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Nicht mehr als fünfhundert Seelen wohnen auf Sark, der wildesten und unberührtesten Insel im Ärmelkanal. Autos gibt es hier nicht, dafür das wohl kleinste Gefängnis der Welt. Sark eilt der Ruf voraus, dass hier nie auch nur irgendwas passiert. Doch als 1933 an der zerklüfteten Küste die ordentlich gefalteten Kleider eines Mannes und einer Frau gefunden werden, ohne dass irgendwer jemanden vermisst, steht Sark bald auf den Titel seiten der Zeitungen. Die zweiundzwanzigjährige Phyllis Carey hat gerade erst aus Gründen, über die sie nicht spricht, ihren Job bei einem Verlag in Southampton hingeschmissen und ist hierher zurückgekehrt. Warum nicht als Korrespondentin von dem Fall berichten?, schlägt ihre Mutter vor, und so macht sich Phyll auf die Suche nach der Wahrheit. Kann es Zufall sein, dass auch Everard Hyde genau jetzt wieder hergekommen ist, Phylls Freund aus Kindertagen, der zehn Jahre zuvor von einem Tag auf den anderen von der Insel verschwand? Erinnerungen an die mysteriösen Ereignisse von damals kehren zurück; verborgene Geheimnisse fordern ihren Tribut. Und dann wird eine Leiche aus den Fluten geborgen.
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Seitenzahl: 464
Veröffentlichungsjahr: 2025
Mary Horlock
Aus dem Englischen von Birgit Salzmann
Oktopus
Für meine Mutter Paddy, die zugleich Nona ist.
Vielleicht auch eine Hexe, aber eine gute.
Elise Carey
Postmistress auf Sark, Witwe von Phillip Carey
Phyllis (Phyll) Carey
einziges Kind von Elise und Phillip
Maud Pratt
Hebamme auf Sark (inzwischen in Rente), Phylls Patin. Albert Pratts Witwe
John de Carteret
Chief Constable auf Sark, Ehemann von Marie
Edith (Edie) de Carteret
jüngstes Kind von John und Marie
Major Ernest Hyde
lebt zeitweise in Beau Regard, Little Sark, Besitzer des Bungalow Hotel
Everard Hyde
Sohn von Ernest und seiner früheren Frau Hermione
Nancy Dolbel
Major Hydes Haushälterin, Ehefrau von Harry
William Toplis
Landschaftsmaler, langjähriger Anwohner auf Sark
Muriel (Mule) Toplis
Tochter von William Toplis
Reverend Louis Severy
Pfarrer auf Sark
Gilbert Baker
Fischer, Bewohner von The Barracks, Little Sark
Small George Vaudin
Sohn von Big George Vaudin, Fischer
Eric und Lisl Drake
Maler und Besitzer der Kunstgalerie von Sark
Paul und Ann Cecil
Maler und Sommergäste
Miranda Cecil
Tochter von Paul und Ann
Dr. Percy Stanhope
von 1899 bis 1932 Arzt auf Sark (verstorben)
Dr. Stephen Greener
neuer Arzt auf Sark
Dolly Bihet
Hausdame im Bel Air Hotel
Sarah Williams
Besucherin aus England, Witwe von Cyril Williams, verbrachte 1913 ihre Flitterwochen auf Sark, kehrte bis 1922 jedes Jahr zurück
Sylvie Price
Kunststudentin und ehemalige Mitarbeiterin der Cecils
Frederick de Carteret
Lehrer auf Sark, steht in keiner Beziehung zu John
Jim Remfrey
stellvertretender Constable
Das Wetter in jenem Sommer war besonders schön gewesen – seit 1919 hatte sich Sark nicht solch strahlenden Sonnenscheins und eines so wolkenlosen Himmels erfreut –, der September jedoch bescherte einen plötzlichen Temperatursturz, was man später als Warnung deutete.
Als der Mantel auf den Felsen entdeckt wurde, schlug zunächst niemand Alarm. Es sah aus, als hätte jemand ihn als Picknickdecke ausgebreitet, als hätte noch vor Kurzem ein Besucher darauf gesessen, sich ausgeruht, gelesen oder einfach den Ausblick bewundert.
Von Port Gorey, wo sich die Tragödie zutrug, gibt es etliche Postkarten. Der Ort ist seit jeher unter Künstlern sehr beliebt. Das war einer der Gründe, warum Gil Baker nicht beunruhigt war. Er schipperte in seinem kleinen Boot gerade einige Angler an der Küste entlang, als einem seiner Passagiere, während er durch sein Fernglas sah, die Jacke auffiel. Über die Gruppe Angler ist wenig bekannt, aber es waren Geschäftsmänner von Jersey, der größten der Kanalinseln, und sie hatten am Vorabend in Sarks diversen Wirtshäusern zu viel getrunken. Deshalb schenkte Gil ihnen nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Zudem hatte er mit einer starken Strömung und dem Gezeitenwechsel zu kämpfen. Wer Sarks Südküste kennt, der weiß um die schroffen Felsen nahe der Wasseroberfläche. Gil ging davon aus, dass der Mantel wahrscheinlich einem der neuesten Inselbewohner gehörte, einem Mitglied der selbsternannten »Künstlerkolonie«. Diese Leute hatten den Sommer damit zugebracht, zu malen und nackt zu baden.
Also setzte die Flut ein, und der Mantel blieb dort liegen. Er war aus Harris Tweed, erfuhren wir später, und seine Farben fügten sich perfekt in die mineralgeäderten Felsen und den Farn mit den rostbraunen Spitzen ein. Er lag ausgebreitet auf dem Boden, die Ärmel nach rechts und links gestreckt, ein Bündchen flatterte verhalten im Wind. Einen Moment lang sah es so aus, als würde eine Böe ihn davontragen, doch dann öffnete der Himmel seine Schleusen.
Nach stundenlangem Regen kam ein junger Mann den Klippenpfad entlang. Er trug nur Pullover und Schal, aber der Mantel gehörte ihm nicht, und er schien ziemlich überrascht, ihn dort zu finden. Er blieb, die Hände in die Hüften gestemmt, stehen und betrachtete ihn einen Moment, bevor er weiter die Klippe hinabstieg und anfing, Hänge, Steilstellen und die Kammlinie abzusuchen. Es dauerte nicht lange, da hatte er die anderen Kleidungsstücke entdeckt. Sie lagen in zwei Stapeln, ordentlich zusammengefaltet und glatt gestrichen. Es handelte sich um eine Damenbluse, einen Blazer und einen Rock sowie einen Herrenmantel, ein Hemd und sogar ein Paar Manschettenknöpfe.
Die Kleider waren auf einem Felsrücken direkt über der Flutlinie liegen gelassen worden, warteten scheinbar noch auf die Rückkehr der Besitzer.
Anfangs bestand diese Hoffnung zumindest.
Montag, 2. Oktober 1933
Sark, die ruhigste und beschaulichste unserer Inseln, wurde am Wochenende durch ein erschreckendes Geschehnis erschüttert. Nachdem man dort in den vergangenen Monaten den üblichen Strom an Besuchern willkommen geheißen hatte, sind zwei von ihnen jetzt offensichtlich spurlos verschwunden. Das Rätsel begann mit dem Auffinden zweier Sätze Kleider, den einer Frau und den eines Mannes, welche am Rand einer Klippe abgelegt worden waren. Wie berichtet wird, sind die Kleidungsstücke von guter Qualität und praktisch wie neu. Aber wer sind ihre Besitzer? Wie konnten zwei Personen, allem Anschein nach eine weibliche und eine männliche, einfach verschwinden? Was haben sie dort gemacht, und wo sind sie jetzt?
Und so kommt es, dass es Sark, die Insel, auf der nie etwas passiert, auf die Titelseiten geschafft hat.
Die Kleidungsstücke wurden sichergestellt und Chief Constable John de Carteret übergeben, der sich nun der ungewöhnlichsten Aufgabe seiner Laufbahn gegenübersieht.
Wir würden daher die Mitarbeit unserer Leser begrüßen, in der Hoffnung, einige Antworten liefern zu können.
Willkommen, Fremder, auf Sark, der skurrilsten und am wenigsten beachteten der Kanalinseln. Sobald du sie siehst, wirst du wissen, warum. Sie liegt ungefähr sieben Meilen östlich der größeren Insel Guernsey und ist auf allen Seiten von kahlen, steilen Klippen umgeben. Wenn Besucher in vergangenen Zeiten diese nackten Felswände erblickten, hielten sie die Insel für viel zu karg und unwirtlich, als dass irgendein zivilisierter Mensch dort leben könnte. Was, wie oft behauptet wird, auch niemand tut.
Heute jedoch gib bitte nicht auf. Umschiffst du nämlich die tödlichen Felsen an der nördlichen, passenderweise Bec du Nez genannten Spitze, erreichst du einen Hafen, den kleinsten der Welt. Er hat eine ordentliche steinerne Kaimauer, an der sich örtliche Fischer versammeln, um dich neugierig zu beäugen. Beachte sie einfach nicht. Steuere auf die Lücke zwischen den Klippen zu. Genau, um nach Sark zu gelangen, musst du dich förmlich von der Insel verschlucken lassen. Du steigst einen steilen, mit Sträuchern und Bäumen bewachsenen Hügel hinauf, dann erreichst du eine offene Hochebene und atmest erleichtert auf.
Hier befindet sich die Avenue, ein völlig unpassender Name für eine Art Feldweg, der von flachen Bruchbuden gesäumt wird. Achte darauf, wie unglaublich still es ist. Auf Sark gibt es keine Autos, was erklärt, dass die Straßen keine richtigen Straßen sind, und wir hoffen, dass du vernünftige Schuhe trägst. Zu deiner Linken befindet sich das Bel Air Hotel, teilweise reetgedeckt, mit einer öffentlichen Bar, die so feucht und so spärlich beleuchtet ist, dass sie einfach authentisch sein muss. Zu einem anderen Zeitpunkt würden wir dir empfehlen, hier eine Pause einzulegen und Dolly Bihets köstliche Scones zu probieren.
Möglich, dass sie es getan haben.
Doch bis jetzt weiß das keiner genau, denn es ist Montag, der 2. Oktober, und zwei Sätze Kleidung liegen, kürzlich entdeckt und tropfnass, im Inselgefängnis. Alle warten, also beeilst du dich besser. Gehe zügig, bis du zu einem Wegweiser kommst. Er deutet nach links zum Gefängnis und nach rechts zum Postamt. Darunter steht eine kompakt gebaute Frau mit Adlernase und kurzen grauen Haaren. Das ist Elise Carey, die Postmistress. Wie alle Frauen in den Vierzigern spricht sie nicht über ihr Alter. Sie trägt eine kleine Brille mit runden Gläsern, die sie nicht braucht, und eine feste Wollhose, die sie selbst genäht hat. Heute hat sie angesichts des Regens eine lange Öljacke übergezogen. Ein richtiger Sensenmann-Schick. Das Postamt ist geschlossen, und sie marschiert in die andere Richtung, bahnt sich einen Weg durch die überschaubare Menschenmenge, die sich vor dem Gefängnis gebildet hat.
Das Gefängnis von Sark ist klein, wie alle Gebäude hier, so als wäre es für ein Kind gebaut. Es gibt keine Verbrechen auf der Insel, denn jeder kennt jeden, seine Gewohnheiten und seinen Tagesablauf. Warum eine Straftat begehen, wenn man so leicht gefasst werden kann? Genau das lässt das Geschehene noch merkwürdiger erscheinen. Die Kleider sind auf einem Tapeziertisch ausgebreitet, ihr leicht modriger Geruch verteilt sich im Raum und vermischt sich mit den beißenderen Duftnoten von abgestandenem Qualm und frischem Schweiß. Im Verlauf weniger Stunden sind alle gekommen, um sich die Sachen anzusehen, und da sich das Schulgebäude gleich nebenan befindet, versammelt sich jetzt auch noch eine Schar Kinder. Es hat sich herumgesprochen.
John de Carteret blickt auf die Kleidungsstücke und kratzt sich am Kinn. Für die Zeitung ist er Chief Constable Carteret, aber wir nennen ihn einfach John. Er hat Wangen, die wie frisch gewienert glänzen, Brauen, die sich über der Nase treffen, und einen Schnurrbart, den seine Frau Maria verabscheut. Er hat ihn sich 1914 stehen lassen, um älter auszusehen, und inzwischen erzielt er die gewünschte Wirkung. John nickt Elise Carey zu, als sie eintritt, dann kratzt er sich weiter am Kinn.
Die Angelegenheit ist wirklich rätselhaft. Mittlerweile wurden die Passagierlisten der Fährboote gesichtet und die vier Hotels überprüft. Keine Besucher fehlen, niemand wurde als vermisst gemeldet. Sark hat eine Einwohnerzahl von fünfhundert Seelen, die zwischen Mai und September um mehrere Hundert anschwillt. Anschließend endet die Touristensaison, als legte man einen Lichtschalter um. Momentan sind die Leute dabei, sich vorzubereiten, weil Sark in den kommenden Wochen und Monaten wegen der heftigen Südwestwinde vom Rest der Welt abgeschnitten sein wird. Im Winter ist die Insel eine andere, das wird dir jeder bestätigen. Ihre Isolation macht einen Teil ihres Reizes aus, aber auch ihres Schreckens.
»Ich verstehe das nicht«, sagt John zu Elise. »Und Dinge, die ich nicht verstehe, gefallen mir nicht.«
Doch für die versammelten Insulaner bildet das Geheimnis um die Kleider und ihre verschwundenen Besitzer eine willkommene Abwechslung von den Gesprächen über das Wetter und das Wandern der Makrelen. Das kleine Gefängnis hat sich gefüllt, hat sich in einen aufregenden Ort verwandelt, in eine Bühne, auf der man sich einfinden kann, um seine Meinung kundzutun. Und wie typischerweise in solchen Situationen, haben diejenigen, die am wenigsten Bescheid wissen, das meiste zu sagen. Die staunenden Schulkinder sind sich schon einig, dass es Hexerei sein muss. Der Glaube an das Übernatürliche ist noch heute fester Bestandteil des Insellebens, und Samstagnacht war Vollmond, da sind die Hexen meistens am Werk. Angeblich trifft sich bei Ebbe eine große Gruppe am Grande Grève, dem längsten Strand der Insel, wo man hervorragend schwimmen kann.
Die Kleidungsstücke haben eine eigenartige Wirkung auf alle Anwesenden. Selbst so flach ausgebreitet scheinen sie eine Botschaft vermitteln zu wollen. An der Damenjacke fehlt ein Knopf. Der Herrenmantel ist voller Schlammflecken, und die Etiketten wurden herausgerissen. Was kann ihren Besitzern wohl zugestoßen sein? Vielleicht weiß Phyllis Carey es. Sie hat sich einen Weg ins Gefängnis gebahnt und steht nun neben ihrer Mutter. Wir dürfen sie übrigens nur Phyll nennen. Sie hasst ihren Namen und lastet ihn ihrer Mutter an. Sie lastet ihrer Mutter vieles an, aber dazu kommen wir später. Phyll ist zweiundzwanzig, gertenschlank und hat kräftige braune Haare, die sie kürzlich hat abschneiden lassen (ein Fehler, da sind wir uns alle einig). Sie ist gerade erst auf die Insel zurückgekehrt, nachdem sie einen äußerst respektablen Posten in Southampton aufgegeben hat; aus weniger respektablen Gründen, die sie noch nicht preisgeben will. Sie trägt ein narzissengelbes Kleid. Es hat kurze Ärmel und Perlmuttknöpfe auf der Vorderseite und ist zu luftig für Oktober. Das könnte ein Grund dafür sein, dass sie die zurückgelassenen Kleider so aufmerksam betrachtet. Der Damenblazer und der Rock sind aus beige meliertem Tweed und mit dem Etikett eines Schneiders aus Edinburgh versehen. Die Bluse ist aus pfirsichfarbener Seide und hat einen doppelrandigen Kragen. Phyll lässt die Hände über die Kleidungsstücke gleiten, dann nimmt sie die Bluse und hält sie vor sich in die Höhe. Einen Moment lang ist sie eine Frau in einem Geschäft, die sie anprobieren möchte.
Sie schaut John de Carteret nicht an, während sie seine Fragen beantwortet, doch sie versichert ihm, nein, sie habe in den letzten Tagen weder zwei Fremde mit einem Boot ankommen sehen, noch diese Kleider jemals zuvor zu Gesicht bekommen. Mit verträumten Blick wendet Phyll die Bluse auf diese und auf jene Seite, und ihre Mutter räuspert sich, als wäre ihr das peinlich. Elise hat John zuvor schon erklärt, dass sie das verschwundene Paar nicht gesehen habe. Das bedauert John sehr, denn Elise hat ein Talent dafür, Ereignisse vorauszuahnen, bevor sie passieren, und hätte sie die beiden gesehen, wären seine Probleme wahrscheinlich gelöst.
Phyll dreht sich um und zeigt die Bluse ihrer Mutter. »Ist sie nicht hübsch?«
Elise zieht die Brauen noch höher. Ihr gefallen elegante Kleider wie jeder anderen, aber weiblichen Inselbesuchern würde sie doch etwas Strapazierfähigeres empfehlen. Sarks Hecken sind genauso unsanft wie Sarks Felsen, und Sarks Ginsterbüsche gehören zu den dornigsten überhaupt. Wenn man unbedingt ein Kleid tragen muss, dann sollte es keinen überflüssigen Schnickschnack aufweisen, sonst hinterlässt man auf der ganzen Insel Andenken. Obwohl: Falls man verschwindet, könnte das ganz praktisch sein.
Der Regen prasselt aufs Dach, der Wind pfeift durch den Schornstein. Elise schaut auf ihre Uhr. Der Courier ist spät dran mit der Post, und jetzt befürchtet sie, er könnte noch etwas anderes mitbringen. Vertreter der Presse sind auf der Insel nicht mehr willkommen. Letzten Monat wurde in einem Artikel im Daily Star behauptet, die Leute auf Sark seien inzwischen darauf angewiesen, arglose Touristen übers Ohr zu hauen, um ihr Einkommen zu erzielen. Einfach unerhört! Unsere Anwälte werden sich einschalten. Damit eins klar ist: Das Leben für die Menschen hier, die nicht wie die englischen Teilzeitbewohner »von der niederen Verpflichtung, ihren Lebensunterhalt zu verdienen« befreit sind, ist hart. Außerdem neigen wir nicht dazu, »nackt zu baden und in Blechhütten zu schlafen« wie die Mitglieder der neuen »Künstlerkolonie«, die in der Juliausgabe der Zeitschrift Studio beschrieben werden.
Small George Vaudin hat die nackten Maler und Malerinnen nur das eine Mal gesehen, als er mit seinem Vater Hummerkörbe einholte. George, der knallrote Haare, hellblaue Augen und jede Menge Sommersprossen hat, befindet sich gerade vor dem Gefängnisfenster und rangelt mit einem aufgeregten Mädchen mit Bubikopf und Stupsnase um einen guten Platz. Es ist Edie de Carteret, die Tochter des Chief Constables, der sie bisher noch nicht bemerkt hat. Wenn John nicht damit beschäftigt ist, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, arbeitet er als Hufschmied. Die meisten Insulaner haben mehr als einen Job. Frederick de Carteret zum Beispiel ist Lehrer und Inselrichter, beides Posten, die ihm allein seine Fähigkeit, leserlich zu schreiben, eingebracht hat. Obwohl John und Fred denselben Nachnamen tragen, sind sie nicht verwandt und können sich nicht leiden. Auf Sark gedeihen viele Feindschaften, besonders im Winter, wenn es wenig anderes zu tun gibt.
Phyll Carey stammt, wie schon erwähnt, von der Insel. Ihr dünnes Etwas von Kleid allerdings nicht. Das gehört Miranda Cecil. Die Cecils sind typische Sommergäste und leider Gottes ebenfalls Maler. Sie besitzen ein kleines Atelier an der Westküste. Mrs Ann Cecil, RA (Royal Academy), RSA (Royal Society of Artists) ist eine beeindruckende Erscheinung, und Mr Paul Cecil, RA (Royal Academy), RSPCA (Royal Society for the Protection against Cruelty to Animals) eine äußerst lebhafte Persönlichkeit. Ja, diese Beschreibungen sind bewusst unzutreffend, aber sie sind ja nicht hier, also spielt es keine Rolle. Phyll ist sehr eng mit Miranda, ihrer einzigen Tochter, befreundet, die auffallend hübsch ist und deutlich vernünftiger als ihre Eltern, was ehrlich gesagt nicht viel heißt.
Schon seit jeher zieht Sark Künstler an. Wir können einfach nichts dagegen tun. Sie steigen vom Boot und glauben, die Insel gehöre ihnen. Was nicht stimmt. Aber wozu widersprechen? Sie hören sowieso nie zu. Sarks berühmtester Maler hat gerade das Gefängnis betreten und stellt sich neben Elise. Mr William Arthur Toplis ist bekannt für seine detailgenauen Landschaftsbilder, die permanent von der Royal Academy abgelehnt werden, welche sein Genie nicht zu schätzen weiß. Er ist ein ernsthafter, älterer Künstler, keiner von der nackten Sorte, und weil er schwerhörig ist, brüllt er: »Sie sind tot! Ertrunken! Diese Narren!«
»Das wissen wir noch nicht«, erwidert Phyll ziemlich trocken.
Sie hebt mit ausgestreckten Armen den Damenblazer hoch und legt ihn sich vor die Brust. Sie klemmt sich den Kragen unters Kinn und streicht über die Knöpfe. Er würde mir perfekt passen, denkt sie, und sieht einen kurzen Moment eine andere Phyll vor sich, eine, die die Kleider auf der Klippe findet und sie mit ihren eigenen vertauscht. Es ist eine seltsame Vorstellung, und sie beißt sich auf die Lippe, um sie zu verdrängen.
»Die Frau hatte meine Statur«, sagt sie zu John und hebt das Kinn, sodass der Blazer vornüberfällt. Sie fragt sich, wie sehr eine Frau einen Mann lieben muss, um auf der Klippe ihre Kleider auszuziehen, und was er wohl mit ihr gemacht hat und warum. Während ihr das durch den Kopf geht, registriert sie am Rande ihres Sichtfelds eine Gestalt, größer als die anderen, die zum Fenster hereinschaut. Ihr stockt der Atem.
Edie de Carteret bemerkt den jungen Mann nicht, der hinter ihr steht. Drehte sie sich jetzt um, würde sie ein äußerst blasses Gesicht mit müden braunen Augen und hoch gewölbten Brauen erblicken. Doch Edie kann den Blick nicht von Phyll losreißen, die die Kleider angefasst hat, und das ist quasi ihr sicheres Todesurteil. Edie schließt die Augen und beginnt eine Art Schutzzauber zu murmeln, der offenbar wirkt, denn Phyll legt den Blazer zurück und reibt sich die Hände.
»Was für eine merkwürdige Sache«, sagt sie, während ihr Blick zum offenen Fenster zuckt, doch das Gesicht, das sie dort erwartet hat, ist fort.
»Tatsache ist«, verkündet John, »dass keiner auf der Insel die Kleider kennt und dass niemand irgendwen als vermisst gemeldet hat. Vorerst habe ich also nicht viel.«
»Vorerst«, wiederholt Elise. Auch ihr Blick ist zum Fenster gewandert, weil sie jemanden bemerkt hat. Eine Gefahr womöglich. Sie hat Mühe, ihre Aufmerksamkeit wieder John zuzuwenden. »Du musst die Klippen absuchen lassen.«
Allgemeines Aufstöhnen. Trotz Sarks geringer Länge von gerade einmal drei Meilen erstreckt sich seine Küstenlinie über vierzig Meilen, die sich aus sandigen Buchten, gefährlichen Steilhängen, Felsspalten und Höhlen zusammensetzen. Man sagt, der größte Fehler, den ein Kind auf Sark machen kann, sei es, nahe dem Klippenrand rückwärts zu gehen – nun ja, es gibt noch anderes, aber fahren wir fort. Die Insulaner erzählen gerne Geschichten davon, wie jemand den Halt verloren hat oder von einer Welle mitgerissen wurde. Frag lieber nicht.
Aber wer unsere Insel besucht, stellt immer irgendwelche Fragen, über ihre Entdeckung und ihre frühe Besiedelung, und weil so wenig aktenkundig ist, können wir jedes Mal etwas erfinden. Bevor es eine Schule, ein Gefängnis oder einen Hafen gab, war Sark ein vom Meer geformtes Felsplateau. Auf der Landkarte sieht es aus wie zwei Inseln, die durch einen schmalen Grat namens La Coupée miteinander verbunden sind. Der nördliche, größere Teil heißt Grand Sark, das südliche Ende Little Sark. (Sehr originell, zugegeben.) Das erste offiziell dokumentierte Ereignis war die Gründung des Klosters durch einen walisischen Mönch namens St Magliore im Jahr 565. Danach ging’s bergab, und die Insel stand lange unter der Kontrolle von Räubern, Schmugglern und Piraten, einer verbrecherischen Brut, die nicht selten durch gewaltsame Auseinandersetzungen dezimiert wurde. Das könnte erklären, warum es in vielen Gegenden angeblich spukt und dass es gefährlich ist, sich nachts dort aufzuhalten. Das Drama ging weiter bis 1565, als im Auftrag von Queen Elizabeth I Helier de Carteret anrückte, um die Insel zu kolonialisieren. Er gründete einen Feudalstaat und wurde der Feudalherr oder Seigneur, und die meisten Gesetze stammen noch aus dieser Zeit. Inzwischen haben wir allerdings eine Feudalherrin oder Dame, was eine enorme Verbesserung ist.
Laut Gesetz muss es immer zwei aktive Constables geben. Angeblich damit sie sich gegenseitig verhaften können, um die Zeit totzuschlagen. Ein Witz, der nie alt wird. Seit 1919 ist John der Chief Constable. Bis jetzt hatte er es nur mit sehr unbedeutenden Vergehen zu tun, die ausnahmslos vom letzten Seigneur begangen wurden, aber das steht auf einem ganz anderen Blatt.
Der Punkt ist, dass er jetzt jede Hilfe gebrauchen kann, die er bekommt.
Leider ist Small George Vaudin der Einzige, der den Arm in die Luft streckt. »Ich kenne die Westküste besser als jeder andere. Ich kann sofort mit der Suche anfangen!«
Edie de Carteret verpasst ihm einen Knuff. »Ich auch! Ich auch! Ich übernehme den Osten!«
Die Schulkinder rufen jetzt alle durcheinander, und John, der endlich seine Tochter bemerkt, hebt entsetzt die Hände. Er will nicht, dass Edie beteiligt ist, wenn er aber sagt, es sei zu gefährlich, will sie es umso mehr.
Glücklicherweise dreht Elise sich in dem Moment um und stemmt die Hände in die Hüften. »Es reicht! Wir brauchen keine Hilfe von Knirpsen, die im Unterricht sein sollten.«
Ihre Stimme klingt hoch, aber entschieden, und die Knirpse, einschließlich Edie, die ihren typischen, ihrem Vater verhassten Schmollmund zieht, verstummen und zerstreuen sich. Vor der Postmistress fürchten sie sich mehr als vorm Polizeichef, und was das betrifft, liegen sie mit ihrem Bauchgefühl richtig. John würde gerne noch ein paar Worte mit Elise wechseln, aber während alle anderen sich nach draußen begeben, ist sie mit ihrer Tochter beschäftigt, flüstert ihr unentwegt etwas ins Ohr. Da will John nicht stören, denn er weiß, dass die Stimmung zwischen den beiden angespannt ist.
Elise hat Phyll, ihr kluges, ehrgeiziges Kind, immer unterstützt. Sie hat viel Geld für einen Sekretärinnenkurs und eine Pension in Southampton ausgegeben, um ihr einen Weg von der Insel zu bahnen. Das Letzte, was man hörte, war, dass Phyll eine Anstellung als Assistentin der Assistentin bei einem Verlag gefunden habe, der sich auf schifffahrtskundliche Themen spezialisiert hatte. Das klang äußerst aufregend. Dann war Phyll plötzlich zurück, ein tropfnasses Geschöpf, das an der Anlegestelle stand und einen Koffer umklammerte, der, wie sich herausstellte, eine Schreibmaschine enthielt. Eine tragbare Bluebird, wie wir erfuhren. Phyll hatte sämtliches Geld, das sie verdient hatte, dafür ausgegeben. Sie wolle Schriftstellerin werden, sagt sie jetzt, und »es alleine schaffen«. Alles in allem ziemlich beunruhigend.
Elise wendet sich wieder John zu, und ihr Gesichtsausdruck ist so unerbittlich, dass er erschrickt. »Ich habe eine Idee. Wir lassen Phyll eine Beschreibung der Kleider tippen und schicken sie an die Guernsey Press. Auf diese Weise behalten wir die Kontrolle darüber, was behauptet wird. Und du hast einen Vorwand, um Informationen aus der Bevölkerung zu erbitten.«
Phyll bleibt der Mund offen stehen. Sie hat markante Züge: kräftige, gerade Brauen, eine lange Nase, einen großen Mund. Ein Gesicht, das die Leute schön nennen. Ein Jammer nur, findet ihre Mutter, dass sie ständig so mürrisch dreinschaut.
»Moment«, sagt sie. »Ich hab nicht …«
Doch John hält ihr schon seinen Notizblock hin. »Es wäre mir wirklich eine Hilfe, Phyll, wenn’s dir nichts ausmacht? Du kannst besser formulieren als ich, und … äh … du kennst dich mit Kleidern aus.«
Phyll streicht ihr Sommerkleid glatt, ein abgelegtes von Miranda, das wie eine Gardine im Wind flattert. Sie fragt sich, ob sie wegen der letzten Bemerkung beleidigt sein sollte, aber sie war in letzter Zeit wegen so vielem beleidigt, dass sie nicht sicher ist, ob sie noch mehr bewerkstelligen kann. Sie wirft ihrer Mutter einen routiniert finsteren Blick zu und sieht dann John an, der grinst wie ein Honigkuchenpferd.
Sie nimmt den Notizblock. »Das ist nicht ganz das, woran ich dachte, als ich gesagt habe, dass ich schreiben will … Aber wenn es unbedingt sein muss.«
Ihr ist klar, dass sie wie ein trotziges Kind klingt, und sie versetzt dem Kies einen Tritt, was angesichts der Tatsache, dass sie Sandalen trägt, ein Fehler ist. Jetzt drücken sie Steinchen unter den Zehen, und ihr Blick verfinstert sich noch mehr.
Elise langt in die Tasche ihrer Öljacke. »Und das Atelier der Cecils kann Phyll auch überprüfen. Damit wir sicher sein können, dass die Kleider nicht Ann gehören … oder dass nicht sonst irgendwer dort gewesen ist. Ich habe einen Zweitschlüssel.«
Phyll verschränkt die Arme vor der Brust. Ihre Mutter spricht in diesem ruhigen, vernünftigen Ton, der sie jedes Mal wütend macht, und sie spürt die vertraute Mischung aus Ärger und Enttäuschung, die eigens für Töchter gebraut wurde, deren Mütter sie nicht verstehen. Sie will nicht zum Atelier der Cecils gehen, aber sie weiß genau, was passiert, wenn sie sich weigert: Ihre Mutter wird hochmütig die Brauen hochziehen und fragen, was ihre werte Tochter denn sonst zu tun hätte. Und Phyll hat nichts sonst zu tun, was ganz allein ihre Schuld ist. Deshalb verdreht sie demonstrativ die Augen, nimmt den Schlüssel und stapft Richtung Gefängnis zurück. Doch plötzlich bleibt sie stehen. Sie schwankt auf der Türschwelle, den Kopf über Johns Notizen gebeugt. Sie hebt den Block näher ans Gesicht und sieht genau hin. Sie blinzelt. Und blinzelt noch einmal.
»Everard Hyde?«, fragt sie scharf und dreht sich wieder zu John. »Everard Hyde hat die Kleider gefunden?« Sie bemüht sich, jedes Wort deutlich zu artikulieren, dann senkt sie den Blick wieder auf den Notizblock.
John bestätigt es ihr.
Phyll hebt nicht den Kopf.
Sein voller Name ist eigentlich Everard George Hyde, und wenige Augenblicke zuvor stand er am Gefängnisfenster. Noch viel früher war er der junge Mann, der über die Klippen bei Port Gorey kletterte. Phyll atmet tief durch und geht schnurstracks zu dem Herrenmantel, hebt ihn hoch und hält ihn auf Augenhöhe, als wäre er eine Person, die sie ansieht. Sie schließt die Augen und ist plötzlich wieder zwölf Jahre alt. Everard steht neben ihr. Er ist in den alten Mantel seines Vaters gehüllt und schwenkt eine Taschenlampe vor ihrem Gesicht.
»Bu-huu«, flüstert er. »Ich bin ein Gespenst, hörst du?«
Zum Glück ist auf Sark nichts weit entfernt, und Zeit ist relativ. Komm mit, tritt aus dem Gefängnis, wende dich nach rechts und drehe sie zehn Jahre zurück.
An der Avenue führt seitlich ein Tor in den Garten des Bel Air – hast du es bemerkt? Es quietscht noch heute, wenn du es aufmachst. Nur zu, lass deine Füße ins Gras sinken. Der Rasen erstreckt sich Richtung Hafen abwärts, und vor dir stehen, weil Sommer ist, sämtliche Rosen in Blüte. Spüre die Sonnenwärme und stelle dir zwei Kinder vor, die auf der Veranda sitzen. Einen Jungen und ein Mädchen, die sich die größte Mühe geben, einander zu ignorieren.
Bald schon wird eines von ihnen verschwinden.
Und ja, es war nur ein Spiel.
(Zentral gelegen mit herrlichem Garten und wundervollem Meerblick, komfortable Zimmer.)
August 1923
Die frisch gestrichene Veranda des Bel Air Hotel strahlte weiß in der Nachmittagssonne. Es schmerzte fast in den Augen, wenn man hinsah. Gerade fand eine Teeparty für Sommergäste statt. Wie gesagt gab es schon immer Sommergäste auf Sark, aber in den Nachkriegsjahren wurde es schlimmer. Es war eine Zeit, in der die Insel bei Leuten an Beliebtheit gewann, die der Welt entfliehen oder sich selbst finden wollten, was gleichermaßen schwierig war. Um einen Neuankömmling zu zitieren: »Wir sind alle ein bisschen verrückt.«
Major James Earnest Jolyon Hyde, MC, DSO, hätte sich nicht als verrückt bezeichnet. Er hätte die Beschreibung »ehrenwert, gebildet und im Besitz familiären Wohlstands« bevorzugt. Er war der Bewohner von Beau Regard, dem einzigen neu gebauten Haus auf Little Sark, wo ihm auch das Bungalow Hotel gehörte. Er saß freiwillig auf dem unbequemsten Stuhl und trank heißen, wässrigen Tee. Sein Sohn, von dem man insgeheim glaubte, er sei nicht sein Sohn, saß neben ihm. Everard Hyde trug das kurze braune Haar ordentlich zur Seite gescheitelt, so, wie es seiner Mutter gefiel, und er war noch in dem Alter, in dem man es seiner Mutter recht machen wollte. Er war über den Sommer nach Sark gekommen, den ganzen unerträglichen Sommer, weil sie sagte, es sei wichtig, Zeit mit seinem Vater zu verbringen, ungeachtet dessen, was sie sonst noch über ihn sagte. Everard wäre es lieber gewesen, gar keinen Vater zu haben. Oder einen toten, wie all seine Freunde.
Auf der anderen Seite des Tisches saß Phyll Carey, die sich jedoch weigerte, Everard anzusehen oder seine Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Sie mochte keine Jungen, obwohl sie gern einer gewesen wäre, was die Kurzform ihres Namens erklärte. Ihre dunklen Haare waren ungewaschen und ungekämmt, und sie trug zerknitterte Shorts und Socken, die über ihren Stiefeln Falten schlugen. Sie war nur gekommen, weil Miranda sie eingeladen hatte. Miranda Cecil war zu dem Zeitpunkt vierzehn und ausgesprochen hübsch. Ihre Haare waren so blond, wie sie es mit Sicherheit nicht bleiben würden. Leider hatte man sie am anderen Ende des Tisches neben einer vornehmen Dame platziert, die Französisch sprach. Phyll war sauer: Sie hatte angenommen, die Einladung zum Tee hätte nur ihr gegolten. Sie machte oft den Fehler zu glauben, etwas sei speziell für sie organisiert worden, vor allem, wenn die Cecils beteiligt waren, weil die immer so viel Aufhebens machten. Wenn wir uns richtig erinnern, fand die Party statt, um die Fertigstellung ihres Ateliers zu feiern. Von nun an wollten sie jedes Jahr drei Monate auf der Insel verbringen, und wenn Paul nicht die Klippen malte, würde er ein wenig Geld damit verdienen, kleine Gruppen von Malschülern zu unterrichten. Paul war gut aussehend und humorvoll und bei den Frauen beliebt, was von Vorteil war, denn seit Kriegsende gab es einen Überschuss davon.
Phyll kamen die Cecils wie Romanfiguren vor. Sie las viele Bücher, und dank ihrer Angewohnheit, regelmäßig in eins der Inselhotels zu spazieren und mitzunehmen, was immer die Gäste zurückgelassen hatten, las sie auch solche, die sie eigentlich nicht lesen sollte. Ein rascher Blick über den Fußboden ihres Schlafzimmers würde einen Meeresalgen-Führer offenbaren, sieben Ausgaben des Gentleman’s Magazine, einige Kriminalromane von fragwürdiger Qualität, eine ziemlich zerfledderte Ausgabe von Wuthering Heights und Emily Dickinsons Gesammelte Gedichte. Außerdem das New Oxford Dictionary of British Artists, ein Geschenk von Paul an ihre Mutter. »Um mir zu beweisen, dass er drinsteht«, murmelte Elise ein wenig mürrisch. Elise Carey, kürzlich verwitwet, hatte keine Zeit für Kunst und Literatur, aber Dolly Bihet, das Küchenmädchen des Bel Air, ließ sich beim Backen von Phyll laut vorlesen. Phyll träumte davon, die Welt zu bereisen, wie die Cecils, und einmal Bücher zu schreiben, die in Hotel-Lounges liegen bleiben könnten.
Phyll wusste es damals noch nicht, aber auch Everard Hyde besaß eine lebhafte Phantasie. Er stellte sich vor, die Veranda sei ein Boot, das auf einer glühend heißen Lavafläche gestrandet wäre. Er überlegte gerade, wie er entkommen könnte, als plötzlich und ohne Vorwarnung die Hölle losbrach. Phyll hatte sich einen dicken Schorf vom Knie gekratzt. Sogar sie war über die Blutmenge überrascht.
»Es war doch bloß ein bisschen Grind«, versuchte sie die Sache kleinzureden. Everard beeilte sich, ihr beizustehen. »Und Grind abpulen macht doch wirklich jeder«, sagte er, den Kopf gesenkt und die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
Nun ja, nicht jeder. Eine der anwesenden Damen, eine gewisse Sarah Williams aus Sunny Banks, Northhampton, war zusammengezuckt und hatte sich abgewandt, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden, was Ann Cecil veranlasste, in die Hände zu klatschen und Everard vorzuschlagen, Phyll doch die »Schönheiten der Gegend« zu zeigen.
Es gab keine Schönheiten. Es gab nicht mal eine Stadt, und Phyll wurde ziemlich ungehalten. Da fragte Everard, wie sie sich denn überhaupt am Knie verletzt hätte, worauf sie sich umdrehte und ihn richtig ansah.
»Ich bin eine Klippe hochgeklettert.«
Everard blähte, ehrlich beeindruckt, die Wangen. »Ich klettere auf Bäume, aber auf eine Klippe bin ich noch nie geklettert.« Er hielt kurz inne. »Ist es schwer?«
Das hielt Phyll für die dümmste Frage der Welt. »Extrem!«
Everard knöpfte unbeirrt seinen Hemdsärmel auf, streckte den rechten Arm aus und drehte ihn um. »Guck mal – vor zwei Wochen bin ich von einem Baum gefallen.«
Leider war der riesige Bluterguss, der noch vor Kurzem die Form Nordamerikas hatte, inzwischen geschrumpft und verblasst und von diversen Tönungen überreifer Pflaumen zu etwas übergegangen, was an welken Salat erinnerte. Everard, der sich bewusst war, dass der Fleck nicht richtig zur Geltung kam, würde später das grelle Sonnenlicht verantwortlich machen, doch Phyll nahm seinen Arm und drehte ihn hierhin und dorthin, als hätte sie vergessen, dass er noch am Rest von ihm hing. Sie war insgeheim fasziniert, jemanden zu sehen, der so blasse Haut hatte, und fragte sich, ob er wohl einmal an einer seltenen Krankheit sterben würde.
»Irgendwas gebrochen?«
Everard schüttelte den Kopf, und Phyll ließ seinen Arm fallen. Bevor sie jedoch weiterging, blickte sie über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass er auch mitkam.
Es war Spätnachmittag, und die letzten Tagesausflügler eilten Richtung Hafen. Als Everard sich umdrehte und ihnen nachblickte, wurde ihm ganz anders. Er wusste nicht recht, wie er die kommenden Wochen füllen sollte.
»Glaubst du, ich könnte auch eine Klippe hochklettern?«
Phyll musterte ihn noch einmal unauffällig. Nein, wollte sie schon sagen, keine Chance, aber irgendetwas ließ sie zögern. Er sah sie an, erwartungsvoll, und ihr gefiel sein angespannter Blick. Sie hob eine Schulter und ließ sie wieder sinken.
»Wenn ich es kann, kannst du es bestimmt auch.«
Damit fing vielleicht alles an. Wenn ich es kann, kannst du es bestimmt auch. Ein paar Worte, wie ein Versprechen oder ein Pakt.
Niemand sah sie vorbeigehen. Die Tür des Gemischtwarenladens stand offen, aber der Laden war leer, und Arztpraxis und Postamt hatten an diesem Tag geschlossen.
»Hier arbeitet meine Mutter«, flüsterte Phyll. »Aber schau auf keinen Fall rüber. Sie findet es ziemlich merkwürdig, dass dein Vater behauptet hat, er wäre nicht verheiratet, als er herkam. Dann hat er gesagt, seine Frau sei gestorben, und dich hat er überhaupt nicht erwähnt.«
Everard verzog den Mund. »Meine Mutter wohnt in Frankreich. Sie ist mit Vaters bestem Freund durchgebrannt, und sie mussten sich scheiden lassen, und alle haben sich aufgeregt, und ich darf nicht von ihr reden, wenn er dabei ist.« Die Worte waren aus ihm herausgesprudelt. Dann verstummte er und sah hoch. »Bitte, bitte sag es niemandem.«
Phyll zeigte den gleichen ernsten Gesichtsausdruck, den sie während des Teetrinkens aufgesetzt hatte. Sie hob die linke Hand und machte eine Bewegung, als würde sie ihre Lippen verschließen. Inzwischen hatten sie die Avenue hinter sich gelassen und liefen eine schmale Gasse entlang, die auf beiden Seiten von Bäumen gesäumt war. Ihre Zweige trafen sich über ihren Köpfen und bildeten einen schattigen Tunnel. Everard blickte staunend auf die verschiedenen Grüntöne der Blätter.
»Du gehst also aufs Internat«, sagte Phyll. »Ist es sehr schlimm?«
Everard seufzte. »Nein. Mir gefällt es.«
Er hielt es für das Beste, ehrlich zu sein. Internate werden allgemein für schreckliche Orte gehalten, aber wenn man schreckliche Eltern hat, sind sie der Hafen im Sturm. Everard war schon mit vier fortgeschickt worden und hatte sich daran gewöhnt. Er mochte die täglichen Abläufe und den Lärm, und er hatte ein paar gute Freunde gefunden, die er oft in den Ferien besuchte. Als er erfahren hatte, dass er einen ganzen Monat bei seinem Vater verbringen sollte, war er panisch geworden und hatte den Plan gefasst, irgendetwas anzustellen, um in Ungnade zu fallen und weggeschickt zu werden.
Vielleicht fing auch damit rückblickend alles an. Aber wir können viel Zeit damit verbringen, nach dem Keim zu suchen, und ein Keim gedeiht nicht von selbst. Er braucht Wasser, Licht, fruchtbaren Lebensraum.
»Ich wäre lieber dort«, sagte Everard schließlich. »Ich mag meinen Vater nicht.«
Phyll zog eine Augenbraue hoch. »Die besten Männer sind einfach alle tot.«
Inzwischen hatten sie den Zugang zur Kirche erreicht. Der Friedhof erstreckte sich auf beiden Seiten des Weges und wurde von einer alten Steinmauer mit Torbogen umgrenzt. Phyll stellte sich darunter und sah sich um. Sie hörte Vogelgezwitscher, und irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Weit und breit kein Mensch. Sie waren ganz allein.
Sie lächelte. »Du kletterst also gerne«, sagte sie. »Ich wette, da hinauf schaffst du es nicht.« Sie streckte einen Arm in die Luft und zeigte auf die alte Ulme, die hinter dem Torbogen stand. Ihre knorrigen Äste erstreckten sich bis über die Straße.
Sie selbst hatte noch nie versucht, auf diesen Baum zu klettern – der Grund, weshalb sie ihn vorschlug. Sie wartete ab, während Everard ihn von unten bis oben musterte und tief Luft holte, als wollte er gleich in kaltes Wasser springen. Wortlos marschierte er durch den Torbogen. Phyll folgte ihm, bahnte sich den Weg durch die Hortensienbüsche zum Fuß des Baumes. Doch er hatte sich schon auf die Mauer gehievt und die Hände flach an den Baumstamm gepresst. Er taxierte die niedrigsten Äste, schlang die Arme um einen und schwang die Beine hinauf. Es schien ihm ganz leicht zu fallen, was ärgerlich war. Phyll wollte ihm schon sagen, er solle herunterkommen. Er war direkt über der Mauer, und sie befürchtete, er könnte fallen. Sie beobachtete, wie er sich auf den ersten Ast stellte, sich nach dem nächsten streckte und sich höher zog. Phyll hielt ungläubig den Atem an. Er würde jede Sekunde abstürzen und sich den Hals brechen. Sie sah es schon vor sich. Aber sie gebot ihm keinen Einhalt. Sie lief zurück auf die Straße. Noch immer war niemand zu sehen. Keine Zeugen, dachte sie. Sie war versucht, nach Hause zu gehen Hause und ihn dort im Baum zurückzulassen. Aber was dann? Sie starrte zwischen die Blätter, bis sie Kreise vor den Augen sah. Dabei schwitzte sie so sehr, dass ihr die Bluse an den Schultern klebte. Sie wackelte mit dem Oberkörper und trat von einem Fuß auf den anderen. Dann bückte sie sich, um das getrocknete Blut auf ihrem Bein zu inspizieren. Sie versuchte, mit Spucke und Reiben ihre Wunde zu reinigen, aber das machte es nur schlimmer. Jetzt hatte sie Blutgeschmack im Mund. Sie spuckte an den Straßenrand, erhob sich zu schnell und fühlte sich schwindelig. Plötzlich hatte der Baum grellgrüne Blätter und kam auf sie zu. Es war so still, dass sie sich fragte, ob Everard wieder heruntergeklettert war.
»Ich kann dich nicht sehen!« rief sie hinauf. »Everard? Wo bist du?«
Keine Antwort. Phyll lief zurück auf den Friedhof und umrundete den Baumstamm. Sie horchte nach einem Blätterrascheln oder einem Kichern, während das Warten ihr den Hals zuschnürte. Alles, was sie hörte, war entferntes Pferdegetrappel und das Summen einer Fliege, die um sie herumschwirrte. Sie senkte den Blick und verschränkte die Arme. Was, wenn er runtergeschlichen war, als sie nicht hingesehen hatte, und jetzt hinter einem Grabstein hockte, um jeden Moment hervorzuspringen? Sie ging an der Mauer entlang, drehte den Kopf nach links und rechts, machte sich auf einen Kampf gefasst. Was fällt ihm ein, mich zu täuschen, dachte sie, machte einen großen Bogen und lief zwischen den nächststehenden Grabsteinen hindurch. Ihr reichte es langsam. Dann ist er eben weg, sagte sie sich im Stillen.
Sie lief wieder zurück auf die Straße.
Ich gehe jetzt, wollte sie gerade sagen, da flatterten drei Blätter zu Boden. Sie fing sie auf und lachte. »Na schön.«
Aber sie konnte ihn immer noch nicht sehen. Phyll drehte sich ratlos einmal im Kreis, dann bemerkte sie eine Lücke in der Mauer gegenüber. Sie war dort etwas tiefer als auf der Kirchenseite und bestand aus ungleichmäßigen Steinen, die hervorstanden und als Tritthilfen dienen konnten. Phyll ging hinüber und begann hinaufzuklettern. Der Baum war auf dieser Seite mit Efeu bewachsen, und ein paar verkümmerte Zweige hingen tiefer herunter. Sie hielt sich daran fest und zog sich hoch, und kaum hatte sie Äste unter den Füßen, fühlte sie sich besser. Plötzlich hörte sie von irgendwo unten drei Stimmen. Es waren Major Hyde, Ann Cecil und Mrs Williams, die Frau, die so ein Trara wegen des Blutes gemacht hatte. Der Major wollte ihnen seine persönliche Kirchenbank zeigen.
»Sark ist inzwischen mein Zuhause. London könnte ich nicht ertragen. Das Hupen der Autos, das Kreischen der Bremsen. Ich brauche Ruhe und Frieden, und ich werde meine Zeit nutzen, um zu schreiben.«
»Schreiben, ach, wie wunderbar«, sagte Mrs Williams. »Ja, das müssen Sie unbedingt. Ich kenne keine Schriftsteller, aber ich bewundere sie …«
»Und du, Sara, musst unbedingt Unterricht bei Paul nehmen«, sagte Ann. »Es ist wichtig, Hobbys zu haben, jetzt mehr denn je.«
Phyll hielt die Luft an und beobachtete, wie sie durch den Mauerbogen traten. Plötzlich blieb Mrs Williams stehen, drehte sich um und fasste sich an die Schulter.
»Da war etwas«, sagte sie. Sie legte den Kopf in den Nacken. »Merkwürdig – es hat sich angefühlt, als hätte mir jemand auf die Schulter getippt.«
Ann lief zurück und stellte sich neben sie. Beide Frauen sahen nach oben und dann die Straße hinunter. »Ein Schmetterling vielleicht«, meinte Ann. »Ich hab ein paar wunderschöne Rote Admirale in den Hecken gesehen.«
Sie gingen weiter, und Phyll hob den Kopf, um durch die Blätter zu schauen. Everard musste sich da drüben im Baum verstecken, aber warum konnte sie ihn nicht sehen? Sie schob einen Zweig zur Seite, legte sich flach auf den Bauch und spürte, wie ihr Herz gegen die Rinde pochte.
Die Kirchentür schlug zu, und man hörte eilige Schritte auf dem Kiesweg Richtung Straße. Phyll erkannte die Gestalt Marie de Carterets, John de Carterets Frau. Sie summte vor sich hin, als sie unter dem Torbogen hervortrat, stieß dann jedoch einen spitzen Schrei aus, als wäre sie von etwas gestochen worden.
Phyll lächelte. Jetzt hatte sie verstanden.
Hoch oben in der Ulme pflückte Everard noch eine Knospe und rollte sie zwischen Mittelfinger und Daumen. Ihm gefiel dieses neue Spiel. Wie ein Vogel blickte er auf alle herab, zielte sorgfältig mit seinen Geschossen. Sein nächstes Opfer war Percy Stanhope, der Arzt von Sark. Dem armen Mann fiel beinah der Hut vom Kopf, und er stolperte zurück an die Mauer. Everard musste ein Lachen unterdrücken. Er hatte so viel Spaß, dass er nicht bemerkte, wie der Himmel sich verfärbte und nach und nach dunkler wurde. Nach einer Weile fragte er sich allerdings, wo Phyll abgeblieben war. Vermutlich war es seine Schuld, denn er hatte sie nicht mitmachen lassen. Er war so sehr daran gewöhnt, alleine zu spielen, dass er ganz in seiner Welt versunken war. Er seufzte im Stillen. Er würde sie morgen suchen und sich entschuldigen. Einen Baum hinaufzuklettern, war bestimmt lange nicht so gut, wie eine Klippe hochzukraxeln.
In dem Moment knackste ganz in seiner Nähe ein Zweig, und etwas traf ihn an der Braue. Er zuckte blinzelnd zusammen und hob die Hand an den Kopf. Was für ein Schreck, sie direkt über sich zu sehen, von wo sie durch die Blätter auf ihn herabblickte. Sie musste irgendwie aus dem anderen Baum herübergeklettert sein und sah ihn nun, das Kinn auf die Hand gestützt, über den Zweig hinweg an. Sie versuchte, entspannt zu wirken, aber ihre dunklen Haare klebten ihr an den glühenden Wangen.
Sie warf ihm einen stolzen Blick zu. »Hab dich«, sagte sie.
Vor Erleichterung brach er in Gelächter aus. Dann nickte er. »Stimmt, du hast mich.«
Na, also. Da war er.
Der Anfang von etwas Geheimem, etwas Außergewöhnlichem, aber möglicherweise auch etwas Schrecklichem.
Das hängt wirklich ganz vom Standpunkt ab.
Montag, 2. Oktober 1933
Wie einige unserer Leser bereits wissen, wurde an diesem Wochenende die Bekleidung eines Mannes und einer Frau auf den Klippen von Sark gefunden. Da sich bisher noch niemand gemeldet hat, um Anspruch darauf zu erheben oder bei der Identifizierung zu helfen, veröffentlichen wir folgende Beschreibung der Kleidungsstücke:
Die Frau trug Blazer und Rock aus beige meliertem Tweed. Der Blazer hatte sieben Nickelknöpfe, von denen einer fehlt. Die pfirsichfarbene Bluse der Frau ist tailliert und hat einen doppelrandigen Kragen. Ihre Schuhe sind aus braunem Leder mit eckigem Absatz, Steg und goldener Schnalle.
Der Herrenmantel ist aus Harris-Tweed. Das Etikett wurde herausgerissen. Der Anzug stammt von Montague Burton und ist dunkelbraun kariert. Der Mann trug ein cremefarbenes Baumwollhemd mit Pin-Kragen und braune Budapester, Größe neun. Er war ungefähr 1,80 Meter groß.
Die Kleidungsstücke wurden auf einer Klippe in der Nähe von Port Gorey gefunden, an einer Stelle, die Trittsicherheit und ein wenig Vorsicht erfordert, wenn man sich ihr nähert. Diejenigen Leser, die sich auf Sark auskennen, werden das abgelegene Gelände der alten Silbermine erkennen, deren schroffe Schönheit im Sommer die Tagestouristen anzieht.
Die Inselbewohner sind natürlich in Sorge um die Sicherheit dieses Paares, und John de Carteret, der örtliche Chief Constable, ist jedem dankbar, der sich mit sachdienlichen Hinweisen bei ihm meldet.
Wirft man einen Blick auf die Karte von Sark, dann sieht man, dass die Hauptdurchgangswege von Norden nach Süden und von Osten nach Westen verlaufen und der Rest der Insel so glatt und unberührt ist wie ein Babypopo. Von der St Peter’s Church führt eine ziemlich gerade Linie nach La Coupée im Süden, dann hinüber nach Little Sark, wo die Straße allerdings am Bungalow Hotel endet. Danach führen Fußwege über öffentliches Gelände zu den Klippen und nach Port Gorey.
Die Reiseführer beschreiben Port Gorey als »entzückend« und »malerisch«, was beweist, wie wenig die Autoren darüber wissen. Es liegt auf einer buckligen, kahlen Landspitze, auf der kein einziger Baum wächst. Im Juli kann man dort einen anregenden Spaziergang machen, versprochen, aber nicht jetzt. Jetzt kommt es einem vor wie das Ende der Welt.
Everard Hyde, inzwischen erwachsen, ist in Begleitung zweier Männer über den Pfad zu dem Felsvorsprung gelaufen, wo er die Kleider gefunden hat. Seine dunklen Haare sind lang und zerzaust und kleben ihm an den Wangen. Seine Augen sind gerötet, seine Lippen werden langsam blau. Das petrolblaue Meer vor ihm spuckt hohe Gischtwände aus. Der Wind drängt ihn zurück, doch er zieht die Schultern hoch und stemmt sich dagegen. John de Carteret folgt ihm mit gebeugtem Kopf. Er hat seinen stellvertretenden Constable Jim Remfrey zur Unterstützung mitgebracht. John sucht sich jedes Jahr einen neuen Stellvertreter aus. Jim hatte den Job nicht gewollt, konnte aber ohne ärztliches Attest nicht ablehnen, und da Dr. Stanhope sich zu Tode getrunken hatte, gab es niemanden, den er darum hätte bitten können.
Nahe dem Pfad, der sich entlang der Klippe schlängelt, wo sie gesprengt wurde, um einem Strand und einer Bootsrampe Platz zu machen, fällt die Klippe steil ab. Darüber befinden sich die verfallenen, efeubewachsenen Überreste eines Minenschachts. Die Mine hieß Sarks Hope, ein Name, der mittlerweile misslich erscheint. Vor einem Jahrhundert investierte Peter de Pelley, der damalige Seigneur, seine Ersparnisse in die Silbermine. Er holte Hunderte von Männern aus England herbei, um die Schächte zu graben, und ein paar Jahre lang lebten mehr Menschen auf diesem zerklüfteten Klippenstreifen als auf ganz Sark jemals zuvor. Es war eine ziemliche Touristenattraktion, aber dort Silber zu finden, schien so unwahrscheinlich, dass es vielleicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Die Mine brachte keinen großen Ertrag, und Le Pelley ertrank 1839 auf dem Weg nach Guernsey. Sein Bruder investierte noch mehr Geld, doch dann brach die Decke des Hope-Schachtes ein. Zehn Männer wurden eingeschlossen und ertranken.
Man munkelt von Geisterhäusern, als bräuchten Geister vier Wände und ein Dach über dem Kopf. Auf Klippen kann es spuken. Genauso wie auf ganzen Inseln. John bleibt, die Mütze tief ins Gesicht gezogen und den Kragen hochgeschlagen, stehen. Er ist ganz starr vor Kälte. Sie haben den halben Tag damit zugebracht, das Gelände abzusuchen, das hauptsächlich aus Heide und Ginster besteht, durch die ein paar Trampelpfade geschlagen wurden. In der Nähe der Straße steht ein verlassener Schuppen. Darin hatten sie Schutz gesucht, als der Regen stärker wurde, und ein Lager aus Farn und einen blauen Stoffstreifen gefunden, der auf einer Seite ausgefranst war. John hat ihn in die Hosentasche gesteckt und schaut ab und zu nach, ob er noch da ist.
Er blickt die Klippe hinunter. Das Schlimmste will er sich nicht vorstellen, aber jeder glaubt, die beiden wären ertrunken. Bei Port Gorey ertrinken alle, heißt es. Harry Dolbel könnte ihm allein drei Männer aus der jüngeren Vergangenheit aufzählen, darunter Phillip Carey, Elises Ehemann, obwohl darüber nichts Sicheres bekannt ist und nie eine Leiche gefunden wurde.
John blickt hinaus aufs Meer und denkt an die Strömung und die Gezeiten. Es ist ihm ein Rätsel, warum zwei Menschen bei diesem grauenhaften Wetter herkommen sollten, und er würde sich gern noch ein bisschen länger mit Elise darüber unterhalten. Er will sie auch nach Everard fragen, weil sie ein so mürrisches Gesicht gemacht hat, als sein Name fiel. John erinnert sich dunkel an den Everard von früher, und wenn er die Augen zusammenkneift, erkennt er noch den Jungen in dem Mann. Ist das wirklich derselbe Bursche, der ihm damals so viel Ärger bereitet hat?
Everard, der merkt, dass John ihn beobachtet, hebt den Blick. »Hätte ich sie liegen lassen sollen? Die Kleider, meine ich?«
John schüttelt den Kopf. »Natürlich nicht. Es war richtig, sie zu mir zu bringen.«
Everard nickt und runzelt die Stirn. Er sieht deutlich älter aus, wenn er die Stirn runzelt. »Warum hatte Phyll Carey sie? Ich habe sie im Gefängnis gesehen. Sie hat sie in die Höhe gehalten …«
John dreht sich mit dem Rücken zum Wind. Er erinnert sich, wie Phyll die Finger nicht von den Kleidern lassen konnte, mit diesem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Er fragt sich, was passiert ist, das sie so unglücklich gemacht hat. »Sie hat dieselbe Größe. Das ist alles.«
Everard nickt wieder, und John sieht ihn an. Er würde ihn gern fragen, warum er nach all dieser Zeit wieder zurückgekehrt ist, aber er war noch nie gut in Smalltalk, und der Regen schmerzt wie Nadelstiche in seinem Gesicht. Er dreht sich um, wirft noch einen letzten Blick auf die Felsen dort unten, wo bei Ebbe ein Strand ist.
»Wir müssen morgen wiederkommen«, sagt er seufzend. »Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Wäre es Juni oder Juli, würde ich sagen, sie waren schwimmen … Aber jetzt?« Er schüttelt den Kopf. »Auf keinen Fall.«
Wie schon gesagt, im Sommer ist Sark ein reizender Ort, aber kaum wird es September, verwandelt sich die kühle Brise in beißende Kälte. Die Hotels und Pensionen schließen nach und nach, und die Saisonkräfte kramen die Schutzhüllen für die Gartenmöbel hervor und eilen Richtung Hafen. Fremde fragen uns oft, wie wir die strengen Wintermonate aushalten. Unsere Standardantwort lautet, dass wir unser Fell wachsen lassen, die Klauen schärfen und anfangen, uns auf allen Vieren fortzubewegen.
Dann fragen sie garantiert nicht weiter.
Im Postamt kann man zurzeit eine hübsche Ansichtskarte von Port Gorey kaufen: das Aquarell eines nicht namentlich genannten Künstlers, das die Überreste der Silbermine und die Klippe dahinter zeigt. Elise hat sie an die Pinnwand neben ihrem Schalter geheftet, aber die Touristen bevorzugen gewöhnlich die Ansicht von La Coupée oder die mit der alten Frau beim Kühemelken. Das Postamt ist jedenfalls geschlossen, und Elise ist wieder im Gefängnis, das John niemals abschließt. Sie nimmt den Damenblazer und hält ihn sich unter die Nase. Sie riecht Erde und Ginster, Salz und billige Seife. Sie schließt die Augen und versucht, die Stimmen der Kinder auszublenden, die ihre Stundenpläne herunterbeten.
Das Gefängnis und das Schulhaus von Sark wurden beide mit dem Geld der Silberminen gebaut. Die alten Grabsteine von St Magliore’s Chapel dienten als Baumaterial für die Mauer des neuen Spielplatzes. Vielleicht ist das der Grund, warum die Le Pelleys verflucht wurden. Oder sie wurden gar nicht verflucht, sondern hatten einfach nur Pech. Es ist praktisch, das Gefängnis gleich neben der Schule zu haben. Fred de Carteret droht ungezogenen Schülern öfter mit einer Nacht Haft, und weil es im Gefängnis angeblich spukt, hat das die gewünschte Wirkung. Es heißt, eine Dienstmagd, die ihre Herrin bestohlen hatte, sei hier drei Tage eingesperrt worden und durchgedreht, weil sie jede Nacht einen Geist hatte schluchzen hören.
Die Geschichte stammt von Reverend James Cachemaille. Zur Zeit der Silbermine war er der Pastor und schrieb Artikel über das »wildromantische Sark« für das Guernsey Magazine. Was die Inselbewohner betraf, war er allerdings weniger schmeichelhaft, und einige seiner schillerndsten Anekdoten tauchen immer wieder in diesen Reiseführern auf, denen man nicht trauen kann. Sie vermitteln den Eindruck, die besten Familien von Sark wären tölpelhafte Pantoffelträger, die Zaubersprüche wirkten und Warzen heilten.
Was für ein Unsinn.
Wir tragen keine Pantoffeln. Aber wir respektieren die Natur und ihre Kreisläufe. Außerdem vertrauen wir auf Zeichen, und wenn ein Tier krank wird, befolgen wir bestimmte Rituale. Häufig sieht man Feuersteine an Schlüsselbünden baumeln, zum Schutz vor Einbrechern, und es ist weithin bekannt, dass die Schornsteine auf Sark noch immer mit einer Hexenbank versehen werden, für den Fall, dass eine von ihnen sich ausruhen möchte; denn wer will schon, dass sie den Kamin herunterkommt?
Lach ruhig, aber der gute Reverend Cachemaille entwickelte eine solche Angst vor dem Meer, dass er Routen für seine täglichen Spaziergänge ausarbeitete, damit er es nie zu Gesicht bekam. Das war natürlich, nachdem er Peter Le Pelley hatte ertrinken sehen, aber was wir damit sagen wollen, ist, dass aus einer Gewohnheit leicht ein Ritual wird, und von da aus ist es nicht mehr weit bis zum Aberglauben. Wenn’s hilft? Ist das Leben schwer, brauchen wir alle ein paar Regeln, um das Schicksal zu mäßigen.
Vergiss also nicht, dass es Unglück bringt, jemandem Petersilie zu schenken, während es überhaupt kein Problem ist, welche zu stehlen; und wenn der erste Mensch, den du triffst, sobald du das Haus verlässt, eine Frau ist, mach ihr Platz und lass sie vorbei. Für Elise ist das schlicht und einfach gutes Benehmen. Elise ist keine Hexe – bitte vermeidet dieses Wort –, aber sie besitzt, was einige »den siebten Sinn« nennen. Angeblich stammen solche Kräfte vom Teufel, doch wenn es auch richtig erscheint, einen Mann dafür verantwortlich zu machen, glauben wir, sie hat es von ihrer Mutter, einer reizenden Dame namens Alice Tanquerel, die tragischerweise jung starb.
Elise kann nicht erklären, warum, aber als Harry Dolbel am Delville Wood in die Luft flog, sackten ihr bekanntlich die Beine weg, genauso, wie sie die Kugel spürte, die John de Carteret aus Frankreich nach Hause brachte. Dummerweise erzählte sie allen, er sei tot, und Johns Frau Marie wurde vor Trauer fast wahnsinnig, bevor sie ganze drei Wochen später die Nachricht von seiner Rückkehr auf einem Lazarettschiff erreichte. Dazu kam der verstörende Vorfall, als Elise eine Touristin vor drohender Gefahr warnte, und die arme Frau so erschrak, dass sie auf die Straße rannte und von einem Pferd niedergetrampelt wurde.
Aber erzählen wir weiter. Elise verlässt das Gefängnis, bleibt einen Moment stehen und blickt die Straße entlang. Dann geht sie Richtung Postamt, dessen Rollläden noch geschlossen sind. Früher war es das Pfarrhaus, und die beiden Rückwände stammen noch aus dem 16. Jahrhundert und sind mindestens einen Meter dick. Die Bewohner von Sark sind sehr stolz auf ihre dicken Wände. Dank dieser Wände kann jemand in seiner Küche ermordet werden, ohne dass es draußen irgendwer hören würde. Albert Pratt, über fünfunddreißig Jahre Leiter des Postamts auf Sark, ließ eines der vorderen Fenster zu einem ausklappbaren Schalter umbauen. Außerdem ließ er den Hof pflastern und versah ihn mit einer Einfassung aus rosa und roten Geranien. Sonderbarerweise liebte Albert Geranien. Elise war seine Mitarbeiterin und nahm nach seinem Schlaganfall seinen Platz ein. Noch immer ist sie seiner Witwe Maud eng verbunden, und Maud liebt Elise wie eine Tochter. Aufgrund des vererbten »Fluches von Schwermut und Erkenntnis«, wie sie es scherzhaft nennt, fühlt sich Elise inzwischen, was ihre richtige Mutter betrifft, recht zwiegespalten.
Maud wohnt in der Rue de Sermon, in einem kleinen Haus, das Albert hergerichtet hatte, bevor er starb. Die Regale brachten ihn um. Es handelt sich, da sind wir uns alle einig, um großartige Regale. Sie erstrecken sich über eine ganze Küchenwand und sind voll mit Kräutern, Pulvern und Säften. Auf Sark setzt man immer noch großes Vertrauen in Naturheilmittel, denn lange Zeit gab es keinen Arzt auf der Insel. Dann hatten wir Dr. Stanhope, und darüber verliert man am besten möglichst wenig Worte. Maud kann jede beliebige Pflanze nehmen und sagen, wozu sie gut ist. Andere Dinge vergisst sie, aber daran ist die Insel schuld. Schließlich ist Sark »Die Insel, auf der die Zeit stillsteht«, und wenn sich um dich herum nichts ändert, erwartest du, dass auch du dieselbe bleibst.
Aber wir alle altern, und wir alle sterben, und ein paar von uns grauenvoll.
