Das Gesicht des Krieges - Martha Gellhorn - E-Book

Das Gesicht des Krieges E-Book

Martha Gellhorn

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Beschreibung

"Die erste Reportage in diesem Buch wurde vor neunundvierzig Jahren geschrieben. Nachdem ich mein Leben lang Kriege beobachtet habe, halte ich sie für eine endemische menschliche Krankheit und Regierungen für die Überträger." Vom Spanischen Bürgerkrieg, den sie gemeinsam mit Ernest Hemingway erlebte, über den Zweiten Weltkrieg mit der Befreiung Dachaus und den Krieg in Vietnam bis zum Krieg in Nicaragua berichtete Martha Gellhorn fünfzig Jahre lang von nahezu jedem Schlachtfeld dieser Erde. Sie scherte sich dabei nicht um Kugelhagel oder Bombendetonationen, geschweige denn um militärische Strategien, ihr Augenmerk galt allein der leidenden Zivilbevölkerung, deren Elend sie eindrücklich festhielt. "Es muss eine bessere Art geben, als durch Kriege die Geschicke der Welt zu lenken. Sorgen wir dafür, dass sie Wirklichkeit wird."

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Martha Gellhorn

Das Gesicht des Krieges

Reportagen 1937–1987

Aus dem Amerikanischen von Hans-Ulrich Möhring

DÖRLEMANN

Titel der Originalausgabe: »The Face of War«, erstmals 1959 erschienen bei Simon & Schuster, USA, und in England bei Hart Davis. Die vorliegende deutsche Ausgabe basiert auf der revidierten Ausgabe, die 1988 in den USA bei Atlantic Monthly Press publiziert wurde. eBook-Ausgabe 2012 Überarbeitete Übersetzung Alle Rechte vorbehalten © 1936, 1937, 1938, 1940, 1941, 1942, 1943, 1944, 1945, 1959, 1966, 1967, 1983, 1985, 1986, 1987, 1988 by Martha Gellhorn © 2012 Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlagfoto: Martha Gellhorn mit chinesischen Soldaten; Chinesisch-Japanischer Krieg, 1941 © John F. Kennedy Library Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN epub 978-3-908778-11-0www.doerlemann.com

Für meinen Sohn Sandy

Martha Gellhorn

Vorbemerkung der Verfasserin

Die Anlage dieses Buches bedarf einer Erklärung. In vier Versionen ist es über einen Zeitraum von fast dreißig Jahren durch Hinzufügungen und Kürzungen gewachsen. Alle Reportagen sind in ihrer Originalfassung wiedergegeben. Titel, die nicht von mir waren und mir nicht gefielen, habe ich geändert. Die erste Ausgabe von 1959 begann mit einer Einleitung und endete mit dem Kapitel »Dachau«. Aus der zweiten Version von 1967 nahm ich sechs Reportagen heraus, um für die Abschnitte »Der Krieg auf Java«, »Interim« und »Der Krieg in Vietnam« Platz zu schaffen, und fügte eine kurze Einleitung und eine Schlußbemerkung hinzu. In allen Versionen habe ich meine einführenden Kommentare über jeden Krieg unverändert gelassen, wenn auch 1986, zum Zeitpunkt der dritten Version, einige 1959 geschriebene Sätze reichlich überholt waren. Die Ausgabe von 1986 bot eine neue Einleitung, umfaßte den ganzen Band von 1967 und enthielt spätere Kommentare über den Vietnamkrieg, den Sechstagekrieg und die Kriege in Zentralamerika. Die vorliegende vierte und endgültige Fassung läßt die überflüssige Einleitung sowie die Schlußbemerkung von 1967 weg, desgleichen den Kommentar über den Vietnamkrieg von 1986. Ich habe einen neuen geschrieben, einen besseren, hoffe ich. Eine Reportage aus dem Zweiten Weltkrieg mit dem Titel »Drei Polen« ist hinzugekommen, außerdem ein Artikel zum Vietnamkrieg, »Lasset die Kindlein …«, und eine Schlußbetrachtung.

Einleitung

zur Ausgabe von 1959

In meiner Jugend glaubte ich an die Fähigkeit des Menschen, immer vollkommener zu werden, und an den Fortschritt; den Journalismus hielt ich für ein Leitfeuer auf dem Weg. Wenn man den Leuten die Wahrheit sagte, wenn sie Schande und Ungerechtigkeit deutlich gezeigt bekamen, dann würden sie auf der Stelle die rettende Tat, die Bestrafung der Übeltäter und Hilfeleistung für die Unschuldigen fordern. Wie die Menschen diese Reformen durchsetzen sollten, wußte ich nicht. Das war ihre Sache. Die Sache einer Journalistin war es, Nachrichten zu liefern, das Auge ihres Gewissens zu sein. Ich muß mir die öffentliche Meinung wohl als eine massive Kraft vorgestellt haben, wie einen Tornado, allzeit bereit, auf der Seite der Engel loszustürmen.

In den Jahren meines tatkräftigen Hoffens klagte ich die Führer an, wenn die Geschichte wie immer nicht nach Plan lief, wenn Grausamkeit und Gewalt toleriert oder angeheizt wurden und die Unschuldigen nie etwas anderes hatten als das Nachsehen. Die Führer waren ein schemenhaftes, verflochtenes Direktorium von Politikern, Industriellen, Zeitungsbesitzern, Finanziers: unsichtbare, kalte, ehrgeizige Männer. »Das Volk« war ganz ohne Frage gut; wenn es sich nicht richtig verhielt, dann aus Unwissenheit oder Hilflosigkeit.

Neun ganze Jahre, eine große Wirtschaftskrise, zwei mit einer Niederlage endende Kriege und eine Kapitulation ohne Krieg waren nötig, um meinen Glauben an die segensreiche Macht der Presse zu brechen. Nach und nach wurde mir klar, daß die Menschen eher bereit waren, Lügen zu schlucken, als die Wahrheit zu erkennen, als ob der Geschmack von Lügen anheimelnd wäre, appetitlich: eine Gewohnheitssache. (Es gab auch Lügner in meiner Zunft, und politische Führer haben Tatsachen seit eh und je als etwas Relatives und Dehnbares behandelt. Der Vorrat an Lügen war unbegrenzt.) Die guten Leute, die dem Bösen entgegentraten, wo immer sie es erblickten, blieben stets eine edelmütige Minderheit. Die manipulierten Millionen ließen sich durch alle möglichen Lügen aufscheuchen oder einlullen. Das Leitfeuer des Journalismus war nicht heller als ein Glühwürmchen.

Ich gehörte einer Vereinigung von Kassandras an, und meine Kollegen waren die Auslandskorrespondenten, die ich bei jeder Katastrophe wiedertraf. Seit Jahren schon hatten sie über den Aufstieg des Faschismus berichtet, über seine Schrecken und die sichere Gefahr, die er darstellte. Wenn ihnen überhaupt jemand zuhörte, so beherzigte doch niemand ihre Warnungen. Pünktlich trat das Verhängnis ein, das sie so lange prophezeit hatten, Punkt für Punkt, fahrplanmäßig genau. Zum Schluß wurden wir einsame Krankenträger, die versuchten, einzelne aus dem Zusammenbruch in die Freiheit zu schleusen. Wenn ein Menschenleben vor dem ersten Zugriff der Gestapo in Prag gerettet oder ein anderes hinter dem Stacheldraht auf dem Sand von Argelès hervorgeholt werden konnte, war das zwar tröstlich, hatte aber mit Journalismus kaum etwas zu tun. Begünstigung, Intrigen, Einschüchterung und Dollars schützten gelegentlich einen Menschen. Mit unseren Artikeln richteten wir so viel Gutes aus, als ob wir sie mit unsichtbarer Tinte geschrieben, auf Blätter gedruckt und in den Wind geworfen hätten.

Nach dem Krieg in Finnland betrachtete ich den Journalismus als Passierschein. Man brauchte die richtigen Papiere und einen Job, um bei dem Schauspiel namens »Zeitgeschichte« einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern. Im Zweiten Weltkrieg tat ich nichts anderes, als Loblieder auf die guten, tapferen und großzügigen Menschen zu singen, die ich sah, wohl wissend, daß dies ein völlig zweckloses Unterfangen war. Wenn sich die Gelegenheit bot, zog ich über die Teufel her, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Würde des Menschen in den Schmutz zu treten; genauso zwecklos. Ich entwickelte einen absurden beruflichen Stolz darauf, dort hinzukommen, wo ich hinwollte, und meinen Text rechtzeitig nach New York zu schicken, aber ich konnte mir nicht einreden, daß auch nur ein Hahn nach meiner Arbeit als Kriegsberichterstatterin krähte. Krieg ist eine bösartige Krankheit, eine Idiotie, ein Gefängnis, und das durch ihn verursachte Leid kann man nicht erzählen oder sich vorstellen; aber Krieg war unser Heute und unser Gestern, wir mußten damit leben. Ich war eine Kriegsgewinnlerin besonderer Art, denn ich kam immer mit heiler Haut davon und wurde dafür bezahlt, meine Zeit mit großartigen Menschen zu verbringen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges trieb ich mich noch ein weiteres Jahr im Dunstkreis des Krieges herum, denn der Friede war beklemmend und nicht überzeugend. Schließlich erlebte ich auf Java den Nachkriegskleinkrieg neuen Stils und wußte, daß ich davon nie wieder irgendwo etwas sehen wollte. Wahrscheinlich war dieses traurige mörderische Durcheinander in Ostindien unvermeidlich. Die großen weißen Männer waren von kleinen gelben Männern bezwungen und erniedrigt worden; warum sollte irgend jemand den weißen Mann noch einmal als Herrn anerkennen? Die Holländer Ostindiens kamen wie Skelette und Gespenster aus japanischen Gefängnissen und vom Bau der japanischen Todeseisenbahn durch den Dschungel zurück. Ihre kranken, ausgehungerten Frauen und Kinder tauchten nach Jahren aus japanischen Konzentrationslagern auf Java wieder auf, und sofort wurden sie von den Einheimischen angefallen, die sie fürsorglich und anständig zu regieren versucht hatten. Beide, Indonesier wie Holländer, brauchten Zeit, um vom Krieg zu genesen und einen gerechten Plan für ihr Leben zu finden. Aber es gab keine Zeit. Was auch geschrieben wurde, nichts sollte diese Qual verkürzen oder auch nur ein einziges Opfer, weiß oder braun, retten.

Sehr guter und wirksamer Journalismus ist wie Erziehung. Offenbar wollten die Menschen nicht lernen, weder aus eigenen Erfahrungen noch von anderen. Wenn sie durch die Hölle des Zweiten Weltkrieges nicht klüger wurden, wodurch dann? Die Nachkriegswelt ist sicherlich ein Hohn auf die Hoffnung und eine Beleidigung all derer, die starben, damit wir überleben konnten.

Da die Zivilisation zielstrebig auf ihren Selbstmord hinzuarbeiten schien, blieb einem als Privatperson als erbauliche Beschäftigung in der Wartezeit nur die Pflege des eigenen Gartens, um ihn so sauber, heiter und angenehm wie möglich zu machen. Ich ersann mir ein Leben, das mir gut erschien, weil es harmlos war, hinter hohen Gartenmauern.

Heute denke ich anders. Ich muß früher wohl immer Ergebnisse erwartet haben. Es gab ein erreichbares Ziel, Sieg genannt oder Niederlage. Man konnte auf den Sieg hoffen, über die Niederlage verzweifeln. In der jetzigen Phase meines Lebens halte ich das, glaube ich, für Unsinn.

Bis zur Erfindung der Atombombe, der H-Bombe, der Kobaltbombe oder irgendeiner nächsten konnten wir die menschliche Geschichte mit einigem Recht als eine riesige endlose Achterbahn betrachten, auf der es immer hinauf und hinunter ging. Die unaufhörlich strömenden Fahrgäste auf Zeit wechselten die Kleider, trugen neue Gepäckstücke, unterhielten sich in unterschiedlichen Idiomen, doch sie blieben stets Männer, Frauen und Kinder, unverändert in ihrem Menschsein. Als einzigartiges Eigentum besaß jeder, soweit ich sehen konnte, in dieser Achterbahn sein eigenes Verhalten auf der mysteriösen Fahrt. Für sein eigenes Verhalten ist jeder verantwortlich, aber kein Verhalten ist endgültig. Menschliches Schicksal wird damit geformt – durch jedes Verhalten, immer –, aber es werden keine letzten Entscheidungen getroffen. Sieg und Niederlage sind beide vorübergehende Momente. Es gibt keine Ziele, es gibt nur Mittel.

Der Journalismus ist ein Mittel, und heute denke ich, daß es an sich schon wertvoll ist, die Tatsachen aufzudecken. Seriöser, sorgfältiger, ehrlicher Journalismus ist unverzichtbar, nicht weil er etwa ein Leitfeuer wäre, sondern weil er eine Form anständigen Verhaltens ist, die den Reporter und den Leser einbezieht. Ich bin keine Journalistin mehr; wie für alle anderen Privatleute ist das einzige, was ich zu meistern habe, mein eigenes Leben.

Allem offiziellen Gefasel über saubere Bomben und taktische Atomwaffen zum Trotz weiß jeder, der Zeitung lesen oder Radio hören kann, daß einige unter uns Sterblichen die Macht haben, die Menschheit und die Erde als Heimat der Menschen zu zerstören. Wir brauchen nicht einmal Krieg zu führen; nur durch Vorbereitungen, durch das Herumspielen mit unseren neuen Waffen, vergiften wir die Luft, das Wasser, den Boden unseres Planeten, schädigen die Gesundheit der Lebenden und verschlechtern die Chancen der Ungeborenen. Wie kann irgend jemand irgendwo über den unumkehrbaren Irrsinn von Atombombentests hinwegsehen oder über die sichere Aussicht auf Vernichtung, wenn wir sie im Kriegsfall einsetzen?

Die Führer der Welt scheinen auf merkwürdige Weise in Privatfehden verstrickt zu sein. Sie sausen in Flugzeugen um den Erdball und walten ihres olympischen Amtes; sie treffen sich untereinander, immer untereinander; oder sie beraten sich in den verschiedenen Regierungspalästen; und sie reden und reden, unablässig, als Selbstreklame. Ihr Gerede hört sich an, als ob sie glaubten, ein Atomkrieg könnte gewonnen oder verloren werden – und wäre wahrscheinlich; jeden Augenblick, ohne Vorwarnung, kann er über uns hereinbrechen. (Ruhe bewahren. Wir werden den Feind mit unseren anti-offensiv-defensiven, röntgenstrahlgelenkten Tripelinterkontinentalüberschallsuperraketen schlagen. Keine Angst. Wir werden den Gegner mit unseren besten, kleinsten, tödlichsten Fissions-Entfissions-Difissions-Profissions-Bomben verbrennen. In der Zwischenzeit, Genossen, Landsleute, Mitbürger, treue Untertanen, besteht Ihre Aufgabe in der zivilen Verteidigung. Graben Sie ein kleines bombensicheres Loch in Ihrem Garten, und warten Sie auf die Apokalypse.)

Die Führer der Welt scheinen mit dem Leben hier unten auf der Erde die Fühlung verloren, die Menschen vergessen zu haben, die sie führen. Oder vielleicht haben die – so zahlreichen und so stummen – Geführten für sie aufgehört, tatsächlich vorhanden zu sein, und sind keine lebendigen Menschen mehr, sondern einkalkulierte Verluste. Denn wir werden geführt und müssen folgen, ob wir wollen oder nicht; wohin sollten wir übertreten? Aber wir müssen nicht schweigend folgen; wir haben immer noch das Recht und die Pflicht, uns als Privatleute um unser eigenes Leben zu kümmern. Als eine von den Millionen Geführten werde ich mich auf dieser hirnverbrannten Straße ins Nichts kein Stück mehr weitertreiben lassen, ohne meine Stimme zum Protest zu erheben. Mein NEIN wird so wirksam sein wie ein Grillenzirpen. Mein NEIN ist dieses Buch.

Es ist schwer, nicht bombastisch zu klingen, nicht zu dröhnen oder zu kreischen. Und sehr schwer (ganz gewiß für mich), hübsch ordentlich erstens-zweitens-drittens einen logischen Absatz an den anderen zu hängen. Überall, wo ich hinschaue, sehe ich Geheimnisse und Komplikationen, und überhaupt habe ich noch nie einen allzeit logisch denkenden Menschen kennengelernt. Trotzdem gelingt es manchmal mit ungeheurer Anstrengung zu sagen, was man meint.

Niemand muß mich auf meine Widersprüche hinweisen, ich kenne sie und spüre sie. Ich dachte, daß es 1939 mindestens drei Jahre zu spät war, um mit dem Kampf gegen Hitler und seine ganzen Kohorten und alles, was sie taten und wofür sie standen, anzufangen. Durch unseren Sieg blieben wir vorläufig von unerträglichem Übel verschont; gelöst wurde dadurch nichts. Krieg ist – wenn er überhaupt einen Zweck hat – eine Operation, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Krebsgeschwulst entfernt. Der Krebs tritt in unterschiedlicher Gestalt an verschiedenen Teilen der Menschheit wieder auf; wir haben keine vorbeugende Arznei für den Körper der Völker entdeckt. Wir fallen immer wieder auf die beinahe tödliche Chirurgie zurück. Aber die Menschheit hat die Operation stets überstanden und weitergelebt.

Ich hoffe nicht auf eine Welt in Frieden – ich meine die ganze Welt und auf Dauer. Ich glaube nicht daran, daß die Menschheit die Fähigkeit besitzt, vollkommen zu werden – was ja wohl die Vorbedingung für den Weltfrieden wäre; ich glaube nur an die Menschheit. Ich glaube, daß die Menschheit weiterbestehen muß. Unsere Führer sind für ihre Aufgaben weder klug noch tapfer oder edel genug. Wir, die Geführten, sind größtenteils entweder Schafe oder Tiger; wir alle sind der Dummheit schuldig, der beherrschenden menschlichen Sünde. Aus diesem Grund können wir mit Kriegen rechnen, wir haben nie ohne sie existiert. Diese Tatsache verabscheue und akzeptiere ich.

Aber der Atomkrieg ist anders als alle Kriege, die die Menschheit jemals bedroht haben, er kann nicht in den altbekannten Begriffen gedacht werden. Der Atomkrieg erreicht eine in der Geschichte bisher unbekannte Dimension. Diese Dimension ist eine maßlose, wahnwitzige Überhebung.

Wir erinnern uns kaum noch, wer die Rosenkriege führte oder warum, und doch zogen sich diese Kriege über dreißig Jahre hin, und sie müssen für die Kämpfenden wie für die Zivilisten eine tiefe schwarze Nacht gewesen sein. Und trotzdem gibt es uns noch: Die natürliche Welt blieb gesund, lebenspendend und schön; das Volk existierte weiter, in seinen Knochen, seinem Blut, seinem Sinn unverdorben. Von den frühesten Kriegen der Menschen bis zu unserem letzten herzzerreißenden weltweiten Waffengang haben wir nicht mehr erreicht, als uns umzubringen. Jetzt sind wir imstande, die Zukunft umzubringen. Und wir sind so überheblich, daß wir es wagen, uns dafür zu rüsten, irrsinnige Pygmäen, die die ganze Existenz der Natur gefährden. Fünfhundert Jahre nach uns werden unsere Ost-West-Streitigkeiten so bedeutungslos erscheinen wie die Rosenkriege heute. Wer sind wir, daß wir uns vermessen, allem ein Ende zu setzen?

An dieser Stelle höre ich laute und verärgerte Stimmen, so leidenschaftlich wie meine, die sagen: Überleben ist nicht alles. Wenn die Menschen nicht gegen Tyrannen und Sklaverei kämpfen, ist das Leben wertlos und mag die Zivilisation untergehen. Et cetera. Trotz aller Bemühungen kann ich dieses Argument nicht verstehen. Ich sehe nicht, wie der menschliche Geist, beheimatet im menschlichen Körper, imstande sein soll, die Freiheit hochzuhalten, die Rechte anderer zu ehren und seine höchste Gabe, die Liebe, zu üben, wenn die Erde von Giften aus Menschenhand unfruchtbar gemacht wird, die Luft verunreinigt ist und die Menschen krank sind und sterben. Ich sehe nicht, welche menschlichen Werte verteidigt werden können, wenn das ganze menschliche Dasein ausgelöscht ist, mit all seinen guten und bösen Seiten gleichermaßen.

Wenn wir Krieg führen oder zulassen, verdienen wir ihn; aber wir müssen unsere Waffen und unsere Schauplätze begrenzen und unser Verbrechen unter Kontrolle halten. Wir müssen künftig den Wahnsinn, der in der menschlichen Natur liegt, mit kleinen nichtnuklearen Kriegen eines Typs befriedigen, an den wir uns mehr und mehr gewöhnen. Es ist unsere uralte Tradition, uns gegenseitig zu ermorden; aber nur wir, die in der Gegenwart leben, sollten den Preis für unsere abscheuliche Dummheit bezahlen müssen. Nichts von dem, was uns in unserem kurzen geschichtlichen Augenblick bewegt, gibt uns das Recht, die Zeit anzuhalten, die Zukunft auszulöschen, den fortwährenden Wundern und Herrlichkeiten und Tragödien und Erbärmlichkeiten der Menschheit ein Ende zu setzen.

Dieses Buch ist eine Auswahl aus meiner Berichterstattung über Kriege, die im Verlauf von acht Jahren in acht Ländern stattfanden. Die Menschen in diesen Artikeln sind normale Leute, alle; was ihnen widerfuhr, widerfuhr auch ungezählten anderen. Die Ausschnitte sind klein, aber es sind viele, und mir scheint, daß sie letztlich zu einem einzigen dichtgedrängten, erschreckenden Bild verschmelzen.

Der Krieg erzählt nur eine Geschichte, die Handlung basiert auf Hunger, Obdachlosigkeit, Furcht, Schmerz und Tod. Hungernde, verwundete Kinder von 1938 in Barcelona waren denen von 1944 in Nimwegen gleich. Flüchtlinge, die sich und was sie tragen konnten von den Kriegshandlungen weg ins Ungewisse schleppten, waren auf dem ganzen Erdball ein einziges Volk. Das formlose Bündel eines toten amerikanischen Soldaten im Schnee Luxemburgs glich dem jeder anderen Soldatenleiche in jedem anderen Land. Krieg ist eine schreckliche Wiederholung.

Ich schrieb sehr schnell, das war notwendig, und ich befürchtete immer, die genauen Geräusche, Gerüche, Worte und Gesten zu vergessen, die nur diesem Augenblick und diesem Ort eigen waren. Ich hoffe, ich habe im Laufe der Jahre ein bißchen besser schreiben gelernt. Diese Artikel zeichnet aus, daß sie wahr sind; sie geben wieder, was ich gesehen habe. Vielleicht werden sie andere, wie mich auch, an das Gesicht des Krieges erinnern. Wir können kaum zu sehr oder zu oft daran erinnert werden. Ich glaube, daß Erinnerung und Vorstellungsvermögen, nicht Atomwaffen, die großen Abschreckungsmittel sind.

Einleitung

zur Ausgabe von 1986

Die erste Reportage in diesem Buch wurde vor neunundvierzig Jahren geschrieben. Nachdem ich mein Leben lang Kriege beobachtet habe, halte ich sie für eine endemische menschliche Krankheit und Regierungen für die Überträger. Nur Regierungen planen, erklären und führen Kriege. Man hat noch nie etwas von Bürgerhorden gehört, die von sich aus den Sitz der Regierung gestürmt und wütend Krieg gefordert hätten. Sie müssen mit Haß und Furcht infiziert werden, bevor bei ihnen das Kriegsfieber ausbricht. Man muß ihnen beigebracht haben, daß sie von einem Feind bedroht und die Lebensinteressen ihres Staates gefährdet wären. Die Lebensinteressen des Staates, bei denen es sich stets um Macht dreht, haben nichts zu tun mit den Lebensinteressen der Bürger, die privat und einfach sind und bei denen es immer um ein besseres Leben für sie und ihre Kinder geht. Für solche Interessen tötet man nicht, man arbeitet für sie.

Ich mißtraue Regierungen – mit wenigen löblichen Ausnahmen – und ihrer Auffassung von Lebensinteressen. Wenn sie sich um ihre eigentlichen Aufgaben kümmerten, würden Regierungen konzentriert dafür sorgen, daß in ihren Ländern alles zum Besten bestellt wäre, zum Wohl einer größtmöglichen Zahl von Bürgern; sie würden nicht Unmengen des Volksvermögens für die Rüstung vergeuden und bei den Bedürfnissen des Volkes knausern. Ob arm oder reich oder dazwischen – alle Regierungen haben Geld für Krieg, und Jahr für Jahr geben alle Regierungen enorme Summen aus, immer mehr, um das Kriegsgerät aufzustocken. Sie alle, demokratische wie despotische Regierungen, die sie von den Erträgen ihrer Bevölkerungen zehren, zweigen für Dienstleistungen an der Bevölkerung nur widerwillig Geld ab. Wir leben in einer überrüsteten, unterernährten Welt.

Um einen Krieg anzuzetteln, braucht es einen Aggressor, eine so ehrgeizige, so habgierige Regierung, daß die Lebensinteressen ihres Staates Eroberungen im Ausland verlangen. Aber eine Aggressorregierung verkauft ihrer Bevölkerung das Kriegsvorhaben als Verteidigungsmaßnahme: Sie sei bedroht, eingekreist, herumgestoßen; Feinde stünden bereit, sie anzugreifen. Es ist traurig einfach, den Leuten alle möglichen Lügen unterzujubeln; sie sind beklagenswert leichtgläubig und sofort für Fahnenschwingen und fehlgeleiteten Patriotismus zu haben. Und wenn ein Krieg einmal vom Zaun gebrochen ist, hat die Regierung die totale Kontrolle: Die Bevölkerung muß den Befehlen gehorchen, selbst wenn ihr anfänglich aufgeputschter Enthusiasmus verraucht ist. Zudem sieht sie, daß der Krieg zwar unnötig ist, es aber doch besser wäre, ihn nicht zu verlieren.

Der Nation oder den Nationen, die angegriffen werden, bleibt nichts anderes übrig, als den Aggressor zu bekämpfen. Aber hätten fähige Regierungen die Gefahr nicht erkannt und frühzeitig vorbeugende Schritte unternommen, um den Aggressor am Abschluß seiner Kriegsvorbereitungen zu hindern? Es ist wahrscheinlich, daß Hitler 1936, als er unter Verletzung des Locarno-Paktes das Rheinland besetzte, hätte aufgehalten werden können. Hätte der Falkland-Krieg nicht durch kluge Voraussicht verhindert werden können? Gewiß. Regierungen verstehen sich besser darauf, Kriege zu führen, als sie zu verhindern. Letztlich ist es doch so: Krieg ist für Regierungen, für die Leute an der Spitze, die Verantwortlichen, gar nicht so schrecklich. Ihre Macht nimmt zu, und Regierungen leben von der Macht; sie spüren die Erregung, die gesteigerte Bedeutung und nichts von den Härten. Ihnen befiehlt niemand, zu kämpfen oder in Fabriken zu arbeiten; wunderbarerweise werden sie nicht verwundet oder getötet wie normale Leute; sie sind zu wichtig, um von Notrationen zu leben. Bis zum Zweiten Weltkrieg, dessen einzigartige Ungeheuerlichkeit die Regeln änderte, bezahlten Regierungen, wenn sie einen Krieg verloren, lediglich damit, daß sie ihren Posten einbüßten. Der deutsche Kaiser zog sich einfach in einen kleinen Palast auf dem Lande zurück.

Und doch starben im Ersten Weltkrieg zehn Millionen Menschen wegen der Lebensinteressen der kaiserlichen Regierung, an die sich heute kein Mensch mehr erinnern kann. Bei der Fortentwicklung vom Stellungskrieg zum totalen Krieg und Völkermord starben im Zweiten Weltkrieg fünfunddreißig Millionen Menschen wegen der wahnhaften Lebensinteressen des Hitlerstaates und der Lebensinteressen der Regierung des Kaisers von Japan, der unversehrt überlebte. Seit 1945 sind jedes Jahr Menschen in großen und kleinen Kriegen umgekommen, wegen der Lebensinteressen irgendeines Staates.

Vielleicht denkt man jetzt im Kreml, wenn auch wahrscheinlich nicht das uninformierte russische Volk, noch einmal sorgenvoll über die Lebensinteressen des Staates nach, die durch den Einmarsch in Afghanistan geschützt wurden. Ich habe nie begriffen, welche Lebensinteressen des Staates die US-Regierung dazu zwangen, Amerika in Vietnam in seinen längsten, und nicht erklärten, Krieg zu stürzen, und ganz offensichtlich ging es gar nicht um Lebensinteressen, denn die Niederlage ließ Amerika unversehrt, und die Wirtschaft lief weiter wie gehabt. Allerdings führte die US-Regierung auf sehr wirkungsvolle Weise und bezahlt mit dem Blut und Vermögen ihrer Bürger eines vor: Kleine asiatische Nationen tun besser daran, sich gegenüber dem, was die US-Regierung für ihre Lebensinteressen erachtet, entgegenkommend zu verhalten. Und vielleicht ist es das, was der Kreml seiner Meinung nach gerade in Afghanistan vollbringt: kundzutun, daß man sich an den Grenzen der Sowjetunion anständig benimmt oder …

Denjenigen unter uns mit einer rein menschlichen, nicht geopolitischen Sicht der Welt erscheinen die Lebensinteressen des Sowjetstaates in Afghanistan, die Lebensinteressen des amerikanischen Staates in Vietnam wie Wahnsinn und wie ein grausames Unglück für andere Menschen, Russen, Afghanen, Vietnamesen, Amerikaner. Es wäre wunderbar, wenn einfache Leute lernten, vorsichtig und mißtrauisch gegenüber dem von Regierungen übertragenen Virus zu sein: den Lebensinteressen des Staates.

Wunderbar, aber unwahrscheinlich. Unsere erstaunliche Spezies bekommt von Kindesbeinen an den Patriotismus nach dem Motto »Right or wrong, my country« eingeimpft. Ich frage mich, wie sich das auf Urdu oder Chinesisch anhören mag. Obwohl sie so zwingend klingt, ist diese Parole blanker Unsinn. Mein Land ist eine Tatsache, nicht richtig oder falsch, ein Territorium, Sprache, Gebräuche, Kultur. Wenn man damit Bürger zum Krieg aufhetzen will, sollte der Satz richtig lauten: »Right or wrong, my government.« Das wäre eine heilsame Veränderung, die die Bürger dazu bringen würde, Fragen zu stellen und zu entscheiden, ob ihre Regierung im Recht oder tödlich im Unrecht ist. Mir hat schon immer Tolstois brummige Bemerkung gefallen: »Regierungen sind eine Ansammlung von Leuten, die uns übrigen Gewalt antun«, aber heute glaube ich, der alte Russe war ein Prophet. Seit es Atomwaffen gibt, ist die ganze Menschheit den Regierungen, die diese weltvernichtenden Waffen besitzen und kontrollieren, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Eine Gewalt von solch allentscheidendem Ausmaß hatten fehlbare Menschen, und daraus bestehen Regierungen, noch nie zuvor in Händen.

Natürlich erzählt man uns, Atomwaffen wären rein defensiv – sie wären Abschreckungsmittel. Dank ihnen, so teilen uns unsere Regierungen mit, hätten wir jetzt seit vierzig Jahren schon Frieden, was eindeutig nicht stimmt. Was sie meinen, ist der Umstand, daß wir keinen Krieg zwischen den Supermächten hatten. Es ist bereits eine Lüge, Atomwaffen zu Abschreckungsmitteln zu erklären. Da die Supermächte schon vor langem genug Atomwaffen hatten, um sich gegenseitig (und die ganze Erde) einmal zu zerstören, ist es doch wohl kaum nötig, weiterhin immer mehr von diesen Waffen herzustellen, damit sie alles vierzigmal zerstören können. Atomwaffen sind Big Business geworden, wahrscheinlich das größte Geschäft, das es gibt.

Zehntausende sind sehr einträglich in unserer Atomwaffenindustrie beschäftigt; in der kapitalistischen Welt werden kolossale Profite gemacht. Star Wars, der Krieg der Sterne, ist ein riesiges Spekulationsobjekt und ein riesiger Irrsinn. Ich vermute, daß in der Sowjetunion Tausende von Sowjetbürgern für ihre Arbeit auf diesem wichtigen Gebiet gut entlohnt werden. Die Ausgaben werden vom sowjetischen Volk getragen, das Entbehrungen leiden muß, weil nicht genug Geld für anderes da ist und Atomwaffen Vorrang haben. Die kleineren französischen und britischen Atomwaffenarsenale sind witzlos, Regierungsflausen, Beiträge, die man für die Mitgliedschaft im Atomwaffenklub zahlt, Beiträge, bezahlt von der französischen und der britischen Bevölkerung, die diese Steuergelder zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen benötigten.

Der reichste Staat der Welt, die USA, verpraßt Gelder für das Militär in atemberaubendem Ausmaß. Im Jahre 1986 wird das Pentagon eine Milliarde US-Dollar pro Tag, einundvierzig Millionen US-Dollar in der Stunde, siebenhunderttausend US-Dollar in der Minute ausgeben. Von 1983 bis 1989 sind vierhundertfünfzig Milliarden US-Dollar allein für Atomwaffen vorgesehen. Es ist unmöglich, sich Geld in solchen Mengen vorzustellen. Aber es ist erwähnenswert, daß es in Amerika Suppenküchen in den verarmten und rattenverseuchten Slums gibt, daß fünfunddreißig Millionen Amerikaner unter der Armutsgrenze leben und daß kein Beamter eine Verbindung herstellt zwischen epidemischer Drogensucht und Verbrechen unter den arbeitslosen, ausgestoßenen Jugendlichen und ihrem häuslichen Elend.

Es kostet eine Million Pfund am Tag, Großbritanniens Polaris-U-Boote einzusetzen, und wer weiß wie viele Millionen, um sie durch die hypermodernen Tridents zu ersetzen. Man stelle sich vor, was man mit dreihundertfünfundsechzig Millionen Pfund im Jahr für die Wohnsituation in den schlimmsten Innenstädten Großbritanniens tun könnte: für junge Leute Wohnungen und Freizeitzentren bauen, Bäume pflanzen und Grünflächen anlegen – eine Umwelt zum Gernhaben, nicht zum Niederbrennen. Es ist nie genug Geld für das Leben da, obwohl sich für Waffen, nukleare und konventionelle, und für unsere ungeheuren Militärapparate immer Geld locker machen läßt.

Aber unsere Regierungen wissen alles am besten; es ist das höchste Lebensinteresse des Staates, uns gegen einen Angriff der Sowjetunion zu verteidigen. Unsere Regierungen reden offen vom »Feind« – der andere Name für die Sowjetunion. Alle Manöver – selbst die neueren recht drolligen Manöver der Home Guard in Großbritannien, um das Land gegen sowjetische Fallschirmspringer zu verteidigen – werden gegen »den Feind« geplant und durchgeführt. Es wird als Tatsache angenommen, als so sicher wie der Sonnenaufgang im Osten, daß die Sowjetunion Westeuropa angreifen will; und all die Tausende von Atomwaffen, die in ganz Europa verstreut und über ganz Amerika verteilt sind, all die Kriegsspiele, Kriegspläne, Kriegsvorbereitungen gründen auf dieser Annahme. Wir müssen ständig gerüstet sein, bis zum Ruin, sonst kommen die Roten.

Keiner beantwortet jemals die Frage: Warum sollten sie? Aus welchem Grund, zu welchem Zweck sollte die Sowjetunion Westeuropa angreifen und den Dritten Weltkrieg beginnen wollen, mit oder ohne Atomwaffen? Was sollte sie von Westeuropa wollen? Was würde sie mit dem Versuch gewinnen, dreihundert Millionen ihr feindlich gesonnener Menschen niederzuhalten? Die jetzige amerikanische Regierung hat völlig vergessen – nicht so jedoch die Russen –, daß Rußland überfallen und fast bis Moskau verwüstet wurde und daß zwanzig Millionen Russen ihr Leben ließen. Der Große Vaterländische Krieg ist für das russische Volk keine alte Geschichte. Niemand, der je in Rußland war, hat Russen nicht mit Schrecken von einem neuen Krieg reden hören, voll leidenschaftlicher Friedenssehnsucht.

Ich gebe unseren Regierungen, die angeblich die aufgeklärtesten, erfahrensten und mächtigsten sind, die Schuld an der kranken und unheilvollen Lage, in die sie uns gebracht haben. Vor allem gebe ich die Schuld den Regierungen der Supermächte, Männern des Augenblicks, die sich aufführen, als ob die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion die bedeutsamste Episode in der langen Menschheitsgeschichte wäre. Wir können mit dem Irrsinn der Atomwaffen nicht leben. Er muß aufhören. Ein bißchen Entspannung dann und wann reicht nicht aus, sowenig wie ein Abkommen, diese Waffen zu begrenzen und jene zu verschrotten, während man gleichzeitig Tausende von neuen und verbesserten Modellen behält. Wir können und sollten mit einem Stop anfangen und uns dann im weiteren der ganzen schrecklichen Atomwaffenarsenale auf beiden Seiten völlig entledigen. Wir könnten ja einen Megatonnenmörder auf Moskau und einen auf Washington gerichtet lassen, um die Regierungen der Supermächte daran zu erinnern, daß sie sich wie verantwortungsbewußte Erwachsene verhalten und über ihre Differenzen verhandeln müssen.

Regierungen sind heute da und in ein paar Jahren wieder weg; selbst Diktatoren treten einmal ab. Die Streitigkeiten zwischen Nationen sind nicht von Dauer. Feinde werden zu Verbündeten und umgekehrt. Kein Krieg in der mit Kriegen übersättigten Vergangenheit unserer Spezies ist endgültig gewesen. Bis jetzt, wo wir wissen, daß ein Atomkrieg den Tod unseres Planeten bedeuten würde. Es übersteigt jedes Fassungsvermögen, daß irgendwelche Regierungen – diese kurzlebigen politischen Figuren – sich das Recht anmaßen, die Geschichte nach ihrem Gutdünken zum Stillstand zu bringen. Im Falle eines Entscheidungskrieges werden die Regierungen in den bestmöglichen Schutzbunkern untergebracht, die mit öffentlichen Geldern gebaut wurden. Glauben sie wirklich, sie könnten oder sollten einen Atomkrieg überleben? Rechnen sie damit, das Grauen in irgendeinem unterirdischen Bunker auszusitzen und dann wieder aufzutauchen, um sich erneut die Führung anzumaßen? Über wen denn? Der Gedanke an diese Schutzbunker läßt mir keine Ruhe. Ich kann mich nicht entscheiden, was schlimmer ist, die moralische Abgestumpftheit oder der hirnlose Mangel an Vorstellungskraft.

Unterdessen leben wir unter dem Damoklesschwert der Vernichtung und vergeuden unsere Reichtümer für Atomwaffen, weil sie Westeuropa angreifen würden, wenn sie sich nur trauten. Sie leben unter dem Damoklesschwert der Vernichtung und vergeuden ihre Reichtümer für Atomwaffen, weil wir die Sowjetunion angreifen würden, wenn wir uns nur trauten. Wir sagen, ihre Furcht vor uns sei Paranoia. Wie steht es mit unserer Furcht vor ihnen? Zwei Paranoias, die sich gegenüberstehen, die Gegenwart vergiften und das Leben aus dem Gleichgewicht bringen, denn zum allererstenmal kann die Menschheit nicht sicher sein, daß sie weiterbestehen wird. Eine unerträgliche Art, die Geschicke der Welt zu lenken. Unerträglich für jeden von uns, für alle Menschen, die hier leben.

Der Krieg in Spanien

Im Sommer 1936 recherchierte ich in der Stuttgarter Weltkriegsbibliothek für einen Roman. In den Nazi-Zeitungen fing man an, von Kämpfen in Spanien zu schreiben. Von Krieg war nicht die Rede; ich erhielt den Eindruck, daß ein blutrünstiger Mob die Kräfte von Sitte und Ordnung angriff. Dieser spanische Mob, bei dem es sich um die ordentlich gewählte Republik Spanien handelte, wurde stets als »die roten Schweinehunde« bezeichnet. Die Nazi-Zeitungen hatten einen großen Vorteil: Egal, wogegen sie waren– man konnte dafür sein.

Kurz nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag war ich nach Frankreich gegangen, um zu arbeiten, und hatte mich dort einer Gruppe junger französischer Pazifisten angeschlossen. Gemeinsam war uns unsere Armut und unsere Leidenschaft. Unser Ziel im Leben bestand darin, die bösen Alten, die uns offensichtlich in einen neuen Krieg führten, wegzujagen. Wir glaubten, ohne französisch-deutsche Annäherung könne es keinen Frieden in Europa geben. Wir sahen die Sache ganz richtig, doch da kamen die Nazis.

1934 lernten wir die jungen Nazis in Berlin kennen. An der Grenze war deutsche Polizei durch den Zug gekommen, hatte sich in unserem Dritte-Klasse-Wagen umgetan und unsere Zeitungen konfisziert. Obwohl wir niemanden vertraten außer uns selbst, lasen wir alle unterschiedliche Richtungen, von monarchistisch über sozialistisch bis zu liberal-reformerisch (ich), und waren uns in keinem Punkt einig. Dieses eine Mal fanden wir uns in der einmütigen Auffassung, daß diese Zeitungsbeschlagnahme empörend war. Als wir aus dem Zug stiegen, wie üblich ein wirr durcheinander redender Haufen in schäbiger Kluft, wurden wir von den jungen Nazis in sauberer, blonder, khakigekleideter Formation begrüßt. Es stellte sich heraus, daß die ganze Truppe ein einziges Papageiengehirn hatte, und wir hielten nicht viel von ihnen. Wir bemühten uns sehr, sie zu entschuldigen, und versuchten zu glauben, daß sie Sozialisten wären, wie sie uns immerzu versicherten, nicht Nationalsozialisten. Mitleid für die besiegten Deutschen war nach beiden Weltkriegen bei vielen Menschen als Geisteshaltung vorhanden; auch ich empfand damals so. Zudem war ich Pazifistin, und es vertrug sich nicht mit meinen Prinzipien, die Augen zu gebrauchen. 1936 schließlich half mir keinerlei Festhalten an Prinzipien mehr, ich sah, wie diese herumpöbelnden Nazi-Flegel wirklich waren und was sie im Schilde führten.

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