Epprechtstein - Matthias W. Seidel - E-Book

Epprechtstein E-Book

Matthias W. Seidel

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Beschreibung

Der Herbst hält Einzug im Fichtelgebirge. Für Hanns ist dies die schönste Zeit des Jahres. Seit den frühen Morgenstunden ist er auf Schwammerl-Tour, doch was er heute hoch oben auf dem Epprechtstein vorfindet, lässt seinen Sinn für die Schönheiten der Natur für immer verblassen. Während Kommissar Hager völlig im Dunkeln tappt, erreicht den Archäologen und Mystiker Martin Streitberg eine ungewöhnliche Bitte ...

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Vorbemerkung des Verfassers:

Handlung sowie Personen des Romans

sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden

oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig.

Die Schauplätze des Krimis habe ich

den Bedürfnissen meiner Geschichte angepasst.

Wirklich echt ist nur die wilde Romantik

des Fichtelgebirges,

der ich all meine Ideen verdanke.

Für B.

FRIEDEN

Das ist nur ein Wort, kein Gefühl.

F.R.I.E.D.E.N

Das sind nur sieben Buchstaben, kein Zustand.

F-R-I-E-D-E-N

Das ist der sehnlichste Wunsch des Menschen.

Frieden ist eine Utopie.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

I.

Nie ist der düstere Felsenkeller so klein, so hell gewesen; nie zuvor bot er so wenige Möglichkeiten zum Verstecken. Es riecht nach Erde, nach Kartoffeln und Weißkraut, nach Fäulnis und Kohlen, aber ich nehme es kaum wahr. Manchmal werden unsere Sinne einfach abgeschaltet. Seine uralten Mauern und Gewölbe werden nach wie vor von Feuchtigkeit und Salpeter zusammengehalten, aber heute weiche ich den mehligen Kristallen nicht aus, stürze vorwärts, schramme an der Wand entlang, zerreiße mir die Kleidung, suche, die Hände weit von mir gestreckt, nach Rettung, nach Schutz, nach Halt.

Ich empfinde keinen Schmerz.

Ich muss Zeit gewinnen.

In der Angst sind wir alle gleich.

Wie oft bin ich hier gewesen, habe, mit bangem Herzen und im Schein der Petroleumlampe, das Dunkel erforscht, Hand in Hand mit dem guten alten Johann. Nun hetze ich vorbei am Vorratskeller mit den unzähligen Einmachgläsern und der Kartoffelhorde, vorbei am Weinkeller mit den mannshohen Regalen und den matt schimmernden Flaschen, die Johann so sehr schätzt, passiere den Aktenkeller mit den verstaubten Ordnern vergangener Jahrzehnte und den polierten Mustersteinen, auf denen sich fingerdick Staub niedergelassen hat.

Hier wie dort ist die vertraute Finsternis gewichen, hat Platz gemacht für eine neue, grausame Helligkeit, die sich durch jede Ritze zwängt: durch das enge Loch in der Decke, das als Entlüftung dient, durch den schräg nach oben führenden Schacht, ganz hinten im Kohlenkeller, dessen Ende mit Stroh verpfropft ist, und erst recht durch die brüchige Kellertür oben an der Treppe, die mit Lichtspeeren alarmierend um sich wirft.

Bitte, bitte, lieber Gott, lass die Sonne verschwinden, lass mich unsichtbar werden, nur dieses eine Mal!, bete ich im Stillen.

Im Stillen? Nein! Jeder konnte es hören, das dumpfe Grollen, das urplötzlich die anheimelnde Ruhe des Herbstnachmittags durchbrach. Dunkle Männer sind ihm gefolgt, nicht auf Donnervögeln, sondern auf den Rücken fauchender Drachen.

Versteck dich, rasch!

Und so bin ich gerannt, auf und davon. Erst hinunter in den Flur, dann weiter zur Kellertür, da die Männer bereits vor der Haustür standen. Nun poltert und scheppert es über mir, als ginge die ganze Welt in Scherben. Bestimmt haben sie das Haus längst besetzt.

Was werden sie mit uns machen?

Werden sie mir etwas antun?

Fremde Stimmen zerbrüllen alle Hoffnung.

Und doch bin ich ihnen entkommen, bin entwischt in allerletzter Sekunde. Alle Wärme habe ich hinter mir gelassen, all die Farben sind zerflossen. Bestimmt werden sie nach mir suchen, werden mich finden und zur Rechenschaft ziehen.

Der Herr im Himmel vergebe mir meine Sünden.

Ich schlittere, stolpere, komme in dem Raum vor dem Kohlenhaufen zum Liegen. Nur rasch auf die Beine, den rollenden Berg erklimmen. Aber der Schacht ist zu hoch, ich kann sein Ende kaum mit den Fingerspitzen ertasten. Meine Kräfte reichen nicht aus, mich hochzuziehen.

Stillstand.

Die Stimmen werden lauter, nur das Poltern hat sich entfernt. Ich zittere am ganzen Körper, und es ist kaum die Kälte, die mich dazu treibt. Ich will nicht wissen, was da oben vor sich geht. Ich verweigere allen grausamen Bildern, die sich mir unwillkürlich aufdrängen, den Zutritt zu meinem Bewusstsein. Ein Gefühl der Leere überschwemmt mich, macht mich gleichgültig, wischt die Angst und den Schrecken beiseite, macht mich gefühllos, hart, unangreifbar.

Da, die Tür, die immer verschlossen ist! Nie habe ich auch nur einen einzigen Blick auf das werfen dürfen, was sich dahinter verbirgt. Aber ich kenne die Geschichten, ich kenne sie alle. Der gute Johann hat sie mir erzählt. Ich balle meine Hände zu Fäusten, beiß die Zähne aufeinander, hämmere mit aller Gewalt gegen den Riegel und das rostige Vorhängeschloss.

Schnapp!

Das Schloss fällt zu Boden. Ich klappe den Riegel nach oben. Etwas drückt gegen mich. Ich weiche zurück, halte den Atem an. Die Tür dreht sich röchelnd in den uralten Angeln. Ein modriger Wind weht mir um die Nase.

Da ist er! Es gibt ihn also tatsächlich!

Am Boden liegen Steine und Geröll. Spinnweben hängen von der niedrigen Decke herab. Dahinter lauert nichts als Ungewissheit. Ein verborgener Ort in einer verborgenen Zeit.

Niemandsland.

Tapfer trete ich über die Schwelle. Nur kurz sehne ich mich nach Johanns schützender Hand, nach seiner hellen Petroleumlampe und seinem unerschöpflichen Wissen.

Plötzlich wird es hell. Es ist soweit! Jemand muss die Tür zum Keller aufgestoßen haben. Schwere Schritte eilen die Stufen hinab. Ich raffe nach dem Schloss am Boden und verberge es in meiner Tasche. Im letzten Augenblick der Klarheit zwinge ich die Tür in den Riegel.

Die Welt entschwindet. Dumpfe Schwärze verschlingt mich. Die ersten dicken Tränen kullern über meine Wangen, denn ich weiß es ganz plötzlich: Der goldene Herbst ist vorbei, für immer! Was mir bevorsteht, ist ein langer, langer Winter. Mein vertrautes Leben hat hier und jetzt sein Ende gefunden.

Ich schließe die Augen, obwohl die Aussicht unverändert bleibt. Ich atme tief durch, drehe mich um und denke an die Unauslöschlichkeit alles Geschehenen. Klar und überdeutlich brennt sich die kurze Geschichte des Lebens in die grauen Falten meines Gehirns. Näher bin ich dem Tod nie gekommen.

Ich will lernen, mich leblos zu machen.

Das Letzte, was ich wahrnehme, ist das Fauchen der Drachen, aber dies ist bereits unwirklich, wie aus weiter, weiter Ferne. Danach höre ich nur noch die unmenschlichen Schreie, die niemals wieder verklingen sollen …

II.

Der Morgen schickte sich an, die Nacht zu vertreiben. Ein Blick auf den Wecker genügte, um ihm zu sagen, dass es höchste Zeit war, aufzustehen. Leise keuchend rappelte er sich hoch und schlich in die Küche hinunter. Er wollte Erna nicht wecken, obwohl ihm dies selten gelang.

Aus dem alten Röhrenradio tönte bald das Rucksackradio auf Bayern 1. Er hörte nie einen anderen Sender, wenngleich ihn die viele ausländische Musik nervte und er die Zeiten zurücksehnte, wo von früh bis spät die alten Schlager und seine geliebte Volksmusik liefen – und eben nicht dieser neumodische Negerbeat. Heute ging es um eine Tour in Südtirol, die sie beide selbst vor vielen Jahren bewältigt hatten. Er schwelgte in Erinnerungen.

Während er selbstzufrieden der Sendung und dem Blubbern der Kaffeemaschine lauschte, bestrich er andächtig eine Schnitte Bauernbrot mit Butter. Mit Wonne holte er drei dicke Scheiben weißen Presssack mit seinem Taschenmesser aus dem Glas, schnitt sie in Stücke und verteilte diese wie ein Fliesenleger auf dem Brot.

Als der Kaffee vor ihm dampfte und er genussvoll in sein Frühstück biss, wurde die Küchentür aufgestoßen.

»Ich wollt’ dich extra nicht wecken«, brummelte er los und wischte sich mit dem Handrücken Butter von der Oberlippe.

Erna schlurfte in ihren rosa Pantoffeln zum Tisch und setzte sich. »Du kannst ja nix dafür. Ich hab die ganze Nacht schlecht geschlafen.«

»Na dann.« Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Topf und stellte das Radio etwas lauter. »Horch, da sind wir beide gewesen. Erinnerst dich?«

»Freilich«, bestätigte Erna, während sie sich erhob und zur Kaffeemaschine hinkte.

Er biss kräftig in sein Presssackbrot. »Was ist denn los?«, erkundigte er sich schmatzend.

Erna kam mit einem vollen Topf zum Küchentisch balanciert. »Mir tut alles weh!« Sie stellte die Tasse ab, stemmte die Hände in die Hüften und versuchte, ihren Rücken zu strecken.

»Mir auch«, brummelte er, schob sich den letzten Bissen in den Mund und schlürfte seinen Kaffeetopf leer. Anschließend erhob er sich wortlos vom Tisch und verließ die Küche.

»Pass auf dich auf, Hanns!«, rief ihm Erna hinterher. »Nicht, dass du wieder hinfällst …« Sie hielt inne. Der Schmerz war unerträglich.

Nachdem er die Haustür geräuschvoll hinter sich ins Schloss gezogen hatte, atmete er tief durch. Es würde ein herrlicher Tag werden. Die Frühnebel wabberten über Feld und Flur, stiegen träge aus den tiefgrünen Fichtenwäldern empor, suchten ihr Heil in dem von der Sonne noch unerreichten Firmament. In der Ferne mühten sich die Hügel und Höhen der Berge vergeblich um Bodenhaftung. Wie in einer Waschküche verschleierte der Morgendunst ihre wahren Dimensionen, ließ sie erst anwachsen, bald darauf wieder in sich zusammensinken.

Er liebte seine Heimat, und er liebte den Lauf der Jahreszeiten. Ganz besonders aber hatten es ihm der Spätsommer und der Herbst angetan. Wenn die Tage kürzer wurden, die Welt von jetzt auf dann bunter und stiller zu werden begann, dann – und nur dann – schlug seine Stunde. Da machte er sich im Morgengrauen auf, den Wegen zu folgen, die nur er kannte.

Erna hatte natürlich recht, wenn sie ihn zur Vorsicht ermahnte. Letzten September war er gestolpert, über einen dicken Wurzelarm, der im Zwielicht und unter Moos und Schwarzbeersträuchern nicht zu erahnen gewesen war. Längelang war er hingefallen, hatte sich den Fuß verstaucht und den Arm verdreht. Wie ein geprügelter Hund war er erst spät am Abend zu seiner von Sorgen kramen Erna zurückgekehrt, humpelnd und ganz elend anzuschauen. Seither musste er eines dieser neumodischen Dinger mit sich führen. Erna bestand darauf. Und wehe dem, er hatte es nicht die ganze Zeit über eingeschaltet. Dann gab es richtig Krach.

Obwohl er wusste, dass sie sich nur Sorgen um ihn machte, kam er sich seither auf Schritt und Tritt beobachtet vor. Und überhaupt: Es gab genügend Plätze, an denen dieses Ding einfach nicht funktionierte – Funkloch, oder wie immer sich dieser Zustand schimpfte. Früher hat es solchen Firlefanz nicht gebraucht!, hatte er trotzig verkündet. Eine Woche war er Erna aus dem Weg gegangen, hatte nur das Allernötigste mit ihr gesprochen. Umsonst.

Gequält zog er das Gerät aus der Jackentasche, hielt es wie ein verrotztes Taschentuch in der Hand und kontrollierte sowohl die Empfangsbereitschaft als auch die Akkuleistung. Sodann schritt er voller Vorfreude die Straße entlang und bog alsbald rechts in einen schmalen Pfad ab, der ihn zunächst zwischen Feldern hindurch, später an einem kleinen Weiher vorbei, schlussendlich hinauf in den Wald führte.

Nicht ihm galt in den bevorstehenden Wochen seine ungeteilte Aufmerksamkeit, sondern den Pilzen, die jetzt übermütig fast überall aus dem Boden schnellten. Aber die richtigen Plätze, die, wo seine Lieblinge, die Steinpilze, zu wahrer Größe heranwuchsen, kannten nur er und paar wenige alteingesessene Pilzjäger. Kiloweise schleppte er sie jedes Jahr mit nach Hause. Auf dem Dachboden hatte er sich Regale gebaut, wo sie zum Trocknen ausgelegt werden konnten. Inzwischen hatte sich ein schier unerschöpflicher Vorrat angehäuft. So manches Mittagessen wurde damit veredelt. Ob Schweinebraten oder Wiener Schnitzel, Roulade oder Gänsebrust, er liebte sie zu all seinen Leibspeisen.

Wie man den Gallenröhrling mit einem Steinpilz verwechseln konnte, würde ihm auf ewig ein Rätsel bleiben. Wer keine Ahnung von Pilzen hat, sollte das Sammeln sein lassen und sich mit Konserven begnügen. Außerdem rissen die meisten Laien das halbe Pilzgeflecht bei der Ernte gleich mit aus dem Boden. Was blieb war ein hässliches Loch, in dem bestimmt nie wieder ein Pilz wachsen würde.

Verfluchte Amateure!

Auch der Maronenröhrling stand auf seiner Liste, die selten gewordenen Pfifferlinge oder die in Massen vorkommenden Birkenpilze. Zur Not taten es selbst Champignons, die zierlichen Stockschwämmchen oder Butterpilze. Diese galt es jedoch am selben Tag zu verspeisen, denn zum Trocknen eigneten sie sich nicht. So gab es an diesen Abenden für seine Erna und ihn stets eine Pfanne voll herrlich duftender Pilze in Rührei.

Und Tschernobyl?

Was soll’s?, sagte er jedem, der es hören wollte. Das Fichtelgebirge strahlt ja von Haus aus. Mein Vater ist sechsundneunzig geworden. Und der hat ein Leben lang hier gewohnt und seine Pilze gegessen.

Mit Argusaugen (und dem Spürsinn des Kenners) drehte er seine erste Runde. Seine festen Schritte wurden von dem weichen Nadelboden abgefedert; aus den tiefgrün schimmernden Moosteppichen spritzte bei jedem Tritt das Wasser in winzigen Fontänen empor. Vor zwei Tagen hatte es bei milden Temperaturen ausgiebig geregnet. Die Erfolgsaussichten waren hervorragend.

Hanns hatte eine imaginäre Landkarte von diesem Wald in seinem Kopf, ein auf den Meter genaues Abbild all der Standorte, an denen seine Freunde zuhauf gediehen. Kein Hindernis konnte ihn aufhalten: kein Pflanzzaun, kein Gestrüpp, selbst das dichteste Unterholz nicht. Nach dem warmen Guss benahmen sich die jungen Fichten wie klatschnasse Scheuerbürsten. Das bunte Laub der Buchen, Ahorne und Birken triefte ohnegleichen. Obwohl er eine dicke Jacke anhatte, konnte es leicht vorkommen, dass ihn bei der Kontrolle einer Pilzkolonie unter Ästen und Sträuchern das kalte Nass wie aus Bechern in den Nacken rann. Aber davor scheute ein echter Pilzgänger nicht zurück. Es gehörte einfach dazu, war der Tribut an den Wald, den er seiner Schätze beraubte.

Im Nu hatte er den ersten Stoffbeutel mit Steinpilzen gefüllt. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd, als er aus dem Dickicht brach, sein Messer am Hosenbein abwischte und auf den Forstweg einbog.

Die aufgehende Sonne entzündete die Spitzen der Fichten. Orangerot leuchteten sie wie brennende Kerzen zu ihm hinunter. An einem Stamm in nächster Nähe rannte ein Kleiber um sein Leben. Hoch über ihm verkündete eine Krähe den Tagesanbruch. Ein aufgeschreckter Hase ergriff die Flucht. Ein verschlafenes Reh kreuzte seinen Weg.

»Ist das nicht wunderschön?«, murmelte er selbstvergessen vor sich hin. Heute war ein Tag wie kein anderer. Vielleicht sollte er bis hoch zur Ruine laufen, die Aussichtsplattform erklimmen und das Über-den-Wolken-schweben genießen. Lange war er nicht mehr da oben gewesen – zu lange, wie er feststellte.

Er verließ den Forstweg, wandte sich nach links, kreuzte eine Gruppe junger Erlen, die rings um einen verwachsenen Tümpel gediehen, und fand sich bald auf dem Pfad wieder, der ihn, den Rundwanderweg kreuzend, direkt bis zum Gipfel führte.

*

Irgendetwas war heute anders als sonst. Er spürte es in seinem linken Knie, als er sich der Hütte näherte, die als Unterschlupf und Rastplatz diente. Gegenüber standen stumm die drei Leichenstümpfe der alten Buchen, die vor Jahren einem Sturm zum Opfer gefallen waren. Zwischendrin thronten nach wie vor die steinernen Bänke und der massive Tisch aus heimischem Granit. 1805 war an seiner Stirnseite zu lesen, das Jahr, in dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm zusammen mit Gattin Luise den Epprechtstein bezwungen hatte. Für den hohen Besuch waren extra Treppen und Wege angelegt worden, damit das Herrscherpaar ungehindert die reizvolle Aussicht genießen konnte. Anschließend tafelte man königlich im Steinrund am Luisensitz. Leider wurde die ausgelassene Stimmung des Tages durch die Kunde von Napoleons Rheinüberschreitung getrübt.

»Das interessiert heutzutage sowieso keinen mehr«, resümierte Hanns und stapfte weiter.

Vereinzelt wurden träge Nebelfahnen über den Rand des schmalen, nach Südwest gerichteten Plateaus gespült, das die Gipfelregion in zwei etwa gleichgroße Hälften teilte. Hanns blieb stehen. Direkt neben dem Pfad schimmerte ein Hexenring im taubewehrten Gras. Hier oben hatte er bislang keinen gesehen. Er bückte sich und musterte die kreisrunde Erscheinung. Waren das Feldschwindlinge? Oder späte Risspilze? Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, und das war ihm, dem Pilzkenner par excellence, wirklich niemals untergekommen.

»Teufelnocheins!«

Er wagte es nicht, einen der Fruchtkörper aus dem Kreis zu nehmen – in dieser Hinsicht war er abergläubisch. Er hatte bisher auch nie einen von ihnen betreten und für nichts in der Welt vor, dies heute zu ändern. Dass das bestenfalls Unglück brachte, wusste jedes Kind. Es gibt Dinge, die lässt man lieber bleiben. Das Schicksal herauszufordern war nicht seine Lebensart.

Er wollte sich eben aufrichten, als ihn der Schmerz ohne Vorwarnung in die Lendenwirbel fuhr. »Hexenschuss, auch das noch!«, jammerte er mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Jetzt passte alles zusammen. Mit Mühe (und eine Hand stützend in die Hüfte gestemmt) wollte er den Rückweg antreten. Die Lust an der Aussicht war ihm mit einem Mal restlos vergangen. Jetzt würde er Stunden brauchen, um nach Hause zu kommen. Falls sich dies überhaupt bewerkstelligen ließ.

Während er überlegte, ob es in dieser misslichen Situation nicht besser wäre, die gesammelten Pilze hier zu lassen oder Erna anzurufen, um sich von ihr Rat und Tat zu holen, erkannte er etwas an der steil aufragenden Felswand neben dem Königsweg, das dort nie und nimmer hingehörte. Es sah aus wie ein Kreuz, aber verkehrt herum. Und da hing etwas an ihm. Oder spielten ihm seine Augen einen Streich?

»K-r-u-z-i-f-i-x«, stammelte er fassungslos. Sein Herzschlag setzte aus; ihm wurde kurz schwarz vor Augen. Gegen seinen Willen (und unter ziehendem Schmerz) humpelte er entschlossen darauf zu, befand sich bald auf dem Steinweg, direkt unter dem seltsamen Gebilde, und erstarrte. »Herrgott, das darf doch nicht …«

Überall geronnenes Blut. In einer breiten Fahne pappte es am Fels. Unter seinen Füßen hatte es sich zu einer dicken, matt schimmernden Lache verkrustet. Er hatte schon viel Blut in seinem langen Leben gesehen. Früher, als sie zuhause alljährlich das Schwein geschlachtet hatten, das ganz hinten in der Scheune ein kümmerliches Dasein fristete, das er als Kind nur zweimal zu Gesicht bekam, an dem Tag, als sie es in den finsteren Stall führten, und an dem Tag, da es geschlachtet wurde. Er hatte immer das Blut in der Schüssel rühren dürfen, und es hatte ihm nie etwas ausgemacht. Sein Vater hatte ihm gezeigt wie man Hühner, Gänse und Tauben ausnahm, wie man den Hasen das Fell abzog, damit es unversehrt und sauber blieb und für gutes Geld verkauft werden konnte. Aber das hier war etwas anderes. So viel Blut auf einem Haufen hatte er nie zuvor gesehen. Es musste hektoliterweise geflossen sein.

Zögernd, mit trockenem Mund und schweißnassem Gesicht, hob er scheu den Blick. Da hing ein Kreuz über ihm, ein Holzkreuz, und an diesem Kreuz war ein nackter menschlicher Körper befestigt. Da waren Arme, links und rechts, aber keine Hände, nur Stümpfe. Und auch dazwischen fehlte etwas. Dort, wo der Kopf sein sollte, klaffte ein ausgefranstes, dunkelrotes Loch.

Hanns wich ein, zwei Meter zurück, ging in Begleitung eines Schmerzensschreis in die Hocke, versuchte sich mit einer Hand am Fels abzustützen, wurde durch das entstandene Ungleichgewicht um 90 Grad gedreht und gegen die Wand gedrückt.

Schluss, aus, vorbei!

Ergeben lehnte er sich gegen den kalten Granit und fummelte umständlich sein Handy aus der Jackentasche. Im Speicher befanden sich zwei Telefonnummern: die von daheim und die des Notrufs.

III.

Fürchtegott Hager hatte an diesem Morgen verschlafen. Das war ihm, solange er denken konnte, niemals untergekommen. Ob es daran lag, dass er am Abend zuvor vergessen hatte, den Radiowecker auf Alarm zu stellen, wusste er im Nachhinein nicht zu sagen. Er war hochgeschreckt, eilig aus dem Bett gesprungen und ins Bad geschlitzt. Fünf Minuten später hatte er, unrasiert und in den Klamotten vom Vortag, die Wohnung verlassen, hatte sich weder die Zeit genommen, die verdutzte Nachbarin im Treppenhaus zu grüßen noch die Tageszeitung aus dem Briefkasten zu nehmen. Er war, als sei der Teufel hinter ihm her, blindlings über den Rasen gespurtet, hatte sein Garagentor lautstark aufgerissen, keuchend den Schlüssel ins Zündschloss gefummelt und mit durchdrehenden Reifen und lautem Motorgeheul die Einfahrt verlassen. Um ein Haar wäre er dabei von einem Wagen erfasst worden.

Ganze vierzehn Tage war er bereits Strohwitwer. Noch einmal so lange würde es dauern, bis Irmgard in seinem Leben wieder für die nötige Ordnung und Gleichmäßigkeit sorgen würde. Nie im Traum hätte er gedacht, dass sie ihm derart fehlen könnte. Er ging ihr zwar nicht aus dem Weg, aber wie es eben nach dreiundzwanzig Ehejahren üblich ist, hatte sich jeder seine Freiräume erfochten. Die gemeinsam verbrachte Zeit hielt sich im Rahmen des Unumgänglichen. Für gewöhnlich liebte er die Stille in der Wohnung, selbst bei den Mahlzeiten. Jetzt war es ihm eindeutig zu monoton. Die Geräusche aus den Nachbarwohnungen kamen ihm leiser vor als sonst, wo es leicht passieren konnte, dass er seine Mitbewohner an Rücksicht und – falls unumgänglich – an Vorschriften erinnerte. Verwundert stellte er fest, dass er Selbstgespräche führte: im Bad, im Wohnzimmer, sogar im Schlafzimmer. Zudem war er bereits um drei Kilo abgemagert, und daran war nicht nur das dürftige Kantinenessen schuld. Der Hunger wollte einfach nicht kommen, nicht in der sterilen Kantine, und erst recht nicht zuhause, wenn er allein am Tisch saß und ihn die Einsamkeit übermannte. Das war ganz und gar neu für ihn. Richtig unheimlich!

Was musste sie auch diese sinnlose Kur antreten. Seit zweiunddreißig Jahren arbeitete er nun ohne Unterlass; an eine Kur für ihn hatte bisher keiner gedacht. Beschweren wollte er sich nicht, weder bei seinem Hausarzt noch bei seiner Frau, aber wenn es einer verdient hatte, alle viere von sich zu strecken, dann er!

Bad Soundso, irgendwo an der Ostsee. Er hatte den Namen nie gehört und gleich wieder vergessen, nachdem sie ihm allerlei Prospekte und die Kostenzusage der Krankenkasse präsentiert hatte. Nicht im Traum hatte er damit gerechnet, dass sie Ernst machen würde. Alles, was von ihr geblieben war, war eine Telefonnummer für Notfälle. Am dritten Tag, nachdem sie ihn mit zwei Koffern und einer Handtasche bewaffnet in einem Taxi verlassen hatte, hatte er die Nummer in sein Handy eingegeben, an erster Stelle, unter der Rubrik Familie! Je länger er ohne sie auskommen musste, desto stärker wurde der Wunsch, einen Notfall zu konstruieren.

In Rekordzeit hatte er seinen Parkplatz erreicht. Nicht, dass ihn irgendwer für die Verspätung gerügt hätte oder gar irgendwelche Konsequenzen zu erwarten waren (es war Samstagmorgen), nein, einzig und allein seine Vorstellung von Arbeitsmoral, seine Dienstbeflissenheit sowie ein Berg unerledigter Aufgaben war für den Eifer verantwortlich. Früh war er der Erste, abends der Letzte. Morgenstund hat Gold im Mund! war einer seiner Lieblingssprüche. Was du heute kannst besorgen … ein anderer. Er galt von jeher als hochgeschätzter Kollege, genoss seit Jahren seitens seines Vorgesetzten jedwede Handlungsfreiheit. Man konnte sich allzeit auf ihn verlassen. Hundertprozentig!

Ungesehen betrat er das Gebäude durch den Seiteneingang, stapfte eilends die Treppe hinauf, den leeren Gang entlang, und huschte unbemerkt in sein Büro. Erst als er hinter seinem Schreibtisch saß und die Kaffeemaschine vor sich hin röchelte genehmigte er sich eine Minute der Ruhe. Sein PC schnurrte leise wie ein Kätzchen. Der Bildschirmschoner zeigte im Wechsel private Urlaubsfotos aus dem vergangenen August: mehr, oft weniger gelungene Aufnahmen von Madeira.

Er würdigte ihn keines Blickes. Drei Aktenhefter lagen vor ihm in der Mitte: zwei grüne unten, ein roter obenauf – sein heutiges Pensum. In der Ablage links warteten, penibel und in der richtigen Reihenfolge sortiert, diverse Unterlagen für die zu bearbeitenden Fälle: hauptsächlich Vordrucke und Formulare, ein Führungszeugnis, diverse Auflistungen aus der Flensburger Sündenkartei, zwei Zeugenaussagen, eine in miserablem Deutsch verfasste Selbstanzeige, eine mit Fettflecken übersäte Unfallskizze und derlei mehr.

Das war sein Alltag. Die großen Fische schwammen im Meer; er hatte sich mit den kleinen zu begnügen, die in den Bächen, bestenfalls in den Flüssen vor seiner Haustür herumzappelten.

Erst vor fünf Jahren war er zum Oberkommissar befördert worden. Ob er es jemals bis zum Hauptkommissar schaffen würde (seine Irmgard glaubte mit Hingabe daran), stand lange nicht fest. Die Dienststelle war zu klein, die Aufgabenstellungen nicht anspruchsvoll genug, und die Kassen des Staates waren ohnehin permanent von Leere bedroht. Für einen bescheidenen Lebensabend würde seine Pension allemal herhalten können. Irmgard würde keinerlei Grund zur Klage haben. Zusammen mit ihrer Sekretärinnenund der Zusatzrente würde sich ihr späteres Einkommen unwesentlich von den jetzigen Einnahmen unterscheiden. Die Eigentumswohnung war annähernd abbezahlt, Geld für ein neues Auto stellte nie ein Problem dar, und für den alljährlichen Sommer- und Winterurlaub würde es ebenso reichen. Bis dahin galt es jede Menge Gesetzwidriger zu überführen und dingsfest zu machen. Für ihn bestand das Leben ausschließlich aus Lug und Trug, aus Neid und Missgunst, aus Mord und Totschlag. Was übrigens den Mord anbelangte, so war er bisher von wirklich Aufsehen erregenden Fällen verschont geblieben. Totschlag, Raub, Vergewaltigung, auch Kidnapping, konnte es heutzutage immer geben, selbst hier, in der Provinz, wo sich eben nicht nur Fuchs und Hase Gute Nacht sagten.

Selbst der harmloseste Zeitgenosse war in den letzten Jahren rücksichtsloser geworden. Brutalität stand auf der Tagesordnung. Bereits im Kindergarten prügelte man aufeinander ein, von den Straftaten an Schulen ganz zu schweigen. Wir hatten Gewalt längst zur Tugend erklärt, da half keine noch so gut gemeinte Prophylaxe, kein noch so lückenloses Gesetzbuch. Der Krieg war lange her. Die wenigen lebenden Zeitzeugen vegetierten außerhalb von Gesellschaft und Aufmerksamkeit in Pflegeheimen vor sich hin. Kein Lebewesen verlernt und vergisst so schnell wie der Mensch; kein Tier zieht so rücksichtslos mit seinesgleichen zu Felde. Brauchen wir wirklich erst einen neuen Krieg im Lande, um zu realisieren, dass wir miteinander weit besser leben können als gegeneinander? Homo sapiens sapiens, wo bist du?

In dubio pro reo! Wenn er das schon hörte. Jeder Gangster und Dieb wurde heutzutage regelrecht ermuntert, Straftaten zu begehen, weil es ihm so mancher ungeschoren davongekommene Staatsvertreter, Industrieboss oder Fußballstar ungeniert vormachte. Nehme sich jeder, so viel er will!, so lautete die Devise. Und der Rest schaute weg. Nicht aus Gram um die herrschenden Ungereimtheiten, sondern weil er selbst mit Machenschaften abgelenkt war. Nämlich damit, seine eigenen schwarzen Schäfchen ins Trockene zu bringen, statt sich um die Impertinenzen des Nachbarn zu kümmern. Und überhaupt galt: Eine Krähe kratzt der anderen kein Auge aus. Siehst du weg, sehe ich auch weg. So läuft das!

All diese Sozialpädagogen und Therapeuten sehen in jedem nur einen auf den falschen Weg gekommenen Engel. Eine katastrophale Kindheit genügt, um sich von aller Schuld freizusprechen. Geldsorgen oder Eifersucht rechtfertigen jedes Mittel. Aber ein gefallener Engel ist und bleibt ein Teufel. Zweifel und Strafe wären nicht nur angebracht, sondern wünschenswert, um das Volk endlich auf den Weg der Tugenden zurückzuführen.

Er wollte sich eben erheben, um sich eine stärkende Tasse Kaffee einzuverleiben, als das Telefon klingelte. Bevor er abhob, schaute er auf seine Armbanduhr. Es war drei viertel acht. Was er zu hören bekam, konnte er kaum glauben …

IV.

Mit der Samstagsruhe war es vorbei. Mit der Ungewissheit ebenfalls. Ein startender Rettungshubschrauber verscheuchte unter lautem Getöse die letzten hartnäckigen Dunstschleier; ein zweiter der Polizei zog lärmend Kreise über dem Gipfel. Die Bergwacht, ein Polizeibeamter und das Team der Spurensicherung mühten sich ab, das wuchtige Holzkreuz mit dem verstümmelten Leichnam über den Rand der Ruinenmauer zu hieven. 135 Aufnahmen vom Tatort waren gemacht, Fußabdrücke für die Dauer der Ermittlungen in Gips festgehalten, sämtliche vorfindbaren DNA-Spuren gesichert. Dem zweiten Streifenpolizisten war die unerquickliche Aufgabe zugefallen, mithilfe einer Videokamera die Geschehnisse rund um den Tatort auf Speicherkarte zu bannen. Es hätte ein Dutzend solcher Kameras und Beamter gebraucht, um den gelieferten Szenen Herr zu werden. Hanns bekam von alldem nicht viel mit. In Rekordzeit war der Rettungshubschrauber auf dem schmalen Grat wie ein monströses Insekt gelandet. Sekunden später waren die Sanitäter und der Notarzt bei ihm gewesen, hatten ihn kurzerhand auf die mitgebrachte Liege verfrachtet und waren mit ihm zu dem Gefährt zurückgeeilt. Ganz flüchtig hatte er in ihren Gesichtern lesen können, dass der Anblick der Leiche und die Umstände drum herum ein nicht alltäglicher Anblick waren. Man hatte ihm eine Spritze gegen die Schmerzen im Kreuz in den Allerwertesten gegeben. Jetzt lag er mit angewinkelten Beinen auf dem Rücken fest verzurrt im Innern des Helikopters und spürte, wie der Hubschrauber der Schwerkraft ein Schnippchen schlug. Er war bis dato nie geflogen. Es fühlte sich gut an, kribbelig in der Magengegend, und er stellte mit Erleichterung fest, wie das Erlebnis des Fliegens die Bilder in seinem Kopf nach und nach zu verdrängen begann.

*

Völlig außer Puste erreichte Kommissar Hager rund vierzig Minuten später den Tatort. Das war persönlicher Rekord, und nur den Tatsachen zu verdanken, dass die Straßen relativ leer waren und sein aufgepflanztes Blaulicht für freie Bahn gesorgt hatte. Was ihm am Telefon in nüchternen Worten verkündet worden war, hatte zu unglaublich, zu abwegig geklungen, als dass sein Verstand dazu in der Lage gewesen wäre, Bilder zu generieren. Hier und jetzt genügte ein Blick, um seinem Schöpfer zu danken, dass er heute verschlafen hatte. Er war ohne Frühstück und ohne seinen ersten Bürokaffee sofort nach dem Anruf Hals über Kopf aufgebrochen. Und das war gut so. Jedwede Nahrung hätte sich bei diesem Anblick auf und davon gemacht. Das wäre ihm nicht nur äußerst peinlich gewesen, sondern in erster Linie hätte es unprofessionell, geradewegs stümperhaft auf die Kollegen wirken müssen. Zwar konnte er Blut sehen (solange es nicht sein eigenes war), aber dies hier musste eine regelrechte Schlachtorgie gewesen sein. Der Anblick ging ihm gehörig an die Nieren.

Er wich der zähen Masse aus und schickte sich an, die Stufen zu erklimmen, die zur Aussichtsplattform führten. Alles, was er jemals über Morde gesehen, gehört oder gelesen hatte, stellte dies hier in den Schatten. Da war er, der aufsehenerregendste Fall seines Lebens, ungeschönt und in all seiner widerwärtigen Deutlichkeit. Fürchtegott schluckte nervös. Etwas Magensäure brannte auf seiner Zunge.

Es war mit vereinten Kräften gelungen, das Kreuz über die dicke Mauer zu wuchten. Während sich ein Polizist mit seinem ganzen Gewicht abmühte, das fragil abgelegte Corpus Delicti in der Waage zu halten, sammelte sich das Team der Spurensicherung unterhab der Mauer im Hof, um die ungeheuere Fracht entgegenzunehmen.

Kommissar Hager beobachtete die Szene mit säuerlicher Miene. Ein zerstückelter Leichnam war so neu für ihn, dass er mit skurriler Faszination Körper und insbesondere Trennstellen genauestens begutachtete. In erster Linie war diese Aufmerksamkeit jedoch als Ablenkungsmanöver gedacht. Sein Gehirn lehnte strikt die Tatsache ab, dass es sich bei diesem blutverschmierten Fleischklumpen um einen Menschen handelte, der bis vor wenigen Stunden quietschfidel und lebendig gewesen war.

»Was ist hier geschehen?«, sagte er eher zu sich selbst, als zu der geschäftig durcheinanderredenden Truppe unter sich.

Der Chef der Kriminaltechnik, ein vierschrötiger Kerl mittleren Alters, mit wachsamen Augen und einer dicken Knollennase, der sich unbemerkt neben ihm eingefunden hatte und seine Handschuhe abstreifte, zuckte mit den Schultern. »Um deine Frage zu beantworten, ist es reichlich früh.«

Fürchtegott Hager fuhr unwillkürlich zusammen und wirbelte herum.

»Entschuldige«, sagte der Mann, »ich wollte dich nicht erschrecken. Grausame Sache. Da hat jemand ganze Arbeit geleistet. Es wird nicht leicht werden, die Identität des Opfers ausfindig zu machen. Wenn der Pathologe keine besonderen Merkmale am Körper findet, wird es die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Du wirst wohl oder übel allen Vermisstenmeldungen nachgehen müssen, selbst den überregionalen.«

Fürchtegott Hager räusperte sich. »Gibt es verwertbare Spuren, Alfons?«

»Wir sind lange nicht fertig. Selbst der unmittelbare Tatort ist nicht vollständig gesichert. Aber was heißt das schon? Wir müssen sämtliche infrage kommenden Wege untersuchen. Wenn der Mann hier oben umgebracht wurde – was ich nicht annehme –, wird’s kriminell. Aber selbst wenn ihn sein Mörder bereits tot zur Ruine geschleppt haben sollte, wird es schwierig werden, die dazugehörigen Spuren zu finden.«

»Wieso meinst du, dass er nicht hier oben umgebracht wurde?«

»Na, das Kreuz!« Alfons zwinkerte kurz. »Irgendwie muss es hier hergebracht worden sein.«

»Du meinst vor dem Mord?«

»Besser ein Holzkreuz alleine lassen, als eine Leiche, hab ich recht?«

»Hm! Und wenn das Kreuz bereits vor der Tat hier deponiert wurde, könnte das Opfer selbst auf den Berg gestiegen sein.«

»Mit dem Mörder!«

»Oder den Mördern.«

Alfons lachte glucksend: »Anders kann es nicht gewesen sein. Oder was würdest du sagen, wenn dir ein Wanderer begegnet, der ein Holzkreuz auf den Schultern trägt?«

»Ich würde ihn fragen, ob er sich nicht in der Zeit und im Ort geirrt hat.«

Alfons Gesicht wurde zu einer fragenden Grimasse.

»Ostern ist lange vorbei«, bemerkte der Kommissar lakonisch.

»Und wir sind nicht in Oberammergau, verstehe!«, platzte es aus Alfons heraus.

»Die letzten Tage hat es geregnet. Wieso sollte es schwierig sein, Spuren zu finden?«

»Weil wir selbst genügend hinterlassen haben. Im Prinzip müsste der ganze Epprechtstein weiträumig abgesperrt werden.«

Hager holte tief Luft. »Wie soll das gehen?«

»Da lass dir mal was einfallen. Aber beeil dich.« Alfons blickte zum Himmel, der ein zartes Blau zeigte. »Der Tag wird wunderschön. Da sind bestimmt reichlich Wanderer unterwegs. Die werden uns bis Mittag den Rest zertrampelt haben.«

»Du hast vollkommen recht. Wir benötigen genügend Männer, die einen ganzen Quadratkilometer absuchen können.« Fürchtegott Hager legte den Zeigefinger an die Unterlippe. »Ich brauche dringend Verstärkung. Am besten sofort. Wenn sich die Sache erst rumgesprochen hat, werden die Journalisten den ganzen Epprechtstein belagern.« Er seufzte. »Wer hat eigentlich die Leiche gefunden?«

»Ein Schwammerlsucher, soweit ich weiß.« Alfons verzog die Mundwinkel. »Dem ist bei der Schweinerei hier bestimmt der Appetit vergangen. Sie mussten ihn auf der Trage wegschaffen, so fertig war der Kerl.«

»Wen wundert’s?«

Alfons kratzte sich am Kinn. »Sag mir eins: Wer tut so was?«

Der Kommissar stöhnte. »Jedenfalls war es keine Tat im Affekt. Das war eine von langer Hand geplante Hinrichtung. Mehr fällt mir im Augenblick dazu nicht ein.« Hager wandte sich zum Gehen. »Wenn’s Neuigkeiten gibt, gleich Bescheid sagen, ja?«

»Geht klar!«

Er eilte die Stufen hinab und blieb im Burghof bei dem verunstalteten Leichnam stehen, der von etlichen Männern der Kriminaltechnik umringt und von dem gerufenen Pathologen genauestens von allen Seiten begutachtet wurde.

Hager räusperte sich: »Nach der Todesursache brauche ich wohl kaum fragen, wie?«

»Ganz schöne Sauerei«, sagte der Arzt und wandte sich von der Leiche ab. Die dicke Brille war ihm auf die Nase gerutscht; die grauen Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Seine dunklen Augen verhießen nichts als berufliche Routine. »Trotzdem guten Morgen, Herr Kommissar!«

»Den hab ich mir irgendwie anders vorgestellt«, gab Hager von sich.

»Kann ich Ihnen nicht verdenken.«

»Lässt sich schon was sagen?«

»Wenig«, gestand der Gerichtsmediziner. »Männliche Leiche. Auf den ersten Blick würde ich sagen zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Aber da will ich mich nicht festlegen.« Der Blick des Profis trat erneut über den Brillenrand. »Erstens fehlen ein paar wichtige Indizien.« Er deutet kurz hinter sich auf den offenen Halsbereich und die beiden Armstümpfe der Leiche. »Zweitens muss der Körper erstmal gründlich gereinigt werden.«

Der Kommissar nickte einvernehmlich.

»Außerdem bieten sich als eigentliche Todesursache diverse Möglichkeiten an: Wurde er erst getötet, dann gekreuzigt, dann geköpft und zuletzt die Gliedmaßen entfernt? Oder wurde er erst gekreuzigt und anschließend getötet, indem man Hände und Kopf abtrennte? Starb er durch den Blutverlust am Kreuz und wurde erst hinterher verstümmelt? Oder durfte er die ganze Prozedur hautnah miterleben? Tja, das wird länger dauern.«

Hager wurde ganz schwindelig im Kopf. »Wann …«, er hustete, »kann ich mit den ersten Ergebnissen rechnen?«

»Am Montag. Frühestens!«

»Verstehe.« Hager wandte sich um, durchschritt die schmale Pforte in der Burgmauer und lief den Weg zurück, den er gekommen war.

»Kommissar Hager!«

Fürchtegott warf einen Blick über die Schulter.

»Warten Sie!«

Der Streifenpolizist mit der Videokamera kam auf ihn zu geeilt. Er schwenkte den Apparat an seinem Handgelenk wie eine Bowlingkugel kurz vor dem Abwurf. »Polizeimeister … Schuster«, stellte er sich außer Atem vor.

Fürchtegott Hager verfiel augenblicklich in die Vaterrolle. Dem jungen Kollegen war der Diensteifer überdeutlich im Gesicht abzulesen. »Schuster, soso! Du hast den Tatort wohl auf Film festgehalten, was? Sehr umsichtig, gut gemacht! Hast du auch bestimmt nichts vergessen?«

»Ich glaube nicht.«

»Dann sieh dir die Aufnahme lieber gleich mal an. Du weißt ja, jede Kleinigkeit kann im Nachhinein wichtig sein. Äh, warst du der Erste hier oben?«

»Bauer und ich. Wir waren zufällig in der Nähe, als der Notruf kam. Aber bis man hier ankommt, dauert es ein Weilchen. Wir mussten uns erst schlaumachen, auf welchen Forststraßen man bis ganz nach oben gelangt.«

»Und wieso habt ihr nicht einfach euren Wagen unten stehen lassen und seid gelaufen? Also ich in eurem Alter …«

Der junge Kollege sah ihn bestürzt an. »Wir … wir wussten ja nicht, was wir brauchen würden – aus dem Streifenwagen, meine ich. Hätten wir etwas vergessen, hätte einer von uns zurück gemusst und es hätte noch länger gedauert. Außerdem …«

Das ist wieder einmal typisch!, dachte Hager in seiner Meinung bestätigt. Trotz Übereifer (oder gerade deshalb?) wählten diese Jungen Wilden zumeist den falschen Vorgehensweg, nämlich den bequemsten. Dabei wurden sie während ihrer Ausbildung gerade im sportlichen Bereich so richtig rangenommen. Kaum war der erste Streifen auf der Jacke, ließen Begeisterung und Tatkraft nach. Dienstjahre sind keine Herrenjahre!, dachte er wehmütig an seine eigene Anfangszeit zurück.

»… und da dachten wir, dass es am besten sei …«

»Schon gut, schon gut!« Hager gab sich versöhnlich. Er verspürte im Augenblick nicht die geringste Lust, dem jungen Kollegen gegenüber eine Moralpredigt über seine Vorstellung von Diensteifer vom Stapel zu lassen. »Was ist mit dem Mann, der den Toten gefunden hat?«, fragte er stattdessen.

»Er befindet sich auf dem Weg ins Krankenhaus. Der Alte ist fix und fertig.«

»Das weiß ich. Weiter?«

»Er heißt Hanns Soundso. Kollege Bauer hat Name und Adresse notiert.«

»Na, es hat wohl wenig Sinn, ihn gleich zu befragen. Der muss erst wieder auf die Beine kommen«, überlegte der Kommissar.

»Er hat gesagt, dass er zum Pilzesammeln unterwegs gewesen sei. Wollte nur kurz hier hoch, um die schöne Aussicht zu genießen, und fand einen Hexenring.«

Fürchtegott blickte den Polizisten von unten herauf an. »Hexenring?«

»Na, so einen Ring aus Pilzen halt. Er muss hier irgendwo sein.« Schuster blickte suchend um sich.

»Hexenring hin oder her, das wird nicht so wichtig sein. Was hat er sonst noch gesagt?«

»Dass er einen Hexenschuss bekam.«

»Hexenschuss. Soso.« Hager schüttelte den Kopf.

»Im Hexenring!«, sah sich Bauer verpflichtet, der Vollständigkeit halber hinzuzufügen.

»Mitten drin – unglaublich!« Die Miene des Kommissars verfinsterte sich. »Ist der Kerl überhaupt zurechnungsfähig?«

»Er machte auf mich einen ganz normalen Eindruck.«

»Jaja.« Fürchtegott Hager ließ den Kollegen stehen. Was er zu allererst brauchte, war ein freier Kopf. Hier oben, in all dem Durcheinander, würde er den bestimmt nicht bekommen. Sein Büro war der einzige Ort, an dem er sich voll auf seine Fälle konzentrieren konnte, selbst wenn er Gefahr lief, von Kollegen, eingehenden E-Mails oder Telefonaten unterbrochen zu werden. Er brauchte alle Fakten greifbar vor sich, sonst konnte er nicht effektiv arbeiten. Leider gab es zu diesem Fall bisher nichts als Fragen, und selbst die galt es sinnrichtig und nicht voreilig zu stellen. Mit dieser Kreuzigung wollte der Täter nicht nur sein Opfer erniedrigen, er wollte ein Zeichen setzten. Und was die Tatsache der Verstümmelungen anging, so gab es womöglich mehr Gründe, als den, dessen Identität zu verwischen.

Fürchtegott Hager zuckte zusammen. Religiöse Motive vielleicht? Er wusste, es gab allerlei obskure Gruppen, die hin und wieder selbst vor abwegigen Riten nicht zurückschreckten. Die Gipfel des Fichtelgebirges erklimmen und auf einen prophezeiten Weltuntergang warten war die harmloseste Variante. Aber das Kreuz hing verkehrt herum an der Mauer. Ein Hinweis auf satanische Gruppen? Bloß nicht!, hoffte Hager inständig. Mit derlei Weltanschauungen konnte und wollte er sich nicht auseinandersetzen müssen.

Mühsam stapfte er den Berg hinab. Die Lösung des Falles schien plötzlich in unerreichbare Ferne gerückt. Er brauchte Zeit: Zeit, die er bestimmt nicht bekommen würde, wenn erst die Medien auf den Mord aufmerksam geworden waren. Nicht nur sein Chef, die ganze Öffentlichkeit säße ihm alsbald zwingend im Nacken. Bei so einem Fall waren die Gemüter schnell erhitzt, wurden rasch Stimmen laut, wenn die Ermittlungserfolge auf sich warten ließen. Er gestand es sich nur ungern ein, aber was er dringend brauchte, war Unterstützung. Die Frage war nur, von welcher Seite …

V.

Irgendwo klingelte ein Telefon. Gerade jetzt, wo er die Prozession beobachtete, die sich majestätisch dem flachen Hügel inmitten der Lichtung zuwandte. Sie waren aus Osten gekommen. Mit Liedern hatten sie sich die ganze Nacht über wach gehalten. Zu dieser Zeit war es nicht ungefährlich im lauernden Wald. Bald würde ein Silberstreif über dem Horizont den neuen Tag begründen. Noch beleuchtete ein geheimnisvoller Mond die Welt der Altvorderen aus sicherer Distanz. Silbergrau glänzten ringsum die kahlen Wipfel der Bäume unter seiner Magie. Ganz im Gegenteil zu dem bleichen Leuchten am Himmel hielten die Menschen brennende Fackeln in ihren Händen. Das kalte Licht des Himmelskörpers unterstrich das Purpur der Flammen. Einer glühenden Schlange gleich bewegte sich der Zug lautlos höher und höher. Allen voran Schritt der Druide, in Fell gehüllt, ein Rentiergeweih auf seinem Kopf. Er konnte es nicht sehen, nur erahnen: sein Gesicht, seine Arme und sein Brustkorb waren voll heiliger Symbole. Seine Haut war ein einziges Kunstwerk, Ausdruck seines Ranges und Standes. Der Stock in seiner Hand besaß an seinem oberen Ende eine Gabelung, die in Form zweier perfekt symmetrischer Hörner der Dunkelheit trotzte. Er war der Erste, der den heiligen Hügel betreten durfte. Nur ihm war es erlaubt, sich dem Allerheiligsten zu nähern – dem mächtigen Opferstein, in dem heute kein Blut fließen, sondern das Feuer eines eng geschichteten Holzstoßes das lang ersehnte neue Jahr erwecken sollte. Der unerbittliche Frost und die schnell zur Neige gegangenen Vorräte hatten die Gruppe dezimiert. Der Winter war lang und der letzte Jagdzauber bescheiden ausgefallen. Die Götter waren nicht milde zu stimmen gewesen. Zwei von den Alten hatten sie zu sich geholt. Es war ein schmerzlicher Verlust. Nur heute konnten sie den Bund erneuern; nur heute besaß der Sonnenaufgang die nötige Kraft, um die Geschicke des Clans für die bevorstehenden Prüfungen zu lenken. Diesmal durfte nichts schief gehen. Nur ein großer Zauber, ein bis ins kleinste fehlerfreier Ritus war imstande, das vermisste Jagdglück und das fehlende Wissen der Alten heraufzubeschwören.

Der Druide wusste um seine Aufgabe. Schwer wie Blei lag die Verantwortung auf seinen Schultern. Mitten in der Ausbildung war ihm der Lehrmeister geraubt worden, dabei hätte es so viel von ihm zu lernen gegeben. Nun würden allein sein Geschick, seine Weitsicht und die Kunst, sich in die Welt der Altvorderen zu begeben, über das Schicksal seines Clans entscheiden. Versagte er, war das Ende ein für alle Mal besiegelt.

Das Telefon klingelte erneut – aufdringlich, unbarmherzig.

Hoffentlich war es nicht laut genug, die Zeremonie zu stören. Alles wäre vertan. Er fixierte den Meister, der mit dem ersten Sonnenstrahl seinen Stab senken würde, um das Holz auf dem Altar in Brand zu setzen. Noch war es nicht soweit. Die Götter ließen sich Zeit. Die Prüfung war hart.

Eine unendliche Weile standen sie bewegungslos da und harrten der Dinge. Die Glieder wurden ihnen schwer, die Augen drohten ihnen zuzufallen. Da endlich hielt der Morgen Einzug! Gleich würden das Feuer des Himmels und das Feuer auf dem Hügel die Finsternis für viele Monde vertreiben. Bald würden sie ihre Fackeln in die schwelgende Glut werfen. Das Licht würde zurückkehren.

Die Menge wurde still wie der verblassende Mond. Nun standen sie im Kreis um ihren Meister und den Altar herum und hofften auf Rettung.

Aber was war das? Wiederum dieses vermaledeite Telefon.

Er hielt den Atem an. Der erste Sonnenstahl glitzerte zwischen den Bäumen hindurch. Doch was machte der Druide? Er zögerte, verweigerte seinem Stab die alles verzeihende Handlung durchzuführen.

Die Menge wurde unruhig. Alle starrten zu ihm hinab. In ihren Gesichtern war nichts als Wut und Entsetzen zu lesen. Sie gerieten in Bewegung. Einer nach dem anderen rannte den Hügel hinunter, kam direkt auf ihn zu. Ihre Augen schrien förmlich nach Rache, nach Vergeltung, nach Genugtuung. So würden ihnen die Götter niemals verzeihen. Es musste ein größeres Opfer her – ein Menschenopfer –, und sie hatten es gefunden …

Kopfschüttelnd und mit einem Lächeln auf den Lippen öffnete er die Augen. So ein Blödsinn! Er räkelte sich ausgiebig unter der Bettdecke. Die Wintersonnenwende war Geschichte, das Klingeln des Telefons keineswegs.

Gähnend stieg er aus den Federn und schlurfte zur Zimmertür. Das Telefon, ein schwarzer Apparat aus Bakelit, schrillte ihm angriffslustig entgegen. War denn Frau Wehrfried, seine Vermieterin für die Dauer der Ausstellung, nicht wach? Sie stand immer sehr früh auf, obwohl sie es sich hätte leisten können, länger im Bett liegen zu bleiben. Aber im Alter, wohl gerade weil man es könnte, gab man sich mit wenigen Ruhestunden zufrieden.

Der Joint des vergangen Abends und der Rest Whisky hatten die bei ihm übliche Wirkung gezeigt. Er fühlte sich putzmunter und ausgeruht. Es würde bestimmt ein überaus reizender Tag werden.

Das Telefon läutete ein weiteres Mal.

Bedächtig hob er den Hörer ab und führte die Muschel an sein Ohr. »Martin Streitberg bei Wehrfried.«

Die Stimme in dem Apparat hatte er nie zuvor gehört. Der Name sagte ihm nichts. Aber da der Anruf für ihn war, hatte er bestimmt etwas mit der Ausstellung zu tun. Handwerker, die sich über Art und Größe der benötigten Vitrinen vergewissern wollten, oder jemand aus dem Landratsamt, der den geplanten Eröffnungstermin verschieben musste, weil der Herr Landrat am vereinbarten Tag jetzt anderweitig Verpflichtungen angenommen hatte.

Einigermaßen überrascht war er, als sich der Mann am anderen Ende der Leitung als leitender Kommissar der Ermittlungsgruppe Epprechtstein vorstellte.

»Guten Morgen!«, sagte Martin fröhlich. »Ermittlungsgruppe Epprechtstein? Was ist vorgefallen? Hat jemand den Berg geklaut?«

»Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt«, gab der Mann zu verstehen.

»Okay!« Martin grinste. Er kannte solche Zeitgenossen zuhauf, solche, für die scherzen und fröhlich sein ein Fremdwort war. Klar, dass ein Kommissar weniger zu lachen hatte als er. Aber Freundlichkeit entwickelt sich eben aus Freude heraus, nicht aus schlechter Laune. Kommissar oder nicht, mit ein paar netten Worten kam man überall weiter.

»Was kann ich für Sie tun?«, fuhr er im gleichen Tonfall fort.

»Sie könnten mir bei einem nicht alltäglichen Fall behilflich sein.«

»Einem Fall, der in mein Arbeitsgebiet fällt?«

»Unter Umständen.«

»Wurden Artefakte gefunden? – Nein!«, berichtigte er sich sogleich. Es musste sich um etwas Verbotenes handeln. Martin überlegte zwei Sekunden. »Ist die Ruine geschändet worden?«, vermutete er.

»So könnte man es … ausdrücken«, antwortete Fürchtegott Hager zögernd. Der Kerl schien eine wahre Frohnatur zu sein. Wen wundert’s? Er hatte sich nicht tagein, tagaus mit Gesindel und Tunichtguten herumzuschlagen. Etwas zu naseweis, vorlaut und schnell mit Worten für seinen Geschmack. Ob dies bei einem derart gelagerten Fall hilfreich sein würde, wagte er zu bezweifeln.

»Sie könnten mir eventuell bei einer Mordermittlung zu Diensten sein«, präzisierte Hager.

»Ein Mord, soso!«

Fürchtegott Hager fasste in wenigen Sätzen die Vorkommnisse zusammen. »Der Grund, warum ich Sie bitten möchte, sich der Sache anzunehmen, ist die Art und Weise, wie sich uns der Leichnam präsentierte«, schloss er seinen kurzen Bericht.

»Verstehen Sie mich nicht falsch, aber die Sache mit dem Kreuz kann nichts weiter als ein Scherz sein«, gab Martin zu bedenken.

»Ein Scherz?«, brüllte der Kommissar in die Leitung. »Himmelherrgott, ist Ihnen eigentlich klar, von was ich rede? Ein Mensch wurde auf bestialische Weise ermordet, gekreuzigt und halb zerstückelt.«

»Sorry! Ich wollte damit nur sagen, dass diese ganze Zeremonie ein simples Ablenkungsmanöver sein kann. Womöglich steckt nur ein betrogener Ehegatte dahinter, der seinen Nebenbuhler um die Ecke gebracht hat.«

»So sehe ich das keinesfalls!«, beharrte der Kommissar. »Hintergangene Männer gehen anders vor. Sie handeln aus dem Affekt heraus. Die würden sich niemals die Mühe machen und zuvor ein Kruzifix auf einen Berg schleppen. Da genügt Wut im Bauch, ein Messer, ein Knüppel oder beide Hände.«

»Sie müssen es ja wissen.« Martins Laune wurde immer besser. Dieser Kommissar war ein drolliger Kauz. Bestimmt würde es hochinteressant werden, mit ihm zusammenzuarbeiten. Allerdings hatte er völlig recht, was die Ausführung der Tat anging. Womöglich war der Mord in dieser Hinsicht tatsächlich religiös motiviert. Martin Streitberg begann, sich für die Sache zu interessieren.

»Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, fuhr Fürchtegott Hager fort. »Bei einem Fall wie diesen sieht sich die Polizei gezwungen, den Rat eines Experten einzuholen.«

»Wie sind Sie ausgerechnet auf mich gekommen?«, wollte Martin wissen.

»Meine Frau arbeitet im Landratsamt Wunsiedel. Zurzeit ist sie auf Kur, aber an unserem letzten Abend hat sie mir von der Ausstellung erzählt. Ich habe nicht genau zugehört, nur soviel verstanden, dass es sich um die Besiedelung des Fichtelgebirges handelt, und dass sich ein echter Mystiker – ja, ich glaube, sie benutzte diesen Begriff – um die Sache kümmert. Na ja, ein Anruf im Fichtelgebirgsmuseum hat gereicht, um ihre Nummer zu bekommen.«

Martin lachte glucksend: »Echter Mystiker ist gut, ehrlich!«

»Ist das etwa die falsche Berufsbezeichnung?«

»Heutzutage legt sich jeder, der was auf sich hält, irgendeinen Titel zu. Das meiste davon ist Quatsch. Wenn eine Berufsbezeichnung nicht geschützt ist, kann sie jeder verwenden. Und selbst wenn ein Studium oder eine Promotion vonnöten sind, lassen sich die Leute allerhand einfallen, um der nötigen Arbeit geschickt aus dem Weg zu gehen.«

»Ich weiß, was Sie meinen«, bestätigte Hager und schwieg einen Augenblick. »Sind Sie nun Experte oder nicht?«

»Eigentlich bin ich Archäologe. Die Lehren der alten Mystiker sind eher so etwas wie ein Hobby von mir. Immer mit einem Bein im Grab, wenn Sie verstehen, was ich meine. Unser beider Berufe sind also nicht a priori grundverschieden.«

»Mit der Ausnahme, dass meine Täter meist ziemlich lebendig sind. Und die wenigsten Opfer in Gräbern vorgefunden werden.« Das Eis war gebrochen. Der Kommissar beruhigte sich. Auch wenn dieser Kerl der Stimme nach kaum älter als dreißig sein mochte, hatte er es (gerade deshalb?) geschafft, seine Stimmung beträchtlich zu heben. Geteiltes Leid ist halbes Leid! Egal, ob es zu einer Zusammenarbeit kommen würde oder nicht, zumindest für den Augenblick schien er der geeignete Gesprächspartner zu sein.

»Da will es wohl jemand bis in Aktenzeichen XY schaffen«, fuhr Martin in bester Stimmung fort.

Kommissar Hager wurde aus seinen Überlegungen gerissen. Die Antwort hörte sich nüchtern an: »Lachen Sie nicht. Das ist kein Scherz. So pervers es klingen mag, aber es gibt mittlerweile tatsächlich Verbrecher, die ihre Taten dahingehend ausrichten.«

»Im Ernst?«

»Mein voller Ernst. Bei der Behandlung eines Falles im Fernsehen wird der Straftäter unter seinesgleichen praktisch in den Adelsstand erhoben.«

»Na, wenn das kein Ansporn ist?«

»Großer Gott, ich bitte Sie! Wo kommen wir hin, wenn Verbrecher zu Medienstars avancieren?«

»Tolle Idee. Sie sollten sich an die einschlägigen Redaktionen wenden. Die sind immer auf der Suche nach dem Abartigen, dem Schockierenden. Man wird Ihnen den Vorschlag aus den Händen reißen. Aber Vorsicht! Zuvor müssen sie sich die Rechte sichern lassen, sonst gehen Sie eventuell leer aus.« Martin räusperte sich hörbar vergnügt: »Samstagabend: Die Einschaltquote sprengt alle Rekorde. Erstmals im Fernsehen die neue Castingshow Deutschland sucht den Superverbrecher. In der Jury ein Massenmörder, ein ehemaliger Terrorrist und ein korrupter Politiker. Wochen zuvor wurde mittels Aufrufen in den Medien und in den einschlägigen Kreisen die Créme de la Créme der Gesetzlosen ermuntert, straffrei und ohne jedwede Sanktion über ihre neuesten Verbrechen zu berichten.«

Fürchtegott spürte, wie sein Mund trocken wurde. »Also, ich weiß nicht …«

»Von den 26.000 Personen, die sich gemeldet haben, wurden in einem ersten Auswahlverfahren 25.950 Fälle als nicht infrage kommend (soll heißen: unspektakulär, alltäglich, nicht relevant) eliminiert. Wer es bis ganz nach oben schaffen will, muss sich etwas Besonderes einfallen lassen.«

Dieser Martin Streitberg schien an so etwas seine wahre Freude zu haben, resignierte der Kommissar verbittert.

»Die verbliebenen 50 Delikte und ihre Urheber werden an den folgenden Wochenenden eingeladen und der Jury vorgeführt. Ein vereidigter Gutacher und ein Oberstaatsanwalt bürgen für die Vorzüglichkeit der begangenen Verbrechen …«

Und mit so einem Kerl sollte er zusammenarbeiten? Hager biss sich auf die Lippen.

»Aber nur einer kann es schaffen«, fuhr sein Gesprächspartner voller Begeisterung fort.

Du schaffst mich bereits jetzt!, dachte Fürchtegott Hager aller Hoffnung beraubt.

»In einem fulminanten, abendfüllenden Finale wird der Superverbrecher des Jahres ermittelt. Als Preis winken diverse Exklusivrechte mit den Medien: alleinige Berichtserstattung, Film- und Hörfunkrechte, die ganze Palette. Nicht zu vergessen der beglaubigte Freispruch für die nachfolgende Tat.« Streitberg musste Luft holen. »Was sagen Sie als Fachmann dazu?«

Hager schluckte hastig. »Gott steh uns bei, wenn so etwas je Schule machen sollte!«

»War es nicht immer so?«

Der Kommissar war einigermaßen verdutzt: »Wie meinen Sie das?«

»Na, eine Hinrichtung, ein Opferkult oder eine Hexenverbrennung war früher nichts anderes.«

»Anderes als was?«, fragte Hager entsetzt.

Martin lachte abermals: »Ein Rummelplatz! Ein Volksfest! Oder was glauben Sie, warum im Dunstkreis von Hinrichtungen Händler ihre Waren feilboten, warum es reichlich Auswahl an Rauschgiften, Essen und Trinken gab, warum vom Kind bis zum Greis alles auf den Beinen war, was laufen konnte, um die einmalige Gelegenheit nicht zu verpassen?«

Fürchtegott Hager sah sich genötigt, sich am Schreibtisch abzustützen. Ihm war ganz schwindelig geworden. Wenn das stimmte, was dieser Martin soeben heraufbeschwor, hatte er in vielerlei Hinsicht hinter dem Mond gelebt. Und was viel schlimmer war: drohte deshalb nicht sein Kartenhaus aus Pflichten, Gehorsam und Pathos in sich zusammenzustürzen? Nein, soweit würde er es nicht kommen lassen, nicht, solange er diese Arbeit erledigte. Es machte klack in seinem Kopf. Der Riegel des Unannehmbaren hatte die Tür des Realen verschlossen. Das war sein Programm für Notfälle. Alles, was auch immer es sein mochte, wurde im Handumdrehen dahinter verborgen und vergessen. Bis … ja, bis er seine paar Jährchen hinter sich gebracht hatte, bis er in Pension gegangen war und eine neue, aufgeschlossene Generation von Kommissaren diese alles in allem erschreckenden Entwicklungen als Normalität akzeptieren würde.

»Hallo?«, hörte er die Stimme im Telefon. »Sind Sie noch dran?«

»Ähm … ja.« Fürchtegott Hager raufte sich zusammen. »Können wir uns später treffen?«

»Gerne. Wo?«

»Um drei viertel zwei am Wanderparkplatz in Buchhaus.«

»Dreiviertel …?«

»Viertel vor zwei!«

»Geht klar.«

»Ich hoffe, Sie finden den Weg.«

»Hab mir extra eine Wanderkarte besorgt.«

»Kluge Entscheidung. Also, bis dann.«

»Bis denn!«

Der Kommissar legte langsam den Hörer auf und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Na, ich weiß nicht, ob dass wirklich eine gute Idee war.«

VI.

Johann, schau doch! Ich bin ins Reich der Zwerge und Bergkönige entschwunden, eingetaucht in deine Welt der Sagen, Mythen und Legenden. Wenn du mir auch nicht helfen kannst, so helft mir, ihr unterirdischen Wesen, gebt mir ein Zeichen, ihr Unholde, einen Wink, ihr Geister der Finsternis, oder schickt mir ein wärmendes