Das Geheimnis von Blue Manor - Katie M. Bennett - E-Book
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Das Geheimnis von Blue Manor E-Book

Katie M. Bennett

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Beschreibung

Welche Geheimnisse schlummern hinter den alten Gemäuern von Blue Manor?
Der spannende Liebesroman vor der idyllischen Kulisse Cornwalls

Nicht nur Sophies Beziehung, sondern auch ihr Job stecken in einer Sackgasse. Als sie dann bei einer lang erwarteten Beförderung übergangen wird, entscheidet sich die junge Journalistin, das überraschende Angebot von Lady Gwyneth Montenay anzunehmen und deren Memoiren zu schreiben. Doch nachdem sie auf dem alten Anwesen Blue Manor im Herzen Cornwalls angekommen ist, verstirbt die alte Lady unerwartet und hinterlässt ein Netz aus Lügen und Geheimnissen, in das Sophie immer weiter hineingezogen wird. Entschlossen, die Geheimnisse hinter den Mauern von Blue Manor zu lüften, macht sie sich zusammen mit Oliver Taylor, dem attraktiven Notar der Familie Montenay, auf die Suche nach der Wahrheit. Doch Sophie ahnt noch nicht, dass die Schatten der Vergangenheit ihr ganzes Leben erschüttern werden …

Erste Leser:innenstimmen
„Es hat mich bestens unterhalten, Sophie bei ihrem Neuanfang in Cornwall zu begleiten – sehr mitreißend geschrieben!“
„Dramatisch-fesselnd und romantisch-schön zugleich“
„Fans von Familiengeheimnissen werden hier perfekt abtauchen können.“
„Packender Liebesroman mit sympathischer Protagonistin und überraschenden Wendungen.“

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Seitenzahl: 421

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Über dieses E-Book

Nicht nur Sophies Beziehung, sondern auch ihr Job stecken in einer Sackgasse. Als sie dann bei einer lang erwarteten Beförderung übergangen wird, entscheidet sich die junge Journalistin, das überraschende Angebot von Lady Gwyneth Montenay anzunehmen und deren Memoiren zu schreiben. Doch nachdem sie auf dem alten Anwesen Blue Manor im Herzen Cornwalls angekommen ist, verstirbt die alte Lady unerwartet und hinterlässt ein Netz aus Lügen und Geheimnissen, in das Sophie immer weiter hineingezogen wird. Entschlossen, die Geheimnisse hinter den Mauern von Blue Manor zu lüften, macht sie sich zusammen mit Oliver Taylor, dem attraktiven Notar der Familie Montenay, auf die Suche nach der Wahrheit. Doch Sophie ahnt noch nicht, dass die Schatten der Vergangenheit ihr ganzes Leben erschüttern werden …

Impressum

Erstausgabe Oktober 2022

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-610-9 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-796-0

Covergestaltung: ARTC.ore Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © NWStock, © gostua, © Blue Planet Studio, © Dirk M. de Boer, © Julia Agin stock.adobe.com: © Shelli Jensen Lektorat: Manuela Tengler

E-Book-Version 20.09.2023, 10:01:47.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Das Geheimnis von Blue Manor

Prolog

St. Elizabeth, London, Juni 1952

Geliebte Kleine,

gern würde ich Dich mit Deinem Namen ansprechen, denn es ist unhöflich, es nicht zu tun. Allerdings weiß ich nicht, welchen sie Dir geben werden. Gleichwohl wirst Du für mich immer meine geliebte Kleine sein. Für immer, auch wenn sie Dich mir längst fortgenommen haben.

Tief in meiner Seele bin ich sicher, dass Du ein wunderschönes Mädchen werden wirst.

Und obwohl ich weiß, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass Du diesen Brief jemals lesen kannst, brennt dennoch der Wunsch in meiner Seele, ihn Dir zu schreiben. Seit vielen Wochen drehe und wende ich diese Worte, mit denen ich all das Wichtige sagen möchte, das Du zu erfahren verdienst, in meinem Kopf. Aber selbst wenn ich einmal die Zeit finde, über alles in Ruhe nachzudenken, kommt dabei nicht das heraus, was ich möchte. Ich weiß nicht, ob es diese bleierne Müdigkeit ist, die mich nicht mehr verlassen hat, seitdem ich an diesem schrecklichen Ort gefangen bin, die meine Gedanken zu einem zähen Durcheinander werden lassen. Mir fehlen nicht nur die richtigen Worte. Es scheinen auch nie genug zu sein, um Dir alles zu erklären. Wie erklärt man das Unerklärliche, das Unbegreifliche? Du siehst, es geht schon wieder los, das Chaos in meinem Kopf.

Schließlich müssen diese Worte für ein ganzes Leben reichen. Für Dein ganzes Leben, das erst in ein paar Tagen beginnen wird. Vielleicht könnte ich mich besser ausdrücken, wenn ich nicht so entsetzlich müde wäre. Die Arbeit ist sehr schwer und die Nächte sind kurz – bitte verstehe mich nicht falsch, ich möchte nicht klagen, aber gerade jetzt wäre ich dankbar, klar und ausgeschlafen zu sein, während ich meinen ersten und letzten Brief an Dich verfasse. Es bleibt nicht mehr viel Zeit für uns, meine Kleine. Ich spüre es, der Tag Deiner Geburt rückt unerbittlich näher. Mit sanften Tritten fängst Du an, dich über die Enge in meinem Bauch zu beschweren. Glaube mir, ich verstehe das. Du sollst ja auch hinaus ins Leben. So, wie es gottgewollt ist. Trotzdem weine ich schon jetzt bei dem Gedanken, denn der Moment, wo Du das Licht der Welt erblickst, wird gleichzeitig unser Abschied sein. Das kann Gott nicht wollen, auch wenn sie sagen, dass Du ein Kind der Sünde bist. Glaube mir, das bist du nicht. Du bist ein Kind der Liebe. Das ist es, was ich Dir vor allem sagen muss. Niemand liebt Dich mehr als Dein Vater und ich. Dein Vater hätte alles für Dich getan, aber sie haben ihn nicht gelassen. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist, aber ich weiß, dass er uns niemals freiwillig im Stich gelassen hätte. Geliebte Kleine, vergiss das niemals!

Nie werde ich Dich barfuß über eine Wiese mit Mohnblumen laufen sehen, aber ich wünsche mir, dass Du es tun wirst. Mit wehenden blonden Locken im Wind, während Deine blauen Augen strahlen wie Saphire und Dein Mund sich zu einem verzückten Lächeln formt. Dieses Bild lebt in mir, von jetzt an und für alle Zeit.

Mein Herz, in diesem Moment ertönt der Gong zum Abendgebet. Ich muss eilen, obwohl ich Dir noch so viel sagen möchte. Vielleicht schenkt der liebe Gott mir etwas Glück und ich kann den Brief in den nächsten Tagen fortsetzen, aber vielleicht war dies auch die letzte Gelegenheit.

Ansonsten verzichte ich freiwillig auf jedes Glück, wenn Du es dafür bekommst, Liebes. Möge Dein Leben voller Wunder und Schönheit und blauer Blumen sein.

In ewiger Liebe

Deine Mum

1.

Nervös lauschte Sophie dem Freizeichen, das aus ihrem Handy drang. In Los Angeles war es jetzt kurz vor Mitternacht. Eine günstige Zeit, um Kate zu erwischen. Vorausgesetzt, die Party war nicht so lustig, dass ihre beste Freundin ihren eisernen Prinzipien untreu wurde, nach denen sie an Drehtagen grundsätzlich früh zu Bett ging. Es geschah zwar selten, aber es kam vor, dass sie eine Ausnahme machte.

Aber bitte nicht heute, betete Sophie still und eindringlich. Obwohl sie genau wusste, was Kate ihr sagen würde – falls sie noch ans Telefon ginge –, brauchte Sophie die Worte ausgesprochen. Nur dann bestand die Chance, dass sich ihre Nerven so weit beruhigten, dass sie ihr Büro gleich verlassen und sich rechtzeitig auf den Weg zu ihrem Termin machen konnte.

„Hey Sweetheart!“ Kates Stimme drang wohltuend und wach in Sophies Ohr.

„Gott sei Dank, du bist schon zurück.“ Erleichterung flutete Sophies Körper.

„Ist etwas passiert?“, fragte Kate alarmiert.

„In zehn Minuten ist es so weit.“ Sophies Stimme klang, als würde exakt zu diesem Zeitpunkt die Welt untergehen. Völliger Blödsinn, sie wusste es, dennoch fühlte es sich gerade genauso an.

„Was … Wie … Ach, du meinst deinen Termin mit Ethan?“ Kate lachte befreit.

„Genau den.“ Sophie seufzte schwer und spielte mit dem Kugelschreiber in ihrer Hand.

„Komm schon, Honey! Das Gespräch ist ein Selbstläufer! Du machst dir mal wieder vollkommen umsonst Sorgen. Dein Chef wird niemand Besseres finden für den Job, und glaub mir, das weiß er auch.“

Sophie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, ließ den Kugelschreiber fallen und legte stattdessen eine Hand auf ihren Magen, in dem sich seit letzter Nacht hartnäckig das Gefühl hielt, dass sich etwas unwiderruflich verknotet hatte. „Ich weiß nicht, mein Gefühl sagt mir ganz deutlich etwas anderes.“

„Ruf mich später an, um mir zu sagen, dass ich wie immer richtiggelegen habe.“ Kates Lachen klang fröhlich und so nah, als sei sie in ihrer Londoner Wohnung und nicht Tausende Meilen entfernt in Los Angeles.

Sophie gönnte ihrer besten Freundin die Chance von Herzen, die ihr das Filmprojekt in den USA bot. Trotzdem war der Wunsch überwältigend, sich mit Kate später auf einen Drink zu treffen. Unabhängig davon, ob sie auf den Erfolg oder eine bittere Niederlage anstoßen könnten. Sie biss sich auf die Lippen. In einem hatte Kate bereits recht: Es würde nicht mehr lange dauern, bis Sophie Gewissheit hätte, ob sie den Job kriegen würde oder nicht. Vielleicht lag Kate tatsächlich richtig und nicht der Knoten in ihrem Magen …

„Wie war denn dein Tag?“, wollte Sophie wissen. Natürlich interessierte es sie, was sich im Leben ihrer besten Freundin tat, die so entsetzlich weit weg war. In diesem Fall spielte allerdings auch der schwache Versuch in die Frage hinein, sich wenigstens für einen Moment von der eigenen Sorge abzulenken.

„Wunderbar! Die Kollegen sind immer noch ein Traum, der Regisseur fordernd, aber fair. Also gilt weiterhin, dass ich es keine Sekunde bereut habe, dem Ruf der weiten Welt zu folgen.“

„Das freut mich so für dich!“ Das war die Wahrheit, auch wenn sie Kate furchtbar vermisste.

„Danke. Und später freuen wir uns gemeinsam über deinen Erfolg und darauf, dass du nie wieder abgehalfterte und verbitterte Kollegen von mir interviewen musst!“

„Oder aufgehende Sternchen, die sich bereits für Weltstars halten“, ergänzte Sophie und verzog das Gesicht. Wenn alle Schauspieler so bodenständig und fleißig wären wie Kate, würde sie vielleicht nicht so dringend nach einer Alternative zu ihrem jetzigen Aufgabengebiet suchen. Dann wurde ihr klar, dass die Vorstellung nicht nur unrealistisch war, sondern ihr kaum wirklich helfen würde. Sie wollte endlich über politische Themen berichten, recherchieren, mittendrin sein. Wozu hatte sie sonst jahrelang Politikwissenschaften studiert? Doch nicht, um ewig weiter boulevardeske Themen abzudecken und dankbar zu sein, wenn gelegentlich ein Artikel über eine echte Kulturveranstaltung als Highlight daraus hervorstach.

„Die sind die Schlimmsten!“ Kate lachte erneut. „Und mein Fachgebiet, nicht deins. Glaub mir, diese Zeit wird bald hinter dir liegen.“

„Versprochen?“

„Versprochen“, entgegnete Kate mit fester Stimme. „Also ruf mich an, sobald wir die Champagnerkorken knallen lassen können!“

„Das mache ich“, murmelte Sophie und setzte sich aufrechter hin.

„Wann kommt Adam zurück?“

„Morgen.“ Eigentlich, fügte Sophie stumm hinzu. Wenn nicht wieder etwas dazwischen käme. Wie so oft in den letzten drei Jahren … Vermutlich der Preis, den man zahlen musste, wenn man mit einem Musiker zusammen lebte.

„Das ist doch großartig! Dann kannst du immerhin mit ihm schon eine Siegesfeier einläuten. Bis wir es krachen lassen, wird ja leider noch einige Zeit vergehen.“ Kate seufzte. „Ich vermisse dich!“

„Ich dich auch!“ Sophie schluckte trocken. „Ich muss jetzt gleich rein zu Ethan.“

„Toi, toi! Geh und hol dir den Job!“

„Ay ay, Sir.“ Sophie lachte leise und beendete das Gespräch. Langsam legte sie ihr Handy auf den Schreibtisch vor sich. Etwas weniger verzagt blickte sie durch das regenverhangene Fenster hinaus in den trüben Londoner Vormittag. Der Straßenlärm drang nur gedämpft zu ihr nach oben in den fünften Stock. Natürlich war es kindisch, sich von Kate etwas versprechen zu lassen, was diese überhaupt nicht in der Hand hatte. Trotzdem fühlte sie sich etwas besser und der Knoten in ihrem Magen schien zumindest eine Spur geschrumpft. Sie sah auf die Uhr an ihrem Bildschirm. Fünf Minuten noch. Zeit, um zur Toilette zu gehen, einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen und sich dann in die Höhle des Löwen zu wagen.

Sophie nahm auf dem angebotenen Platz in der Sitzecke am Fenster ihrem Chef gegenüber Platz. Wie üblich strahlte der Raum ein gepflegtes, kreatives Chaos aus. Zwischen unzähligen Grünpflanzen lagerten auf kleinen Tischen und halbhohen Regalen neben alten Ausgaben des Newstellers eine große Auswahl von Ausgaben der Konkurrenz. In dem Bücherregal hinter dem schlichten und mit Schriftstücken überladenen Schreibtisch waren Dutzende Bücher aufgereiht – Biografien, Politik-Ratgeber und sonstige Bestseller drängten sich dicht an dicht. Nur der Tisch in der Besucherecke war erstaunlich aufgeräumt und bis auf Ethans Kaffeebecher leer.

Sophie schlug die Beine übereinander und sah ihren Chef erwartungsvoll an. Der kurze Blick in den Spiegel eben hatte ihr zumindest bestätigt, dass ihre Aufregung und das ungute Gefühl im Magen nicht offensichtlich waren. Der blonde Bob saß noch so perfekt, wie sie ihn in der Früh frisiert hatte, und ihre rauchgrauen Augen blickten scheinbar mit professioneller Ruhe in die Welt. Flüchtig musste Sophie an Mike, ihren früheren Boxtrainer, denken. Bei ihm hatte sie gelernt, wie wichtig die Ausstrahlung beim Kampf ist. Du darfst dich schwach fühlen, aber zeige es niemals! Mit einem verschmitzten Grinsen hatte er hinzugefügt: Noch besser ist es natürlich, wenn du dich auch stark fühlst! Nun, davon war sie meilenweit entfernt, sie konnte sich also nur an den ersten Ratschlag halten.

„Liebe Sophie, zunächst einmal herzlichen Dank für deine Bewerbung, über die ich mich sehr gefreut habe!“ Ethan Carter legte die Fingerspitzen an die Lippen und musterte Sophie durch die Gläser seiner Nickelbrille.

Er dankte für ihre Bewerbung? Die Schlinge in Sophies Magen zog sich zu. Das hier war kein Kampf. Zumindest kein fairer. Ethan war Gegner und Schiedsrichter in einer Person.

„Du weißt ja, dass es vom ersten Tag an mein Wunsch war, ins politische Ressort zu wechseln. Mein Studium der Politikwissenschaften …“ Weiter kam Sophie nicht, da Ethan sie mit einer Handbewegung unterbrach. Während er sich durch die braunen Locken fuhr, die von grauen Strähnen durchzogen wurden und ihm Ähnlichkeit mit einem Streifenhörnchen verliehen, seufzte er tief. In dem Moment wusste Sophie, dass sie bereits verloren hatte. Noch ehe sie wirklich in den Ring hatte steigen können.

„Es tut mir leid, aber ich muss dir leider absagen. Verstehe mich nicht falsch, du bist eine großartige Mitarbeiterin. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich täte.“ Ein wohlwollendes, kleines Lachen sollte der Niederlage ihre Schärfe nehmen. „Und das ist einer der Punkte, warum ich dir die Stelle nicht geben kann. Ich brauche dich dort, wo du bist. Du machst einen wunderbaren Job, und auch wenn du es vielleicht nicht so siehst: Es ist wertvolle Arbeit, die du leistest!“

Sophies Mund war staubtrocken und der Knoten in ihrem Magen dehnte sich schmerzhaft aus. Obendrein spürte sie, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Wütend drängte sie sie zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch wenn der Kampf verloren war, Schwäche würde sie nicht zeigen!

„Danke, aber du hast mir mehrmals zugesichert, dass der Tag kommen wird, an dem ich in meinen Wunschbereich wechseln kann.“ Ihre Stimme klang erstaunlich fest, was sie selbst verblüffte.

„Aber ja, natürlich wird er kommen!“ Ethan lächelte flüchtig und strich sich fahrig über die Stirn.

Für einen Moment fühlte Sophie fast so etwas wie Mitleid mit ihrem Chef. Sie spürte sein Unbehagen, vielleicht sogar einen Hauch von schlechtem Gewissen. Ethan war kein schlechter Vorgesetzter. Den vollen Einsatz, den er als Chefredakteur in den Erfolg des Newstellers steckte, forderte er zwar auch von seinen Mitarbeitern, blieb dabei jedoch meistens fair. Belohnte besonderes Engagement und verteilte Lob – wenn auch sparsam. Nur Beförderungsstellen, die vergab er noch seltener.

Sophie holte tief Luft und setzte sich aufrechter hin. „Das versprichst du mir seit zwei Jahren! Und seit vier Jahren mache ich brav einen Job, der nicht annähernd meinen Fähigkeiten entspricht.“

„Das kannst du so doch nicht sagen, Sophie. Deine Empathie lässt dich selbst aus schwierigsten Interviewpartnern das Bestmögliche zum Vorschein bringen. Und dein Talent zu schreiben, ist auch bei Unterhaltungsthemen vonnöten.“

„Wer wird es?“, unterbrach sie Ethan und zum ersten Mal zitterte ihre Stimme leicht.

„Richard, ein Verlagsfremder.“

Sophie schnappte nach Luft und ballte unbewusst die Fäuste. „Du nimmst einen Externen?“

Ethan, der auf seine Hände geblickt hatte, hob den Kopf und sah ihr ins Gesicht. Dann nickte er langsam. „Hör mal Sophie, nimm es nicht persönlich. Richard hat beste Referenzen und bringt einiges an Erfahrung mit.“

„Mit Erfahrung würde ich auch gerne dienen. Dazu müsste ich allerdings erst einmal die Chance bekommen, welche zu machen.“ Nimm es nicht persönlich … Die Worte hallten höhnisch in ihrem Kopf wider, während sie ihren Chef fassungslos anstarrte. Der Hauch seines schlechten Gewissens hatte sich bereits wieder verflüchtigt. Falls sie den Ausdruck überhaupt richtig gedeutet hatte. Vielleicht war ihm das Gespräch auch schlicht unangenehm. In Sophie wallte der Wunsch auf, später ins Studio zu marschieren, die Boxhandschuhe anzuziehen und ihren Frust im Ring abzubauen. Vielleicht würde sie es wirklich tun und das Training endlich wieder aufnehmen. Seit Ewigkeiten hatte sie es ausgesetzt, nicht zuletzt wegen des strammen Pensums, das sie für den Newsteller absolvierte. Und wofür? Um sich jetzt anzuhören, dass sie im Unterhaltungsbereich bestens platziert war.

„Du kriegst deine Chance, Sophie. Ganz sicher, nur eben jetzt noch nicht“, sagte Ethan leise.

Wieder spürte sie Tränen aufsteigen. „War es das?“ Nur mit Mühe schaffte sie es, sich zu zügeln. Am liebsten hätte sie ihren Chef angebrüllt oder ihm den Inhalt seines Kaffeebechers über den Kopf geschüttet. Letzteres war für einen Moment eine verführerische Option. Gerade rechtzeitig wurde ihr bewusst, dass dies das Letzte war, was ihr dabei helfen würde, ihr Ziel zu erreichen. Das Einzige, was sie sich damit sichern würde, wäre eine fristlose Kündigung, die sie sich ganz und gar nicht leisten konnte.

Ethan nickte. „Ach, eins noch.“

Sie sah ihn fragend an.

„Könntest du Richard am Anfang etwas unter die Arme greifen? Ihm unsere Abläufe zeigen und ihn mit den Kollegen bekanntmachen? Er wird morgen anfangen und da stecke ich leider mitten in der Budgetierung. Bist du so lieb?“

2.

Als Sophie am Abend die Treppe zu ihrer Wohnung im Londoner Stadtteil Chelsea hinaufstieg, hatte sich die Mischung aus Wut und Trauer längst zugunsten einer bleischweren Traurigkeit verschoben. Ihre Hand zitterte, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Keine Schwäche zeigen! Nun gut, immerhin hatte sie das den restlichen Arbeitstag über geschafft, während sie mit zusammengebissenen Zähnen den Artikel über Heather Minkville, dem neuen Shootingstar auf der Kinoleinwand, fertig schrieb. Natürlich klang daraus nicht hervor, was sich beim gestrigen Interview schonungslos gezeigt hatte: Heather war genauso einfältig wie erfolgreich. Aber das wollte die Leserschaft vom Newsteller nicht wissen. Es ging einzig darum, Ruhm und Glamour in den richtigen Worten zu transportieren. Es war Sophie wie üblich gelungen; das Okay von Ethan kam prompt, der Artikel konnte ohne Änderung in den Druck gehen.

Auch in diversen Telefonaten und dem obligatorischen Meeting am Nachmittag hatte Sophie es geschafft, professionell und ruhig aufzutreten. Nur der Knoten in ihrem Magen war immer größer geworden, schnürte ihr irgendwann fast die Luft ab.

Aufatmend warf sie die Tür hinter sich ins Schloss. Jetzt konnte sie endlich aufhören, so zu tun, als ob sie die Absage mit einem Schulterzucken abtat. Ihr Traum war heute geplatzt, und das tat verdammt weh! Sie brauchte dringend ein Glas Wein und ein weiteres Gespräch mit Kate.

Rasch schlüpfte sie aus ihren hochhackigen Pumps und tappte ins Schlafzimmer. Dort tauschte sie das graue Business-Kostüm und die weiße Bluse mit ihrer ausgewaschenen Lieblingsjogginghose und einem weiten T-Shirt. Dicke Socken vervollständigten das Wohlfühloutfit.

Der Knoten in ihrem Magen verringerte prompt seinen Druck, für den Moment war Sophie in ihrem eigenen Reich angekommen und die Business-Welt hatte keinen Zutritt. Hier konnte sie in Ruhe ihre Wunden begutachten und sich überlegen, wie es nun weitergehen sollte.

Gedankenverloren steuerte sie ihre kleine Küche an. Da Adam auf Reisen war, empfing sie diese sauber und aufgeräumt – aber auch viel zu leer. Morgen würde sich das schlagartig wieder ändern. Ein kleines Lächeln schlich sich auf Sophies Lippen. Adam würde nicht nur das übliche Chaos mitbringen, sondern hätte auch Aufregung, Abenteuer und Liebe im Gepäck. Ihr Lächeln wurde breiter. Sie freute sich. Für einen Moment vertrieb die Freude das überwältigende Gefühl der Niederlage. Passend zu dem kurzfristigen Wechsel ihrer Gefühlslage riss der wolkenverhangene Himmel vor dem Küchenfenster auf. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages erhellten den Raum und warfen gezackte Schatten auf das Schachbrettmuster der Fliesen auf dem Boden. Es schien, als ob die Sonne den Menschen gerade noch rechtzeitig ein bisschen Wärme und Helligkeit senden wollte, bevor sie sich zurückziehen und sie der Schwärze der Nacht übergeben würde.

Sophie nahm eine bereits geöffnete Weinflasche aus dem Kühlschrank, schnappte sich ein Glas aus einem der Hängeschränke und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Dort stellte sie Glas und Flasche auf dem Couchtisch ab und wollte sich gerade aufs Sofa plumpsen lassen, als ihr Blick auf den blinkenden Anrufbeantworter fiel.

Sie hielt mitten in der Bewegung inne. Die Freude, die sie gerade noch gespürt hatte, wurde schlagartig kleiner. Kaum jemand rief noch auf dem Festnetz an. Jedenfalls nicht, seitdem Mum nicht mehr lebte … Sophies Hals wurde eng, als ihr Blick zum Sideboard wanderte, wo die Fotos von Mum und Dad neben einer dicken Kerze und einigen gesammelten Muscheln vom Strand standen. Zögernd ging sie zur Telefonstation. Jetzt konnte sie sehen, dass sogar zwei Anrufe während ihrer Abwesenheit eingegangen waren. Mit zusammengepressten Lippen betätigte sie den entsprechenden Knopf. Adams dunkle Stimme erklang und ihr Herz machte einen Satz. Gleich darauf zog es sich schmerzhaft zusammen. Es tut mir so leid, Darling, aber das mit morgen wird nichts … Wir hängen noch einen zusätzlichen Gig in Dublin dran und anschließend treffe ich mich mit einem Veranstalter in Paris. So sorry, lovely! Vergiss mich nicht und bis ganz bald! Sweet kisses!

In Sophies Kopf drehte sich alles. Adam würde nicht kommen! Ihre dumpfe Befürchtung hatte sich zur Gewissheit verdichtet. Tränen schossen ihr ohne Vorwarnung in die Augen. Und er hatte nicht einmal den Mut, sie auf dem Handy anzurufen. Sprach stattdessen eine Nachricht auf das Festnetz, wo er sicher war, dass sie nicht ranging … In der Sicherheit ihrer eigenen Wohnung machte Sophie sich nicht länger die Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten.

Das Band schaltete zur nächsten Nachricht weiter, die Sophie ohnehin nicht mehr interessierte. Mit wackligen Beinen ging sie zum Sofa und ließ sich schniefend in die weichen Polster fallen. Während sie abwesend den Chardonnay ins Glas füllte, ertönte eine fremde heisere Frauenstimme.

Guten Tag, Mrs. Redgrave, hier spricht Lady Gwineth Montenay aus Cornwall. Ich würde Sie gerne engagieren, bitte rufen Sie mich zwecks Terminvereinbarung zurück.

Elektrisiert setzte Sophie sich auf. Wer zum Teufel war Lady Montenay? Und wofür wollte man sie engagieren? Sophie schüttelte den Kopf und trank ihr Glas in schnellen, kleinen Schlucken leer. Vielleicht nicht das beste Abendessen, aber so wie die Ereignisse heute auf sie niederprasselten, wohl die einzig mögliche Option.

Die Beförderung flöten, Adam, der – mal wieder – nicht kam und nun diese seltsame Nachricht. Die Gedanken jagten durch Sophies Kopf, während sie ungeduldig die Tränen wegwischte. Was sollte sie tun? Adam anrufen und ihm ihre Enttäuschung an den Kopf werfen, es bei Kate versuchen und sich ausweinen? Oder der Bitte der alten Lady nachkommen und sie zurückrufen? Zunächst tat Sophie nichts davon, sondern schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein. Sie konnte ohnehin nicht klar denken, darauf kam es also nicht mehr an. Ein letzter Rest Vernunft würde sie hoffentlich davor bewahren, Adam angetrunken und weinerlich unter Druck zu setzen. Kate konnte sie natürlich in jedem Zustand anrufen. Sie zögerte. Ihr wurde bewusst, dass der Anruf von der unbekannten Lady sie neugierig machte. Ein Engagement? Vielleicht der Ausweg aus ihrer beruflichen Sackgasse beim Newsteller? Unsinn, so einfach liefen die Dinge bei ihr nie … Wahrscheinlich wollte die alte Dame sich interviewen lassen, um in einer nächsten Ausgabe auf dem Titelblatt zu erscheinen. Aber woher hatte diese Lady Montenay ihre private Nummer? Sie hätte doch einfach in der Redaktion anrufen können. Langsam stellte Sophie ihr Glas auf dem Couchtisch ab und warf einen zögernden Blick zu Mum, die ihr vom Foto mit einem leichten Lächeln entgegenblickte. Die Aufnahme war alt, aufgenommen zu Beginn der kurzen Ehe mit Dad. Zu diesem Zeitpunkt gab es Sophie noch nicht. Nachdem Dad gestorben war, hatte Mum nur noch selten so glücklich ausgesehen wie zu dieser Zeit. Soll ich sie anrufen? Zu gerne hätte Sophie ihrer Mutter die Frage persönlich gestellt, anstatt nur stille Zwiesprache zu halten. Mum blickte sie nur weiter liebevoll aus dem silbernen Rahmen an, eine Antwort erhielt Sophie nicht. Sie seufzte und griff zur Wasserflasche, die neben dem Sofa stand. Nach einem großen Schluck entschied sie, dass sie noch klar genug war, um der Frage des Anrufs aus Cornwall auf den Grund zu gehen. Entschlossen stand sie auf und nahm das Telefon von der Station. Während das Freizeichen erklang, beschleunigte sich ihr Herzschlag.

3.

„Guten Abend, mein Name ist Sophie Redgrave. Ich rufe aus London an. Lady Montenay bat mich um Rückruf. Könnte ich sie bitte sprechen?“ Nervös drehte Sophie die Wasserflasche, die ihre rechte Hand umklammerte, während die andere das Telefon ans Ohr presste. Die Stimme am anderen Ende hatte sich mit einem knappen, eher unfreundlichem Hallo gemeldet. Sophie vermutete, eine Angestellte am Apparat zu haben.

„Guten Abend, meine Liebe. Das tun Sie bereits.“ Ein kurzes heiseres Geräusch, das einem Lachen ähnelte, drang aus dem Hörer.

Sophie erstarrte. Unwillkürlich setzte sie sich aufrechter hin, die Wasserflasche glitt aus ihrer Hand. „Oh … das … Das ist gut.“ Sie verdrehte die Augen. Ihr Gestammel war vermutlich nicht dazu angetan, ihre Gesprächspartnerin von ihrer Qualifikation zu überzeugen. Auch wenn Sophie noch nicht wusste, ob das überhaupt wichtig war, ärgerte sie sich dennoch.

„Ja, das finde ich auch. Es ist gut, dass Sie mich sofort zurückrufen. Ich freue mich.“

Es entstand eine kleine, spannungsvolle Pause, und Sophie widerstand dem Impuls, drauflos zu plappern.

„Wann können Sie nach Cornwall kommen, damit wir alles besprechen?“

Sophie öffnete den Mund, schloss ihn aber zunächst wieder, ohne etwas zu sagen.

„Sie möchten doch für mich arbeiten?“ Die Stimme von Lady Montenay klang alarmiert.

Sophie runzelte die Stirn. Nach dem harten Tag, den sie hinter sich hatte, brachte dieses Gespräch sie schon am Beginn an ihre Grenzen. Vielleicht hätte sie doch bis morgen mit dem Rückruf warten sollen. Zu spät, jetzt musste sie es durchstehen. Sie räusperte sich, bevor sie antwortete.

„Lady Montenay, zunächst müssten Sie mir sagen, für was genau Sie mich engagieren möchten. Ich bin Journalistin …“

„Aber das weiß ich doch, liebe Sophie. Ich darf doch Sophie sagen? Deswegen habe ich Ihnen doch die Nachricht hinterlassen.“ Die Stimme der alten Dame – jedenfalls war Sophie inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass Lady Gwineth Montenay bereits ein höheres Lebensalter erreicht hatte – hatte jetzt einen amüsierten Unterton.

Sophie versuchte sich zu sammeln. „Also … Ich arbeite für den Newsteller, wie Sie vermutlich wissen. Deshalb …“

„Aber natürlich weiß ich das“, unterbrach Lady Montenay sie sofort. „Ihre Arbeit ist brillant. Deswegen möchte ich ja, dass Sie für mich tätig werden.“

„Und inwiefern?“ Sophie kaute an ihrer Lippe, während sie nervös auf die Antwort wartete.

Wieder ein kehliges Lachen. „Ich möchte, dass Sie meine Memoiren verfassen.“

„Oh …“ Also kein Interview für den Newsteller. Die Gedanken wirbelten durch Sophies Kopf. Die Memoiren einer adligen alten Dame verfassen? Eine solche Aufgabe fand sich bislang nicht in ihren Vorstellungen, was ihre berufliche Zukunft anging. Ins politische Ressort wechseln: Das war es, was ihr vorgeschwebt hatte. Und noch immer vorschwebte, ungeachtet der bitteren Niederlage des heutigen Tages. Und ganz weit hinten versteckte sich noch dieser kleine Traum, den sie aber routinemäßig und sorgfältig wieder nach hinten verbannte. Aber im Auftrag Memoiren schreiben? Sie schüttelte unschlüssig den Kopf. Wie sollte sie das mit ihrem eigentlichen Job vereinbaren?

„Was sagen Sie?“ Lady Montenays Erwartung drang spürbar durchs Telefon.

„Ich weiß es nicht“, sagte Sophie zögernd. Irgendetwas reizte sie an der Aufgabe, das spürte sie. Aber selbst wenn sie den Auftrag annehmen würde – wie sollte das gehen? Nie und nimmer könnte sie das neben ihrer eigentlichen Arbeit schaffen. Sie ging ja aus Zeitmangel nicht einmal mehr zum Boxen …

„Vielleicht sollten wir zunächst die Konditionen besprechen. Danach überlegen Sie in Ruhe ein paar Tage und dann sehen wir weiter. Was halten Sie davon?“

Sophie nickte stumm. „Äh ja, das klingt gut“, brachte sie schließlich hervor.

„Also, ich stelle mir vor, dass Sie so rasch wie möglich zu mir nach Blue Manor kommen, damit wir mit der Arbeit beginnen können. Drei oder vier Monate werden wir vermutlich brauchen. Für diese Zeit müssten Sie sich natürlich beim Newsteller beurlauben lassen.“

Sophie sog scharf die Luft ein. Sie konnte Ethans Freude förmlich spüren … Nie im Leben würde er seine Zustimmung geben, stattdessen im Karree springen. Jeden freien Tag musste Sophie sich mühsam erkämpfen. Da wollte sie lieber nicht wissen, was er von einer Auszeit von mehreren Monaten hielt …

„Danach brauchen Sie vermutlich noch zwei oder drei Monate, um dem Ganzen den Feinschliff zu geben“, fuhr Lady Montenay unbeeirrt fort. „Sechs Monate insgesamt scheint mir eine realistische Zeitspanne zu sein.“

„Mein Chef wird mich niemals so lange freistellen“, sagte Sophie abwehrend.

„Das kommt darauf an, wie entschlossen Sie ihm gegenüber treten.“

Jetzt erinnerte Lady Montenay Sophie an ihren Boxtrainer. Diese Aussage hätte von Mike stammen können.

„Vielleicht ist es für Ihre Ausstrahlung hilfreich, wenn wir über die finanziellen Konditionen sprechen. Ich biete Ihnen das dreifache Gehalt von dem, was Sie bei der Zeitung verdienen. Also falls Ihr Chef nicht kooperativ sein sollte und Sie trotzdem meinem Vorschlag zustimmen, haben Sie eine solide Basis, um sich anschließend in Ruhe einen neuen Job zu suchen.“

Sophie schnappte nach Luft. Sechs Monate lang das dreifache Gehalt? Diese Aussicht würde ihr Verhandlungsgeschick womöglich wirklich verbessern. Das kleine Erbe von Mum war das einzige Geld, das sie zurückgelegt hatte. Ansonsten war sie auf ihr monatliches Gehalt dringend angewiesen. Der Anteil, den Adam ihr für die Miete gab, entsprach nicht mal annähernd der Hälfte, und er kam zudem eher sporadisch. Sophie hatte sich noch nie darauf verlassen, und das war gut so.

„Bis wann möchten Sie Bedenkzeit haben? Reicht bis Ende der Woche?“

„Okay“, murmelte Sophie. Ihr war schwindelig, sie musste dringend den Kopf freikriegen, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Vorher war an eine Entscheidung nicht zu denken.

„Ich freue mich!“ Lady Montenays Stimme klang mit einem Mal viel jünger. Sophie wurde bewusst, dass sie sich erst ein sehr undeutliches Bild von der alten Lady gemacht hatte. Spontan hätte sie darauf getippt, mit jemandem zu sprechen, der zumindest die achtzig überschritten hatte. Aber vielleicht täuschte sie sich auch, und Lady Gwineth war doch deutlich jünger. Das würde sie allerdings nur erfahren, wenn sie das seltsame Angebot annähme.

„Ach und noch etwas, Sophie. Falls Sie sich entscheiden, für mich arbeiten zu wollen, dann überweise ich Ihnen sofort den gesamten Betrag. Gerne, bevor Sie mit Ihrem Chef sprechen. Dann wissen Sie sicher, dass Sie nicht auf gut Glück den sicheren Arbeitsplatz aufs Spiel setzen!“

Verblüfft hob Sophie eine Augenbraue. Sie war in Versuchung, sich in den Arm zu kneifen. Sie träumte! Dieser Tag konnte gar nicht real sein!

„Okay“, murmelte Sophie erneut. „Danke!“ setzte sie hinterher.

„Ich danke für das nette Gespräch und dafür, dass Sie sich mein Angebot überlegen! Wenn Sie zu einer Entscheidung gekommen sind, rufen Sie mich bitte an.“

„Das mache ich“, versprach Sophie.

Lady Montenay verabschiedete sich. Sophie starrte noch eine ganze Weile auf das Telefon in ihrer Hand, bevor sie es behutsam auf den Tisch legte. Ratlos blickte sie durch das Wohnzimmerfenster in die Dunkelheit. Was sollte sie tun? Nach einer Weile des Grübelns wurden ihre Lider schwer. Sie rollte sich auf dem Sofa zusammen und zog eine Wolldecke über sich. Die Bilder des Tages flackerten unruhig und in nicht chronologischer Reihenfolge vor ihrem inneren Auge. Der letzte Gedanke, bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel, führte sie an einen menschenleeren Strand in Cornwall. An ihrer Seite schlenderte Adam, und ihre Hand war fest umschlossen von seiner, die sich warm und fest anfühlte.

4.

Sophie erwachte mitten in der Nacht mit einem Ruck. Für einen Moment musste sie sich besinnen, ehe ihr klar wurde, dass sie nicht im Bett, sondern im Wohnzimmer auf der Couch eingeschlafen war. Mühsam setzte sie sich auf. Dann fielen ihr der harte Tag und das seltsame Gespräch mit Lady Montenay ein. Kopfschüttelnd tastete sie zur Stehlampe neben dem Sofa und schaltete sie ein. Sanftes Licht erhellte den Raum. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihr, dass es inzwischen weit nach Mitternacht war. Später Nachmittag also in Los Angeles, nur mit Glück könnte sie Kate erreichen. Feierabend würde ihre Freundin jedenfalls noch nicht haben. Nach einem großen Schluck Wasser griff sie zum Handy und rief Kates Kontakt auf. Ihre Freundin nahm das Gespräch nach dem ersten Klingeln an.

„Champagner?“, rief Kate statt einer Begrüßung.

„Wasser“, entgegnete Sophie trocken.

„Nein! Sag nicht, Ethan hat dir den Job nicht gegeben?“ Kates Stimme schwankte zwischen Fassungslosigkeit und Empörung.

„Nein, noch besser. Ich bekomme einen neuen Kollegen. Richard, ein Externer.“ Sophie rümpfte die Nase. Ihr wurde bewusst, dass sie den Mann schon jetzt nicht leiden konnte, obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte und es vermutlich unfair war.

„Oh, das tut mir so leid, Süße. Ich kann das gar nicht glauben.“ Kate stieß zischend Luft aus. „Vielleicht solltest du dir einen neuen Job suchen. Du hast so lange so hart gearbeitet, und jetzt übergeht dein Chef dich einfach. Das solltest du nicht einfach hinnehmen. Was sagt Adam denn dazu?“

„Adam“, wiederholte Sophie gedehnt. „Keine Ahnung. Er ist nicht gekommen. Sie hängen noch einen Gig in Dublin dran. Und danach geht es nach Paris …“

„Oh.“ Während Kate offenbar nach Worten suchte, wurde Sophie klar, dass das Angebot von Lady Montenay sie übergangsweise sogar von zwei Problemen befreien konnte. Wenn sie annähme, würde sie nicht nur für einige Monate frei von Ethan sein, sondern auch von Adam. Zum ersten Mal spürte sie Wut auf den Mann, den sie liebte. Normalerweise war sie froh um jeden Tag, den er bei ihr war. Und in den Zeiten, in denen er auf Reisen war, sehnte sie nichts so sehr herbei wie sein Heimkommen. Ärger hatte sie nie gespürt. Vielleicht einfach nicht spüren wollen …

„Das ist aber blöd“, sagte Kate schließlich lahm.

Sophie lächelte traurig. Sie wusste, dass ihre Freundin Adam mochte – jeder mochte ihn. Sich seinem Charme zu entziehen, war praktisch unmöglich. Trotzdem war sie ihm aber mit einer gewissen Skepsis begegnet. Kate hatte noch nie darüber gesprochen, aber Sophie ahnte, dass ihre Freundin sich insgeheim Sorgen um sie machte, wenn Adam wieder einmal seine Rückkehr verschob und Sophie mit einem Lachen vorgab, dass es ihr nichts ausmache, mit einem reiselustigen Musiker liiert zu sein.

„Ja, blöd“, stimmte Sophie zu. Sie hatte keine Lust, das Gespräch über Adam zu vertiefen. Stattdessen wollte sie lieber mit Kate darüber sprechen, was ihr seit dem Telefonat vorhin auf der Seele brannte.

„Was machst du denn jetzt?“, fragte Kate vorsichtig.

„Vielleicht gehe ich nach Cornwall.“

„Du machst was?“

Sophie kicherte. Dann begann sie von dem seltsamen Telefonat mit Lady Gwineth Montenay zu erzählen.

„Das Dreifache?“, rief Kate atemlos, als Sophie an dem Punkt der Bezahlung angekommen war.

„Das hat sie gesagt“, bestätigte Sophie und strich sich eine Strähne hinters Ohr.

„Wow. Das klingt mehr als verlockend, genau wie der Job an sich! Wie ist sie denn auf dich gekommen?“

„Das habe ich gar nicht gefragt“, murmelte Sophie zögernd. Erst jetzt fiel ihr auf, dass das eine berechtigte Frage war.

„Ach, ist vielleicht auch nicht so wichtig. Also, was hält dich auf? Sag zu!“

„Hm, ich weiß nicht, vielleicht klingt es zu gut, um wahr zu sein? Und da ist noch Granny …“

„Aber du könntest auch von Cornwall gelegentlich nach Southampton fahren. Vielleicht sogar häufiger als jetzt …“

In Sophie wallte prompt das schlechte Gewissen auf. Sie versuchte, alle zwei Wochen zu Granny ins Heim zu fahren. Aber jetzt war es wieder fast einen Monat her, dass sie dort gewesen war.

„Und da ist noch Ethan … Ich kann ihn schon vor mir sehen, wie er rot anläuft, wenn ich ihm den Vorschlag mache, mich für ein halbes Jahr zu beurlauben.“

Kate lachte. „Redest du von dem Mann, der dir gerade die Chance deines Lebens versaut hat?“

„Auch wieder wahr. Vielleicht sollte ich es wirklich riskieren.“ Sophie seufzte. Aber was würde Adam sagen, wenn ausnahmsweise einmal er derjenige wäre, der allein zu Hause saß und wartete?

„Und Adam kann ruhig auch mal auf dich warten“, sagte prompt Kate, als hätte sie Sophies Gedanken gelesen.

„Ich schlafe besser noch eine Nacht drüber.“

„Okay, aber sag sofort Bescheid, sobald du dich entschieden hast! Und nur noch mal zur Sicherheit: Ich bin im Team Cornwall! Moment …“ Um Kate herum wurde es laut. „Sorry, Süße, ich muss. Der Dreh geht weiter.“

„Gutes Gelingen.“

„Schlaf schön.“ Ein Kussgeräusch, dann war die Leitung tot.

Ein knurrendes Geräusch riss Sophie einen Moment später aus ihren Gedanken. Ihr Magen zeigte unmissverständlich, was sie bis jetzt nicht wahrgenommen hatte. Sie hatte Hunger! Was kein Wunder war. Ihr fiel ein, dass sie bis auf ein kleines Frühstück und zwei Keksen den ganzen Tag über nichts zu sich genommen hatte. Seufzend stand sie auf und ging in die Küche. Ein Blick in den Kühlschrank offenbarte, was sie bereits befürchtet hatte. Ihr nächtliches Mahl würde aus einem Käsesandwich bestehen, mehr gaben ihre Vorräte nicht her. Es wurde Zeit, dass sie endlich wieder zum Einkaufen käme. Angereichert mit einem letzten Stück Gurke und einer einsamen Tomate richtete sie ihren Snack auf einem Holzbrett an und nahm dieses zusammen mit einer neuen Flasche Wasser mit ins Schlafzimmer. Sie schaltete den Fernseher ein und machte es sich im Bett gemütlich. Eine politische Sendung schaltete sie missmutig weg. Ihr Traum-Ressort war in so weite Ferne gerückt wie selten zuvor. Die Soap, die nun über den Bildschirm flimmerte, interessierte sie zwar nicht, aber vielleicht half ihr die seichte Geschichte, wieder müde genug zu werden, um ausreichend Schlaf zu finden. Sie kaute, ohne viel zu schmecken, während ihre Gedanken nach Cornwall wanderten. Zurück zu den Urlauben mit Mum und Dad, als sie noch ein kleines Mädchen war. Und zurück zu dem einzigen Wochenende, das sie mit Adam dort verbracht hatte. Stunden voller Romantik und Leidenschaft. Allerdings getrübt von einem seltsamen Unbehagen, das Adams Unruhe in ihr ausgelöst hatte. Immer wieder hatte er versichert, dass es ein traumhaftes Wochenende sei. Sophie wollte ihm glauben, war sich aber dennoch sicher eine gewisse Erleichterung zu spüren, je näher ihre Abreise rückte. Adam schien einfach nicht in ein einsames Fischerdorf zu passen, sein natürlicher Lebensraum war die Großstadt. Sophie hatte es akzeptiert, so wie alles, was ihr Leben mit ihm ausmachte.

Irgendwann glitt sie in einen traumlosen Schlaf, aus dem sie in der Früh der schrillende Wecker riss.

5.

Nach einem schnellen Kaffee im Stehen verließ Sophie im schwarzen Hosenanzug und mit Sneakern ihre Wohnung. Ein kleiner, trotziger Versuch, ihren Unmut unauffällig zu verkünden. Die High Heels, die sie sonst gewohnheitsmäßig zur Arbeit trug, hatten ihr jedenfalls nicht zur ersehnten Beförderung verholfen. Und vielleicht müsste sie schnell laufen können, falls sie ihren Wunsch nach Beurlaubung schon heute bei Ethan formulieren sollte. Sie zog eine Grimasse, während sie die Treppe hinunterlief. Natürlich waren ihre Gedanken Unsinn, das wusste sie ja. Nicht die richtigen Schuhe hätten ihre Bewerbung erfolgreich werden lassen müssen, sondern die exzellente Arbeit, die sie seit vier Jahren beim Newsteller leistete. Ihr Puls beschleunigte sich, als ihr klar wurde, dass sie wie üblich wieder eine der Ersten in der Redaktion sein würde. Anscheinend konnte sie nicht aus ihrer Haut, nicht einmal nach der ungerechten Absage gestern. Für einen Moment flammte Wut in ihr auf. Verdammt, sie verdiente den Job!

Die Letzte würde sie heute jedenfalls nicht werden, nahm sie sich fest vor. Heute Nachmittag würde sie endlich zu Granny fahren, egal welche Aufträge Ethan für sie bereithielte.

Sie trat aus der Haustür und registrierte dankbar, dass es ein milder und vor allem trockener Morgen war. Die Stadt erwachte langsam, mehr oder weniger verschlafen wirkende Menschen kamen ihr entgegen, waren auf dem Weg zur Arbeit oder in die nächste Bäckerei, um sich mit Toast oder Brot zu versorgen. Andere joggten an Sophie vorbei oder führten ihre Hunde aus. Die ersten Cafés öffneten gerade, um diejenigen zu bewirten, die entweder nicht zur Arbeit mussten oder sich vorher noch Zeit für ein richtiges Frühstück nahmen. Sophie würde wie üblich erst später eine Kleinigkeit in der Redaktion essen. Während sie die typische Londoner Luft einatmete – einem Gemisch aus dreckigen Abgasen und angenehmen Düften, nach teuren Parfüms oder exotischem Kaffee zusammen mit viel Undefinierbarem – , lief sie die wenigen Meter zur Garage, wo ihr treuer Rover P6 in seinem leuchtenden Grün auf sie wartete. Sie fuhr den Oldtimer weniger, weil er edel und alt war, sondern weil er für sie eine direkte Verbindung zu ihren Eltern bedeutete. Ihre Mutter Victoria hatte den Wagen nach dem Tod von Sophies Vater übernommen, dessen erstes Auto er gewesen war. Obwohl das Baujahr aus 1974 datierte, wirkte es noch immer fast wie neu. Die Frauen in der Familie hatten die gute Pflege, mit der Howard Redgrave den Rover über die Jahre versorgt hatte, ganz selbstverständlich beibehalten. Mochten die Gründe auch unterschiedlich gewesen sein, dem Rover war es zugutegekommen. Inzwischen stellte er sicher eine gewisse Kapitalanlage dar, was Sophie allerdings egal war. Niemals würde sie sich von ihrem Familienauto trennen können.

Sophie öffnete das Garagentor und schloss das Auto auf. Mit einem Seufzen plumpste sie auf den Fahrersitz. Sie liebte es, mit diesem Wagen zu fahren. Jeden Neuwagen würde sie dafür stehen lassen. Für einen Moment genoss sie den vertrauten Geruch und vergaß dabei die Wut auf ihren Chef, den Stachel der Enttäuschung, weil Adam es noch immer nicht für nötig gehalten hatte, sie anzurufen und die rotierenden Gedanken rund um das Angebot von Lady Gwineth Montenay. Sie startete den Rover und fuhr aus der Garage.

Der Verkehr wurde dichter, je näher Sophie der Redaktion kam. Endlich hatte sie ihr Ziel erreicht und bog seufzend in die Tiefgarage ein, für die sie einmal mehr dankbar war. Einen Parkplatz suchen zu müssen, hätte eine erhebliche Zeitverzögerung bedeutet.

Als sie die Räume des Newsteller betrat, war es noch wie erwartet relativ ruhig. Bis die übliche hektische Betriebsamkeit einsetzen würde, hätte Sophie wie gewohnt noch eine ruhige Zeitspanne vor sich, in der sie entspannt in den Arbeitstag starten konnte.

Emma, die rothaarige, stets strahlende Kollegin am Empfang, begrüßte sie mit breitem Lächeln und einem fröhlichen Morgengruß. Gleich darauf sah sie Sophie allerdings mit gerunzelter Stirn an und senkte die Stimme, bevor sie weiter sprach.

„Du wirst schon erwartet.“ Sie deutete mit einem bedeutungsvollen Blick in Richtung Sophies Büro.

„Von wem?“, fragte Sophie misstrauisch und blieb stehen.

„Richard, unser neuer Kollege.“ Jetzt war Emmas Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

„Was? Jetzt schon?“ Sophie erstarrte. Prompt wuchs ihre Abneigung gegen den neuen Kollegen.

„Der frühe Vogel fängt den Wurm.“ Emma verdrehte die Augen.

„Hat er das gesagt?“, frage Sophie dumpf.

Emma nickte und verdrehte erneut ihre Augen, in denen gutmütiger Spott aufblitzte. Sie wusste, dass Sophie morgens erst mal in Ruhe gelassen werden wollte, um sich und die anfallenden Arbeiten für den Tag zu sortieren.

„Hat Ethan ihn so früh einbestellt?“

Emma schüttelte den Kopf.

„Wie ist er denn so?“, fragte Sophie zögernd. Vielleicht war der neue Kollege ja doch weniger schrecklich, als sie es sich ausmalte.

„Hm“, machte Emma und zog eine Grimasse. „Ich weiß nicht, er wirkte jedenfalls schrecklich eifrig.“

„Dann will ich ihn mir mal näher ansehen.“ Sie zwinkerte Emma zu und entfernte sich langsam. Als sie an ihrer Bürotür angelangt war, holte sie tief Luft, bevor sie zur Klinke griff. Gleich würde sie erfahren, wessen Qualitäten Ethan mehr überzeugt hatten als ihre.

6.

Cadgwith, Juli 1952

Seit einer Woche bin ich wieder zu Hause. Zu Hause. Eine seltsame Bezeichnung für einen Ort, an dem ich zwar seit meiner Geburt vor achtzehn Jahren lebe, der mir nun aber fremder nicht sein könnte. Nichts ist mehr wie vorher. Ich streife durch den Park, schaue über die Klippen auf das wogende Meer, aber so sehr ich früher jeden Anblick hier genossen habe, so gleichgültig lässt er mich jetzt. Weder der in voller Blüte stehende Rittersporn rund um das Haus noch der prächtige Rosengarten mit seinen betörenden Düften erreicht meine Seele. Das Einzige, das ich spüre, ist eine latente Übelkeit. Ich weiß, dass es nichts Körperliches ist. Mir wird schlecht bei dem Gedanken an das, was passiert ist. Schlecht bei dem Wissen, was meine Familie getan hat. Sie wissen, dass ich es weiß. Aber sie sind sich offenbar alle einig, so zu tun, als wäre es anders. Als hätte nur ich einen Fehler begangen – der jetzt glücklicherweise behoben ist –, und dass sie keinerlei Schuld auf sich geladen haben.

Ich ertrage den Anblick ihrer Gesichter nicht. Die Normalität, die sich darauf spiegelt. Noch schlimmer – die Erleichterung. Meine tiefe Seelenqual darüber, dass ich alles verloren habe, woran mein Herz gehangen hat, bedeutet für sie, dass sie endlich wieder so weiter machen können wie vorher. Als sei nichts geschehen. Es macht mich krank.

Manchmal weiß ich nicht, was schlimmer ist: Die Wut auf meine Eltern und meinen Bruder, die in manchen Momenten so stark ist, dass ich sie alle umbringen könnte. Ein Gedanke, der mich trotz allem zu Tode erschreckt. Oder die abgrundtiefe Traurigkeit, die Verzweiflung darüber, dass Cederic mich nie wieder in seine Arme nehmen wird. Den Schmerz, dass ich meine Kleine nicht ein einziges Mal hatte halten dürfen, versuche ich gar nicht zu mir durchringen zu lassen. Natürlich gelingt mir das meistens nicht. Und der Wunsch zu sterben, begleitet mich in jeder Sekunde des Tages. In der Nacht, wenn ich ruhelos durch mein Zimmer wandere, noch intensiver. Natürlich werde ich es nicht tun. Ich werde mich nicht umbringen, sondern weiterleben, so schwer es auch sein mag. Solange meine Kleine irgendwo auf dieser Welt ist, kann auch ich sie nicht verlassen. Deshalb muss ich lernen, diese Familie wieder zu ertragen. Irgendwie. Nur ein Gedanke tröstet mich ein wenig. Auch sie werden lernen müssen, mich zu ertragen. Denn sie haben keine Ahnung, wer ich inzwischen bin. So, wie ich es selbst nicht mehr weiß.

7.

Sophie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen, als sie in ihr Büro trat. Der Mann, der auf dem Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch gesessen hatte, schoss in die Höhe und eilte ihr entgegen. Ihr erster Eindruck von Richard Philipps war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Sie schätzte ihn auf Anfang fünfzig, also gute zwanzig Jahre älter als sie selbst. Vielleicht einer seiner Pluspunkte: Eine längere Lebenszeit, in der er natürlich mehr berufliche Erfahrungen hatte sammeln können. Sein Jackett wirkte etwas in die Jahre gekommen, der Stoff wies einige blanke Stellen auf. Entweder legte er keinen besonderen Wert auf Äußerlichkeiten oder ihm fehlten die finanziellen Mittel. Sollte Letzteres der Fall sein, sprach das gegen eine erfolgreiche Karriere. Warum hatte sie ihn nicht längst gegoogelt? Sophie beschloss, das bei nächster Gelegenheit nachzuholen.

„Ich bin Sophie. Herzlich willkommen im Team!“ Sie streckte ihm die Hand entgegen.

„Richard. Ich freue mich!“ Sein Händedruck war viel zu fest. Sophie hasste es, wenn Männer ihr beinahe die Hand zerquetschen, nur um Stärke zu demonstrieren. So rasch es ging, entzog sie sich ihm wieder. Ihr Lächeln behielt sie mühsam auf den Lippen, während sie auf den Stuhl deutete. „Tee?“

„Gerne.“ Er nickte.

Fast ein wenig heftig, dachte Sophie. Sie war froh, sich zunächst in die Teeküche flüchten zu können, um noch einen Moment für sich zu haben.

„Oh, darf ich mit? Ich muss ja alles kennenlernen.“ Sein Lächeln war breit, während Sophies langsam verrutschte. So unauffällig er wirkte mit den freundlichen Augen hinter einer schlichten Brille und seinem steten Lächeln auf den Lippen, das leicht hervorstehende Schneidezähne preisgab, er hatte irgendetwas an sich, das Abneigung in Sophie hervorrief.

„Natürlich“, brachte sie heraus und verkniff sich ein Seufzen. Er hatte recht. Es war schließlich ihre Aufgabe, ihn mit allem vertraut zu machen. Trotzdem hätte sie einiges dafür gegeben, wenigstens den Moment des Teekochens noch für sich allein zu haben.

Während sie über den Flur zur Teeküche am Ende des Ganges gingen, kam es Sophie so vor, als klebte er förmlich an ihr. Immer wieder beschleunigte sie ein wenig oder machte einen kleinen Schlenker zur Seite. Vergeblich. Sie überlegte kurz, ihre Sneakers zu nutzen und zu rennen. Kindisch, das war ihr klar. Aber sie ahnte bereits jetzt, wie anstrengend der Tag werden würde. Der Tag, an dem sie diesen Mann neben sich in den allgemeinen Redaktionsbetrieb einweisen sollte, damit er die Aufgabe erfüllen konnte, für die sie fast alles gegeben hätte. Mit zusammengepressten Lippen stieß sie die Tür zur Teeküche auf. Drei Kollegen mit verschlafener Miene waren in dem Raum. Diana saß vor einem dampfenden Becher am Tisch in der Mitte, während Paul und Alan an der Arbeitsplatte lehnten. Alan war der Einzige, der ebenfalls im politischen Ressort arbeitete. Alle drei blickten ihnen erwartungsvoll entgegen. Natürlich gab es niemanden mehr in der Redaktion, der nicht wusste, dass Sophie den heiß begehrten Job nicht bekommen hatte und statt ihrer nun ein neuer Kollege mit an Bord war. Viele hatten ihr gestern noch durch Worte oder Gesten ihr Bedauern ausgedrückt. Bei den meisten spürte Sophie die Ehrlichkeit dahinter. Bei einigen war sie sich nicht ganz sicher. Alan allerdings war tatsächlich sehr betrübt darüber, nicht enger mit ihr zusammen arbeiten zu können. Er war wie Sophie Ende zwanzig, sehr engagiert und vor allem: Mit ihm gab es immer etwas zu lachen. Er war schon beim Newsteller gewesen, als Sophie vor vier Jahren angefangen hatte. Sie hatten sich von der ersten Minute an bestens verstanden. Sicher einer der Gründe, warum sie milder gestimmt war, dass er davor verschont geblieben war, Richard sofort an der Backe zu haben. Ethan hatte es damit begründet, dass Richard gerade an einer ganz großen Sache dran war, die zeitlich keinerlei Spielraum für Extraaufgaben ließ. Frühestens in der kommenden Woche sollte sie den neuen Kollegen an Alan übergeben dürfen.

Sophie räusperte sich. „Darf ich euch Richard vorstellen, unseren neuen Kollegen? Richard Philipps wird das politische Ressort bereichern, wie ihr vielleicht schon wisst. Seid nett zu ihm.“ Sie zwinkerte den Kollegen zu und übergab mit einer Geste an Richard.

Dieser strahlte über das ganze Gesicht und gab eilig allen der Reihe nach die Hand. An Dianas Gesichtsausdruck, über den für einen Moment ein Schmerz huschte, erkannte Sophie, dass Richard auch bei ihr nicht mit seinen Kräften gespart hatte. Sie verkniff sich ein Schmunzeln.

„Alan wird übrigens bald dein direkter Kollege sein, er ist ebenfalls im Politikressort beschäftigt.“ Mit diesen Worten wandte Sophie sich zum Wasserkocher.

„Oh, das ist ja toll!“ Richard strahlte Alan an.

Aus den Augenwinkeln sah Sophie, dass über Alans Stirn ein flüchtiges Runzeln glitt. Sie wusste, dass er dieselbe spontane Irritation spürte wie sie.

„Nach einem kräftigen Kaffee kann der Tag beginnen.“ Alan lächelte Sophie zu.

Sie nickte, während sie Wasser in den Kocher füllte.

Die anderen Kollegen hatten bereits Kaffee in ihren Bechern vor sich. Die meisten in der Redaktion zogen ihn der typisch britischen Variante des Tees am Morgen vor. Tagsüber wechselten einige das Getränk, aber zum Wachwerden hatte sich Koffein in der Redaktion etabliert.

Richards Blick schweifte über die Tassen der Kollegen.

„Ach, ihr trinkt alle Kaffee? Dann schließe ich mich an!“

„Das musst du nicht. Hier darf jeder trinken, was er möchte.“ Einen sanften Spott konnte Sophie nicht ganz aus ihrer Stimme heraushalten.

„Nein, nein, das ist kein Problem“, sagte Richard eifrig.

Sophie wechselte einen Blick mit Alan. Seine Irritation begann sich in erste Abneigung zu verwandeln. Der neue Kollege hatte etwas an sich, das selbst freundliche und hilfsbereite Menschen wie Alan negativ beeinflusste.

„Wo hast du denn bis jetzt gearbeitet?“, fragte Diana mit ehrlichem Interesse. Ihre braunen Augen unter dem dichten Pony blickten freundlich.

Richard machte eine unbestimmte Handbewegung. „Ach, ich habe schon einige Stationen hinter mir. Na, das kennt ihr ja.“

„Nein, eigentlich nicht“, schaltete Paul sich ein. „Die meisten von uns sind schon sehr lange beim Newsteller