Mitaartut - Matthias W. Seidel - E-Book

Mitaartut E-Book

Matthias W. Seidel

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Beschreibung

Für Borg ist Holmsland Klit längst zur zweiten Heimat geworden. Immer wenn ihm zu Hause die Decke auf den Kopf zu fallen droht, packt er seine Siebensachen und verschwindet für ein paar Wochen ins gelobte Land. Mit dem, was ihn in diesem Urlaub erwartet, hat er allerdings nicht gerechnet. Ein Unglück jagt das nächste. Aber es kommt noch schlimmer, viel schlimmer, und bald ist nichts mehr, wie es war. Auf eine kleine Gruppe Ahnungsloser wartet das Abenteuer ihres Lebens. Ihre Wege verbinden sich auf schicksalhafte Weise. Wenige Stunden werden zur Unendlichkeit, und ein fulminanter Showdown, in schwindelerregender Höhe, lässt die Nacht zu einem einzigen Albtraum werden ... Mitaartut ist ein spannender Roman über die Liebe und das Leben, über harmlose Dänemarkfans, knallharte Ganoven und einen verschollen geglaubten, sagenhaften Schatz!

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Für meine Mutter, die immer für eine Überraschung gut war!

Inhaltsverzeichnis

All meine Träume

Die Anreise

Unerwartetes

Problems? What Problems?

Stunde der Wahrheit

Unfreiwillige Zusammenkunft

Katz & Maus

Stelldichein

Mitaartut

Nachtschwärmers Leid

Quit pro quo

Die wahre Geschichte der Lusitania

Tausend Pläne & ein neuer Morgen

Der Kreis schließt sich

Showdown

All unsere Träume

Da capo

All meine Träume

Der Wald war undurchdringlich wie ein Dschungel, ein grünbraunes Meer. Man konnte kaum den Weg vor sich erkennen, so sehr strömte der Regen vom Himmel. Ab und zu wischte er sich die Augen frei, aber bereits nach ein paar Sekunden verschwamm alles wieder zu graugrünen Schlieren.

Es hatte keinen Sinn, weiter zu machen. Er gab die Flucht auf und fügte sich seinem Schicksal. Unter einer riesigen Tanne, deren Äste bis zum Boden reichten, ging er in die Hocke und vergrub das Gesicht in den Händen. Geduldig versuchte er, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Der Puls pochte ihm schmerzhaft in den Ohren. Mit den Jahren war er beständig langsamer geworden, in kleinen, unauffälligen Schritten, merkbar nur im Nachhinein.

Was soll’s? Irgendwann hat alles ein Ende.

Er hatte keine Angst vor dem Sterben, hatte nie darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen mochte, plötzlich nicht mehr zu existieren. Wie dumpfer Schlaf? Oder erwartete einem hinter dieser letzten Pforte ein wie auch immer geartetes Bewusstsein? Was blieb tatsächlich von der Wirklichkeit übrig? Ein matter, sich nach und nach in die Unendlichkeit verflüchtigender Nachhall des Erlebten? Oder die plötzliche Erlösung von allen irdischen Qualen, der Weg hin zum reinen Sein? Wer war sich überhaupt sicher, ob er existierte, oder ob alles, was man erlebte, nur ein Traum war, den der Geist immer wieder aufs Neue erfand! Seine Lebensphilosophie war einfacher und, wie er glaubte, plausibler als die der meisten seiner Mitmenschen.

Er schlug die Kapuze seines Umhangs zurück. Unter dem Baum war es nahezu trocken. Erschöpft lehnte er sich an den mächtigen Stamm der Tanne. Die Äste um ihn herum bildeten ein schützendes Zelt. Zwischen den Nadeln hindurch konnte er dennoch den Weg beobachten. Es roch nach feuchter Erde, Moos und Tannengrün.

Plötzlich wurde ihm kalt. Jetzt musste er vorsichtig sein, schließlich wusste er, was dies zu bedeuten hatte. Hinter den Geräuschen des Regens – dem Glucksen und Gurgeln, dem Brausen und Plätschern – war nichts eindeutig auszumachen. Hatte er ihn entdeckt?

Es war ein Spiel, das wussten sie beide nur zu gut, und nichts deutete darauf hin, dass es heute anders sein könnte. Und wenn er einfach hier blieb, wenigstens so lange, bis der Regen nachließ und er seine Flucht fortsetzen konnte? Ein Funke Hoffnung machte sich wärmend in ihm breit. Gerade als er seinen Mund zu einem zaghaften Lächeln verziehen wollte, wurden die Äste der Tanne mit unglaublicher Wucht hinweggefegt ...

*

Borg schrie auf, nicht wissend, ob noch im Traum oder bereits in der Realität. Er fuhr hoch, rieb sich die juckende Nase, holte tief Luft und lies sich anschließend zurück in die Kissen sinken.

»Tja, mein alter Freund und Kupferstecher, du hast mich auch heute nicht gekriegt.«

Langsam tastete er an der Wand hinter sich nach dem Schalter. Ehe er ihn betätigte, kniff er die Augen zusammen. Zwinkernd schielte er zum Wecker hinüber, der auf dem viel zu hohen Nachttisch stand und mit seinen schwarzen Zeigern drohend zu ihm herunterglotzte. Es war kurz vor halb drei.

Er rappelte sich hoch und schleppte sich mühsam hinunter in die Küche. Auf der Treppe blieb er kurz stehen und hielt sich verkrampft am Geländer fest. Diese verfluchten Rückenschmerzen waren wieder einmal unerträglich. Er hätte sich bereits vor Jahren operieren lassen sollen, aber er traute diesen Herren in Weiß nicht über den Weg – alles Quacksalber, wie er sich auszudrücken pflegte. Wenn er schon einmal zum Arzt ging, dann nur, um sich eine Spritze gegen die stetigen Qualen verabreichen zu lassen. Damit konnte er wieder ein paar Tage hintereinander ruhig schlafen. Doch irgendwann fing alles von vorne an, als nicht enden wollendes Dacapo der besonderen Art. Mit den Jahren hatte er sich daran gewöhnt; das Ritual gehörte zu seinem Leben. Er war felsenfest davon überzeugt, dass ihm ohne diese wiederkehrende Prozedur etwas fehlen würde.

Unten angekommen, humpelte er in die Küche, öffnete den Kühlschrank, zog eine der Bierflaschen heraus, die er vorrätig darin lagerte, stellte sie gegenüber auf dem kleinen Küchentisch ab und kramte einen Öffner aus der Schublade hervor. Stehend trank er die Flasche in wenigen Zügen leer. Wie immer rebellierte sein Magen auf die kalte Flüssigkeit. Er wusste, dass er Sodbrennen kriegen würde. Irgendwo hatte er gelesen, dass häufige Pyrosis früher oder später zu Speiseröhrenkrebs führte, aber es war eben doch schwieriger als erwartet, Ess- und Trinkgewohnheiten von einem Tag auf den anderen umzustellen.

Borg stellte die leere Flasche klirrend in den Kasten hinter der Küchentür, löschte das Licht und schlürfte im Halbdunkel zurück zur Treppe. Eines Tages würde er sein Bett nach unten stellen müssen, in die Küche oder ins Wohnzimmer. Wenn es nach den Ärzten ginge, würde er wahrscheinlich längst mit einer irreparablen, aber durchaus beabsichtigten Rückgratversteifung im Rollstuhl sitzen. Gegen jeden noch so gut gemeinten Therapie- und OP-Vorschlag hatte er etwas einzuwenden. Tapfer, einigermaßen selbstsicher und ohne Murren hangelte er sich so von einem Bandscheibenvorfall zum nächsten. Alles würde ohnehin in einer Skoliose enden, einer dauerhaften und unwiderruflichen Wirbelsäulenverkrümmung, die ihrerseits für mehr und schmerzvollere Hexenschüsse sorgen würde – ein Teufelskreis, ohne jedwede Hoffung auf Linderung.

Als er wieder in seinem Bett lag, starrte er hoch zu der Leuchte über seinem Kopf. Er fixierte den weißglühenden Draht im Innern der Lampe. Diese verdammten Träume wollten einfach nicht enden. Sie gehörten zu ihm wie die Rückenschmerzen. Kurze Traumsequenzen waren es, unvollendete Bruchstücke, die ohne Unterlass über seine nimmermüde, allnächtliche Traumkinoleinwand flimmerten. Schon als Kind war er von ihnen gequält worden.

Es begann in jenem Herbst, als er abends in seinem Bett lag und zum Dachfenster hinaus in den Sternenhimmel blickte. In der Schule hatte er gehört, dass das Weltall vielleicht unendlich sei. Wissenschaftler waren der Überzeugung, es dehne sich aus, um eines fernen Tages in sich zusammenzustürzen. Wieder andere dachten, es expandiere bis in alle Ewigkeit. Er liebte es, sich über diese Dinge Gedanken zu machen. Für ihn war es spannend sich den Urknall vorzustellen, und aufregend darüber nachzudenken, worin sich die Welt befand: Da war zunächst unser Sonnensystem, dann unsere Galaxie, die Milchstraße, dann ein ganzer Haufen von Milchstraßensystemen, die im All trieben wie Fettaugen in einer intergalaktischen Suppe. Aber was kam danach? Worin befand sich das Weltall? In welchem Topf brodelte diese Suppe vor sich hin? Und zu welchem Zweck geschah dies? Es konnte doch nicht alles im Nichts enden! Und wenn doch? Was war dann mit allem, was existierte, etwa seinem Bett, seinem Fahrrad, seinen Eltern, wenn sich am Ende doch alles im Nirgendwo befand … Spätestens an diesem Punkt war dem Jungen mit neun Jahren doch unheimlich zumute. Genau in dieser Nacht hielten die Träume Einzug in sein Leben.

Heute wusste er, dass es da draußen eine Grenze gab, die niemals ein Wissenschaftler überwinden würde, ahnte, dass diese Grenze etwas mit Gott, dem Leben und dem Tod zu tun hatte. Über die Ursachen und Gründe, warum er von dem immer gleichen Schreckgespenst malträtiert wurde, begriff er hingegen soviel wie über die Grenze zu jener Welt, die ihn als Kind in ihren Bann gezogen hatte. Es setzte an haargenau gleicher Stelle die Denkbarriere ein, die ihn auch damals auf den Boden menschlicher Erkenntnisfähigkeit zurückgeworfen hatte.

Borg löschte das Licht und drehte sich auf die Seite. »Wie bei meiner erste Liebe«, nuschelte er in sein Kissen. Nur unschuldige Jungen konnten derart naiv und romantisch von Mädchen träumen. Sie hieß Dolores, hatte pechschwarzes Haar und die unnachgiebigsten Augen der Welt. Obendrein hielt sie, was ihr Name versprach, und katapultierte ihn mit Lichtgeschwindigkeit in die aussichtsloseste aller Beziehungskisten hinein: in die der Eifersucht. Wie hätte er sein Herz und seinen Verstand dazu bringen sollen, sie freizügig als Kosmopolitin einer bizarren Männerwelt umherschweifen zu lassen? Dolores wollte von seinen Wünschen, seinen Hoffnungen und Bedenken nichts wissen. Und er stürzte sich hinein, in den brodelnden Topf aus Wohlgefallen und Gefallenlassen, bis er nicht mehr konnte oder wollte, bis er darin – verschmäht von Dolores und verzweifelt über sich selbst – ertrank.

Sie und alle, die nach ihr kamen, änderten seine Einstellungen dahingehend, dass er immer seltener das Gefühl nach Zweisamkeit in sich verspürte. Ehrlich gesagt wäre es sogar besser für alle Beteiligten gewesen, wenn er bei den naiven Träumen aus längst vergangenen Kindertagen geblieben wäre. Vielleicht hätte er sich damit den Glauben an das Gute im Menschen, bestimmt aber seine Unschuld bewahrt. Nach der sechsten gescheiterten Beziehung, im zarten Alter von vierunddreißig Jahren, zog er es schließlich vor, alleine zu leben.

Vergangenen Monat hatte er im engsten Kreis seinen 46. Geburtstag gefeiert. Er war überzeugt davon, dass sich nichts mehr ändern würde, was seine Ansichten über Frauen im Allgemeinen, seine bewusst gewollte und gepflegte Unfähigkeit in puncto Beziehungen im Besonderen anbelangte. Lebte er nicht auch so ganz glücklich und zufrieden? Was er dann und wann vermisste war bestimmt weniger als das, was er mitzumachen hätte, wenn er eine neue Liaison eingegangen wäre.

»Liebe ist was für Optimisten«, raunte er in sein Kissen. Dann schloss er die Augen und drehte sich auf die andere Seite. Als er bald darauf in das Land der Träume hinüber wechseln wollte, setzte das Sodbrennen ein.

*

Am darauffolgenden Vormittag stand er in der Schlange vor der Wursttheke und ließ seinen Blick unschlüssig über die Auslage wandern. Warum konnte es nicht nur drei Sorten Wurst geben? Wozu immer und überall diese Vielfalt? Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und studierte anschließend die Angebotsliste, die hinter der Theke an der Wand hing. Obwohl er letzte Nacht bestimmt nicht länger als zwei Stunden wach gewesen war, fühlte er sich todmüde und ausgelaugt. Außerdem hatte bereits kurz nach dem Aufstehen sein Kopf zu schmerzen begonnen. Die Angebotspalette wechselte im festen Turnus.

Borg war ein sparsamer Mensch. Nicht, weil er es sich nicht anders leisten konnte, sondern weil nach seiner Meinung Übermaß und Völlerei zwangsläufig zu schlechtem Charakter führten. Obwohl er ein nicht unbeträchtliches Vermögen von seinem Vater geerbt hatte (er hatte es bis zum Ende der Sechzigerjahre als Fabrikant von Rundfunkempfängern zu Wohlstand und Reichtum gebracht), kam er ohne großen Luxus aus. Als junger Mann hatte er auf Wunsch seiner Eltern Medizin studiert, aber im sechsten Semester abgebrochen. Anschließend hatte er sich in Biologie, in Geschichte und zu guter Letzt in Theologie versucht – alles ohne nennenswerte Erfolge. Nie hatte er sich für ein einzelnes Gebiet entscheiden können. Die Welt, so fand er, konnte nicht beständig in immer kleinere Teile zerlegt werden. Wahrhaftigkeit, in menschlichen Maßstäben gedacht, gab es nur im großen Ganzen. Er wusste zwar längst, dass auch das nicht stimmte, aber er hielt trotzdem an seiner Meinung fest. Borg lebte von den einträglichen Zinsen, die sein Finanzberater Jahr um Jahr herauszuschinden vermochte. Man hielt ihn für intelligent und gebildet, für introvertiert und exzentrisch.

»Hallo? Was darf es sein?«, riss ihn die junge Verkäuferin hinter der Theke aus seinen Überlegungen.

»Einen Fleischsalat, ohne Majonäse (weil er sich seit einiger Zeit zu dick fühlte), eine abgebundene Schinkenwurst, und hundert Gramm Göttinger.«

Letztere ließ er gleich vor Ort in Folie einschweißen. Offene Wurst neigte bei ihm zu schnellem Verderben, außerdem wollte er morgen in aller Frühe verreisen.

Bevor er in seinem alten 240er Volvo nach Hause fuhr, schaute er bei Hagen vorbei. Er war seit vielen Jahren Freund, Gesprächs- und Angelpartner, Skatbruder und Hausverwalter, wenn er Tapetenwechsel brauchte. Sie hatten sich bei einem Vortrag der örtlichen Volkshochschule kennengelernt, in dem es um die Chancen von Ökologie und Ökonomie im nachindustriellen Zeitalter gegangen war. Hagen und er hatten den Dozenten (einen jungen Mann, der frisch promoviert hatte) mit ihren Fragen und Gegenargumenten aus dem Konzept gebracht. Zur Entschädigung hatten sie ihn anschließend zu einem Bier eingeladen. Es war eine lange hitzige Nacht daraus geworden. Keiner der Drei wusste am nächsten Morgen, wie er nach Hause gekommen war. Der junge Herr Doktor zog es daraufhin vor, sich anderweitig Bekanntschaften zu suchen.

Hagen wohnte im alten Forsthaus am Stadtrand, in dem er fast vierzig Jahre als Förster gelebt und gearbeitet hatte. Nur wegen ihm hatte die Staatsforstverwaltung mit der Auflösung des Reviers bis zu seiner Pensionierung gewartet. Man hatte ihm das Haus anschließend zum Kauf angeboten, und er hatte es – mit einem hilfreichen und äußerst billigen Kredit seines Freundes – gerne übernommen. Seit Else, seine Frau, vor drei Jahren verstorben war, trafen sie sich regelmäßig dienstags und donnerstags zum Reden und Essen, zum Trinken und hin und wieder zum Kartenspiel mit zwei aus Hagens alter Forstrotte. Hagen war ein Meister im Skat. Sein Freund hatte bereits viel von ihm lernen dürfen.

Borg fuhr in den breiten Hof hinein, stellte den Volvo neben einem der vielen Holzstapel ab, die links und rechts den Platz säumten, und lief den Schotterweg in Richtung Haus. Hagen hielt nicht viel von verschlossenen Türen, selbst nachts nicht. Wenn er ihn fragte, ob er denn keine Angst vor Einbrechern habe, antwortete er schlicht, dass es bei ihm sowieso nichts zu holen gäbe, und außerdem eine Sammlung penibel gepflegter Schrotflinten in seinem Gewehrschrank neben dem Bett für reichlich Sicherheit sorgten.

»Hagen?« Borg ließ die Haustür geräuschvoll ins Schloss fallen.

Sogleich öffnete sich der schmale Zugang zum Keller. Ein Mann mit braungebrannter Haut und schulterlangem, weißgrauem Haar trat ihm entgegen. »Ah!« Er reichte ihm den kleinen Finger.

»Was machst du bei dem schönen Wetter im Keller?« Borg schnupperte an seiner Hand. »Wieder die Heizung!«

»Erraten.« Hagen wischte sich die Hände an einem Lumpen ab, der an der Kellertür hing. »Im Sommer spinnt die einfach, dabei soll sie nur das Brauchwasser warmhalten. Ich hab den Brenner bestimmt schon hundertmal zerlegt und wieder zusammengebaut. Ich kann den Fehler einfach nicht finden. Muss konstruktionsbedingt sein.« Mit den Schultern zuckend verschwand er hinter der Tür, die in die Speisekammer führte. »Du trinkst doch ein Pils, oder?«

»Da sag ich nicht Nein«, antwortete Borg.

»Ich denke, wir setzen uns hinters Haus in die Sonne. Wenn du schon mal vorausgehst, ich hol uns zwei Gläser.« Hagen drückte dem Freund zwei Becks in die Hand und verschwand in Richtung Küche.

Borg öffnete die Hintertür zum Garten, lief an den vielen Äpfelund Birnbäumen vorbei, stellte die Flaschen auf dem Holztisch ab, der im Schatten unter einer uralten Linde stand, und setzte sich auf einen der dazugehörigen Stühle. Von dort beobachtete er, wie Hagen bald darauf mit zwei Gläsern über den Rasen geeilt kam. Er wirkte trotz seines Alters von 67 Jahren noch immer jugendlich und ungemein sportlich. Das Leben an der frischen Luft war bestimmt ein Grund dafür, seine kilometerlangen Laufrunden zweimal die Woche ein weiterer. Wie würde er (falls es ihn dann überhaupt noch gab) in diesem Alter daherkommen? Er legte die Stirn in Falten, sah sich kurz im Rollstuhl sitzend, mit einer Wolldecke über den Beinen und einer resoluten Krankenschwester an seiner Seite. Trostlose Aussichten!

»Ein herrlicher Tag, nicht?«, meinte Hagen und schenkte ein.

»Ich geh wieder auf Reisen«, antwortete Borg.

»Wann?«

»Schon morgen. Ich wollte fragen, ob du mal wieder – «

»Klar!«, unterbrach ihn Hagen. »Nach Dänemark?«

»Na, was glaubst du denn?«

»Ich kann nicht verstehen, wieso du immer an die gleiche Stelle fährst. Wird das nicht irgendwann langweilig? Du musst inzwischen doch jede Seemöwe persönlich kennen.« Hagen lachte laut und polternd.

Borg hob die Schultern. »Erklären kann ich es dir nicht. Ich fühle mich einfach wohl.«

Im Großen und Ganzen war er recht zufrieden mit seinem Leben. Es verlief zwar gänzlich ohne Höhen, aber es gab auch keine Tiefen, in die er unvermutet stürzen konnte. Sein Leben war gleichmäßig, zum größten Teil Routine, und er war dankbar dafür. Wenn ihm hin und wieder die Decke auf den Kopf zu fallen drohte, buchte er kurz entschlossen ein Ferienhaus, direkt an der Küste, und fuhr für ein paar Wochen nach Dänemark. Dort war es zwar noch stiller als zuhause, aber er hatte das Meer vor und den endlosen Himmel über sich.

Hagen setzte sich, hob das Glas und prostete ihm zu.

»Ich fühle mich geborgen«, fuhr Borg unbeirrt fort. »Du bist ein Leben lang Stubenhocker gewesen und kannst das nicht nachvollziehen.«

»Und ob ich das kann!«, protestierte Hagen. »Ich hatte auch so eine Heimat – den Forst. Aber dazu brauchte ich nicht Urlaub zu machen.« Er trank seinem Gegenüber erneut zu.

Borg stellte sein Glas auf dem Tisch ab und wischte sich mit dem Ärmel den Schaum vom Mund. »Du versprichst mir seit Jahren mitzukommen. Und was ist daraus geworden? Bis heute hast du mich nicht ein einziges Mal da oben besucht. Für meinen besten Freund geradezu schändlich.«

»Danke, Borg, Hauptsache dir schmeckt mein Bier.« Hagen lachte erneut los. »Im Ernst! Du hast vollkommen recht. Bevor ich ins Gras beiße, möchte ich das Meer auch einmal gesehen haben. Na ja, wer weiß?« Er kratzte sich hinter dem Ohr. »Vielleicht komme ich dich diesmal besuchen.« Er zwinkerte Borg zu. »Schließlich weiß keiner, wann einen der Teufel holt.«

»Das lässt du mal schön bleiben – das mit dem Teufel, meine ich. Wenn du nachkommen willst, kein Problem. Du weißt, du bist jederzeit willkommen. Aber unter uns ...« Er beugte sich zu Hagen über den Tisch und grinste ihm entgegen: »Wer’s glaubt, wird selig.«

»Oh, das mit dem Glauben darfst du nicht so mir nichts, dir nichts beiseiteschieben, mein Freund. Und ob er selig macht? Keine Ahnung. Aber er ist ein Teil von uns, ob du das wahrhaben willst oder nicht.«

»Du wieder«, sagte Borg und setzte zu einem großen Schluck an.

*

Am Abend vor dem Kleiderschrank überlegte er nur kurz, was einzupacken war. Mit den Jahren hatte sein Reisegepäck beständig abgenommen. Was brauchte er? Eine kurze Hose für die letzten Sonnentage im September, dazu ein leichtes Hemd und eine Strickjacke für die kühlen Abende, eine lange Hose nebst Pullover für die stürmischen Tage, ein paar Unterhemden, Unterhosen, Socken, seine Wanderschuhe für ausgedehnte Spaziergänge am Strand und ein paar Halbschuhe für alle übrigen Gelegenheiten, eine regendichte Windjacke, sein Fernglas und die üblichen Toilettenartikel inklusive Zahnbürste. Den Rasierapparat ließ er zu Hause. Stattdessen packte er seine alte Pfeife und eine Büchse Tabak ein. Er rauchte sonst nie, aber in den stillen Abendstunden hatte er es lieben gelernt, mit der Pfeife im Mund in den hohen Dünen zu sitzen und den Gedanken freien Lauf zu lassen. Seine Ausrüstung passte mittlerweile in den Rucksack, den er gekauft hatte, um mit Hagen durch die Lande zu ziehen. Irgendwie waren sie beide nie dazu gekommen.

Borg hatte seine Siebensachen in den Tornister gestopft und ihn gerade hinunter zu seinem Wagen getragen, als er von drinnen das Telefon hörte. Er schlug die Heckklappe zu und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sechs.

Sonja war am Telefon. Wie immer rief sie genau in dem Augenblick an, wo er am allerwenigsten mit ihr reden wollte. Sie hatte gewissermaßen eine telepathische Verbindung zu ihrem Bruder. Seit vor einem Jahr ihr Mann mit Ende sechzig einem Herzinfarkt erlegen war, rief sie selbst mitten in der Nacht bei ihm an, und sei es nur, um mitzuteilen, dass sie wieder einmal nicht schlafen konnte. Erst vor zwei Tagen hatte sie ihn morgens um halb vier aus den Federn geholt. Trink einen Schluck Bier, hatte er ihr geraten, und leg dich wieder hin. Mit einundfünfzig braucht man nicht mehr viel Schlaf. Vielleicht solltest du später zu Bett gehen. Dann hatte er einfach aufgelegt, ohne ihrem Lamentieren zuzuhören.

»Ja, morgen früh.« Borg fuhr sich mit der Hand über die Augen. Wie erwartet, war sie dagegen, dass er wegfuhr. Nicht etwa, weil sie Angst um ihn hatte, sie selbst wollte nicht so lange alleine bleiben müssen. In Dänemark war er unerreichbar, und das missfiel ihr.

»Du könntest mich ruhig mitnehmen. Ich bin immerhin deine Schwester. Andere machen das auch.«

Borg dachte mit Entsetzen an einen gemeinsamen Urlaub. Da konnte er ebenso gut hierbleiben. »Ein andermal vielleicht«, sagte er kurz angebunden und wollte auflegen.

»Ein andermal?«, antwortete sie gereizt. »Na gut, ich kann dich schließlich nicht zwingen, mich mitzunehmen, aber wenn du schon morgen fährst, musst du heute noch die Regenrinne vorne am Haus saubermachen. Beim letzten heftigen Guss lief die Brühe an der Mauer herunter. Das sieht vielleicht aus. Wenn das bleibt, muss ich die ganze Fassade streichen lassen!«

»Schon gut, ich komme.« Borg legte auf und fluchte. Verdammt, sie hatte ihn wieder einmal erwischt. Missmutig setzte er sich in den Volvo und verließ mit quietschenden Reifen das Grundstück.

Wenn er jetzt nicht tat, was sie von ihm wollte, würde sie ihm tagelang auf die Nerven fallen, wenn er wieder zurück war. Er konnte sich zwar ausmalen, wie schwer es sein musste, nach vielen Jahren plötzlich allein dazustehen, aber hatte sich Sonja früher um ihn gekümmert? Er war der Nachzügler gewesen, nicht einmal geplant, wie er wusste. Pah!

Was hätte er ein Leben lang besser machen sollen? Sie hatten sich beide nie groß anstrengen müssen. Herrmann hatte zum Erbe ihrer und seiner Eltern einen grundsoliden Beamtenjob mit in die Ehe gebracht. Sonja bekam stets das, was sie sich in den Kopf setzte. Ihr ganzes Leben war eine lückenlose Aneinanderreihung perfekt auf sie abgestimmter Episoden – zumindest bis zum letzten Herbst. Da war er plötzlich gekommen, unerwartet und gnadenlos, der Fall in bodenlose Abgründe, viel schlimmer, als er es ihr zuweilen gewünscht hatte. Und jetzt, im Nachhinein, schämte er sich ob dieser Gedanken; sie machten ihn mitschuldig an ihrem Schicksal. Allein deshalb brachte er es nicht übers Herz, mit ihr zu brechen. Trotzdem hatte er absolut keine Lust, den Witwentröster zu spielen. Sie war jung genug, um eine neue Beziehung einzugehen. Schlussendlich war das heutzutage kein Problem. Sollte sich ein anderer um sie kümmern, sollte ein anderer sich die Nächte um die Ohren schlagen. Schwester hin, Schwester her, lange würde er das nicht mehr mitmachen. Dazu fehlten ihm die Kraft und Ausdauer und, ja, auch die Gutmütigkeit.

Er bremste lautstark vor ihrem Haus, stieg aus und schlug genervt die Autotür zu. Noch bevor er den Klingelknopf betätigen konnte, stand sie vor ihm.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du so schnell hier sein würdest.« Sie sah ihn erstaunt an.

»Was erledigt ist, ist erledigt«, sagte er knapp und lief an ihr vorbei zur Hintertür. Er wusste, wo die lange Leiter zu finden war, schließlich hatte er die ganze Prozedur auf der Rückseite des Hauses vor gut sieben Wochen hinter sich gebracht. Keuchend schleppte Borg die Leiter um das Haus herum, zog sie aus und lehnte sie scheppernd gegen die Hauswand.

»Wenn du keine Lust hast, hättest du es nur zu sagen brauchen«, sagte sie beleidigt, und blickte betreten zur Seite. »Ich weiß, ich bin fürchterlich!«

Borg wich ihr aus, brummte etwas vor sich hin und lief erneut hinter das Haus, um Eimer und Kelle zu holen. Als er wieder zurückkam, sah sie ihn mit großen Augen an.

»Bin ich wirklich so schrecklich?«

Du bist noch viel schrecklicher, fuhr es ihm durch den Kopf. Er räusperte sich und kletterte mit dem Eimer in der Hand die Leiter empor.

»Kann ich dir wenigstens helfen?«

»Ja, indem du ins Haus gehst«, antwortete er, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Stattdessen begann er angewidert mit der Kelle die Dachrinne zu bearbeiten. Er hasste es, schlechte Laune zu haben, ganz besonders dann, wenn er eigentlich keine haben wollte. Was konnte er dagegen tun? Am schnellsten war sie verschwunden, wenn er allein und in Ruhe gelassen wurde. Warum Frauen das nicht verstehen wollten, war ihm ein Rätsel. Irgendwann hatte er aufgehört, Fragen zu stellen, hatte sich an sein Eremitendasein gewöhnt und kam gut damit zurecht. Er genoss es, tun und lassen zu können, was er wollte, ohne auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen.

Nachdem er etliche Male von der Leiter heruntergestiegen war, um sie ein Stück weiter zu schieben und den Eimer mit verrotteten Blättern und Moos am Kompost zu entleeren, kam er dem Ende der Dachrinne entgegen. Der Ärger verflüchtigte sich. Als er fertig war, Eimer, Kelle und Leiter vorschriftsmäßig hinter dem Haus verstaut hatte, trat Sonja ihm entgegen und lächelte zaghaft.

»Du bist schnell gewesen.«

»Ich hab noch Einiges vor. Außerdem ist es fast dunkel.«

»Ja, die Tage werden merklich kürzer.«

Borg schaute auf ihre Hände und glaube ein leichtes Zittern wahrzunehmen.

»Willst du nicht auf einen Kaffee reinkommen?«, fragte sie hoffend.

»Besser nicht.«

»Ein Bierchen vielleicht?«, startete sie einen zweiten verzweifelten Versuch, der Einsamkeit ein Schnippchen zu schlagen.

»Ein andermal.«

Sonja sah bedrückt aus. »Verstehe, du musst packen.«

»Genau.«

»Wann fährst du?«

»Vor Sonnenaufgang. Ich möchte so bald wie möglich an Berlin vorbei sein. Du verstehst, wegen der vielen Staus und so ...«

»Ich verstehe.« Sie schwieg einen Augenblick. »Wann bist du zurück?«

Borg wandte sich zum Gehen. »In zwei, höchstens drei Wochen.«

»Machs gut.« Sie winkte ihm kurz hinterher. »Und einen schönen Urlaub!«

*

Nach den Achtuhrnachrichten studierte er aufmerksam den Zettel, der vor ihm auf dem Wohnzimmertisch lag. Es war die Checkliste, die alles beinhaltete, was im und ums Haus herum bei längerer Abwesenheit zu tun war. Sicherlich konnte Hagen dies gut und gerne alleine richten, aber Borg war ein Mensch, der neben seinen Prinzipien auch ein Freund penibler Ordnung war. Nie konnte er Dinge herumliegen sehen. Selbst bei anderen empfand er das als störend. Die einzige Ausnahme bildete sein Freund Hagen, dem er zwar über die Jahre hinweg immer wieder die Vorzüge der Ordnungsliebe nahezubringen versucht hatte, es aber jetzt bleiben ließ, weil ihm eine ordentliche Freundschaft mit einem unordentlichen Freund erstrebenswerter schien. Zudem beschränkte sich Hagens Nachlässigkeit auf Äußerlichkeiten; innen drin war er ein Mann, der stets besonnen und überlegt handelte. Eben das imponierte Borg. Dass es gerade in der Gefühlswelt haltlos und schlampig zugehen konnte, war ihm viel zu lange verborgen geblieben.

Borg überflog die Liste, stand auf, faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Hosentasche. Nach einer halben Stunde war alles erledigt: der Fernseher und das dazugehörige Antennenkabel abgesteckt, die Heizung ausgeschaltet und die Ölzufuhr unterbrochen, sämtliche Sicherungen (bis auf die für die Küche, den Eingangsbereich und das Hoflicht) herausgeschraubt, die Fenster am Dachboden und im Obergeschoss kontrolliert, die Garage abgeschlossen und die verbliebenen Gartenmöbel im Schuppen verstaut.

Zufrieden stemmte er die Hände in die Hüften und sog die kühle Nachtluft in seine Lungen. Der Mond beleuchtete malerisch Wiese, Büsche und Bäume. Sein Blick fiel auf das erste Laub, das der Wind hier und da zu lustigen Häufchen oder kleinen bunten Teppichen arrangiert hatte. »Mist!«

Die Anreise

Kurz vor drei schreckte Borg aus dem Schlaf. Er hatte wieder schlecht geträumt, obwohl er sich diesmal an absolut nichts erinnern konnte. Nachdem er die Taschenlampe angeknipst hatte, schielte er zum Wecker, gähnte und streckte sich schlaftrunken im Bett, bis es in seiner Wirbelsäule knackte und krachte. Anschließend rappelte er sich auf und tappte auf unsicheren Beinen in die Küche hinunter. Als er Kaffee aufgesetzt und das alte Kofferradio angedreht hatte, hörte er das Klingeln des Weckers von oben.

»Dänemark, ich komme!«, grinste er zufrieden.

Kaum eine halbe Stunde später saß er in bester Stimmung hinter dem Steuer. Es war finster und die Straßen nahezu leer. Ausweis, Fahrzeugpapiere, Schlüsselbund, Geldbörse ... Borg vergaß zwar selten etwas, aber immer dann, wenn er für länger wegfuhr, hatte er das untrügliche Gefühl, etwas Wichtiges verschwitzt zu haben.

Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich. Mit dem Finger stellte er das Autoradio an. Wenn alles glattging, war er in knapp zehn Stunden am Ziel.

Was würde geschehen, wenn sein Freund tatsächlich nach all den vergeblichen Jahren des Hoffens und Wartens ihn besuchen kam? Oft hatte er sich vorgestellt, mit ihm zum Angeln raus aufs offene Meer zu fahren. Hagen war passionierter Jäger und für Hochseeangeln bestimmt zu begeistern. Sein dänischer Freund Søren hatte einen umgebauten Fischkutter, mit dem er Touristen auf der rauen Nordsee herumschipperte und Hafenrundfahrten veranstaltete. Wie oft hatte er sich gewünscht, Hagen all das zu zeigen? Beständig hatte er sich in stürmischen und einsamen Nächten, wenn das Meer über die Dünen brüllte und der Regen wie Gischt gegen die Fenster trommelte, den Vertrauten neben sich gewünscht, um mit ihm über die Abenteuer zu plaudern, die keiner von ihnen je erlebt hatte.

Wenig später bog er auf die Autobahn ab und fädelte sich in den frühmorgendlichen Verkehr ein. Borg war guter Laune, selbst wenn er in den letzten Jahren immer ein mulmiges Gefühl vor der Abreise im Bauch gehabt hatte. Er fuhr gern Auto, hielt sich für einen umsichtigen und routinierten Fahrer. Die Strecke nach Dänemark, diese rund tausend Kilometer, waren zu zwei Drittel Autobahn. Absichtlich wählte er die Strecke über Berlin und nicht über Magdeburg, weil der Verkehr, zumindest zwischen Berlin und Hamburg, dünner war, weil er es liebte, gemütlich mit Tempo 120 über die Straße zu gondeln, statt wie ein Irrer aufs Gaspedal zu treten. Urlaub begann für ihn vor der Haustür, nicht erst am Urlaubsort. Er fuhr diese Strecke nun seit so vielen Jahren, dass er jeden Parkplatz, jede Tankstelle und jeden Rasthof zwischen hier und Dänemark wie seine Westentasche kannte. Trotzdem wuchs die Anspannung vor jeder neuen Fahrt. Vor ein paar Jahren war das ganz anders gewesen. Da hätte er im Traum nicht daran gedacht, dass ihm tatsächlich etwas passieren könnte. Nun aber war es die Tatsache, die jeder ab dem Überschreiten der Lebensmitte früher oder später zu akzeptieren hatte: Die Gewissheit, dass die Tage gezählt waren, dass die Zeit mit jedem Jahr wertvoller wurde, und die Summe der zur Verfügung stehenden Stunden beharrlich schrumpfte.

Borg zog kurz die Stirn in Falten, sodann schalt er sich einen Narren und Angsthasen. Zustoßen konnte einem überall etwas, dazu brauchte man nicht nach Dänemark zu fahren.

*

Er kam gut voran, war in Rekordzeit an Berlin vorbei. Ab jetzt wurde der Verkehr dünner. Nur während der Ferien war hier wirklich etwas los. Borg liebte dieses flache, irgendwie einsam erscheinende Land. Nur ab und zu spitzte ein alter Kirchturm hinter ausgedehnten Wäldern hervor, folgten weitläufige Wiesen und Felder bis zum Horizont. Ein andermal ragten stolz die Türmchen eines Herrensitzes in den Himmel, dann wieder die Silhouette eines verlassenen Dorfes, mit einstürzenden Dächern und leeren Fensterlöchern. Es war ein Land der Gegensätze. Nie hatte er die Autobahn verlassen und war eine der vielen mit Kopfsteinpflaster versehenen Landstraßen entlang gefahren, gesäumt von knorrigen Alleebäumen. Nie hatte er ernsthaft in Erwägung gezogen, durch eines dieser aufgelassenen Geisterdörfer zu wandern, auf der Suche nach der verbannten Utopie des Sozialismus, nie auch nur einen Fuß auf die Erde gesetzt und wirklich dem nachgespürt, was er empfand, wenn die Landschaft in wohl vertrauten Bildern an ihm vorüber glitt. Es gehörte einfach dazu, war Teil eines Rituals, das er seit vielen Jahren pflegte, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen. Wenn die Dörfer und Städte mehr und bunter wurden, wenn Neubaugebiete und breite Bundesstraßen den Alleen wichen, wenn Industrieflächen die Felder verdrängten, war dieser Traum ohnehin zu Ende.

Kurz vor Hamburg verließ Borg die Autobahn und fuhr auf der Bundesstraße Richtung Neumünster. Hier reihten sich PKW an LKW, fast überall war Überholverbot. Aber das störte ihn nicht, er kam dennoch rascher voran, als es der Umweg über Hamburg und den staugeplagten Elbtunnel mit sich gebracht hätte. Abgesehen von ein paar Rasern, die gemeingefährlich auch an den unübersichtlichsten Stellen zwanghaft überholten, war das Ganze eine gemächlich dahin ziehende Karawane, in der er sich gut aufgehoben fühlte.

Danach ging es auf die Autobahn zurück, quer durch Schleswig-Holstein bis in die Höhe von Flensburg. Die letzte Etappe hinter der riesigen Brücke des Nordostseekanals war zu Urlaubs- und Ferienzeiten eine der letzten stauanfälligen Streckenabschnitte. Gerne hielt er auf dem Parkplatz am Fuß der gigantischen Brücke und beobachtete die großen Frachter und Fährschiffe, die, deplatziert und überdimensional, durch das schmale Fahrwasser manövrierten. Im Verbund mit der Brücke schrumpften Autos und Menschen bis in subatomare Größenbereiche. Einzig der endlos weite Himmel darüber war mächtig genug, es auch mit allen noch so gearteten irdischen Superlativen aufzunehmen. Im Frühsommer liebte er das kräftige Grün der Wiesen und das knallige Gelb der Rapsfelder zu beiden Seiten des Ufers; im Herbst die kriechenden Nebel, auf denen die Schiffe lautlos vorbei trieben, unwirklich wie eine Fata Morgana. Wenn er dann wieder hinter dem Steuer saß und die letzten Kilometer bis zur Grenze fuhr, konnte ihm auch der schlimmste Stau nichts mehr anhaben.

Hinter der ehemaligen Grenzstation atmete Borg erstmals tief und ausgiebig den Duft, von dem er nie genug bekommen konnte. Hier kurbelte er bei jedem Wetter das Seitenfenster herunter, lächelte überglücklich, suchte den erstbesten dänischen Radiosender und summte vergnügt vor sich hin. Er konnte gut dänisch, hatte mit den Jahren Wort um Wort dazugelernt. Und diese Anstrengung hatte mit der Zeit auch Früchte getragen, ihm Bekanntschaften mit Dänen eingebracht.

Ein kleines Ferienhaus in Westjütland, unterhalb von Hvide Sande, der kleinen Hafenstadt auf Holmsland Klit am Ringkøbing Fjord, war sein festes Quartier. Vor vielen Jahren, als er das erste Mal hier Urlaub gemacht hatte, war der schmale Sandstreifen zwischen der Nordsee und dem weitläufigen Haff noch ein verschlafenes Nest gewesen, mit ein paar wenigen, meist privaten Ferienhäusern für gestresste Kopenhagener. Nur wenige Deutsche zog es damals hier her, und die, die kamen, waren ein verschworenes Grüppchen von Genießern und Gleichgesinnten; die Urlaubsadresse so etwas wie ein Geheimtipp. Heute kämpfte die kleine Kommune bei dem stetigen Rückgang der Fischereiwirtschaft ums Überleben und setzte bewusst auf Massentourismus, mit allen Mitteln und manchmal gegen den Charme, den diese Gegend besaß. Früher war das Leben an der rauen Küste für die Einheimischen ursprünglich und hart gewesen, für die Urlauber schlicht und ohne Luxus. Jetzt konnte man aus gut einem halben Duzend Ferienhausvermittlungen und Tausenden von Häusern wählen. Inzwischen hatte längst jedes Haus Fernseher und Waschmaschine, meist Geschirrspüler und Sauna, manche sogar einen Whirl- oder Swimmingpool. Wozu?, fragte sich Borg ein ums andere Mal. Er fuhr hier her, um die Stille zu genießen, die Einsamkeit in den Dünen, die endlosen sandbeigen Strände, die tosende Brandung und das Salz auf den Lippen. Ein kurzes Bad in der Nordsee war für ihn belebender und gesünder als jeder Aufenthalt in einem wie auch immer gearteten Pool. Draußen am Strand roch es nach Meer, nicht nach Chlor, hier blies der Wind sein schütteres Haar trocken (was brauchte er einen elektrischen Fön), hier massierte der Sandflug die Haut besser als alle Peelinggels der Welt zusammengenommen.

Borg war altmodisch, das wusste er, schrecklich konservativ und kein bisschen mit der Zeit gehend. Aber es störte ihn nicht im Geringsten, dass Typen wie er aus der Mode gekommen waren. Im Gegenteil: Er war froh, einer derjenigen zu sein, die ganz bewusst gegen den Strom des ach so gepriesenen Fortschritts schwammen. Und er war nicht der Einzige, der so dachte. Es gab eine beständig steigende Zahl Einheimischer, die dem immer bunter werdenden Treiben in ihrer Heimat mit gemischten Gefühlen gegenüberstanden. Jeder Komfort, jede noch so gut gemeinte Lebenserleichterung war nichts anderes als leerer Pomp und Protz, der den Menschen davon abhielt, das zu erkennen, was wirklich wichtig war im Leben.

Sein Ferienhaus war einfach, aber gemütlich eingerichtet, hyggelig, wie die Dänen zu sagen pflegten. Es hatte einen Fernseher und Schwedenofen im Wohnzimmer, ein kleines Bad mit Dusche und WC, ein Schlafzimmer mit breitem Doppelbett und eines mit zwei schmalen Kojen. Keinen wirklichen Luxus, wenn man von der überdachten Terrasse absah, von der aus man an klaren Tagen weit über den Ringkøbing Fjord hinweg bis nach Velling Mærsk sehen konnte, wo sich ein riesiger Windpark am Horizont erstreckte. Das Haus lag an der Fjordseite inmitten einer weitläufigen Düne. Inzwischen hatte man zwar neue Häuser drum herum gebaut, aber sein Ferienhaus blieb, was es immer gewesen war: eine Insel im Gedränge der Zeit, ein unscheinbares Kleinod, welches sich nur dem Blick des Kenners offenbarte.

Borg schmunzelte. Ja, das wahrhaft Luxuriöse unserer Zeit verbarg sich im Elementaren und Einfachen. Nicht alles war für Geld zu bekommen – Gott sein Dank! Das Lächeln verschwand von seinen Lippen, denn er fühlte unvermittelt die Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem er seine Einstellungen, seine Erlebnisse und die Freude am einfachen Leben teilen konnte.

Bei Kolding bog er ab und fuhr nach Westen, Richtung Esbjerg. Ein einziges Mal war er bisher in der Stadt gewesen, hatte damals im Sommer bei bestem Wetter eine Hafenrundfahrt gemacht, das alte Feuerschiff an seinem Ankerplatz besichtigt und anschließend einen Bummel durch die Fußgängerzone unternommen. Er war ein schöner und unvergesslicher Tag gewesen, aber irgendwie war er am Abend doch überglücklich in sein stilles Häuschen am Fjord zurückgekehrt. Was interessierten ihn Sehenswürdigkeiten, Touristenattraktionen und der ganze Schnickschnack, wenn er Ruhe und Entspannung, Regeneration und Zufriedenheit suchte?

Borg blickte über die hügelige Landschaft, lächelte abermals und beobachtete kurz das Spiel von Licht und Schatten auf den weitläufigen Feldern und geduckten Wäldern links und rechts der Straße. Der Horizont war weit und es herrschte dieses besondere Licht, das er nicht in Worte zu fassen vermochte, das intensiver war als daheim, egal, zu welcher Jahreszeit. Die Sonnenstrahlen warfen goldene Fächer über die Landschaft. Alles hörte auf zu existieren, und seine Gedanken verbanden sich mit dem Land seiner stillen Hoffnung. Er träumte sich seinen Wunsch herbei, wie er es all die Jahre hinweg getan hatte, träumte mit offenen Augen so intensiv, dass er beinahe die Ausfahrt versäumt hätte. Hektisch setzte er den Blinker, riss in letzter Sekunde am Lenkrad und bog auf die Landstraße nach Varde ein.

Seine Schwester schwärmte seit Jahren von der alten Stadt Ribe. Irgendwann hatte sie etwas darüber im Fernsehen gesehen. Wahrscheinlich war es nur einer ihrer wiederkehrenden Versuche, sich bei ihm einzuladen. Diesen einzigen Zufluchtsort wollte er, wenn er ehrlich zu sich selbst war, außer mit seinen dänischen Freunden und Hagen mit niemand anderem teilen.

Die Kilometer schlichen dahin; bis zum Horizont reichte oft das schnurgerade Asphaltband. Eine freudige Anspannung machte sich bemerkbar, wie immer, wenn er sich seinem Ziel näherte. Und plötzlich wurde er des einzigartigen Duftes der vor ihm liegenden Landschaft gewahr.

Später dann, in Nørre Nebel, war es noch intensiver und greifbarer: das Gefühl, endlich wieder nach Hause zu kommen. Seltsam, dachte Borg. Was verband ihn tatsächlich mit dieser Gegend? Er fühlte sich von ihr angezogen, wie er es sich intensiver nicht vorzustellen vermochte. Bereits bei seinem ersten Besuch war sie da gewesen, die tiefe Empfindung wohliger Geborgenheit. Alles war ihm auf Anhieb so vertraut gewesen, wie nur etwas sein konnte, das man lange gesucht und endlich gefunden hatte. Gab es vielleicht so etwas wie Reinkarnation? Hatte er dereinst als Wikinger oder als Fischer und Strandbauer hier oben an der Nordseeküste gelebt? Und waren die seltsamen Gefühle, die ihn hier oben heimsuchten, nichts als die aufkeimende Erinnerung an ein Leben in früheren Zeiten? Wenn ja, so musste es ein sehr inhaltsreiches und erfülltes Dasein gewesen sein: mit Frau und Kindern, einer Familie – seiner Familie? Borg schmunzelte und schüttelte zugleich den Kopf. Lächerlich, sich derart abwegige Gedanken zu machen.

Der Höhepunkt seiner Reise lag vor ihm. Das Dorf hieß Nymindegab. Es lag wie all die anderen Gemeinden und Provinznester auf seinem direkten Weg, aber am Ende, gleich hinter dem Ortsschild, begann die Dünenlandschaft von Holmsland Klit. Das Land senkte sich unerwartet etliche Meter nach unten. Es war wie der unverhoffte Fall in eine andere Welt, wenn sich abrupt das karge Land vor seinen Augen öffnete und er mit Schwung hineinfuhr in die wellige Sandhügellandschaft, wenn das Blau über ihm sich nach allen Seiten ausdehnte und die Welt nur noch aus Sand, Strand und Himmel zu bestehen schien. Er nickte den alten Köderhütten zu, die rechts unterhalb der Straße am letzten Ausläufer des Fjords geduckt lagen, blickte zu dem alten Kutter hinunter, der wie immer an dem winzigen Anlegesteg lag und, von hier oben unsichtbar, sorglos in der leichten Dünung schaukelte. Sein Herz frohlockte und eine heimliche Glücksträne entsprang seinen Augenwinkeln. Borg fuhr sich mit der Hand über die Lider. Er hatte es wieder einmal geschafft. Ohne Panne. Ohne Unfall. Ohne Stau!

*

Søren hatte ihn bereits erwartet, als er an seine Tür klopfte. Borg hatte ihn vor drei Tagen angerufen und gebeten nachzufragen, ob sein Haus für die nächsten Wochen frei sei. Noch am gleichen Abend hatte Hilde, seine Frau, zurückgerufen und die Nachricht überbracht, dass er wie immer willkommen sei und bleiben könne, solange er wolle. Borg bezahlte gut für seinen Aufenthalt und wollte nichts geschenkt haben. Im Gegenteil, er brachte stets kleine Geschenke mit, Aufmerksamkeiten, über die sich seine Freunde aufrichtig freuten.

»Hej Borg, hvordan går det?«, grüßte der Alte und umarmte seinen Gast.

»Hej Søren! Gut«, antwortete dieser und drückte fest die Schultern des Mannes.

»Akvavit! Du hast ihn nicht vergessen«, sagte Søren ehrfürchtig, als sein Freund die Flasche wenig später aus den Tiefen seiner Jackentasche hervorzog.

»Wie könnte ich«, antwortete Borg und lächelte.

»Du trinkst doch einen mit, oder?«

Borg lachte. »Was meinst du wohl, warum ich die Literflasche genommen habe?«

Er ließ sich auf Sørens altem Wohnzimmersofa nieder und beobachtete bedächtig, wie der Mann die Flasche öffnete und mit ruhiger Hand die Gläser füllte. Er mochte den alten Kutterkapitän, war er für ihn mit den Jahren doch zu dem geworden, was Hagen in Deutschland für ihn bedeutete. Søren war mehr als ein würdiger Ersatz für den Freund in der Heimat. Gerade jetzt, im nahenden Herbst, nahm er Borg gerne mit hinaus auf See zu den letzten Fahrten des Jahres. Dann saßen sie zusammen im kleinen Ruderhaus des Kutters und plauderten über Gott und die Welt, während draußen an Deck die letzten hartgesottenen Angelfreunde bei rauer See und mit gischtgetränkten Gesichtern auf Petris Heil hofften.

»Skål!«, prostete der alte Seebär Borg zu. Mit einem kurzen Aufwärtsruck leerte er sein Glas und stellte es lautstark auf die Tischplatte zurück. »Es geht nichts über einen echten Aalborg.« Er wischte sich mit dem Unterarm über den Mund.

»Das stimmt!«, bekräftigte Borg, und tat es ihm gleich. Schnaps gönnte er sich nur zu besonderen Anlässen; dies war einer davon. »Auch wenn er eine ziemlich weite Reise hinter sich hat«, fuhr er anschließend fort.

»Dann hat er was von der Welt gesehen, bevor wir ihn vernichten.«

»Ist Hilde nicht da?«

»Die ist einkaufen gegangen. Und will anschließend bei ihrer Busenfreundin Helle vorbeigucken. Das kann länger dauern. Aber ich soll dich schön von ihr grüßen. Bestimmt seht ihr euch in den nächsten Tagen.«

»Bestimmt!«

Søren schenkte nach und grinste dabei wie ein Honigkuchenpferd. »Na, alter Schwerenöter, was macht dein Sexleben?«

»Mein ...« Borg drehte den Kopf zur Seite und hustete hinter vorgehaltener Hand. Etwas von dem zweiten Akvavit war ihm in die falsche Kehle geraten. So eine Frage hatte er von Søren nicht erwartet. Er war um sein Seelenheil besorgt, gut, wusste, dass er ein Frauenproblem hatte, aber musste man die Dinge wirklich ohne Umschweife beim Namen nennen?

»Du hast mich schon verstanden. Also: was macht die Liebe?«

»Was soll sie machen?« Borg sah dem Freund scheu in die Augen.

»Es ist nicht gut, auf immer und ewig allein zu bleiben. Du musst dir endlich eine Frau suchen. Das gehört sich einfach.«

Borg hustete abermals. »Das ... ist leichter gesagt ... als getan.«

»Bei uns in Dänemark ist das kein Problem. Wenn du hier eine Frau sucht, findest du auch eine. Ich kann nicht verstehen, warum ihr Deutschen aus allem ein Problem machen müsst?« Søren lachte schallend und schenkte sich und Borg erneut ein.

»Es kann eben keiner über seinen Schatten springen«, sagte Borg kleinlaut und wunderte sich, warum er überhaupt nach einer Erklärung oder Entschuldigung für sein Handeln, oder vielmehr Nichthandeln, suchte. Schließlich hatte er für sich längst einen Schlussstrich unter das leidige Thema gezogen.

»Hast du es ausprobiert?«

»Was?«

»Na, das mit dem Schattenspringen!«

Borg stellte sein leeres Glas nachdenklich auf den Tisch zurück. »Ich möchte nicht mit irgendeiner Frau zusammenleben, nur um nicht allein sein zu müssen. Es geht um mehr als das.«

»Du bist auf der Suche nach einer Prinzessin, ich hab’s verstanden.« Der alte Kapitän lächelte milde, zog seine Pfeife aus der Hosentasche, öffnete die Tabaksdose, die auf dem Tisch stand, und stopfte bedächtig den Pfeifenkopf. »Wenn du für immer bleiben würdest, na ja, dann ...«

»Was dann?«

»Dann könnte ich dir helfen«, fuhr er fort, ohne einen Blick von seiner Arbeit zu nehmen. »Es gibt hier etliche Frauen in deinem Alter – aber auch Jüngere, wenn dir das lieber wäre –, die auf der Suche nach einem Partner sind. Und du bist alles andere als eine schlechte Partie.« Søren begutachtete seinen Freund von oben bis unten. »Hast Geld. Siehst einigermaßen nach was aus. Was will man mehr?« Er steckte die Pfeife in den Mund und brachte mit einem langen Streichholz den Tabak zum Glühen. Anschließend blies er einen gewaltigen Ring in die Luft und beide beobachteten, wie dieser sich an der Zimmerdecke in einer formlosen Wolke verflüchtigte. »Wenn es soweit ist, sag mir einfach Bescheid!«, sagte Søren.

»Ich weiß, du willst mir helfen«, begann Borg und knetete etwas verlegen seine Finger. »Und ich habe ja darüber nachgedacht. Aber ganz hier zu bleiben, wäre für mich nicht das Richtige. Ich hätte Angst eines Tages aufzuwachen und das zu vermissen, was mir hier so gut gefällt. Ich hätte Angst, den Traum zu verlieren, den ich träume, wenn ich hier bin – außerdem, was soll meine Schwester ohne mich anfangen? Es würde ihr das Herz brechen, wenn ich so einfach auf und davon ginge.«

»Dann nimm sie mit. Für die finden wir auch einen, der zu ihr passt. So hast du alle Sorgen auf einen Schlag los.«

»Ach Søren, wenn das nur so leicht wäre.« Borg massierte sich die Stirn. »Lass uns ein andermal weiterreden. Ich muss jetzt weiter. Es ist spät und ich möchte vor dem Abend meine Sachen im Haus verstaut haben. Außerdem bin ich reichlich betrunken. Wenn ich jetzt nicht gehe, muss ich über Nacht bleiben.«

»Gar keine schlechte Idee. Da könnten wir ein Weilchen oder zwei plaudern und den Rest hier vernichten.«

»Da würde uns Hilde kräftig die Leviten lesen.«

Søren machte nur eine abweisende Handbewegung. »Quatsch!«

»Heute besser nicht«, bekräftigte Borg, dessen Körper mit einem Mal schwer zu werden begann. Wenn er jetzt nicht aufstand, würde ihm gar nichts anderes übrigbleiben, als den Rest des Tages auf der Couch zu verbringen. Mit einem Ruck erhob er sich und stieß dabei an die Schirmlampe über dem Tisch. »Hopsala!« Er rülpste.

»Du kannst in diesem Zustand nicht mehr Autofahren«, meinte Søren mit besorgtem Blick. »Du bleibst hier!«

»Nein, das kann ich einfach nicht ...« Borg rülpste abermals und hielt sich die geballte Faust vor den Mund. »...’tschuldigung.« Dann lief er mit weichen Knien in den Flur hinaus und versuchte vergebens, seine Schuhe anzuziehen.

Søren eilte ihm hinterher und begutachtete kopfschüttelnd seine vergeblichen Anstrengungen. »Schluss jetzt! Du siehst selbst, was mit dir los ist. Du bleibst hier, und basta!«

Borg erhob sich mühsam und sah den alten Kapitän mit blutunterlaufenen Augen an. »Nichts da! Das ist nur eine kleine ... Schwäche. Die ist gleich überstanden. Ich bin völlig in Ordnung. Ich fahre heim. Hubs!« Borg bekam Schluckauf. »Aber wenn du mir die Galoschen anziehen könntest! Da muss sich irgendwas verheddert ... Hubs!«

Søren verzog die Mundwinkel zu einer missmutigen Geste, bückte sich und half Borg in die Schuhe. »Du bist ein Starrkopf, wie es keinen zweiten gibt. Hoffentlich schnappt dich die Polizei. Ich werde dich nicht aus der Ausnüchterungszelle holen, verstanden?«

»Dank dir! Du bist eben ein echter ... ‘reund«, stammelte Borg und klopfte seinem Gegenüber hart auf die Schulter.

»Und du ein riesengroßer Dummkopf!« Widerwillig trat er zur Seite und gab den Weg frei.

Borg riss die Haustür auf und torkelte ins Freie. »Far...vel! Hubs!«

Søren lehnte sich an die Haustür und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Fravel, my good old boy!«, rief er ihm hinterher. Alsdann schüttelte er den Kopf und schloss geräuschvoll die Tür hinter sich.

*

»Von wegen nicht mehr fahren ... Lachhaft. Ich bin top...fit!« Borg hatte das Fenster heruntergekurbelt und sog die frische Abendluft gierig in sich auf. Die Sonne stand bereits tief am Horizont und warf ihr orangerotes Licht über die Dünenlandschaft. Er musste sich zwingen, auf die Straße zu blicken, und nicht auf das grandiose Schauspiel am Himmel. Der alte Volvo fuhr in der Fahrbahnmitte. Ab und zu machte er einen kurzen Ausfall nach links oder rechts.

Nachdem er das Radio angestellt hatte, wo gerade eines seiner Lieblingslieder lief, summte und sang er voll Inbrunst in den Abend hinaus. Er war kein guter Sänger, aber er hatte eine laute Stimme, wenn es darauf ankam: »Oooh ... wish you were ... heeere!«

Als der Song zu Ende war, zog er die Stirn in Falten. »Søren will mir eine Frau verordnen. Fürwahr, das würde er tatsächlich tun, wenn ich ihn darum bäte.« Lächelnd sah er sich in Gedanken mit einer adretten Dänin am vertrauten Strand flanieren, händchenhaltend und scherzend, ein frisch verliebtes Paar.

»Unsinn!«, wies er sich zurecht. War er mehr als ein verbohrter Junggeselle, dessen Ansprüche mit den Jahren ins Gigantische gewachsen waren? Sich spontan in jemanden verlieben zu können, schien ihm unwahrscheinlicher denn je.

Bereits von Weitem erstrahlte sein Ferienhaus auf der Düne. In der Abendsonne leuchtete es blutrot wie ein Rubin. Nirgends anders wollte er jetzt sein. Er bremste ab und bog viel zu schnell in den schmalen Schotterweg ein. Der Volvo schlingerte gefährlich.