Das Gift der Engel - Oliver Buslau - E-Book

Das Gift der Engel E-Book

Oliver Buslau

4,8

Beschreibung

Der Godesberger Musikkritiker Nikolaus Alban bekommt geheimnisvollen Besuch, der eine nicht minder geheimnisvolle Partitur hinterlässt. Wer hat die rätselhafte Arie komponiert? Warum kann niemand sie singen? Was hat der Mord an einem Bonner Arzt, der brutal mit einer Beethovenbüste erschlagen wurde, damit zu tun? Alban lässt das seltsame Musikstück nicht los. Er forscht nach und kommt einer Kette von Verbrechen auf die Spur - und schließlich einem mit allen Mitteln gehüteten Geheimnis.

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Oliver Buslau ist freier Autor, Redakteur und Journalist. Er ist Gründer, Chefredakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift »TextArt – Magazin für Kreatives Schreiben« Im Emons Verlag erschienen bisher sieben Kriminalromane um den Privatdetektiv Remigius Rott: »Die Tote vom Johannisberg«, »Flammentod«, »Rott sieht Rot«, »Bergisch Samba«, »Bei Interview Mord«, »Neandermord« und »Altenberger Requiem«. Außerdem die Rheintal-Krimis »Schängels Schatten« und »Das Gift der Engel«, der Fantasy-Roman »Der Vampir von Melaten« und den Historischen Kriminalroman »Schatten über Sanssouci«. Darüber hinaus schrieb Oliver Buslau den Thriller »Die fünfte Passion«, der auch ins Italienische übersetzt wurde.www.oliverbuslau.dewww.remigiusrott.de

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung und manche Schauplätze sind ebenso frei erfunden wie alle handelnden Figuren. Jede Übereinstimmung mit realen Personen wäre reiner Zufall.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-339-2 Rheintal Krimi Originalausgabe

Für Claudia,die sich beim Lesen dieses Buches zu Hause fühlte

Lass mich beweinenLascia ch’io piangaMein grausames Schicksal,Mia cruda sorte,Lass mich ersehnenE che sospiriDie Freiheit.La libertà.Der Schmerz zerbrecheIl duolo infrangaDiese FesselnQueste ritorteMeines LeidensDe’miei martiriNur aus Erbarmen.Sol per pietà.

Giacomo Rossi: Rinaldo  (vertont von Georg Friedrich Händel und Domenico Carini) 

Prolog

Sie trat auf das Plateau hinaus und betrachtete die nächtliche Landschaft. Die bewaldeten Hügel wirkten im Licht des vollen Mondes wie Berge aus grau schimmernder Watte.

Die Welt ist selbst ergriffen von diesem Bild und lauscht, dachte sie.

Der tief dunkle Himmel hinter der hellen Scheibe spannte sich wie ein Gewölbe über das silbrige Land, nur manchmal unterbrochen von einem weißen Nadelstich.

Ein Gefühl von Schwindel erfasste sie. Die Wanderung hatte sie angestrengt, und es dauerte eine Weile, bis sich ihr Herzschlag beruhigte. Und je mehr sich in ihrem Innern die Stille ausbreitete, desto mehr verschmolz sie mit der Nacht um sich herum. Kein Laut war zu hören. Das dumpfe Brummen des Verkehrs aus dem Flusstal drang nicht hierher, und die Vögel würden erst in einigen Stunden erwachen.

Der Wind strich um ihr Haar und ihre Haut. Sanft, dann wieder fordernd und stark. Die Brise rauschte durch das Laub über ihr und zog fort, bis weit hinunter ins Tal.

Der Wind ist mein Freund, denn er begrüßt mich, wenn ich sein Land betrete …

Sie breitete die Arme aus. Sie war kurz davor, sich dem Zauber dieser Sommernacht hinzugeben wie so viele Male vorher. In dieser Atmosphäre konnte sie ewig verharren.

Doch heute war es anders.

Reiß dich los, mahnte sie sich. Er wartet. Und er leidet. Reiß dich los, nur dieses eine Mal …

Etwas in ihr drängte sie, alles doch noch hinauszuschieben, die Nacht weiter zu genießen. Einen Moment lang war sie versucht, nachzugeben.

Sie schloss die Augen. Das Mondlicht zauberte einen kreisrunden, vom hellen Gelb ins Grün übergehenden Reflex hinter ihre geschlossenen Lider, der langsam abklang.

Voller Befriedigung spürte sie, wie der Wind wieder stärker wurde, an ihrer Kleidung zerrte.

Reiß dich los …

Sie öffnete die Augen, sog noch einmal so viel wie möglich von der sommerlichen Luft ein, schmeckte den Wald mit seinem Laub, seiner Erde, seinem Gras, seinen Blüten.

Es muss sein. Jetzt.

Sie würden vereint sein. Endlich vereint, nachdem er ihre Sehnsucht unstillbar geweckt hatte.

Vereint …

Sehnsucht gestillt …

Das war es wert, dass sie ein einziges Mal den Verlockungen der Nacht widerstand.

Ein paar Schritte, und sie gelangte an die Stelle, wo der kleine gewundene Pfad ins Tal hinunterführte. Sie zögerte. Die Dunkelheit dort unten wirkte wie eine stumme Drohung.

Sie überwand sich, ging weiter hinab und spürte, wie die Luft kälter wurde. Noch wenige Meter, und der Mondschein würde nicht mehr durch die Wipfel dringen. Der Wald würde sie verschlucken, und sie würde voll und ganz ihrem Instinkt ausgeliefert sein.

Hüte dich!

Wieder blieb sie stehen. Etwas beunruhigte sie. Es war kaum ein Gedanke, nur eine Ahnung.

War sie wirklich allein hier?

Es ist nicht weit. Und so dunkel der Wald auch ist, dort bist du geschützt.

Sie hatte den Rand der Schwärze erreicht und sah sich um. Im Mondlicht wirkte der Hügel hart. Wie aus Stein gemeißelt.

Was will dieses Grau’n bedeuten?

Ihre Furcht steigerte sich, wollte ihr den Atem nehmen. Sie musste Schutz suchen, musste hinunter in den Wald, weg von dieser Drohung, die von dem Hügel hinter ihr auszugehen schien. Sie kämpfte, um sich aus der Erstarrung zu lösen.

Gerade wollte sie sich wieder dem Tal zuwenden, da sah sie den Schatten.

Eine leichte Verschiebung der changierenden weißlichen und dunklen Flächen dort oben, fast nicht zu bemerken. Sie verharrte stocksteif – genau in dem hellen Fleck des Mondlichts, auf halber Strecke zwischen dem Plateau und den ersten Büschen des Tals.

Unsicher suchte sie den Waldrand ab.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Langsam schälte sich aus dem Grau zwischen den Bäumen etwas Dunkles heraus. Eine finstere Kontur, die zu wachsen schien. Ein Tier, dachte sie, nur ein Tier. Doch nach und nach nahm die schwarze Kontur die Umrisse eines Menschen an.

Jemand trat ins Licht. Noch immer war sie regungslos – wie mit der erstarrten Landschaft verschmolzen.

Das Geräusch der Schritte schnitt in die tiefe Lautlosigkeit der Nacht. Die Gestalt blieb stehen, und sie erkannte, wer es war. Fast gleichzeitig explodierte die Welt in grellem Weiß.

Die Stille, die folgte, war dunkler als die Finsternis aller Nächte.

1

Von irgendwoher fiel Licht durch das Fenster, und Alban bemerkte, wie dunkel es bereits geworden war.

Der Bewegungsmelder am Tor ist angegangen, dachte er. Jemand hatte also das Grundstück betreten. Sicher ein Austräger, der Werbung in den Briefkasten werfen wollte – nur um dann festzustellen, dass dort ein großes Schild »Keine Reklame« angebracht war. Hoffentlich hielt er sich daran.

Alban knipste die große Schreibtischlampe mit dem birnenförmigen Porzellanfuß an, die seine Schreibunterlage, ein Blatt Papier und einen scharf gespitzten Bleistift sofort in gelbliches Licht tauchte. Der Rest des Raumes versank in diffuser Dämmerung. An der gegenüberliegenden Wand waren schwach die digitalen Ziffern eines Zählwerks zu erkennen, das stetig aufwärtslief – fast im Takt der Mozart-Sinfonie, die das Arbeitszimmer erfüllte. Das Kammerorchester auf der CD arbeitete sich gerade den letzten Takten des Finales entgegen. Ein paar Sekunden noch, und das Stück war zu Ende.

Alban nahm den Bleistift und schrieb.

Der erste Akkord ist unsauber, ebenso wie der letzte. Dazwischen herrscht nichts als Langeweile. Viel zu viel Vibrato in den Streichern. Das Andante zu langsam.

Nachdenklich griff er zu der CD-Hülle und betrachtete das Bild auf dem Cover. Etwas lenkte ihn ab, und er blickte auf. Weiter hinten im Raum, im Sessel in der Ecke neben dem Konzertflügel, regte sich ein kleiner dunkler Haufen Fell. Er hob sich, dann wurden Pfoten sichtbar, und das Ganze wurde ein ausgewachsener schwarzer Kater, der gähnend sein rosa Mäulchen aufsperrte.

Zerberus hat das einzig Richtige getan, dachte Alban. Er hat die Musik verschlafen.

Er stand auf, holte die CD aus dem Player, drückte sie in das Plastikgehäuse und legte sie auf den Stapel, durch den er sich bereits gearbeitet hatte. Gleich daneben wuchs ein weiterer quadratischer Turm aus dem Perserteppich. Er war deutlich höher. Das war die Musik, die es noch zu hören galt.

Alban beschloss, einen Moment die Ruhe zu genießen. Wenn er zwei schlecht gespielte Mozart-Sinfonien hinter sich hatte und dann sofort eine unter Umständen mittelmäßige CD auflegte, konnte es sein, dass ihm der tief empfundene Wunsch nach schöner Musik einen Streich spielte. Es konnte geschehen, dass ihm die neue Aufnahme viel besser vorkam, als sie es war. So wie kaltes Wasser warm wirkt, wenn man sich vorher eisig abgeduscht hat.

Unter Zerberus’ trägem Blick ging Alban ans Fenster und blickte auf die herbstlichen alten Bäume in seinem Garten. Das Unterholz am Rande des Rasens verdeckte die Grenze zum Godesbach und zu den anderen Grundstücken, die nur einen Steinwurf entfernt lagen.

Alban bemerkte Simone, die im letzten Licht des Tages unten auf dem Rasen stand, gestützt auf ihren Rechen, mit dem sie einen großen Haufen Laub zusammengescharrt hatte. Ihr Blick ging in Richtung des Eingangs, und sie sprach mit jemandem, der vor der Haustür stand. Alban konnte nichts verstehen, und er sah auch nicht, wer es war. Vielleicht der Werbeausträger. Simone schüttelte ein paarmal den Kopf und schien über etwas zu diskutieren. Offenbar wollte der Mann nicht einsehen, dass man hier keine Reklame wünschte.

Alban wandte sich wieder den beiden CD-Stapeln zu. Zerberus kauerte im Sessel und beobachtete ihn aufmerksam.

Womit soll es weitergehen?

Ein buntes Stillleben mit Blumen schmückte das Cover. Der Grafiker hatte zwischen die Blüten geschickt den Namen »Georg Philipp Telemann« eingearbeitet.

Als Alban sich bückte, um die Compact Disc einzulegen, hörte er Simone unten im Flur. Ihre Stimme klang laut und aufgeregt. Dazwischen war eine weitere Person zu hören, offenbar ein Mann.

Er schüttelte den Kopf. Was war dort unten nur los?

Mehrmals wöchentlich, immer zwischen sechzehn und neunzehn Uhr, beschäftigte sich Alban mit dem, was die Schallplattenindustrie an klassischer Musik herausgab. Nach und nach, mit unerbittlicher Präzision, und das nicht etwa aus finanziellen Gründen, sondern aus purer Leidenschaft für die Musik. In dieser Zeit konnte Bonn im Rhein versinken – Alban wünschte auf keinen Fall gestört zu werden. Er hatte es Simone immer wieder gepredigt.

Der Schlitten mit der aufliegenden Silberscheibe fuhr mit einem leisen schleifenden Geräusch ins Innere des Players. Alban drückte die Starttaste, kehrte an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich in den lederbezogenen Sessel. Getragene, ernste Musik erfüllte den Raum. Zwei Violinen erklangen, begleitet vom Streichorchester und den weich gezupften Akkorden von Laute und Cembalo.

Ausgewogenes, reizvolles Klangbild, notierte Alban.

Der zweite Satz begann – ein temperamentvolles Allegro, das Alban wieder zu einer Notiz inspirierte.

Hochvirtuos!

Zerberus schien das schnelle Stück Energie verliehen zu haben. Er sprang von seinem Schlafplatz, lief durch den Raum und war mit einem Satz auf der Fensterbank, wo er schlagartig zur Statue erstarrte und sich auf den Garten konzentrierte.

Voller Bewunderung verfolgte Alban die Dialoge der beiden Violinen im Wechsel mit den Orchesterpassagen, als plötzlich von außen gegen die Tür geklopft wurde. Noch bevor er etwas sagen konnte, steckte Simone den Kopf herein.

Er warf ihr einen unmissverständlichen Blick zu. Es war noch nicht sieben, noch lange nicht.

Simone sagte etwas, doch das Streicherensemble brach gerade in rasende Läufe aus. Die Hoffnung, dass sie wieder gehen würde, wenn sie sah, dass er in seine Arbeit vertieft war, schmolz dahin, als Simone in ihrer schmutzigen grünen Arbeitshose und mit dicken grauen Socken an den Füßen das Zimmer betrat, schnurstracks auf den CD-Player zuschritt und ihn ausschaltete. Telemanns Musik erstarb. Wie ein abgebrochener Zweig.

»Ich habe gesagt, da ist Besuch für dich!«, schrie Simone, als müsse sie immer noch gegen die Musik ankommen.

Alban schnaufte. »Ich arbeite!«

»Ich weiß, aber da ist jemand, der dich unbedingt sprechen will. Er sagt, er sei ein Bekannter. Ich hab keine Lust, mich weiter mit ihm herumzuärgern. Schließlich hab ich auch meine Arbeit zu machen.«

»Wer ist es?«

»Ein Herr Zimmermann.«

»Kenne ich nicht, und außerdem …«

Alban verstummte, als sich die Tür ein Stück weiter öffnete und ein junger schmächtiger Mann sichtbar wurde. Kurzes Haar umschloss wie dunkler Flaum den runden Kopf.

»Ich gehe dann mal wieder«, sagte Simone und drängte sich an dem jungen Mann vorbei nach draußen. Dann hörte Alban ihre gedämpften Schritte auf der Treppe.

So viel zu meinem dringenden Wunsch, bei der Arbeit auf keinen Fall gestört zu werden, dachte er und presste die Kiefer aufeinander. Er bemühte sich, seinen Zorn im Zaum zu halten.

»Kommen Sie doch bitte herein«, sagte Alban gequält.

»Es tut mir furchtbar leid, wenn ich störe«, sagte der Mann. »Arne Zimmermann. Es dauert nur eine Minute.«

»Kennen wir uns?« Alban war aufgestanden. Er wies auf Zerberus’ Schlafplatz und forderte den Besucher auf, sich zu setzen. Alban war sicher, dass er den jungen Mann noch nie gesehen hatte. Und plötzlich ahnte er, was hier los war. Zimmermann musste ein Musiker sein. Einer von den Unbekannten, die sich nach eigener Ansicht am Beginn einer großen Karriere befanden. Die bei irgendeinem Minilabel eine CD herausgebracht hatten und von Alban beurteilt werden wollten. Vielleicht fand auch in den nächsten Tagen in irgendeiner Kirche oder in einem kleinen Saal hier in der Nähe ein Konzert statt, zu dem man Alban einladen wollte. Und man versprach sich etwas davon, Albans Wohlwollen zu gewinnen.

Normalerweise wurde man als Kritiker mit solchen Angeboten postalisch überhäuft. Dass jemand zu ihm nach Hause kam, und das auch noch unangemeldet, war neu. Aber es passierte ja alles irgendwann zum ersten Mal.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Alban und machte sich bereit, den Mann sofort abzuwimmeln. Er betrachtete Zimmermanns Hände, die eine schmale Aktentasche festhielten. Darin befanden sich aller Voraussicht nach eine Mappe mit Lebenslauf, ein paar bescheidenen Kritiken, einer CD vielleicht. Was für ein Instrument er wohl spielte? Die Finger waren lang und dünn. Vielleicht war er ja auch Sänger.

»Kennen Sie Wolfgang Joch?«, fragte Zimmermann.

Alban stutzte. »Wie bitte? Joch? Wer ist das?«

Lag es an der schwachen Beleuchtung, dass ihm Zimmermann so blass vorkam? Seine Lippen schienen unnatürlich rot zu sein. Er sieht krank aus, dachte Alban. Auf jeden Fall übermüdet. Die Haut wirkt wie aus Wachs.

»Wolfgang Joch«, wiederholte der Mann. »Denken Sie doch bitte einen Moment nach. Wolfgang Joch …«

Vielleicht war dieser Joch sein Hochschullehrer, und der junge Mann würde ihm gleich ein Zeugnis oder ein Empfehlungsschreiben präsentieren. Dumm nur, dass Alban der Name gar nichts sagte.

Zimmermann drehte den Kopf und sah sich in Albans Arbeitszimmer um. Sein Blick fiel auf die hohen Regale mit Büchern, Schallplatten, CDs und Noten. Er streifte den schwarz glänzenden Steinwayflügel hinten in der Ecke, und ihm blieben auch die Fotos nicht verborgen, die gleich neben Albans Schreibtisch auf einem Beistelltischchen standen. Sie zeigten Alban mit seiner verstorbenen Frau, der Pianistin Lea Rosemann, und ihn als jungen Violinstudenten, noch mit ganz dunklem Haar, in der Hand die Geige.

»Wolfgang ist Abonnent der Konzerte des Beethovenorchesters. Dort sind Sie doch auch regelmäßig. Ich dachte, Sie kennen ihn vielleicht. Er ist Arzt im Ruhestand …« Zimmermann verstummte.

»Es tut mir leid, aber ich kenne keinen Wolfgang Joch. Und Sie haben es ja mitbekommen: Ich habe zu tun. Das muss ein Missverständnis sein.«

Der junge Mann senkte den Blick. »Wolfgang ist mein Freund. Und er ist verschwunden.« Er räusperte sich. »Es kommt Ihnen vielleicht eigenartig vor, dass ich gerade Sie damit belästige. Aber ich war einmal mit Wolfgang im Konzert, und da sind wir Ihnen begegnet. Er hat Sie im Vorbeigehen gegrüßt. Später haben wir Sie dann von oben im Zuschauerraum auf dem Rang gesehen, und ich habe bemerkt, wie Sie sich Notizen machten. Wolfgang hat mir gesagt, dass Sie Musikkritiker sind. Und wie Sie heißen.«

»Und Sie dachten, ausgerechnet ich wüsste, wo Ihr Freund ist? Wie kommen Sie darauf?«

»Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll. Ich kenne sonst niemanden aus Wolfgangs Bekanntenkreis. Aber ich habe mich wohl geirrt.«

Plötzlich erinnerte sich Alban vage. Er war Joch einmal vorgestellt worden. Es musste bei der Abschiedsvorstellung des damaligen Bonner Generalmusikdirektors Marc Soustrot gewesen sein. Auf dem Empfang nach dem Konzert.

»Doktor Wolfgang Joch«, sagte Alban. »Er kennt sich mit Sängern aus. Das ist er, oder?« Er nahm nachdenklich den Bleistift und setzte die Spitze auf das Notizpapier. »Ja, ich habe Herrn Dr.Joch kennengelernt. Es ist schon eine Weile her … Was meinten Sie denn damit, er sei verschwunden?«

»Er hat sich seit Tagen nicht mehr bei mir gemeldet. Ich mache mir Sorgen.«

»Sollte man nicht die Polizei informieren? Entschuldigen Sie, ich möchte die Sache nicht dramatisieren, aber …«

Alban wurde bewusst, dass seine Höflichkeit langsam, aber sicher über Gebühr strapaziert wurde. Was ging ihn die ganze Sache an? Er musste zusehen, dass er den jungen Mann schnellstens loswurde.

»Ich kann nichts für Sie tun. Das müssen Sie verstehen.«

Zimmermann nickte nachdenklich und stand auf. Er wollte Alban die Hand geben, hielt dann jedoch in der Bewegung inne.

»Ach, das hätte ich beinahe vergessen.« Er öffnete die Mappe, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, und holte einen braunen Umschlag hervor. »Da Sie ja Musikexperte sind, können Sie damit vielleicht etwas anfangen.«

Zimmermann brachte ein Heft zum Vorschein. Alban erkannte sofort die Notenlinien.

»Vor ein paar Monaten gab mir Wolfgang diesen Umschlag und bat mich, ihn aufzubewahren. Als er nun verschwand, dachte ich, ich könnte darin einen Hinweis finden. Aber es war nur das hier drin.«

Zimmermann trat vor und legte die Noten in den warmen Lichtkegel der Schreibtischlampe. »Wir leben nicht zusammen, wissen Sie. Ich habe von seiner Wohnung am Poppelsdorfer Schloss noch nicht mal einen Schlüssel.«

Alban betrachtete die Titelseite und blätterte um. »Handgeschrieben«, stellte er fest. »Eine Arie. Offenbar für Sopran.«

Das Manuskript bestand aus mehreren Seiten. Die Handschrift war sauber und schön. Alban liebte die ästhetische Ausstrahlung von Partituren fast genauso sehr wie die klingende Musik selbst. Und was er hier vor sich hatte, war eine wahre Augenweide. Wer immer das geschrieben hatte, war sehr sorgfältig ans Werk gegangen. Das Schriftbild – die akkuraten Notenköpfe, Hälse und Fähnchen, die saubere Niederschrift des Gesangstextes, die fein geschwungenen Schlüssel – zog Alban sofort in seinen Bann.

Er wischte ein paarmal über die Blätter. Die Noten hatten zuerst den Eindruck erweckt, von einem Grafiker mit Tinte oder Tusche gezeichnet worden zu sein. Doch es war profaner Filzstift, den der Schreiber verwendet hatte. Das Papier war brandneu – übliches Material, das man in jedem Musikaliengeschäft bekam.

Alban suchte einen Komponistennamen und blätterte zur Titelseite zurück. Doch da stand nur ein einziges Wort in riesigen, etwas geschnörkelten Großbuchstaben: »Aria«. Darunter hatte der unbekannte Autor einen einzelnen Buchstaben gesetzt; dahinter einen Punkt. Der Buchstabe war kaum zu entziffern. Es konnte ein »D«, aber auch ein »O« sein.

»Sagt Ihnen das was?«, fragte Zimmermann.

Alban konzentrierte sich auf die Musik, die hinter den Zeichen verborgen war. Sie begann in seinem Kopf Gestalt anzunehmen, nach und nach zu tönendem Leben zu erwachen. Eine Gesangsstimme zog ihre Bahn – in einer bestürzend schönen Kantilene über sanft begleitenden Streichern. Sehr langsames Tempo, fast träumerisch, hypnotisch … Alban lief ein Schauer über den Rücken. Das Stück war faszinierend.

»Ich weiß nicht, weshalb er darum so ein Geheimnis macht«, sagte Zimmermann. »Bis heute Nachmittag wusste ich noch nicht einmal, dass in dem Umschlag überhaupt Noten waren. Ist das denn etwas Besonderes?«

Alban löste sich aus der Welt der imaginären Klänge, auch wenn es ihm schwerfiel. Was war mit dem Text? Italienisch – wie die meisten Opern der Barockzeit. Er kannte die Worte. Es war der Text einer berühmten Arie von Georg Friedrich Händel. Lascia ch’io pianga. Aus der Oper »Rinaldo«.

Aber die Musik! Das war nicht Händels Arie. Das war etwas völlig anderes. Als habe jemand das Stück neu komponiert. Den Text noch einmal vertont. Seltsam.

»Und?«, fragte Zimmermann.

Alban schlug wieder das erste Blatt um und nahm noch einmal den Beginn des Stückes in Augenschein. Er ging erneut ein paar Seiten durch und suchte Korrekturen, die normalerweise mit Überklebungen gemacht wurden. Er fand keine. Der Autor hatte die Partitur in einem Durchgang fehlerlos in allerschönster Handschrift geschrieben.

Er riss sich endgültig los und wandte sich wieder seinem Besucher zu.

»Also, Herr Zimmermann, Ihr Privatleben geht mich nun wirklich nichts an. Was ich Ihnen über Herrn Dr.Joch sagen kann, wissen Sie bereits. Diese Partitur allerdings …«

»Ja?«

»Sie ist interessant.«

»Tatsächlich?«

Alban sah auf und blickte in Zimmermanns Gesicht, das eine Mischung aus Neugier und Unverständnis zeigte. Wie sollte er dem jungen Mann, der offensichtlich wenig von Musik verstand, sein plötzlich aufgeflammtes Interesse erklären? Es war ein Gefühl, eine Ahnung. Oder einfach der Wunsch zu hören, was in diesen Noten verborgen war.

»Ich habe einige Kontakte zu Bonner Musikwissenschaftlern. Ich könnte mich erkundigen, was Fachleute von dem Manuskript halten. Unter der Voraussetzung, dass Sie mir die Partitur ausleihen.«

Zimmermanns Blick rutschte ins Unschlüssige.

»Die Entscheidung liegt selbstverständlich bei Ihnen«, setzte Alban nach.

»Na ja. Es ist ja nur Musik … Hoffentlich ist Wolfgang nicht böse, dass ich den Umschlag geöffnet habe. Aber jetzt ist es ja sowieso zu spät. Brauchen Sie die Noten lange?«

»Ein paar Tage vielleicht.«

»Ist die Partitur denn wertvoll?«

»Ich kann bestenfalls herausfinden, ob sie künstlerischen Wert hat. Jedenfalls dürfte die Handschrift selbst nicht alt sein. Wenn das Werk von einem großen Klassiker stammt, handelt es sich lediglich um eine Abschrift. Wertvoll wäre dann nur das Original. Aber ich muss sagen, was ich beim ersten Überfliegen gesehen habe, hat mein Interesse geweckt.«

Zimmermann nickte. »Behalten Sie die Noten eine Weile. Als Wiedergutmachung für die gestohlene Zeit. Ich melde mich wieder bei Ihnen. Vielen Dank für alles.«

Alban begleitete den jungen Mann die Treppe hinunter und bis an die Haustür. Im Flur duftete es nach Abendessen. Aus der Küche drang lautes Brutzeln, und dazu lief noch lautere Popmusik aus dem Radio. Simone hatte ihren Arbeitsplatz im Garten mit dem hinter dem Herd vertauscht.

Zimmermann verabschiedete sich, verließ das Haus und winkte Alban an dem kleinen eisernen Tor noch einmal zu.

Ein paar Sekunden lang waren seine Schritte noch auf der abendlichen Beethovenallee zu hören. Dann war er verschwunden.

Der Junge steht am Fenster und beobachtet, wie sich die Dunkelheit über das Land senkt. Ihm ist nicht bewusst, dass er schon eine halbe Stunde völlig reglos an dieser Stelle verharrt.

Er fühlt sich leer. Die Freude über die eigenen Fähigkeiten, die ihn noch vor Monaten beseelt hat, ist verschwunden und hat nichts als ein großes schwarzes Loch hinterlassen.

Er hat es aufgegeben, darüber nachzudenken, was geschehen ist. Zu lange hat er die Nächte damit verbracht, zu grübeln. Zu lange hat er versucht zu ergründen, warum man ihn verlassen hat.

Im Schein der Lampe glänzt rotes Holz in der einen Ecke des Raumes. Der Junge streicht mit der Hand über die lackierte Oberfläche. Es hätte eine liebevolle Geste sein können, doch sie erfüllt ihn mit noch stärkerem Schmerz. Etwas ist zerbrochen. Es fühlt sich an, als sei er ein anderer geworden.

Er legt sich auf das schmale Bett. Lange starrt er an die Decke. Ist das der Tod? Steht er ihm bevor?

Es ist besser, völlig mit der Dunkelheit zu verschmelzen. Sich unsichtbar zu machen. Die Dunkelheit in seiner Seele muss mit der Dunkelheit da draußen eins werden. Dann wird der Schmerz nachlassen. Vielleicht.

Sein Blick fällt auf das grau schimmernde Fenster. Früher hat etwas Aufregendes in dieser Dunkelheit gewartet, hat ihn gelockt und hat ihn herausgeholt. Es ist etwas gewesen, das er nie gekannt hat, und ihm ist versprochen worden, dass er es nun sein Leben lang genießen darf.

Auf der Tischplatte liegt ein Blatt Papier, handbeschrieben. Runde, blaue Buchstaben. Die letzte Botschaft.

Er kennt den Text auswendig, schon lange.

Und er hat noch genau den Klang der Stimme im Ohr, die ihm diese drei Worte immer wieder eingeflüstert hat.

Dort draußen war es gewesen, in weichen, warmen, duftenden Nächten. Er hat nicht die Spur von Falschheit in der Stimme erkannt. Er besitzt dafür ein Gespür. Er spürt die Lüge am Klang. Wie eine Dissonanz in einem Akkord.

Alles wird gut!

Diese drei Worte, gesprochen von der schmeichelnden Stimme, die aus dem Wald gekommen ist. Die ehrlichsten Wörter, die er je gehört hat. Der reinste Wohlklang, nur mit einem perfekt gestimmten Dreiklang zu vergleichen.

Drei Worte – so schön wie eine Sommernacht.

So schön …

Und trotzdem haben sie ihn getötet.

2

Lea war eine haarlose Puppe. Milchig glänzend, wie Marmor, verschmolz ihre bewegungslos daliegende Gestalt mit dem dünnen Laken, das ihren Körper bedeckte. Die Arme, aus denen transparente Plastikschläuche wie die Fäden einer leblos daliegenden Marionette heraustraten, ruhten unbeweglich an ihrer Seite. Nur ihr Kopf, eine kahle, helle Kugel, wandte sich Alban zu, der mit sich kämpfen musste, um seinen Schmerz nicht hinauszuschreien.

Wir haben ihr verschwiegen, dass es zu Ende geht, dachte er, während er sich zwang, die Augen nicht abzuwenden. Wir haben es ihr verschwiegen. Aber sie weiß es!

Tränen verschleierten den Blick auf Lea, auf ihren Kopf, der früher einmal von vollem Haar bedeckt gewesen war. Alban wischte sich über das Gesicht, und da bemerkte er, dass sie die faltigen, grauen Lippen bewegte. Sie flüsterte etwas, und obwohl er keinen Millimeter näher an sie herangerückt war, verstand er jedes Wort, als läge Lea nicht vor ihm auf dem Krankenbett, sondern befinde sich irgendwo in seinem Inneren.

»Es ist wie Musik«, hauchte sie, »wie eine Melodie, die mich hinüberlockt. Ich höre sie… schon seit Tagen. Sei nicht traurig. Ich weiß alles. Die Musik sagt es mir. Und die Musik ist schön… Sie kommt immer näher.«

Sie schwieg, ermattet von der Anstrengung, und Alban drang es wie ein glühendes Schwert durchs Herz. Er hielt es nicht mehr aus und schloss die Augen. Und da hallten ihre Worte durch seinen Kopf und wurden leiser und leiser, wie ein Echo, das sich immer mehr verliert.

»Die Musik sagt es mir. Die Musik ist schön… ist schön… ist schön…«

Alban stöhnte auf und öffnete die Augen.

Sein Radiowecker zeigte kurz vor halb neun. WDR3 war angesprungen, und leise Musik zog durch den Raum. Der langsame Satz eines Vivaldi-Konzerts. Eine Oboe klagte, und es kam Alban vor, als liefere sie einen melancholischen Kommentar zu seinem Traum.

Er spürte seinen feucht geschwitzten Schlafanzug, verließ das Bett und ging unter die Dusche. Als er angekleidet vor dem Spiegel stand und versuchte, sein graues Haar mit einem Kamm in Fasson zu bringen, ließ der Schmerz, den er im Traum empfunden hatte, endlich ein wenig nach.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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