Nebula und die Kinder von Anderswo - Matthias W. Seidel - E-Book

Nebula und die Kinder von Anderswo E-Book

Matthias W. Seidel

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Beschreibung

Daniel und Leo hat das Schicksal zusammengeschweißt - die handgreiflichen Attacken ihres Mitschülers, Jack Nix. Die beiden werden von ihm regelmäßig vertrimmt. Selbst ihr geheimer Zufluchtsort, ein ausgedienter Wohnwagen im Garten von Leos Eltern, bleibt vor Übergriffen nicht verschont. An einem stürmischen Abend, an dem sich Opa Petersen zum Geschichtenerzählen eingefunden hat, geschieht das Unfassbare: Die Freunde geraten in eine seltsame Bücherwelt, die von den Kindern von Anderswo bevölkert wird. Die Suche nach dem Rückweg wird zu einer phantastischen Reise rund um die Welt: vom Dschungel Guatemalas bis in die Eiswüste der Antarktis, von der Südsee bis zum Baikalsees. Doch der gerissene Nebula hält das Geheimnis der Bücher unter Verschluss - und jede Menge Verfolger sind ihnen bereits dicht auf den Fersen... Nebula und die Kinder von Anderswo ist ein rasanter wie spannender Roman um Mut, Freundschaft und Intrigen, und nicht zuletzt über die Wunder unserer Erde.

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Für meinen Vater, der Seemann werden wollte!

Inhaltsverzeichnis

Leo & die Nichts-Checker

Opa Petersens Geschichte

Das Geheimnis des Buches

Eine Oase inmitten der Wüste

Nina & das steinerne Fernrohr

Und immer wieder Nebula

Leo & Daniel auf Extratour

Hin & zurück, rauf & runter

Leo & der 7. Kontinent

Die Kinder von Anderswo

Eine Reise um die Welt

Schlechte Vorzeichen

Leo in der Unterwelt

Wir sind nicht länger sicher

Auf Verfolgunsjagd

Asien oder die letzte Tat

Waffenstillstand

Eine Gerichtsversammlung

Das Wunder vom Baikalsee

Gefangen im Neutrinorausch

Die Entscheidung

Wer rettet Jack?

Helden

Die Rettungsaktion

Das Ende der Kinder von Anderswo

Ein neuer Anfang?

Leo & die Nichts-Checker

Daniel versuchte die Luft anzuhalten. Er war knallrot angelaufen. Verbissen presste er die Lippen aufeinander und hielt sich die Nase zu. Der Herzschlag pochte in seinen Ohren. Es war brütend heiß, eng, stockfinster und stank bestialisch nach einer Mischung aus verschimmelten Brotresten, faulender Wurst und gärendem Fruchtsaft. Zentimeter um Zentimeter versank er in der weichen Masse von Abfällen und wurde das Gefühl nicht los, dass sich, tief unter ihm, etwas bewegte – etwas Lebendiges, vom dem er gar nicht wissen wollte, was es war.

»Wir kriegen dich«, hatte Fabian am Ende der letzten Pause prophezeit. »Heute packen wir dich! Und dann gibt’s tüchtig was aufs Maul, wetten?«

Fabian war nicht besonders gut in der Schule. Er war auch nicht sonderlich schlau, aber einen Kopf größer als Daniel und mindestens doppelt so breit. Wer sich mit ihm anlegte, konnte sicher sein, den Kürzeren zu ziehen; wer ihn kannte, wusste, was es hieß, einen Feind zu haben. Und das nur wegen eines dummen Missverständnisses vor gut drei Monaten, als Daniel Teddy und Freddy beweisen wollte, was für ein toller Hecht er war.

In der Pause hatte er heimlich den Schulhof verlassen und war zum Parkplatz hinter der Schule geschlichen, wo die Autos der Lehrer, die Motorräder der Neuntklässler und die Fahrräder all derer standen, die nicht mit dem Bus oder von ihren Eltern zur Schule gebracht wurden. Auf eben eines dieser Fahrräder hatte Daniel es abgesehen. Es gehörte Leonhard, besser bekannt als Leo der Streber. Er war ein unauffälliger Junge, mittelgroß, mit braunen glatten Haaren und einer schmalen Nase. Er ließ bereitwillig Matheaufgaben abschreiben, hielt sich in den Pausen stets in Nähe der Aufsicht auf, rannte aber nicht bei jeder Kleinigkeit zum Lehrer, um zu petzen, nur weil jemand sein Pausenbrot geklaut oder Schmierereien in sein Heft gekritzelt hatte. Irgendwie sah er immer zufrieden aus, trotz allem, was er durchzustehen hatte. Leo ertrug sein Schicksal auf bemerkenswert lockere Art und Weise. Daniel wusste: was immer er anstellen sollte, Leo würde es hinnehmen, würde das Fahrrad ohne zu murren und ohne Aufruhr nach Hause schieben, und basta!

Als er vor dem Rad stand, das ihn Teddy und Freddy zuvor beschrieben hatten, wusste er zunächst nicht, was er eigentlich damit anstellen sollte. Er wollte es keinesfalls kaputtmachen, vielleicht nur umwerfen oder den Lenker verbiegen. Daniel war – das wurde ihm in solchen Augenblicken unumstößlich klar – doch nicht der ach so coole Typ, der fremder Leute Sachen mir nichts, dir nichts demolieren konnte. Etwas war plötzlich in ihm, und dieses Etwas rebellierte entschieden gegen sein Vorhaben.

Lange stand er unschlüssig da und starrte auf das Fahrrad, bis die Pausenglocke vom Schulhof herübertönte. Was um alles in der Welt wollte er Teddy und Freddy eigentlich beweisen? Ohne zu überlegen, ließ er die Luft aus beiden Reifen, schnappte sich die Ventile und warf sie kurzerhand ins Gebüsch zwischen den Parkplätzen. Anschließend rannte er zum Hinterausgang der Schule und mischte sich unbemerkt in den Strom der aus dem Schulhof zurückeilenden Kinder.

Alles war gut gegangen, zumindest dachte er dies für ein paar Stunden. Dennoch hatte Daniel ein schlechtes Gewissen. Sein unbändiger Gerechtigkeitssinn meldete sich zu Wort. Wut, nicht über die Tat eines anderen, sondern über sich selbst, keimte in ihm auf. Er war fast so weit gewesen, in der zweiten Pause hinauszurennen und die Ventile zwischen den Sträuchern zu suchen, nur um die Missetat ungeschehen zu machen.

Nach der Schule warteten Teddy, Freddy und er geduldig auf Leo, der immer einer der letzten war, die das Gebäude verließen. Es herrschte Uneinigkeit darüber, ob dies seiner Langsamkeit oder der Angst zuzuschreiben war, auf dem Heimweg verdroschen zu werden. An diesem Nachmittag jedoch tauchte Leo überhaupt nicht auf. (Wie Daniel erst im Nachhinein erfuhr, besaß er zu diesem Zeitpunkt kein fahrtüchtiges Zweirad, weil es ihm tags zuvor von Unbekannten demontiert worden war.) Dafür erschien zu allem Überfluss Fabian auf der Bildfläche und steuerte zielstrebig auf das vermeintliche Fahrrad zu. Daniel blickte entsetzt zu Teddy und Freddy, die ein fieses Grinsen auflegten und schnurstracks zu Fabian liefen, um alles haarklein zu petzen.

Das war der Tag, an dem er sich Fabian zum Todfeind gemacht hatte; es war der Tag, an dem er gelernt hatte, was es heißt, falschen Freunden zu vertrauen. Es war aber auch der Tag, an dem er Leo am Abend besuchte und später mit der Gewissheit zu Bett ging, einen Freund gefunden zu haben, der diese Bezeichnung verdiente.

Wie sich ziemlich schnell herausstellte, war Leo alles andere als ein Langweiler. Und noch viel aufregender: sein Vater war so etwas wie ein Erfinder. Jedenfalls lagen bei ihm zu Hause alle nur denkbaren Sachen wild verstreut durcheinander. Wie auf einem Schrottplatz der besonderen Art türmten sich alte Waschmaschinen neben kaputten Rasenmähern in der Garage, ebensolche Radios, Computer und Fernseher in der Diele sowie verrostete Autoteile über den ganzen Garten verteilt. Leos Vater kreierte daraus bizarre Maschinen, die mal blinkten, mal ungelenkig Purzelbäume schlugen, penetrant nach Schmiere und Öl stanken und offensichtlich zu rein gar nichts nütze waren. Seltsamerweise konnte er sich vor Aufträgen kaum retten. Sogar in der Eingangshalle des örtlichen Rathauses stand eines seiner Kunstwerke – allerdings wurde es nur zu ganz besonderen Anlässen und unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen in Betrieb genommen.

Es war einfach herrlich bei Leo. In dem alten Wohnwagen seiner Eltern hatten sich die beiden ihr Lager eingerichtet. Sein Vater hatte das Dach ausgebessert, die Fenster abgedichtet und die schief hängende Tür repariert. Er hatte sogar eine Stromleitung über die Bäume hinweg verlegt. So hatten sie elektrisches Licht und Wärme gegen kühle Nächte aus einem museumsreifen Ölradiator.

Die gemeinsamen Nachmittage und Abende standen von nun an im krassen Gegenstück zu den Vormittagen in der Schule. Teddy und Freddy hatten sich nämlich mit Fabian verbündet. Sie waren so etwas wie seine Leibgarde geworden, wobei Leo und Daniel sich immer aufs Neue fragten, wozu Fabian das nötig hatte. Er konnte sehr gut auf sich selbst aufpassen, auch ohne die Hilfe zweier Dummköpfe. Teddy und Freddy wichen Fabian nicht mehr von der Seite und nannten ihren Gebieter fortan Jack, Jack Strong!

»Mein Name ist Jack«, spottete Leo, »Jack Nix!« Und damit hatte er verdammt recht. Aber so etwas konnte man den Nichts-Checkern natürlich nicht klarmachen.

Jack und Co. schikanierten ihre Klassenkameraden, wo es nur ging. Daniel und Leo mussten von nun an öfter als zuvor auf dem Nachhauseweg um ihr Leben laufen, sich verstecken oder sonst wie versuchen, ihre gnadenlosen Verfolger abzuschütteln. Das nervte natürlich, und war alles andere als lustig.

Daniel schnappte nach Luft, als sei er soeben bis zum Grund des Ozeans getaucht. Was er jedoch einatmete, waren die stickigen, stinkenden Ausdünstungen einer Abfalltonne, in die er sich auf der Flucht vor Jack Nix gerettet hatte. Was übrigens diese Rettung anbelangte, so war er sich zwischenzeitlich ganz und gar nicht mehr sicher, unversehrt aus diesem Schlamassel herauszukommen.

Er stemmte sich mit beiden Beinen gegen die feuchtwarme Masse und hob mit den Händen vorsichtig den Deckel von der Tonne. Die eindringende Helligkeit blendete ihn. Süchtig sog er frische Luft in seine Lungen. Als sich seine Augen wieder an das Tageslicht gewöhnt hatten, suchte er die Umgebung gewissenhaft nach den Verfolgern ab. Ein hohes Maß an Durchhaltevermögen gehörte glücklicherweise nicht zu deren Stärken. Zu seiner Freude entdeckte er Leo auf der anderen Straßenseite. Erleichtert stieß er den Deckel vollends von der Tonne und kämpfte sich ins Freie.

»Was um alles in der Welt machst du da?«, rief Leo überrascht, als er seinen Freund aus einer Biotonne klettern sah. Eilig kam er über die Straße gerannt.

»Verdammter Mist!«, fluchte Daniel. Er stand neben der Tonne und begutachtete angewidert das Ausmaß der Schäden.

»Da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen«, scherzte Leo. Er trat nah an seinen Freund heran und rümpfte die Nase. »Cooles Aftershave. Neuartige Duftnote, was? Für meinen Geschmack etwas zu biologisch.«

»Selber doof«, erwiderte Daniel grimmig. Alsdann grinste er schon wieder: »Wenigstens haben uns die Null-Checker nicht erwischt.«

Opa Petersens Geschichte

Opa Petersen war alt – uralt! Keiner (nicht einmal er selbst) wusste so genau, wann und wo er geboren wurde. Seine Eltern hatte er nie kennengelernt. Er war von Lieselotte und Siegfried adoptiert worden, die ihn eines Morgens vor ihrer Tür gefunden hatten, eingewickelt in fleckige Laken und verschnürt in einer alten Holzkiste.

Lieselotte zog ihn auf wie ihr eigenes Kind, das sie nicht bekommen konnte, weil sie kurz nach Kriegsende von einen der Mauerreste gestürzt war, die einmal ihre Heimat gewesen waren. Siegfried, ihr Mann, hatte sich immer einen Sohn gewünscht. Heimlich natürlich, weil er wusste, wie sehr dieser Mangel seiner Liese zusetzte. Er dankte Gott für dieses Findelkind und wünschte ihm nichts mehr als eine ungestörte und sorglose Kindheit. Und die hatte er, Opa Petersen, der seine Stiefeltern liebte wie nichts auf der Welt.

Viel zu früh gingen sie von ihm, kurz hintereinander, als Petersen in die Lehre ging. Er erbte etwas Geld von Lieselotte und Siegfried, womit er nach seiner Ausbildung eine Tischlerei übernahm, in der Särge gezimmert wurden. Opa Petersen führte diese Tradition fort, sein ganzes Berufsleben lang. Reich wurde er nicht wirklich damit, aber er lebte gut und gern und war zeitlebens ein liebenswerter Mensch.

Seit über vierzig Jahren war er mit seiner Lisa verheiratet, und, wie er selbst sagte, genauso verliebt wie am ersten Tag. Auf ihren gemeinsamen Sohn und seine Schwiegertochter, Leos Mutter, ließ er nichts kommen. Ganz besonders traf dies selbstredend auf Enkel Leo zu, der ihn stets an sich und seine eigene Jugend erinnerte.

Opa Petersen hatte Daniel auf Anhieb in sein Herz geschlossen. Er war froh darüber, dass sein Enkel endlich einen richtigen Freund gefunden hatte, einen, mit dem man durch dick und dünn gehen konnte. Regelmäßig besuchte er die beiden einmal die Woche in ihrem Wohnwagen und erzählte Geschichten von früher: Von den Abenteuern in einer Zeit, da jeder auf den anderen angewiesen war, wo man sich gegenseitig in der Not beistand und selbst Kinder mit anpacken mussten. Petersen erzählte ihnen von der geheimnisvollen Kiste, in der er einst gelegen hatte und die irgendwo versteckt auf dem Speicher stand. Nur zu gerne berichtete er von dem Eichensarg des alten Barons, den sich dieser bereits zu Lebzeiten hatte anfertigen lassen, und der Nacht, die er darin probeweise gelegen hatte, damit er später, tief unten in der fürstlichen Gruft, standesgemäß die Zeiten überdauern konnte. Ist schließlich für die Ewigkeit gedacht, hatte der Baron gesagt und herzhaft gelacht. Opa Petersen entwarf aus diesen Worten seinen eigenen Slogan: Kaufen Sie Särge, von Petersen gemacht, für die Ewigkeit gedacht!

In Rente gegangen, verkaufte er den Betrieb. Sein Sohn hatte andere Pläne im Kopf, und er wollte ihm damit nicht im Wege stehen. So hatte er auf einen Schlag nicht nur einen Batzen Geld, sondern jede Menge Zeit zum Vergeuden bekommen.

Leo und Daniel liebten die Geschichten des Alten; sie konnten gar nicht genug davon kriegen. Sie waren bisweilen gruselig, manchmal zum Lachen, oft nachdenklich, stets aber sehr eindringlich. Petersen erzählte so, dass man sich mittendrin befand, die Geschichten nicht länger Geschichten blieben, sondern plötzlich Wirklichkeit wurden. In dem alten Caravan öffnete sich jeden Freitag die Tür in eine Welt voller Geheimnisse und Wunder, voller Zauber und Magie.

An diesem Freitagnachmittag hatte es zu regnen begonnen. Graue Wolken schleppten sich über die Stadt hinweg, dicke Tropfen fielen vom Himmel. In den Wasserpfützen vor dem Wohnwagen warfen sie Blasen, die lautlos zerplatzten. Drinnen hatten Leo und Daniel es sich gemütlich gemacht. Statt der elektrischen Beleuchtung brannte heute eine Kerze. Der Wind zerrte an dem altersschwachen Wagen und blies durch jede noch so kleine Ritze. Das flackernde Licht wanderte unruhig an Wänden und Decke auf und nieder.

Die beiden Jungen lagen auf ihrem Matratzenlager und verfolgten die tanzenden Schatten. Da pochte es an der Tür und Opa Petersen schob sich, zusammen mit einem kräftigen Windstoß, den eine Armee rotbrauner Ahornblätter begleitete, keuchend in den Wagen. Er grüßte die beiden, setzte sich vorsichtig in den Lehnstuhl in der Ecke und zog gleichzeitig ein riesiges Buch unter seinem Strickpullover hervor. Auf dem Einband stand in goldenen Buchstaben geschrieben:

AFRIKA

Die Jungen starrten zunächst auf das Buch, anschließend in Opa Petersens Gesicht, das ein zufriedenes Grinsen zeigte.

»Da heute schreckliches Wetter herrscht, das einem alle Wärme aus den Knochen bläst, habe ich mir gedacht, es könnte nicht schaden, ein klein wenig in die Ferne zu schweifen.« Er schmunzelte und sein Zeigefinger fuhr die goldenen Buchstaben entlang.

»Cool!«, entfuhr es Leo. »Du hast uns einen Bildband von Afrika mitgebracht.«

»Gewiss«, antwortete Petersen geheimnisvoll, »aber nicht irgendeinen, versteht ihr? Dieser ist etwas ganz Besonderes.« Er streichelte mit der Hand zärtlich über den vergilbten Einband.

»Der ist echt riesig«, meinte Daniel.

»Und hat bestimmt viel Geld gekostet«, fügte Leo hinzu.

»Er ist unbezahlbar!« Opa Petersen winkte die beiden mit dem Finger zu sich. »Na, was meint ihr? Soll ich euch die Geschichte von dem Buch erzählen?«

Daniel und Leo nickten eifrig.

»Ich habe es vor vielen Jahren von einem Kaufmann erhalten.« Petersen rückte ein paar Mal in seinem Stuhl hin und her, bis er die richtige Lage gefunden zu haben glaubte. In seiner Erinnerung suchte er nach den dazugehörigen Bildern, die nie lange auf sich warten ließen.

»Ich sehe es klar und deutlich vor mir, als wäre es gestern gewesen. Es begann an einem stürmischen Herbsttag, einem Tag wie diesen. Alle möglichen Sachen hatte der Sturm durch die Luft geblasen: Regenschirme, Hüte, Blätter, meine Tageszeitung und eine Rechnung, die ich von der Wohnung hinüber in die Werkstatt tragen wollte. Der Wind riss sie mir aus der Hand. Was hätte ich anderes tun sollen als rasch hinterher zu laufen? Ich eilte also zur Toreinfahrt, in der Hoffnung, der Brief möge sich in den Eisenstangen verfangen haben. Und tatsächlich, er flatterte wie eine Fahne an einem der Stäbe. Schnell bückte ich mich und griff nach dem Blatt. Als ich mich wieder aufrichtete, stand ein kleiner Mann in Mantel und Hut vor mir. Er sah mich mit flinken Augen an und sagte: Guten Abend, mein Herr! Sie sind sicher der Schreiner Petersen. Ich nickte stumm. Der Sargschreiner Petersen, fügte er hinzu. Ich bestätigte erneut und öffnete das Tor. Er streckte mir seine Hand entgegen – eine wirklich große Hand im Vergleich zu seiner Körpergröße. Ich muss dringend mit ihnen reden, sehr dringend, raunte er geheimnisvoll.

Ich bat ihn ins Haus. Bereits im Flur eröffnete er mir, er sei fahrender Händler, schrecklich viel unterwegs, ohne Rast und Ruh. Er sei nicht mehr der Jüngste, unverheiratet, keine Kinder, ganz allein. Einen Freund von ihm habe es vor Kurzem erwischt, aus heiterem Himmel. Er sei einfach umgefallen, irgendwo vor einer der unzähligen Haustüren. Tja!, sagte der kleine Mann, als wir in der Ausstellungshalle standen, wie gesagt, es kann einen schnell erwischen. Er lachte und rieb sich die Hände. Ich möchte … Der kleine Mann suchte nach geeigneten Worten, ließ seinen Blick über die Särge gleiten und räusperte sich verlegen. Sie wollen Vorsorge treffen?, kam ich ihm entgegen. Er wirkte erleichtert. Ich zeigte ihm ein paar meiner Sargmodelle und erklärte ihm die Vorzüge der einen oder anderen Ausführung. Der kleine Mann schien davon wenig beeindruckt. Lieber studierte er die an den Särgen hängenden Preisschilder und wurde mit der Zeit ganz nervös. Schließlich unterbrach er mich in meinen Ausführungen und sah mir ungläubig in die Augen. Haben sie nicht Billigere im Angebot? Will sagen …Ein Sonderangebot?, fragte ich überrascht. Der kleine Mann nickte erlöst. Ich drauf: Tut mir leid, Sonderangebote habe ich nicht. Meine Särge sind in tadelloser handwerklicher Qualität gefertigt. Die hat nun mal ihren Preis. Vielleicht könnten wir anderweitig ins Geschäft kommen! Der kleine Mann sah mich flehend an: Könnte ich nicht einen Teil der Summe in Naturalien bezahlen?«

»Naturalien?«, unterbrach ihn Daniel.

Leo lachte. »In Naturalien bezahlen meint nicht mit Geld, sondern mit irgendwelchen Waren … «

»Tauschen!«, rief Daniel.

»Genau das«, bekräftigte Petersen. »Was glaubt ihr, mit was der kleine Mann gehandelt hat?«

Leo sah an Opa Petersen hinab auf das dicke Buch in seinem Schoß. »Mit Büchern?«

»Richtig«, sagte sein Opa. »Hauptsächlich mit Kochbüchern für Hausfrauen und Märchenbüchern zum Vorlesen für Kinder. Diese Bücher waren klein genug für den alten Koffer, mit dem er von Haustür zu Haustür marschierte.«

»Woher kam dann der dicke Wälzer?«, wollte Daniel wissen.

»Abwarten«, fuhr Petersen fort. »Eines Tages, als er an der schäbigen Tür eines klitzekleinen Hauses klingelte, öffnete ihm ein groß gewachsener, alter Mann. Nachdem unser kleiner Mann seinen Spruch aufgesagt hatte, den er an jeder Haustür zum Besten gab: Bin fahrender Händler von weit, weit her, bring Bücher für euch, bitte sehr!, bat ihn der Mann in sein Haus.

Der kleine Mann wunderte sich sehr, denn das Häuschen war über und über mit Bücherregalen vollgestopft. Im Flur reichten sie bis zur Decke; die schmale Treppe zum Dachgeschoss war mit Lektüren aller Art und Größe versperrt. Im Wohnzimmer sah es nicht anders aus. Überall an den Wänden befanden sich gefüllte Regale. In der Mitte der einen Wand aber thronte ein offener Kamin mit breitem Sims, darüber ein riesiger Regulator – eine Uhr, versteht ihr? –, der unangenehm laut tickte. Der kleine Mann erzählte mir, dass er mit der Zeit davon schrecklich müde wurde. Die beiden setzten sich an den Tisch und unser kleiner Mann holte aus seiner Tasche einige der Bücher hervor. Er glaubte nicht wirklich daran, mit dem alten Mann ins Geschäft zu kommen, denn bei der unglaublichen Menge an Wälzern, sei er sicherlich nicht an seinen billigen Exemplaren interessiert. Andererseits war der Alte Sammler, dem es vielleicht gar nicht um die Qualität des Textes oder um die Verarbeitung eines Buches ging. Der kleine Mann hatte sich nie die Mühe gemacht, in eines seiner Bücher hineinzuschauen, geschweige denn selbst einmal darin zu lesen. Er wusste, dass sie nicht viel wert waren.

Der Alte holte bedächtig eine Brille mit dicken Gläsern aus einem Futteral hervor. Sehr interessiert blätterte er in den Werken herum, runzelte manchmal die Stirn, schüttelte ab und zu den Kopf, und einmal lachte er aus vollem Hals. Unser kleiner Mann wusste nicht, was er tun sollte. Er saß einfach da und wartete, und wurde müder denn je. Schließlich war er es nicht gewohnt, dass sich jemand wirklich Zeit für ihn nahm. Die meisten Leute kauften schnell etwas zwischen Tür und Angel. Es ging darum, den kleinen Mann rasch wieder loszuwerden. Hausierer haben und hatten es nie leicht, das könnt ihr mir glauben.« Opa Petersen blickte zu den beiden Jungs. »Na, was meint ihr? Hat der kleine Mann seine Bücher an den alten Mann verkauft?«

Daniel rieb sich mit den Fingern am Kinn. »Na ja, er war Sammler, und die können nie genug bekommen.«

Petersen schmunzelte zufrieden. »Der alte Mann behielt sämtliche Märchenbücher. Die Kochbücher gab er zurück.«

»Bestimmt hatte er viele Enkel, denen er daraus vorlesen wollte«, bemerkte Leo.

»Und konnte nicht kochen«, scherzte Daniel.

Opa Petersen nickte. »Er gestand dem kleinen Mann, dass er für sein Leben gerne vorlas. Aber er wollte nicht mit Geld bezahlen, sondern in …«

»Naturalien«, meldete sich Leo zu Wort.

Sein Opa lachte. »So ist es. Er wollte nämlich seinerseits mit Büchern bezahlen.«

»Bücher mit Büchern bezahlen?« Daniel runzelte die Stirn. »Das ist seltsam.«

»Seltsam, ja, das ist genau das richtige Wort«, fuhr Petersen fort, »denn der alte Mann kramte sieben riesige Bände aus seinen Regalen hervor und schleppte sie nacheinander zu unserem verdutzten kleinen Mann an den Tisch. Was sollte er mit diesen Büchern anfangen? Wie sollte er sie überhaupt wegbekommen? Was er brauchte, war Geld zum Leben, um zu essen und zu trinken, und für ein Dach über dem Kopf. Von den Büchern kann ich nicht satt werden, dachte der kleine Mann bei sich. Ich kann sie vielleicht im Ofen verbrennen, Seite um Seite, für einen warmen Abend.

Der alte Mann setzte sich wieder zu ihm, faltete die Hände und blickte dem Gast fest in die Augen. Da plötzlich sah der kleine Mann all die vielen armen Kinder vor sich, wie sie einsam und allein in ihren Bettchen lagen und kein Mensch sich um sie kümmerte. Alsdann sah er den Alten, wie er auf den Bettkanten saß und aus seinen Büchern vorlas, sah den Glanz in den Augen der kleinen Zuhörer, die Freude und das Lächeln in ihren Gesichtern, wenn sie, die Augen geschlossen, vor sich hin träumten.

Als der kleine Mann wieder zu sich kam, nickte ihm der Alte zu. Daraufhin nahm er wortlos das oberste der dicken Bücher vom Stapel, klemmte es sich unter den Arm und verließ das Haus.«

Opa Petersen schwieg eine Weile und sah zur Wohnwagendecke empor, an der noch immer das Flackern des Kerzenscheins hin und her huschte. »Später, als der kleine Mann das Geheimnis des Buches herausgefunden hatte, suchte er lange nach dem Haus und dem alten Mann. Er war sich ganz sicher in welcher Stadt und in welcher Straße er ihm einst begegnet war. Gefunden hat er ihn niemals wieder.«

Das Geheimnis des Buches

Der Wind heulte immer heftiger um ihre Behausung. Ein ausgewachsener Herbststurm zog von Westen heran und begann seine ganze Macht zu entfalten. Der Regen hämmerte unbarmherzig gegen die Scheiben. Es war einfach herrlich.

Leo blickte gespannt zu seinem Opa.

»Und den alten Mann hat er nie wiedergefunden?«, sagte Daniel ungläubig. »Das gibt’s doch nicht. Bestimmt war er weggezogen.«

»Aber dann hätte der kleine Mann wenigstens das Haus wiederfinden müssen«, gab Leo zu bedenken.

»Auch wieder wahr«, gestand Daniel. »Vielleicht hatte der kleine Mann ein schlechtes Gedächtnis.«

Petersen ergriff das Buch. »Ihr könnt mir glauben: es war genau so, wie ich gesagt habe.« Er strich wieder mit den Fingern sachte über die goldenen Buchstaben. »Ich wollte es zunächst selbst kaum glauben, aber der kleine Mann belehrte mich eines Besseren. Es hatte lange genug gedauert, bis er selbst hinter das Geheimnis gekommen war. Das Buch war zunächst etliche Jahre hindurch ein stummer Begleiter. Er nahm es mit, von Pension zu Pension, von Hotelzimmer zu Hotelzimmer, von Unterkunft zu Unterkunft. Irgendwie konnte er sich nicht von ihm trennen, obwohl es groß und schwer und eigentlich unnützer Ballast war.

Eines stürmischen Abends im Herbst, nachdem er kaputt und müde von einer anstrengenden Tour in einem Gasthof Unterschlupf gefunden hatte, fühlte er sich wie so oft schrecklich einsam und allein. Er hatte niemanden auf der Welt, der ihm oder dem er etwas bedeutete, niemanden, der auf ihn wartete, wenn er abends nach Hause kam, keine Frau, keine Kinder, nicht mal dieses Zuhause selbst. An einem kleinen Fenster sitzend, sah er hinaus in die finstere Nacht. Plötzlich verspürte er unbändiges Fernweh. Weg wollte er von hier, hinaus in die weite Welt, fort von all den Türen, hinter denen Menschen wohnten, die Familien, Freunde und Verwandte hatten. Er wollte endlich etwas Neues erleben, etwas, das seinem bisherigen Leben eine Wende, vielleicht einen Sinn gab. Versteht ihr?«

Leo und Daniel nickten.

»Natürlich wusste er, dass dies unmöglich war, aber er erinnerte sich plötzlich an das Buch und die goldene Schrift auf dem Einband: AFRIKA stand dort geschrieben. Afrika, das klang in seinen Ohren nach Abenteuer, nach ungebändigter Wildnis, nach herrlichem Wetter, nach wilden Tieren und Eingeborenen, die nie etwas von der modernen Zivilisation gehört hatten.

Der kleine Mann holte das Buch hervor und legte es vorsichtig auf den Tisch. Er schlug den Einband zur Seite und starrte auf die erste Seite. Afrika, las er erneut, und darunter: Eine Reise zu fremden Kulturen. Fremde Kulturen? Das war genau das, nach dem er sich sehnte: exotische Völker, fremde Sitten und Götter. Er wollte sogleich hinaus in die Welt ziehen und Abenteuer erleben, statt hier in dem winzigen Zimmerchen zu sitzen und sich selbst zu bemitleiden.

Er begann zu lesen; sein erstes Buch. Und es gefiel ihm ganz außerordentlich, was er da las. Gar nicht genug konnte er davon bekommen. Immer stärker wurde der Sog, den dieses Afrika auf ihn ausübte, immer mehr verschmolz er mit den zahllosen Berichten und Geschichten, die andere für ihn erlebt hatten. Und plötzlich war er mitten drin in diesem Afrika, mitten drin in Abenteuern, von deren Existenz er rein gar nichts geahnt hatte. Und dann sah er das Foto – im Original schwarz-weiß, nachträglich äußerst kunstvoll von Hand koloriert. Es war ein Bild der Sahara. Was heißt da Bild? Es war ein Kunstwerk, das seinesgleichen sucht. Seht selbst!«

Opa Petersen schlug das Buch auf und suchte nach der erwähnten Seite. Er blätterte von hinten nach vorne und von vorne nach hinten, aber die Seite ließ sich nicht finden. Schlussendlich verzog er die Mundwinkel: »Tut mir leid, aber es ist heute unauffindbar.«

»Wie meinst du das? Unauffindbar …«, wollte Daniel wissen.

»Es gibt Tage, an denen sich manche Seiten einfach nicht wiederfinden lassen«, sagte Petersen leichthin und öffnete die Hände zu einer entschuldigenden Geste.

»Du meinst, es gibt Tage, an denen bestimmte Seiten aus dem Buch verschwunden sind?« Leo blickte zu Daniel und beide zusammen zu Petersen, der sofort sah, dass sie ihm kein Wort glaubten.

»Die Seiten sind natürlich nicht wirklich verschwunden«, sagte er mit einem Zwinkern in den Augen.

Leo schien erleichtert.

»Ich kann sie nur nicht finden«, fuhr er fort.

Daniel grinste. »Klar, du hast deine Brille nicht dabei.«

»Ich brauch keine Brille, das wisst ihr ganz genau«, antwortete Petersen und blickte von einem zum anderen. »Manchmal verstecken sie sich vor mir. Ich weiß auch nicht, warum.«

»Wer versteckt sich vor wem?« Daniel hatte den Faden verloren.

»Na ja, manchmal sind sie eben nicht vorhanden.«

Leo lachte. »Seiten, die sich verstecken? Wirklich Opa, du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir dir die Geschichte abnehmen? So einen fetten Bären lassen wir uns nicht aufbinden.«

»Vielleicht hast du die Seite ja irgendwann herausgerissen«, vermutete Daniel, »und erinnerst dich nicht mehr daran.«

»Womöglich hast du sie zum Anheizen genommen.«

»Oder als Schmierzettel für den Wocheneinkauf.«

»Quatsch!«, erwiderte Petersen. »Ich konnte es zuerst selbst kaum glauben.«

»Nun komm aber! Die Geschichte war gut, was willst du mehr?«, sagte Daniel.

»Ich will euch diese Seite zeigen!«, rief Opa Petersen voller Ungeduld. Er schlug das Buch zu, stemmte sich aus dem Sessel und rannte zur Tür. »Wartet, ich bin gleich zurück.« Und schon war wie der Blitz in der tosenden Unruhe des Gartens verschwunden.

Leo starrte ungläubig zu der offenen Wohnwagentür, die der Wind auf und zu schlug. »Er ist übergeschnappt.«

»Sieht ganz danach aus.«

»Und jetzt?«

Daniel erhob sich wortlos und hechtete zur Tür. Mit der linken Hand hielt er sich am Rahmen fest, um mit der rechten die wild gewordene Pforte zu bändigen. Aber sie entglitt seiner Hand in dem Moment, als er glaubte, sie erwischt zu haben. Als sie von selbst ins Schloss schlug, gellte ein Schrei durch die aufgebrachte Nacht. Daniels Hand, die er nicht rechtzeitig zurückgezogen hatte, war zwischen Tür und Rahmen geraten. Er setzte mit der unverletzten Hand dem Treiben ein Ende und rieb sich die lädierte Stelle.

»Ist es was Ernstes?«, fragte Leo besorgt.

»Halb so schlimm«, presste Daniel zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, ließ sich langsam in die Hocke nieder und begutachtete seine Hand ausgiebig von allen Seiten.

Wind und Regen hatten sich zu einem gigantischen Unwetter gesteigert. Zusammen mit den Blättern wurden kleinere Äste der umliegenden Bäume gegen den Wohnwagen geschleudert. Dieser selbst stand lange nicht mehr fest auf dem Boden, sondern wurde von den Windböen hin und her geschaukelt. Der Regen hämmerte gegen die Fenster. Die Straßenlaterne, weit vorne am Gartentor, war nur als verschwommener Lichtfleck zu erahnen.

Daniel war voll und ganz mit der Inspektion seiner verletzten Hand beschäftigt, als er von seinem Freund lautstark unterbrochen wurde.

»Sieh doch!« Leo hatte sich zur Seite gedreht.

Daniel sah von seiner Hand auf und blickte abwesend auf das, was sich vor dem Sessel befand. Es war Opa Petersens Buch, das wohl bei dem ganzen Tohuwabohu vom Sessel gerutscht war. Bei dem Fall hatte es sich unwillkürlich geöffnet. Es zeigte, riesig und farbenprächtig, das schillernde Bild einer Wüstenlandschaft.

Leo starrte auf das Buch wie in Trance. Daniel krabbelte, die verletzte Hand schützend an die Brust gepresst, zu ihm hinüber. Von dem Buch, oder vielmehr dem Bild in dem Buch, ging ein mystisches Leuchten aus.

»Das ist die Seite, die Opa gesucht hat«, hörte sich Leo reden.

»Sie ist es«, fügte Daniel ohne nachzudenken hinzu. »Von wegen, er kann sie nicht finden.

»Aber komisch ist es trotzdem.«

»Was meinst du?«

Leo legte den Kopf schief. »Hast du jemals ein Buch gesehen, dessen Bilder leuchten?«

»Ein Trick von Petersen. Der Effekt ist ihm echt gelungen.«

Beide starrten fasziniert auf das Buch und das Bild, als plötzlich laut und hektisch die Wohnwagentür aufgerissen wurde.

»Opa Pe…!«, riefen sie beide gleichzeitig, aber das Wort blieb ihnen im Halse stecken, denn es war nicht Petersen, der in den Wohnwagen lugte, sondern die feisten Gesichter von Teddy und Freddy. Dahinter erkannten sie verschwommen, in Wind und Regen gebettet, breitbeinig wie einen Racheengel, ihren Widersacher Jack Strong.

Teddy und Freddy schwangen sich sogleich in den Wagen und blieben wie begossene Pudel rechts und links neben der Tür stehen. Der dicke Fabian näherte sich langsam der vom Sturm gepeitschten Tür. Als er im Rahmen stand – den er beinahe ausfüllte –, blickte er auf die beiden Jungen herab und griente. Der Regen rann ihm die nassen, strähnigen Haare hinab, lief ihm über Stirn und Wangen, verlieh ihm etwas Diabolisches. Teddy und Freddy standen mit verschränkten Armen neben ihrem Herrn und Gebieter und starrten blöde vor sich hin.

»Na, Mädels!«, höhnte Jack Strong und leckte sich einen dicken Regentropfen von der Nasenspitze. »Haben wir euch etwa bei etwas Verbotenem erwischt?«

Teddy und Freddy prusteten drauflos.

»Ein wirklich nettes Lager habt ihr da. Aber wie eine Räuberhöhle sieht es nicht aus. Eher wie ein Liebesnest.«

Teddy und Freddy krümmten sich vor Lachen.

Daniel und Leo sahen sich an. Sie wussten, dass es ihnen womöglich schlecht ergehen könnte, wenn sie nicht augenblicklich etwas unternahmen. Die Frage war nur, was? Ein Fluchtversuch würde sich unter den Gegebenheiten extrem schwer durchführen lassen. Die Tür war dreifach gesichert und die Fenster waren, bis auf die Dachluke, nicht zu öffnen. Um auf das Dach zu gelangen, hätten sie erst die Luke öffnen und sich nacheinander umständlich hochziehen müssen. Selbst beim besten Wetter war dies zeitaufwendig, bei Wind und Regen undenkbar.

»Wie kommt Ihr eigentlich dazu, mitten in der Nacht hier einzubrechen?«, begann Leo, dem nichts Besseres einfiel. »Das ist mindestens Hausfriedensbruch und wird empfindlich bestraft.« Sie mussten Zeit gewinnen, aber das war bei diesem Klientel alles andere als einfach zu bewerkstelligen.

»Ach, was du nicht sagst, Klugscheißer!«, antwortete Jack, trat näher und baute sich mit seiner ganzen massigen Größe vor den beiden auf. »Wenn du es ganz genau wissen willst.« Er glotzte nach unten und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich scheiß drauf!«

»Und außerdem sind wir hier gar nicht eingebrochen«, meldete sich Teddy zu Wort.

»Das Gartentor stand nämlich offen«, ergänzte Freddy.

»Ihr hört es selbst. Es ist überhaupt nichts passiert.« Jack grinste süffisant. »Also, Mädels, wozu die ganze Aufregung?«

»Ihr habt dennoch kein Recht hier aufzukreuzen. Außerdem kommt sein Opa gleich zurück, und der kann verdammt unangenehm werden.«

»Außerdem kommt sein Opa gleich zurück!«, äffte Jack Daniel nach. »O Mann, mir schlottern jetzt schon die Knie.« Er spuckte auf den Boden und verfehlte Leo nur um Haaresbreite.

Daniel wollte aufspringen, aber Leo hielt ihn zurück. »Bleib cool! Der will uns nur provozieren, damit er einen Grund hat, uns windelweich zu klopfen.«

»Gut kombiniert«, knurrte Strong, »aber ich verrat euch was: Heute brauch ich nicht mal ‘nen Grund, um euch zu vermöbeln – ich hatte nämlich von Anfang an nichts anderes vor.« Er grölte siegessicher und die beiden Dummköpfe an seiner Seite stimmten lauthals mit ein.

»Was sollen wir tun?«, flüsterte Daniel in Leos Ohr.

Leo hob resigniert die Schulter. »Keine Ahnung. Diesmal sitzen wir ganz schön tief in der Tinte. Wenn nur dein Opa käme …«

»Wo mag er stecken?«

»Gute Frage!«

»Warum heute? Warum jetzt? Was immer er auch vorhaben mag, wie es aussieht, kommt er zu spät, um uns lebend anzutreffen.«

Leo wirkte entschlossen. »Wir werden uns nicht einfach verprügeln lassen.«

»Von wollen kann natürlich keine Rede sein.«

»Wir Kämpfen bis zum bitteren Ende.«

»Das schneller kommen mag als uns lieb ist«, orakelte Daniel.

Leo schluckte. Was auch immer sie den drei Rabauken entgegenzusetzen hatten, es würde nicht genügen, um mit heiler Haut davonzukommen.

»Wann geht’s endlich los?« Freddy ballte angriffslustig die Hände zu Fäusten.

»Ihr könnt wieder gehen«, gab Leo ihm zur Antwort. »Die Vorstellung fällt wegen schlechten Wetters aus.«

Teddy und Strong hörten schlagartig zu scherzen auf, starrten zunächst sich, alsdann die beiden Freunde an.

»Und zwar genau denselben Weg, den ihr gekommen seid«, fügte Daniel mutig hinzu.

Jack Nix wandte sich zu Teddy und Freddy. »Hab ich da eben richtig gehört?«

»Und wenn ihr geht, vergesst nicht, das Gartentor zuzumachen!«, rief Leo unsicher.

»Von außen, Jack Nix!«, platzte es Daniel heraus.

Und damit hatte sich ihr Mutpotenzial erschöpft.

Nicht so bei Jack und Konsorten. Strong ballte die Fäuste und seine Kiefer krachten gefährlich aufeinander. »Jetzt reicht’s! Ihr glaubt wohl, ihr könnt mich verarschen, was? Ich an eurer Stelle hätte artig die Fresse gehalten.« Jetzt wurde er sehr ernst. Sein dicker Zeigefinger kroch gefährlich nahe an Daniels Nase heran. »Und nenn mich nie, nie, niemals wieder Jack Nix! Okay?« Der Finger wich langsam zurück. »Los, Jungs«, fuhr er fort, »machen wir Hackfleisch aus ihnen!«

Er bückte sich und wollte nach Leo greifen, doch dieser rollte sich zur Seite und krabbelte hinter den Sessel. Als Nächstes versuchte er Daniel zu erwischen, aber dieser wich nach hinten aus. Fabians Griff ging abermals ins Leere.