unten.

»Verdammter Mist!«, entfuhr es ihm. Die Tür war verriegelt. Das sollte sie aber nicht sein, denn wozu sonst hatte er heute Vormittag im Pausengedränge das Schloss fein säuberlich mit schnell härtender Spachtelmasse bearbeitet?

»Schröder, du Idiot!«, schrie er durch das stille Treppenhaus. Er kannte den Hausmeister bisher nur als Feind von rasch zu erledigenden Arbeiten. Die Reparatur hätte Tage, wenn nicht Wochen in Anspruch nehmen sollen. Dass der Mann gerade heute von seiner Gewohnheit abgewichen war, stellte eine Katastrophe von nicht abzuschätzenden Ausmaßen dar. Wie sollte er jetzt an die Matheprüfungsfragen herankommen, die wie alle Schulaufgaben zwei Wochen vor dem Prüfungstermin irgendwo hinter dieser Tür auf die Schüler warteten und den Gang seines Schicksals entscheidend beeinflussen würden?

Es war zum Verzweifeln. Sebastian hielt sich noch immer an der Türklinke fest; seine feuchte Handfläche löste sich nur allmählich vom Griff. Vor seinem inneren Auge sah er Schweineheinz, der ihm über die schwarz geränderte Brille hinweg schadenfroh zulächelte. Er blickte Hilfe suchend nach oben. Da war ja ein kleines, rundes Fensterchen, das er nie zuvor bemerkt hatte! Er machte auf der Stelle kehrt und lief zur Tür am Ende des Ganges. Alle Gerätschaften der Putzfrauen befanden sich dahinter: Eimer, Lappen, Wischmops, Reinigungsmittel in großen Vorratsbehältern, blaue und grüne Müllsäcke, ein Abzieher für die Fenster, ein Berg Klopapier – und eine Leiter.

*

Christina bremste vor dem Haus ihres Vaters so abrupt ab, dass sie sich mit dem Fahrrad fast überschlagen hätte. Sie rumpelte über die Pflastersteine, wie sie es nur dann tat, wenn die Gefühle in ihr brodelten; wenn sie sicher war, den Tag nicht überstehen zu können. Achtlos lehnte sie ihr Rad an die Garagenwand, wo es nach wenigen Sekunden geradewegs in die Himbeersträucher schlitterte, die ihre Mutter kurz vor ihrem Auszug gepflanzt hatte. Dann lief sie zum Haus, sperrte die Tür auf und knallte sie mit einer Wucht zu, dass Mauerputz zu beiden Seiten der Einfassung herausrieselte. Schnurstracks lief sie in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett. Endlich hatte sie Gelegenheit, all den Tränen, die seit geraumer Zeit heraus wollten, freien Lauf zu lassen. Ein Meer von Salzwasser tränkte den blauen Bettbezug.

»Diese blöde Kuh! Was bildet die sich bloß ein? Kannst du mir das sagen? Kannst du mir sagen, warum gerade Tanja, meine beste Freundin, so etwas tun muss?«, brüllte sie den Teddy an, der unbeweglich zwischen den Kopfkissen saß und lauschte, wie früher, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Ob er sie wohl noch verstehen konnte?

»Hi, Micha, wie geht’s dir? Lange nicht gesehen. Gehst du mit ins Wasser? Oh, tut mir leid, ich habe euch wohl bei etwas äußerst Wichtigem gestört?«, äffte sie die Freundin nach. Ein verzweifeltes Lachen drang aus ihrer Kehle, und um ein Haar hätte sie sich verschluckt. Sie hustete schmerzhaft. »Ich … ich hätte dem Miststück die Augen auskratzen sollen!«, schrie sie und abermals wurde ihr Körper von einer Welle der Verzweiflung geschüttelt. Ihre Fäuste bearbeiteten abwechselnd die zerwühlte Bettdecke.

»Ich bin knallrot angelaufen, verstehst du?«, fuhr sie nach einer Weile zu dem Teddy gewandt fort. »Und er hat es bemerkt! Ich werde ihm nie wieder in die Augen sehen können. Es ist vorbei, ein für alle Mal.« Sie raffte sich mühsam auf und suchte schniefend im Nachttisch nach einem Papiertaschentuch. Sorgsam wischte sie sich die Tränen vom Gesicht. »Warum, zum Teufel, muss gerade bei mir immer alles schief gehen? Kannst du mir das sagen?« Sie sah dem Kuscheltier tief in die schwarzen Knopfaugen. Für einen Moment schien es ihr, als bewegte sich sein Mund, als wollte er sie trösten und bemitleiden. Christina legte ihr Ohr ganz dicht an seine weiche Schnauze und lauschte – aber es blieb still. Ihr Teddy antwortete nicht. Die Fähigkeit dazu hatte er längst verloren.

*

Sebastian hatte es geschafft, sich mithilfe der Leiter an das Fensterchen heranzuarbeiten. Leider erwartete ihn hier das nächste Problem. Das Fenster, gegen das er nun seine Nase presste, konnte nicht geöffnet werden; es war fest in den Rahmen eingepasst. Um in den Raum zu gelangen, hätte er die Scheibe einschlagen müssen. Derart verräterische Spuren durfte er jedoch keinesfalls hinterlassen, sonst würde am Montag aunt reddish in ihrer Funktion als Rektorin zusammen mit Herrn Schröder von Klassenzimmer zu Klassenzimmer ziehen, um den Täter zu überführen. Nur allzu gut konnte er sich an den Tumult im letzten Jahr erinnern, bei dem es um die Klärung einer ähnlich kriminellen Tat gegangen war.

Sebastian blickte nachdenklich in das Büro hinunter, auf den fein säuberlich geordneten Schreibtisch, auf die geschlossenen Aktenschränke und den gigantischen Gummibaum, der sich über dem Fenster entlang schlängelte, auf das mächtige Regal, in dem Hunderte von langweiligen Büchern ruhten, und schließlich auf den kleinen, aschgrauen Tresor direkt rechts im Eck hinter der Tür. Sebastian wäre jede Wette eingegangen, dass sich darin die begehrten Prüfungsfragen befanden. Er musste sich geschlagen geben.

Kraftlos glitt er von der Leiter herunter und schleppte sie in die Abstellkammer zurück. Er war erledigt. Wie sollte ihm jetzt die Vier in Mathe gelingen? Lustlos verließ er den Putzraum und schleifte mit der Schulter resigniert an der Wand entlang. Alles war vorbei; alles war endgültig schief gelaufen. Eigentlich hätte heute Freitag der Dreizehnte sein müssen. Sebastians Kopf war so leer wie der endlose Raum zwischen den Galaxien.

Weil er absolut nicht wusste, was er nun tun sollte, kontrollierte er die übrigen Türen im Stockwerk.

Die Tür zum Lehrerzimmer? Verschlossen.

Das Sekretariat? Verschlossen.

Der Konferenzraum? Verschlossen.