Reisen mit mir und einem Anderen - Martha Gellhorn - E-Book

Reisen mit mir und einem Anderen E-Book

Martha Gellhorn

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Beschreibung

"Zum Reisen braucht man Durchhaltevermögen, und mit jedem Tag wird's schlimmer. Erinnern Sie sich an die alten Tage, als Hotels gebaut wurden und fertig waren, ehe man hinkam? Erinnern Sie sich, daß Sie vertrauensvoll daran glaubten, alles würde gutgehen und nicht etwa, es wäre ein Wunder, wenn nicht alles schiefliefe?" Martha Gellhorn war ihr Leben lang süchtig nach dem Reisen. In Reisen mit mir und einem Anderen erzählt sie von ihren "Fünf Höllenfahrten", den Reisen, die - oftmals geplant als Entdeckungstouren entlang der eigenen Neugier - sich bald als schaurige Schreckensreisen erweisen. Kaum hat sie einen Unwilligen Begleiter überredet, mit ihr nach China zu reisen, wo UB* keineswegs hinwill, entpuppt sich diese Fahrt gar als die Superschreckensreise. Doch was soll's, Marthas Credo lautet: "Egal, wie grauenhaft die letzte Reise auch war, wir geben niemals die Hoffnung auf, daß es bei der nächsten klappt!" * Abkürzung für Unwilliger Begleiter. Hinter diesem Kürzel versteckt Martha Gellhorn ihren damaligen Ehemann Ernest Hemingway.

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Martha Gellhorn

Reisen mit mir und einem Anderen

Fünf Höllenfahrten

Aus dem Englischen von Herwart Rosemann Mit einem Nachwort von Sigrid Löffler

Martha Gellhorn

Reisen mit mir und einem Anderen

Fünf Höllenfahrten

Aus dem Englischen von Herwart Rosemann Mit einem Nachwort von Sigrid Löffler

DÖRLEMANN

Die Originalausgabe »Travels with Myself and Another« erschien 1978 bei Eland Books, London. Eine Zeittafel zu Martha Gellhorns Leben und Werk findet sich auf www.marthagellhorn.de.Für Diana Cooper in beständiger Liebe Überarbeitete Übersetzung Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © 1978 by The Estate of Martha Gellhorn © 2011 by Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf Umschlagfotografie: Martha Gellhorn mit Gewehr, Idaho, 1940. © Robert Capa, © International Center of Photography/Magnum Photos. Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN: 978-3-908778-06-6www.doerlemann.com

Martha Gellhorn

Der gute Reisende weiß nicht, wo er hingeht.

Der große Reisende weiß nicht, wo er gewesen ist.

Chuang Tzu      

Spring, bevor du schaust.

Alte slawische Volksweisheit      

Oh, S., die Sehenswürdigkeiten sind schlimmer als die Reisen.

Sybille Bedford,

Einleitung

Wir können nicht alle ein Marco Polo oder eine Freya Stark sein, aber dennoch sind Millionen von uns Reisende. Die großen Reisenden von einst und jetzt gehören zu einer eigenen, unerreichbaren Klasse, sind Reisende aus Profession. Wir sind Amateure, und wenn wir auch mal stolze Zeiten erleben, wir werden müde, unsere Lebensgeister schwinden, Groll steigt in uns auf. Wer hat nicht im Verlauf einer Reise schon Sätze gehört, empfunden, gedacht oder ausgesprochen wie: »Haben sie schon wieder das Gepäck verloren, um Gottes willen?« – »Sie meinen, wir sind bis hierher gekommen, um das zu sehen?« – »Warum müssen die denn so verdammt viel Lärm machen?« – »Dies soll ein Zimmer mit Ausblick sein?« – »Ich schlage ihm lieber die Zähne ein, als ihm ein Trinkgeld zu geben.«

Aber wir bleiben standhaft und tun unser Bestes, die Welt kennenzulernen, und wir kommen herum. Wir fahren überallhin. Bei unserer Rückkehr hört sich niemand bereitwillig unsere Reisegeschichten an. »Wie war die Reise?« sagen sie. »Wunderbar«, sagen wir. »In Tbilissi sah ich …« Schon werden Augen glasig. Sobald es die Höflichkeit erlaubt oder gar noch früher, dreht sich die Unterhaltung wieder um das Neuste am Platz, um Tratsch, um den letzten politischen Exzeß, wer was gelesen hat, die Glotze von gestern abend. Die Leute reden lieber vom Wetter, als sich unsere glühenden Berichte über Kopenhagen, den Grand Canyon, Katmandu anzuhören.

Der einzige Aspekt unserer Reisen, der garantiert Zuhörer findet, ist das Unglück. »An der großen Pyramide hat dich das Kamel abgeworfen, und du hast dir ein Bein gebrochen? Du hast den Taschendieb durch die Galerie und ganz Neapel gejagt, und alle deine Reiseschecks und dein Reisepaß waren weg? Eingeschlossen und vergessen in einer Sauna in Viipuri? Ptomainvergiftung, weil du Augen vom Schaf auf einem Drusen-Fest gegessen hast?« Das hört man gern. Alle können es kaum erwarten, daß wir mit Erzählen aufhören, damit sie ihre eigenen Leidensgeschichten aus fremden Ländern auftischen können. Wir hegen und pflegen unsere Unglücksfälle, das ist klar, und hier haben wir nun eines den großen Reisenden voraus: Sie, die alle erdenklichen, eindrucksvollen Qualifikationen für den Job haben, leiden an Späßen echten Mangel.

Ich lese kaum Reisebücher, ich reise lieber. Und so ist dieses auch kein richtiges Reisebuch. Damit Sie wissen, daß ich weiß, wovon ich rede, stelle ich mich erst einmal mit meinem »Reisezeugnis« vor. Danach wird das Buch zum Bericht über meine besten Schreckensreisen, aus einer umfangreichen Sammlung ausgewählt und mit Hingabe erinnert, jetzt, da sie vorüber sind. Alle Amateurreisenden haben solche Schreckensreisen erlebt, lange oder kurze, früher oder später, in dieser oder jener Weise. Als Forscher in Sachen Unglück stelle ich fest, daß wir auf unsere Pein alle gleich reagieren: abgekämpft und verbittert für den Augenblick, stolz danach. Nichts ist besser für die Selbstachtung als das Überleben.

Zum Reisen braucht man inzwischen ziemliches Durchhaltevermögen, und mit jedem Tag wird’s schlimmer. Erinnern Sie sich an die alten Tage, als es noch Gepäckträger gab und keine Luftpiraten? Erinnern Sie sich daran, daß Hotels gebaut und fertig waren, ehe man hinkam? Erinnern Sie sich, daß die Gewerkschaften nicht gerade an Ihrem Ankunfts- oder Abreiseort streikten? Erinnern Sie sich, daß wir großzügige Portionen Butter und Marmelade zum Frühstück bekamen und nicht nur diese kleinen Cellophan- und Pappbehälter? Erinnern Sie sich daran, daß das Wetter zuverlässig war? Erinnern Sie sich, daß man seine Reise nicht wie eine militärische Operation planen und im voraus buchen mußte, einschließlich Vorauszahlung? Erinnern Sie sich an ein sauberes Mittelmeer? Erinnern Sie sich, daß man ein Mensch, nicht ein Schaf war, eingesperrt in Flughäfen, Bahnhöfen, Skilifts, Kinos, Museen, Restaurants unter anderen Schafen? Erinnern Sie sich noch, daß man wußte, was das eigene Geld in anderen Währungen wert war? Erinnern Sie sich, daß Sie vertrauensvoll daran glaubten, alles würde gutgehen, und nicht etwa, es wäre ein Wunder, wenn nicht alles schiefliefe?

Wir sind keine Helden wie die großen Reisenden, aber wohl gerade deshalb sind wir Amateure ein ziemlich zäher Menschenschlag. Egal, wie grauenhaft die letzte Reise auch war, wir geben niemals die Hoffnung auf, daß es bei der nächsten klappt. Gott weiß, warum.

1

Mein Reisezeugnis

Die Idee zu diesem Buch packte mich, als ich auf einem kleinen, verkommenen Strand am Westzipfel Kretas saß, umgeben von einem leckgeschlagenen Schuh und einem verrosteten Nachttopf. Um mich herum: der Abfall unserer Spezies. Ich hatte das niederschmetternde Gefühl, daß ich mit dieser Art Zeitvertreib mein Leben verbrachte und meine Tage sehr wohl hier zu Ende gehen könnten. Tiefschwarze Nacht in der Seele des Reisenden, es kann einem überall jederzeit passieren.

Niemand erwähnte diese Abfallgrube, niemand empfahl sie mir. Ich fand sie ganz ohne Hilfe, als ich auf dem billigen Nachtflug nach Heraklion eine Landkarte studierte. Sehr selbstzufrieden zudem, weil ich so praktisch geworden war. Denn ehe ich ins Unbekannte sprang, telefonierte ich, man höre und staune, mit dem griechischen Reisebüro in London, erhielt eine Karte von Kreta, eine Hotelliste und den üblichen Reise-Schmonzes in der üblichen rosaroten Prosa. Lesestoff fürs Flugzeug.

Weit weg und einsam in einer Bucht lag ein Ort namens Kastelli mit einem Zwei-Sterne-Hotel. Genau das richtige. Abseits von ausgelatschten Pfaden war das Hotel sicher eine hübsche, kleine Taverne, sauber und ohne fließendes Wasser, mit einer Trauben-Pergola. Ich stellte mir Kastelli als ein unverdorbenes Fischerdorf mit Häusern wie Würfelzucker vor, zusammengedrängt an einem goldenen Strand. Den ganzen Tag lang wollte ich in herrlichem Wasser schwimmen, das war Zweck der Reise. Abends tränke ich Ouzo in der Trauben-Pergola und sähe den Fischern zu, die herumschlurften wie Zorba bei Mondschein.

Von Heraklion nach Kastelli zu kommen, mit drei Bussen, dauerte so lange wie von London nach New York mit dem Jumbo-Jet. In allen Bussen dudelte arabisch klingende Musik. Kastelli besaß zwei Straßen mit gedrungenen Betonhäusern und Geschäften. Die Ägäis war nicht in Sicht. Das Zwei-Sterne-Hotel war ein dreistöckiger Betonklotz, mein Zimmer eine Art Abstellraum mit der vollen Ausstattung an toten Fliegen, zerquetschten Mücken an den Wänden und haarigen Staubballen, die über den Boden wehten. Die Bevölkerung von Kastelli schien, nicht ganz überraschend, in sprachlosem Brüten versunken zu sein, genauso wie der Besitzer des Zwei-Sterne-Hotels, in welchem ich, wiederum nicht überraschend, der einzige Gast war. Auf eine Seite des Postamts, meinem Zimmer gegenüber, hatte ein politisch Begeisterter einen großen schwarzen Slogan gemalt. Amerikanoi hieß das erste Wort, und ich brauchte wahrlich kein Griechisch, um zu wissen, daß es Yankee go home hieß. Ich konnte es natürlich kaum erwarten, dem nachzukommen, bereitwilligst – worauf Sie sich verlassen können. Aber es gab dazu bis zum Nachmittagsbus des nächsten Tages keine Möglichkeit.

Ich hatte beachtliche Anstrengungen unternommen, diese Todesfalle zu erreichen, um zu schwimmen. Und ich würde schwimmen! Am Morgen brachte mich ein zwanzigminütiger Gang, vorbei an einer stillgelegten Fabrik und einigen versteckt liegenden, unbewohnten Villen, zu einem Strandcafé, in dem unaussprechliches Essen und ein Klo zum Umziehen, halb gefüllt mit schimmeligen Kartoffeln, angeboten wurden. Und nun aber zum Strand, der kleinen Abfallgrube, von der See vollgekippt mit Unrat, ganz abgesehen von den zerdrückten Zigarettenpackungen, Konservendosen, schmutzigen Zeitungen und Flaschen, die Badende vor mir zurückgelassen hatten. Wie dem auch sei, niemand war da, und das Wasser sah gut aus, transparent und ruhig über Sand, aber zu flach zum Schwimmen. Hinter der kleinen Felszunge kabbelten sich die Wellen mit weißen Schaumspitzen, kein Hindernis für einen tüchtigen Schwimmer. Einmal draußen im tiefen Wasser, schnappte mich die Strömung und begann mich mit einiger Beschleunigung westwärts zu ziehen. Nächster Halt: Malta.

Man glaubt von uns, daß wir aus Erfahrungen lernen. Wahnsinnig nützlich, wenn man sich zu spät an Erfahrungen erinnert. Während ich wild strampelte, um an die Küste zu kommen, fiel mir die Rundumströmung von Mauritius ein, die mich einmal für kurze Zeit eingefangen hatte und in einem schnellen, grauslichen Trip rund um die Insel tragen wollte. Solche Strömungen können eine unangenehme Begleiterscheinung großer, isoliert liegender Inseln sein. Darüber informiert zu werden wäre schon hilfreich. Ein paar Minuten zuvor hatte ich mich selbst gewarnt, mich bei der Rückkehr nicht gegen die Felszunge schlagen zu lassen. Ein paar Minuten später tat ich mein Bestes, eben dort an Land geworfen zu werden. Wurde weggespült, krallte mich wieder an, bis ich mich ins stille, geschützte Wasser zurückziehen konnte. Und jetzt saß ich da auf dem Sand, leicht aus Schrammen blutend, ziemlich nach Luft schnappend und verzweifelt.

Où sont les plages d’antan? Ich erinnere mich an Strände, die, von Tang abgesehen, frei von Gerümpel waren, dazu sicher und oftmals so verlassen, daß ich der einzige nackte Bewohner war. Die Schlupfwinkel rund um die kleinen karibischen Inseln, das Wasser türkis und nilgrün; die Buchten in Kuba, umgeben vom Dschungel; Mexiko am Golf und Pazifik; Strände vor Schirmkiefern entlang der Var-Küste, die Mittelmeerküste Italiens bis nach Kalabrien hinunter, die Costa Brava und der großartige Strand von Zarauz; wunderschöne Strände im Staat Washington; Meilen weißen Sandes am Indischen Ozean in Kenia. Die Natur ist meine wahre Liebe, besonders dieser herrliche Treffpunkt von Meer und Land. Er war für immer verloren, geschändet und überrannt – ich selbst zu einem Häufchen verachtenswerten Elends geschrumpft, hier draußen vor Kastelli. Die Zukunft erschien rabenschwarz. An keinen Ort mehr hinfahren zu können, der des Hinfahrens wert war. Ich konnte genausogut mit dem Reisen aufhören.

Mit dem Reisen aufhören? Komm, komm, nun aber … Das zog die Verzweiflung nur widersinnig in die Länge. Ich war schon an weit schlimmeren Orten als Kastelli. Zudem machten sich Millionen anderer Reisender hoffnungsvoll auf den Weg, nur um symbolischerweise zwischen einem leckgeschlagenen Schuh und einem verrosteten Nachttopf zu landen. Ich war kein Wesen ohnegleichen, ausgesucht für besonderes Mißgeschick. Nebenbei war ich, was das Reisen angeht, in derselben Lage wie der Leopard, der zu seinen Flecken stehen muß. Ich war mein ganzes Leben lang eine Reisende, angefangen in der Kindheit mit den Straßenbahnen meiner Geburtsstadt, die mich nach Samarkand, Peking, Tahiti, Konstantinopel transportierten. Ortsnamen waren der stärkste Zauber, den ich kannte. Und sie sind’s noch. Und ich hatte seit meinem einundzwanzigsten Geburtstag wie verrückt darauf hingearbeitet, meinen Plan zu verwirklichen, überall gewesen zu sein und jedes und jeden gesehen zu haben und darüber zu schreiben.

Ein aufmunterndes Gespräch mit mir selbst war angezeigt. Wenn du schon nicht aus Erfahrungen lernen kannst, dann kannst du sie wenigstens nutzen. Was hast du mit deiner langen Erfahrung an Schreckensreisen, die dich in einem Dreckloch wie diesem hat enden lassen, angefangen? Stöhnen ist unangebracht. Fang an zu arbeiten! Arbeit ist das beste Mittel gegen Verzweiflung. Okay, in Ordnung, einverstanden. Aber zuerst laßt mich raus aus Kastelli.

Es ist ein Jammer, daß Erfahrung ohne Erinnerung nutzlos bleibt. Die ernsthaften Reiseschriftsteller sehen und verstehen nicht nur alles um sich herum, sie verfügen auch noch aus vergleichbaren Reisen über genaue Kenntnisse der Geschichte und Literatur, die sie damit in Bezug bringen können. Ich aber wußte nicht einmal mehr, wo ich gewesen war. Ich glaube, ich bin mit einem schwachen Gedächtnis geboren, so wie man mit einem schwachen Herzen oder schwachen Fußknöcheln geboren wird, ich vergesse Orte, Leute, Ereignisse und auch Bücher, sobald ich sie hinter mir habe. Die großartigsten Landschaften, die größten Reisefreuden – alles verschwommen. Was Daten betrifft – welches Jahr? welcher Monat? –, ist die Situation völlig hoffnungslos. Ich warte immer noch auf die versprochene Zeit, von der es heißt, sie käme mit fortgeschrittenem Alter, wenn man vergißt, was man zum Frühstück gegessen hat, aber die Vergangenheit leuchtend klar vor einem steht – wie ein ganz persönliches son et lumière. Ich aber weiß genau, was ich zum Frühstück gegessen habe. Ich kann, wenn ich’s versuche, die wichtigsten Geschehnisse des letzten Monats rekonstruieren, doch die Vergangenheit liegt verschleiert vor mir wie in Wolken, mit dem einen und anderen Lichtschimmer.

Die Tiefpunkte einiger Schreckensreisen waren unvergeßlich, aber mir fehlten Einzelheiten. Zum allererstenmal begann ich damit, alte Papiere zu durchstöbern – Archäologie im Wohnzimmer. Wer rastet, der rostet, deswegen sammelt eine rasende Reporterin nur wenig Papiere. Da waren Briefe an meine Mutter, die vernünftigerweise etwa zehn Prozent der ganzen Lawine aufgehoben hat, und neun Tagebücher – nur hingekritzelt, um mich daran zu erinnern, wo ich im jeweiligen Jahr war, seither nicht mehr angerührt – und ein paar konfuse Notizen sowie veröffentlichter und unveröffentlichter Kleinkram. In diesem Zeug zu stöbern machte mich unglücklich. Flüchtige Blicke auf die Vergangenheit, die doch traurig waren, weil die Zeiten vorbei und die Menschen nicht mehr da sind. Und anstatt dass meine Erinnerung aufgefrischt wurde, geriet sie noch mehr durcheinander. Eine andere Vorgehensweise musste her.

Bevor ich die besten der schlechtesten Reisen aussuche, sollte ich mich eigentlich erst der Länder erinnern, in denen ich gewesen war. Unter »gewesen war« verstehe ich, daß ich mich lange genug dort aufgehalten habe, um etwas vom Leben, von Sitten und Gebräuchen zu erfahren. Eben nicht wie in Indien (das damalige Indien), als ich in Karatschi landete, einen schnellen Blick auf die Kühe und die armen gequälten Kinder warf und wie ein geölter Blitz zum Flughafen zurücklief – nichts wie weg. Oder Französisch-Guyana, wo ich nur drei abstoßende Stunden verbrachte. Oder Venezuela oder die Philippinen, totale Amnesie. Die Arbeit ging langsam voran. Immer wieder fiel mir mitten in der Nacht ein Land ein. Schließlich war meine Aufstellung vollständig: dreiundfünfzig Länder, inklusive aller Staaten Nordamerikas außer Alaska.

Wenn ich versuchte, an Inseln zu denken, dann ließ mein Gedächtnis nach und versagte. Die Karibik ist ja wie besät mit Inseln. Es war leichter, die Namen der vier zu erinnern, auf denen ich nicht gewesen war: Barbuda, Barbados, Isla de Margarita, Jamaika. Und die griechischen Inseln von Korfu bis Rhodos mit ganz vielen kleinen dazwischen, und Capri und Ischia und Sizilien und Mallorca und Elba und Korsika und Gozo und Comino und Bermuda und Bali und Honolulu und Hawaii und Guam und Midway und Wake und Macao und Gran Canaria und São Miguel und wahrscheinlich noch andere.

Dies ist die Liste der Länder, einfach so, wie ich sie in Erinnerung habe: Frankreich, Großbritannien (vier Teile), Deutschland, Österreich, die Schweiz, Liechtenstein, Italien, Spanien, Andorra, Kanada, Mexiko, Kuba, Griechenland, Surinam, Haiti, die Dominikanische Republik, China, Hongkong, Burma, Malaysien, Niederländisch-Ostindien, Portugal, Finnland, Holland, Dänemark, Schweden, Polen, Rußland, Kamerun, Tschad, Sudan, Kenia, Uganda, Tansania, Ägypten (einschließlich des Gaza-Streifens unter ägyptischer, später dann israelischer Herrschaft), Israel, Libanon, Jordanien, Jugoslawien, Luxemburg, Mauritius, Tunesien, Marokko, Algerien, Thailand, Südvietnam, Türkei, San Marino, Irland, Tschechoslowakei, Costa Rica, Malta, die Vereinigten Staaten von Nordamerika rauf und runter, kreuz und quer.

Sobald ich einmal diese Gedächtnisübung gestartet hatte, stieg mir die Statistik zu Kopf. Ich rechnete mir aus, daß ich in vierundzwanzig dieser Länder mehrfach eingereist bin, von zwei Aufenthalten in Niederländisch-Ostindien bis zu ungezählten Reisen in Europa, der Karibik und Ostafrika. Als Basis fürs Umherziehen dienten sieben Länder, in denen ich lebte und elf Wohnsitze von einiger Dauer einrichtete. Als Wohnsitz bezeichne ich eine gemietete oder gekaufte Wohnung oder ein Haus, das man, falls geistesgestört, auch baut. Ich baute eineinhalb Häuser in zwei Ländern, und nach meiner Meinung ist Häuserbauen weit schlimmer als jede Schreckensreise. Der Witz ist, daß man bei Null anfängt, in der Vorstellung, man werde dort eine ganze Weile wohnen, vielleicht für den Rest seines Lebens. Dann aber nutzt man den Wohnsitz nur ein paar Jahre und gibt ihn auf, im allgemeinen mit seinem ganzen Inhalt.

Wohnsitze unterscheiden sich von möblierten Übergangswohnungen. Ich konnte mich an siebzehn erinnern, bevor ich das Erinnern aufgab. Einige der möblierten Übergangswohnungen gingen festen Wohnsitzen voraus, manche hatten mit Jobs zu tun, doch zumeist waren und bleiben sie Schlupflöcher zum Schreiben. Zu Hause, wo immer das ist, gibt es Störungen. Ich werde an fremdländischen Plätzen seßhaft, in möblierten Übergangswohnungen, wo ich niemanden kenne und dann eine symbiotische Beziehung zu einer Schreibmaschine eingehe. Das ist stationäres Reisen im Gegensatz zu beweglichem Reisen – und ich liebe es.

Gleichgültig, wie wenig zufriedenstellend die Arbeit oder wie trostlos das »möbl. App.« ist, ich habe die mit Sorgfalt ausgesuchte Landschaft, ob Meer oder Gebirge, und die Freude daran.

Wie seltsam doch, daß, wer früh sich krümmt, auch Häkchen bleibt. Wer hätte denn den bleibenden Eindruck vorhersehen können, den meine Straßenbahnreisen als Kind hinterlassen haben? Keine andere Art zu leben hätte mich so sehr und so lange fesseln können, und ich werde sicherlich so weitermachen und versuchen, noch mehr von der Welt zu sehen und zu erfahren, was in ihr geschieht, bis ich umfalle.

Obwohl ich soviel herumgekommen bin, habe ich nie daran gedacht, übers Reisen zu schreiben. Dann mal los.

2

Mr.Mas Tiger

Als das Jahr 1941 begann, hatte der japanisch-chinesische Krieg schon so lange gedauert und war so weit entfernt, daß er mehr als historische Tatsache denn als Krieg eingestuft wurde. Im Vergleich zu Großbritanniens Kampf ums Überleben erschien der Ferne Osten schal und unbedeutend. Aber zu der altbekannten Geschichte um China war etwas Neues hinzugekommen. Japan gehörte nun als dritter Partner der Achse an, der sogenannten »Neuen Ordnung«. Mein Boss, Chefredakteur von Collier’s und einer der nettesten Männer, die ich je kennengelernt habe, folgerte daraus, daß die Japaner, die ja schon in Indochina eingedrungen waren, nicht untätig herumsitzen und schon bald den Osten so zerstören würden, wie es ihre Partner mit dem Westen taten. Er war einverstanden, daß ich über die kämpfende chinesische Armee und die Verteidigungsvorbereitungen rund um das Südchinesische Meer berichtete.

Die Deutschen waren erschreckend erfolgreich, Europa ging verloren und wurde zum Schweigen gebracht. Aber gleich ungezählten Millionen anderer Menschen glaubte ich zu keiner Zeit, daß Großbritannien besiegt, Amerika neutral bleiben und Hitler-Deutschland das Leben auf diesem Planeten erobern und beherrschen und vergiften würde. Nach langen Jahren würde uns der Sieg zukommen, doch das bedeutete gleichzeitig das Ende der Welt. Das Ende der Welt? Ich fühlte mich zur Eile getrieben: Los, los, ehe es zu spät ist. Was ich damit meinte– ich hab’s vergessen. Ich war entschlossen, den Orient zu erleben, bevor ich starb oder die Welt unterging oder was immer als nächstes kommen sollte. Der Orient: In meiner Vorstellung Bilder aus Kindertagen, nicht die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit lag in anderer Richtung, jenseits des Atlantiks.

Was ich nun lediglich zu tun hatte, war, nach China zu kommen. Zu dieser Superschreckensreise beschwatzte ich einen Unwilligen Begleiter, nachstehend bezeichnet als UB, der keineswegs dahin wollte, wohin er nun sollte. Er hatte seine frühen Jahre nicht damit verbracht, sich auf Straßenbahnfahrten etwas zusammenzuträumen, und sein Kopf steckte nicht voller Fu Manchu und Somerset Maugham. Er behauptete, einen Onkel gehabt zu haben, der in China Missionsarzt gewesen war und sich auf Pferdes Rücken selbst den Blinddarm herausoperierte. Man zwang ihn auch, von seinem Verdienst klingende Münze zur Bekehrung heidnischer Chinesen abzuzweigen. Diese Tatsachen schienen UB gegen den Orient eingenommen zu haben. Ich ließ mit meinem Gurren nicht locker, bis er gequält stöhnend nachgab. Das war unglaublich selbstsüchtig von mir, und so etwas wiederholte sich nie. Schreckensreisen stand ich danach allein durch. Es war in Ordnung, sich selbst kopfüber ins Unglück zu stürzen, falsch, irgend jemanden mit hineinzuzerren.

Im frühen Februar des Jahres 1941 machten wir uns mit dem Dampfer von San Francisco aus auf nach Honolulu. Wir stellten uns vor, diese Fahrt verliefe wie in guten alten, schon fernliegenden Tagen, als man von New York nach Frankreich auf einem französischen Schiff übersetzte und in köstlichen Speisen und Getränken und in Luxus schwelgte. UB hatte immer die richtige Einstellung zum Vergnügen: Nimm’s, solange du kannst. Anstelle der erhofften Freuden wurden wir auf den Decks wie Pingpongbälle hin und her geschleudert, wir warfen uns in festgenagelte Möbel, bis sich die nicht festgenagelten Möbel auf uns warfen. Schließlich– unfähig, gerade zu stehen– zogen wir uns in unsere Kojen zurück, wo wir dann lagen und aßen, tranken und versuchten, nicht auf den Boden gekippt zu werden. Tabletts krachten runter von unseren Schößen, Flaschen ergossen sich. Das Schiff bewegte sich nach Delphinsart voran, schön für einen Delphin, gemein für ein Schiff. UB nörgelte reichlich: Warum hatte uns niemand gewarnt; wenn er gewußt hätte, daß der Pazifik solch ein Ozean sei, nie hätte er einen Fuß darauf gesetzt; ein Mensch solle bei den Wassern bleiben, die er kenne, und in der Tat kenne er und respektiere er eine Menge Seen und Flüsse; und betrachte es, wie du willst, M., dies ist ein schlechtes Zeichen. Die Seereise dauerte im groben eine Ewigkeit. Irgendwo hinter den abscheulichen grauen Wellen würde sich Honolulu auftun, ein Zufluchtsort voller Sonne, zum Schwimmen, mit Frieden und festem Boden unter den Füßen. Aber vor dem traditionellen Aloha-Willkommensgruß warnte uns auch niemand.

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