Wupper Wut - Oliver Buslau - E-Book

Wupper Wut E-Book

Oliver Buslau

4,9

Beschreibung

Privatdetektiv Remigius Rott hilft einem Wuppertaler Kommissar, einen flüchtigen Häftling aufzuspüren. Doch was als ein kleiner Gefallen am Rande der Legalität beginnt, entwickelt sich zu einem blutigen Drama, bei dem Rotts Freundin schwer verletzt wird. Während die Ärzte um ihr Leben kämpfen, schwört Rott Rache - und muss erfahren, dass seine Freundin ein Geheimnis hatte, das ihn zutiefst verstört.

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Oliver Buslau begann Ende der neunziger Jahre seine Autorenkarriere als Erfinder des Wuppertaler Privatdetektivs Remigius Rott, der seither in neun Krimis seine Fälle löst. Darüber hinaus schrieb er unter anderem Krimis um das Thema Musik, »Das Gift der Engel«, »Die fünfte Passion«, »Die Orpheus-Prophezeiung« und »Schatten über Sanssouci«, und ist ein viel beschäftigter Autor von Kurzkrimis. In der 2011 gegründeten Krimiautorenband »Hands up!& The Shooting Stars« spielt er Bratsche und Keyboard.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/Helgi Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-864-9 Der Bergische Krimi Originalausgabe

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Prolog

Als er erwachte, war es dunkel.

Er spürte keinen Schmerz, überhaupt kein Gefühl.

Wo er war, wusste er nicht. Aber nach einigen Sekunden kam die Erinnerung.

Er war über den hellen Platz gegangen. Dann hinüber zum Café, die Treppe hinunter in die Tiefgarage.

Er hatte die kühle Feuchtigkeit der Betonmauern gespürt. Seine hallenden Schritte vernommen, bis er an seinem Wagen gewesen war.

Die Panik rollte heran. Sein Puls begann zu rasen, sein Herzschlag war so heftig, dass er in seinen Ohren trommelte.

Ich muss hier raus.

Sofort.

Doch er konnte sich nicht bewegen, konnte keinen Finger rühren. Plötzlich war sein Gesicht voller Schweiß. Er lief an seinen Wangen herunter wie Tränen. Als das salzige Nass seine Lippen berührte, versuchte er, flacher zu atmen, um Luft zu sparen, aber der Mief um ihn herum schien ohnehin kein bisschen Sauerstoff mehr zu enthalten.

Beruhige dich. Atme langsam. Beruhige dich. Atme langsam. Noch langsamer…

Etwas veränderte sich. Ein Vibrieren, das sich aus dem dumpfen Pochen seines Herzschlags löste. Ein vorbeirollendes Fahrzeug.

Schrei! Schrei um Hilfe!

Er brachte nur ein Krächzen heraus. Der Schweiß gelangte irgendwie in seinen Mund. Er schien ein paar Tropfen eingeatmet zu haben, denn auf einmal schüttelte ihn heftiger Husten.

Und dann war das Brummen verschwunden.

Mühsam lauschte er. Er versuchte wieder, sich zu bewegen. Doch es war, als habe er keine Gliedmaßen mehr. Als sei sein Körper nicht vorhanden. Bis auf seinen Kopf war alles taub. Und der lag auf einer harten Unterlage, mit Stoff oder einer Art Filz bespannt.

Das Lauschen nützte nichts. Das Schreien nützte nichts. Es war nicht mehr als ein Flüstern.

Irgendwann meldete sich von weit, weit her ein helles Klingen. Eine Glocke.

Irgendwann, viel später, wieder.

Und nach sehr, sehr langer Zeit noch einmal.

Dann hörte er die Glocke nicht mehr. Hörte das Klopfen seines Herzens nicht mehr. Sein benommener Kopf schuf eine Endlosschleife von Gedanken, die ihn vollkommen einnahm.

Wie er über den Platz gegangen war. Wie er überlegt hatte, in das Café zu gehen. Wie er gedacht hatte, dass er doch gerade ein schönes Mittagessen hinter sich hatte. Wie er in die Tiefgarage gegangen war. Zu seinem Wagen.

Sprung zurück. Wie er über den Platz gegangen war…

Mein Wagen.

Ich liege in meinem Wagen.

Im Wagen– natürlich. Komisch, dass ihm das erst jetzt einfiel.

Im Kofferraum.

1

»Ich will nicht nach Wuppertal ziehen.«

»Aber warum nicht? Weißt du, wir könnten…«

»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«

Ich blickte vor mich hin. Meine rechte Hand hielt das Telefon. Die linke spielte mit einem Kugelschreiber, der nur auf den allerersten Blick aussah wie ein sauteurer Füller. Ein Werbegeschenk.

»Aber sicher ist das eine gute Idee«, sagte ich. »Ich meine, dass wir… also, wenn wir in einer gemeinsamen Wohnung leben. Das ist doch auf jeden Fall toll, oder nicht?«

»Wenn es auf jeden Fall toll ist, dann kannst du ja auch zu mir nach Bergisch Gladbach kommen.«

»Bergisch Gladbach? Ich weiß nicht…«

Ich sah meiner linken Hand beim Spiel mit dem Kuli zu. Bergisch Gladbach kam mir immer vor wie ein Kölner Vorort. Wonne wusste das. Wir hatten schon öfter darüber gesprochen.

»Sag doch mal ehrlich, was dich in Wuppertal überhaupt hält?«, fragte sie.

»Mich hält? Na ja, ich bin hier aufgewachsen. Ich wohne schon seit…« Ich brach ab.

Ich war in Wuppertal groß geworden. Dann hatte es ein kleines Zwischenspiel in Köln gegeben, als ich versuchte, ein wenig zu studieren, jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Irgendwann war das Geld, das ich von meinen verstorbenen Eltern geerbt hatte, alle gewesen, und ich war zurückgekommen. Seither mühte ich mich ab, als Privatdetektiv über die Runden zu kommen.

»Das weißt du doch alles«, sagte ich missmutig. »Warum sollen wir uns jetzt darüber streiten?«

»Du hast mir immer noch nicht gesagt, was dich da hält.«

»Meine Freunde. Meine Wurzeln. Es ist mehr als zwanzig Jahre her, dass ich hier als Detektiv angefangen habe.«

»Wurzeln? Na gut, Wurzeln wirst du haben. Aber Freunde? Wenn du nicht gerade irgendwelche Ehebrecher überwachst…«

»Hör mal, ich hatte auch schon wichtigere Fälle.«

»Wenn du also nicht gerade irgendwelche Ehebrecher überwachst oder wichtigere Fälle löst, sitzt du doch nur zu Hause und guckst Fernsehen. Und das kannst du genauso gut hier in Bergisch Gladbach.«

In der Telefonleitung hörte ich Wonne leise atmen. Mir war klar, dass die Umzugspläne sehr bald unabwendbare Realität werden würden.

Werden mussten.

Meine Wohnung in Elberfeld war zu klein für eine dreiköpfige Familie. Sie bestand ja im Grunde nur aus einem winzigen Wohnzimmer, einem noch kleineren Büro, Schlafzimmer, Küche und Bad. Natürlich war es möglich, mein Büro zu einem Kinderzimmer umzufunktionieren. Aber dann hätte ich mir für die Arbeit was anderes mieten müssen. Und das konnte ich mir nicht leisten. Abgesehen davon…

Wonne sprach weiter. »Ich denke, wir sind noch jung genug, um uns räumlich ein bisschen zu verändern. Wenn du nicht nach Gladbach willst, dann lass uns doch einen Ort irgendwo in der Mitte nehmen. Zum Beispiel Leverkusen.«

Leverkusen… Natürlich wusste ich, dass die Stadt ihre schönen Ecken hatte. Aber für mich war sie nur Bayerkreuz und Bayergelände; die gesichtslose pseudofuturistische Innenstadt mit Betonüberfliegern und einer Art Stadtautobahn.

»Ist das vielleicht besser?«, sagte ich. »Dort kenne ich niemanden. Bist du denn da etabliert? Hast du da Freunde?«

»Immerhin ist die Stadt näher an Köln. Vielleicht kommst du dort leichter an Aufträge.«

Aufträge– ja, das war neben der Wohnungsfrage das zweite heikle Thema.

Aber wenn ich es mir recht überlegte… Eigentlich brauchte ich mein Büro ja kaum. Wenn ich mal einen Auftrag hatte, dann trieb ich mich ohnehin nur in der Stadt oder im Umland herum. Das Zimmer, das ich als Büro bezeichnete, kam nur zum Einsatz, wenn ich telefonierte, meine Post öffnete, oder – ganz selten– eine Rechnung schrieb. In Momenten, in denen ich über besonders großes seelisches Gleichgewicht verfügte, wagte ich sogar, an meinem Schreibtisch meine Kontoauszüge durchzusehen.

Auf Wonnes Seite der Leitung raschelte etwas. Das Geräusch kannte ich schon. Sie faltete eine Zeitung auseinander. Jetzt kam die Phase mit den Anzeigen. Es war nicht das erste, sondern wahrscheinlich das fünfhundertste Mal, dass wir dieses Gespräch am Telefon führten. Es fand meistens freitags statt, und heute war Freitag. Es endete immer damit, dass wir uns für das Wochenende verabredeten. Manchmal kamen wir dann samstags oder sonntags noch mal auf das Thema Wohnungssuche zurück. Vor allem, wenn uns eine Wochenendzeitung in die Hände fiel.

»Hier– Bergisch Gladbach, Ortsteil Hand. Fünf Zimmer. Es gibt sogar einen kleinen Balkon. Und einen Stellplatz. Hundertzwanzig Quadratmeter. Neunhundert kalt.«

Vor meinem geistigen Auge erschien eine lange Straße mit gleichförmigen Häusern. Eine Gegend, die eigentlich nur dadurch reizvoll erschien, weil es mittendrin einen Stehgriechen namens Kavala-Grill gab, bei dem man in einem Windfang ein wirklich vernünftiges Gyros bekam. Früher hätte mich das gereizt. Heute nicht mehr, denn Wonne war in meinem Augen die beste Köchin der Welt.

Immerhin hatte Bergisch Gladbach noch was anderes zu bieten. Zum Beispiel mitten in der Stadt einen Kreisel mit vierzehn Schranken, zweiundzwanzig Lichtzeichen und acht akustischen Signalgeräten. Angeblich war das einmalig in der Welt und zog sogar die Aufmerksamkeit von Straßenverkehrsfans aus Amerika auf sich. Dafür gab es keinen richtigen Autobahnzubringer. Den man aber vielleicht auch nicht brauchte, wenn die vierzehn Schranken mal wieder zuschlugen.

»Oder hier«, unterbrach Wonne meine Gedanken. »Bensberg, Schlossstraße. Na ja, bisschen teuer. Tausenddreihundert kalt. Zwei Monatsmieten Kaution. Da müssen wir erst mal im Lotto gewinnen.«

Schneller, als ich erwartet hätte, waren wir beim Thema Geld angekommen– meistens der Schlusspfiff in dieser Art Gespräch.

»Lass uns später noch mal drüber reden«, sagte ich. »Wir müssen das ja nicht unbedingt jetzt klären.«

Es war ein Moment der Schwäche, der mich das sagen ließ. Schon bevor ich den Satz halb ausgesprochen hatte, wurde mir klar, dass ich einen Fehler machte. Wonnes Stimme wurde sofort um mindestens zwei Grad schärfer.

»Natürlich müssen wir das jetzt klären, Remi. Ehrlich gesagt, hätten wir das alles schon längst in trockenen Tüchern haben sollen. Wann, denkst du denn, ist der richtige Zeitpunkt?«

Nächste Woche?, dachte ich. Nächsten Freitag?

»Remi, der kleine Mann in meinem Bauch wartet nicht. Er wächst und wächst, und am elften November ist er da.«

Wir hatten Witze gemacht, als der berechnete Termin feststand. Hatten uns ausgemalt, dass »der kleine Mann«, wie wir das Baby nannten, wahrscheinlich ein astreiner Karnevalsjeck werden würde. Vor diesem Hintergrund wäre es vielleicht sinnvoller, gleich nach Köln zu ziehen. Damit der kleine Mann vom ersten Tag seines Lebens an im passenden Umfeld lebte.

Allerdings wussten wir im Moment noch gar nicht, ob es ein kleiner Mann oder eine kleine Frau werden würde. Das wusste man erst, wenn etwas eindeutig Männliches auf dem Ultraschall zu sehen war. Das würde erst bei einer der kommenden Ultraschalluntersuchungen der Fall sein. Immerhin konnte Wonne schon spüren, wie sich der kleine Mensch bewegte, sagte sie.

»Die Zeit läuft, Remi. Denk dran. Wir können das nicht vertagen. Es betrifft nicht nur uns.« Ihre Stimme wurde ernster. »Und ich würde mir schon wünschen, dass du dich entschließt, nach Gladbach zu kommen. Wir sparen einiges dadurch. Eine große Wohnung ist billiger als zwei kleine. Und in den nächsten Monaten arbeite ich auch noch. Ich schaffe so viel Geld ran, wie es geht. Das solltest du aber auch tun.«

Ja, das sollte ich. Das hatten wir alles durch. Und ich wusste natürlich, dass Wonne recht hatte. Aber im Grunde meines Herzens war ich nun mal eher der Typ, der sich aus allem raushielt. Wenn ich nicht gerade an einem Fall arbeitete, war ich am liebsten für mich. Es war, als bräuchte ich diese Auszeiten, um zu mir selbst zu kommen, um Kraft zu tanken– Kraft für die nächste große Herausforderung. Andere gingen dazu in die Kneipe, wo sie vielleicht noch was anderes als Kraft tankten. Ich setzte mich in meine Wohnung und schaltete den Fernseher ein. »The Simpsons«, »Navy CIS«, von mir aus auch alte »Tatorte« oder irgendwelche obskuren Wiederholungen amerikanischer Krimiserien von »Magnum« bis »Drei Engel für Charlie« auf Digitalkanälen. Das war meine Welt.

»Du bist echt schwierig, weißt du das?«, sagte Wonne. »Aber vielleicht liebe ich ja gerade das an dir.«

Ja, ich war schwierig. Und jetzt, wo es ernst wurde mit dem Weichenstellen, ging mir auf, dass ich darüber hinaus ziemlich träge war.

Was hielt mich in Wuppertal?

Vielleicht half es, wenn ich mir diese Frage einmal selbst stellte. Ich wusste es nämlich nicht. Liebte ich die Schwebebahn? War ich vernarrt in die pittoreske Schmuddeligkeit der Hinterhöfe?

Meine Hand spielte immer noch mit dem dicken Kuli. Auf dessen Seite war in gelben Buchstaben, die halb blinden Kunden wahrscheinlich Goldschrift suggerieren sollten, mein Name eingeprägt. Der Werbemittelfirma, die mir das Schreibgerät als Gratismuster zugeschickt hatte, war jedoch ein Fehler unterlaufen. »Refugius Rot« stand da statt »Remigius Rott«. Offenbar hatten die suboptimal alphabetisiertes Personal beschäftigt, um Firmenadressen aus irgendwelchen Nachschlagewerken abzuschreiben und in eine Datenbank zu übertragen.

Der Kuli schrieb jedoch gut. Er schmierte nicht und hinterließ eine ordentliche blaue Linie.

»Und was liebst du an mir?«, fragte Wonne. Jetzt klang ihre Stimme schwach, weich und irgendwie klein. Wieder raschelte es. Sie legte die Zeitung weg. Das hieß, dass das Thema Wohnung erst mal aufgeschoben war.

»Musst du so lange mit der Antwort warten?«, moserte sie, als ich immer noch nichts erwiderte. »Das ist doch nicht dein Ernst. Was soll ich denn davon halten?«

»Dass du…«

Dass du so viel Geduld mit mir hast, wollte ich sagen, aber das Vorhaben ging in einem brutalen Schrillen unter. Jemand klingelte bei mir Sturm. Der Schreck ging mir durch Mark und Bein.

Ich sagte es schnell noch einmal.

»Du bist süß«, gab Wonne zurück, aber auch das ahnte ich mehr, als dass ich es wirklich hörte.

Schrill, schrill, schrill.

Genervt sprang ich auf, der Stuhl schrammte lautstark über das Laminat.

»Sorry«, rief ich. »Ich glaube, ich muss aufhören. Wann sehen wir uns?«

»Da scheint aber jemand deine Hilfe zu brauchen«, rief Wonne ins Telefon, während ich zur Tür eilte. »Na, dann mal los. Geld verdienen, Remi. Geld für die neue Wohnung. Und unseren kleinen Karnevalsprinzen. Oder Prinzessin…«

»Soll ich dich morgen anrufen?«

Ich fackelte nicht lange, sondern drückte gleich auf den Öffner und zog die Wohnungstür auf. Von unten war Getrappel zu hören. Jemand kam die Treppe herauf. In einem Tempo, als wollte er oder sie eine Flurolympiade gewinnen.

»Meld dich nachher noch mal«, sagte Wonne. »Und wenn du unbedingt in Wuppertal bleiben willst, bring eben auch mal Angebote von dort mit. Die schauen wir uns dann in Ruhe an. Ich arbeite jetzt auch noch ein bisschen… Ich habe gerade eine Menge zu tun.«

»Wir können ja am Wochenende irgendwo spazieren gehen.« Weil die Wohnungstür offen war, hallte meine Stimme im Treppenhaus. »Der Arzt hat doch gesagt, du sollst viel an die frische Luft…«

»Ich liebe dich«, sagte Wonne.

Ich wollte auch etwas sagen, doch da kam der Besucher in Sicht. Groß, trainiert. Der Mann trug Jeans und ein Flanellhemd mit Karos. Obwohl er gerannt war, wirkte er nicht angestrengt. Kein einziger Schweißtropfen stand auf seiner Stirn. Trotzdem ging von ihm ein stechender Geruch nach ungewaschenen Klamotten aus.

»Hallo Rott«, nuschelte er durch seine irgendwie zu kurzen Lippen, die seine Vorderzähne umkreisten, es aber nicht schafften, sie vollkommen zu bedecken. Das sorgte für einen ziemlich dämlichen Gesichtsausdruck.

Ich kannte den Mann. Und ich wusste, dass er mir kein Geld einbringen würde. Ganz im Gegenteil.

Ich wandte mich ab, wollte mich von Wonne verabschieden. Ihr noch schnell sagen, dass ich sie auch liebte, selbst wenn ich mich einfach nicht dazu entschließen konnte, von Wuppertal wegzuziehen. Ich wollte ihr sagen, dass ich in mich gehen würde, dass ich für mich selbst die Frage beantworten wollte, warum mir so viel daran lag, ausgerechnet hier zu wohnen. Ich wollte Besserung versprechen.

Aber sie ließ es nicht zu.

Mit einem kurzen »Tschüss dann«, unterbrach sie die Verbindung.

»Ist was los?«, fragte der Mann, der nun vor mir stand und ungehindert seinen Schweißgeruch verströmte. »Was Schlimmes?«

Ich musste ihn angesehen haben, als sei er schuld, dass ich mich nicht richtig von meiner Freundin verabschieden konnte. Und das war er ja auch. Na gut, eigentlich war er es nicht. Aber meine Laune sank trotzdem auf einen Tiefpunkt.

Damals, als ich an der Tür stand, hallten Wonnes letzte Worte in meinem Kopf nach. Und das tun sie heute noch. Ich wusste nicht, dass vieles ganz anders kommen würde als geplant. Und viel schneller. In jenem Moment raste, schnell wie ein apokalyptischer Asteroid, ein dicker Brocken Verhängnis auf uns zu. Und ich hatte keine Ahnung davon.

Der Besucher war Hauptkommissar Opladen von der Wuppertaler Kripo. Ein Mann, dem ich so manchen Gefallen schuldete.

»Du willst wohl das goldene Telefonhörnchen gewinnen, Rott?« Er grinste schief. »So lange, wie du telefonierst.«

»Was ist los, Opladen?«, fragte ich, dabei konnte ich es mir denken. »Ich dachte immer, Beamte hätten freitags um zwölf Uhr Dienstschluss. Und jetzt ist es schon halb eins.« Ein vergeblicher Versuch, ihn mit einem Witz abzuspeisen.

»Wer sagt, dass ich arbeite?«, entgegnete er. »Ist trotzdem dringend.«

Ich hatte keine Wahl. »Komm rein.«

Er schüttelte den Kopf. »Keine Zeit. Du musst mitkommen.«

»Ach, und wohin?«

»Erklär ich unterwegs.«

»Wenn ich aber gerade viel zu tun habe?«

»Hast du nicht.«

»Woher weißt du das?«

Er packte mich am Arm. In seinem Blick hatte sich etwas verändert. Bis eben war er vielleicht noch bereit gewesen, Späße mitzumachen, aber damit war jetzt Schluss.

2

Opladen war tatsächlich nicht im Dienst. Erstens war er mit seinem Privatwagen gekommen. Zweitens hatte er kein mobiles Blaulicht dabei, das er sich gelegentlich aufs Dach stellte, wenn er es eilig hatte.

So schlichen wir in seinem dreckigen, runtergekommenen Corsa durch den Wuppertaler Berufsverkehr.

Der Hauptkommissar sagte nichts. Gelegentlich sah er auf sein Handy. Einmal klingelte es mit einem Martinshorn-Klingelton, und Opladen führte ein kurzes Gespräch, aus dem ich aber nicht schlau wurde.

»Na, wenn das die Polizei sieht«, sagte ich. »Handy am Steuer ohne Freisprechanlage. Das wird teuer.«

Er wandte mir sein Gesicht zu und zeigte mir die Schneidezähne, die aus seinem offenen Mund herauslugten. Offenbar hatte er keine Ahnung, wovon ich sprach.

»Du könntest den Martinshornklingelton laut stellen und das Handy aus dem Fenster halten«, schlug ich vor. »Vielleicht machen die anderen dann Platz.«

Was uns verband, war eigentlich etwas Dienstliches. Vor Jahren hatte ich ihm mal geholfen, einen Bankräuber zu fassen. Seither erhielt ich von ihm gelegentlich kleinere Hinweise, an die man so ohne Weiteres nicht rankam. Dafür war ich in der Pflicht, gelegentlich auch mal was für ihn zu tun. Was selten vorkam. Jetzt war es offenbar wieder so weit.

»Da wir ohnehin im Stau stehen«, sagte ich, »könntest du mir doch erzählen, warum du mich aus dem Büro geholt hast. Ich meine nicht aus Höflichkeit. Nur so zur Unterhaltung.«

Opladen hatte sich die Blankstraße entlanggearbeitet. Nun ging es weiter stadtauswärts, über die Ronsdorfer.

»Muss jemanden festnehmen«, informierte er mich. »Kann die Kollegen dabei nicht gebrauchen.«

Aha, dachte ich. Das lässt nur einen Schluss zu.

»Hast du wieder Mist gebaut?«

Er sah nicht mich an, sondern die Straße und gönnte ihr ein Nicken. »Der Mann heißt Erwin Brambach«, sagte er. »Flüchtiger Knacki.«

Da klingelte etwas bei mir.

»Ist das der, über den neulich was in der Zeitung stand? Der auf Freigang war und abgehauen ist? Wegen dem die Polizei sich zum Obst gemacht hat?«

»Kein Freigang«, sagte Opladen.

»Aber Obst trotzdem?«

»Brambach musste zum Arzt. Draußen. Das dürfen Knackis. Wir begleiten sie. Dabei ist er weg.«

»Und wir fahren jetzt irgendwohin, wo du ihn festnimmst?«

»Erfasst, Rott.«

»Das heißt, der wartet da auf uns? Er steht brav rum, bis wir uns am frühen Freitagnachmittag durch den Stau irgendwohin gequält haben? Wieso schickst du nicht einfach einen Streifenwagen an diesen geheimnisvollen Ort? Warum muss ausgerechnet ich dir dabei helfen?«

Opladen schloss langsam rollend eine zwei Meter lange Lücke in der Schlange und starrte eine Weile auf die Rücklichter des Vordermannes.

»Anonymer Hinweis«, sagte er dann. »Vor einer knappen Stunde.«

»Das erklärt aber immer noch nicht, warum nicht auch andere Polizisten Brambach festnehmen können. Mensch, Opladen, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.«

Er schwieg.

»Lass mich raten«, fuhr ich fort. »Der Beamte, der Brambach zum Arzt begleitet hat, warst du. Wahrscheinlich haben sie dich strafversetzt oder so was. Statt Mordkommission darfst du jetzt Häftlinge spazieren führen. Und sogar dafür warst du zu dämlich. Wenn du diesen Brambach nicht wiederfindest, musst du als Nächstes vermutlich den Verkehr regeln oder Punkte in Flensburg zählen. Falls sie dich nicht ganz rausschmeißen und dir die Pension streichen. Wenn du Brambach aber…«

»Schluss, Rott«, rief Opladen. »Es reicht.«

»…sozusagen eigeninitiativ zurück in den Strafvollzug beförderst, kassierst du vielleicht ein Lob für besonderen außerdienstlichen Einsatz oder so was in der Art.«

»Du bist ein Arsch.«

»Danke für diese netten Worte. Ich nehme an, du willst damit den Gefallen würdigen, den ich dir gerade tue, oder?«

»Hab dir auch schon Gefallen getan.«

Ich atmete tief durch und zählte innerlich bis zehn. Er hatte ja recht. Ich brauchte hin und wieder seine Hilfe. Und jetzt brauchte er halt mal mich. Das mit dem angepeilten Sonderlob konnte tatsächlich sein Motiv sein, diesen Alleingang zu wagen und mich hinzuzuziehen, obwohl das krass gegen die Vorschriften verstieß. Ich war ja kein Bulle, hatte keine Befugnisse. Aber eigentlich brauchte ich mir darüber keine Gedanken zu machen. Es war nicht meine Sache. Ich ärgerte mich gar nicht wegen Opladen, sondern wegen der Sache mit Wonne. Das Thema Wohnungssuche verfolgte mich. Genau genommen ärgerte ich mich eigentlich nur über mich selbst. Dass ich hier mit Opladen herumgondelte, war nicht das Problem. Im Gegenteil. Beim nächsten Mal hätte ich wieder was gut beim Hauptkommissar.

Ich blickte nach draußen. Einen Moment lang dachte ich, Opladens Ziel sei die JVA Ronsdorf, aber das machte wenig Sinn, denn die Zielperson war ja schon abgehauen. Es ging weiter in RichtungA1. In Linde lenkte Opladen seinen Wagen auf die Autobahn. Dort gab er mächtig Gas, als wollte er zeigen, was in dem alten Corsa steckte. Doch nach ein paar Kilometern bremste er schon wieder ab und fuhr auf den Rastplatz Remscheid.

Ich habe keine Ahnung, ob es Bücher über Autobahnraststätten gibt. Aber wenn es sie gibt, vielleicht sogar eins mit dem Titel »Einhundertelf Autobahnraststätten, die man gesehen haben sollte«, dann darf Remscheid-Ost darin nicht fehlen. Die Anlage besitzt mehrere Besonderheiten. Eine davon nutzte Opladen jetzt, indem er von einer Autobahnseite auf die andere fuhr– hinüber zur Raststätte Ost, die eine kleine Welt für sich war.

Unten gab es ein typisches Rasthaus mit Tankstelle und allem, was dazugehört. Dahinter lag über der Kurve, die die Autobahn unten im Tal beschrieb, ein Hang. In mehreren Schleifen führte serpentinenartig eine Straße hinauf. In jeder Kurve gab es einen Parkplatz. Ganz oben thronte ein kantiges Gebäude: ein Motel mit Restaurant und Wanderparkplatz davor, das auf die endlosen Blechströme im Tal herabsah. Von dort aus konnte man Touren ins Bergische Land unternehmen oder die Eschbachtalsperre besuchen, die sich gleich hinter dem Motel erstreckte. In diesem Sinne war die Raststätte Remscheid-Ost weit mehr als nur ein Haltepunkt für müde Autofahrer. Sie war ein Ziel für Wanderer, Naherholungsgebiet und Treffpunkt gleichermaßen. Oben saßen Senioren beim Kaffee zusammen und verknüpften ihre Sahnetortenschlacht mit einem Spaziergang um die Talsperre. Berufstätige legten auf dem Nachhauseweg einen Stopp zum Joggen in freier Natur ein. Andere kamen her, um den Hund auf den weitverzweigten Waldwegen Gassi zu führen.

»Wenn sich Erwin Brambach hier versteckt hält, ist er clever«, sagte ich. »Das ist ja alles total unübersichtlich.«

Opladen fand ganz oben eine Parklücke und schaltete den Motor aus.

»Streifenwagen geht hier nicht«, erklärte er. »Würde man schon von Weitem sehen. Und viele Kollegen kennt Brambach auch.«

»Klar, zum Beispiel dich.«

»Ist halt immer ein Risiko.«

»Okay, bringen wir’s hinter uns.«

Ich wollte aussteigen, aber er hielt mich am Arm fest.

»Du nimmst die Sache nicht ernst, Rott«, sagte er und griff ins Handschuhfach. »Guck dir erst das Bild an.«

Er hatte recht. Ich nahm das nicht ernst. Ich glaubte nicht, dass wir Brambach hier fanden. Aber ich tat Opladen den Gefallen, mitzuspielen.

Es war ein typisches Fahndungsfoto. Es zeigte den Flüchtigen einmal von vorne, dann von beiden Seiten, nebeneinander auf ein DIN-A4-Blatt kopiert. Ich blickte in das schlecht rasierte Gesicht eines etwa Fünfunddreißigjährigen. Ungepflegtes Haar, dunkle Augen. Senkrechte Falten an den Wangen. Wenn er sich zur Tarnung eine Glatze geschnitten, rasiert und etwas zugenommen hatte, würden wir ahnungslos an ihm vorbeilaufen.

»Wir müssen schnell sein«, sagte Opladen. Er fummelte an seiner Hüfte herum. Ich erkannte unter dem Hemd, das er über der Hose trug, eine leichte Ausbeulung. Eine Waffe. »Du gehst runter zur Tanke, ich geh ins Motel. Meine Handynummer hast du? Meld dich, wenn du ihn siehst. Unternimm aber nichts. Dich kennt er nicht. Ist ein Vorteil.«

Klar, dachte ich. Dich sieht er vermutlich schon durchs Fenster und haut durch den Hinterausgang ab. Hinein in die Weite des Bergischen Landes, während du noch unten stehst und an der Rezeption das Foto zeigst.

Aber wie gesagt– ich machte mit.

Wie auf Kommando hatte es zu nieseln begonnen, als wir das Auto verließen. Ich hatte keinen Schirm, aber ich trug den hellgrauen Mantel, den mir Wonne zum Geburtstag geschenkt hatte. Genau das Richtige für einen kaputten bergischen Sommer wie diesen. Außerdem erinnerte das Kleidungsstück ein bisschen an den legendären Detektiv Philip Marlowe. Wonne hatte gedacht, das sei passend für mich. Nun brauchte ich nur noch einen Hut. Vielleicht bekam ich den ja zu Weihnachten.

Ich sah niemanden, der Brambach ähnlich sah. Nicht auf dem Weg den Hang hinunter und nicht unten an den Bussen, wo es eine Menge Gedränge am Zugang zu den Toiletten gab. Als ich die Theke mit den Sandwiches ereichte, fiel mir ein, dass ich noch nicht zu Mittag gegessen hatte. Aber die Apothekenpreise hier unten musste ich mir nun wirklich nicht antun. Dann schon lieber ins Motelrestaurant. Ein Mittagessen mit Ausblick auf dieA1 hatte vielleicht was.

Ich stellte mich etwas abseits neben die Busse und ließ den Blick schweifen. Es war besser, nicht zu schnell wieder oben zu sein. Vielleicht kam Opladen sonst noch auf die Idee, eine Wanderung um die Talsperre zu unternehmen. Darauf hatte ich keine Lust.

Nachdem ich eine Weile herumgestanden hatte, klingelte mein Handy.

»Und?«, fragte Opladen.

»Nichts. Sonst hätte ich mich doch gemeldet. Bei dir?«

»Kannst du dir denken.«

»Was hat der anonyme Tippgeber eigentlich genau gesagt?«

»Was wohl? Dass Brambach hier sein soll. Das Bild war ja in der Zeitung.«

»Mensch, Opladen. Dann war er mit dem Auto unterwegs und ist längst wieder weg. Das machen die Leute so an Autobahnraststätten. Da herrscht ein ständiges Kommen und Gehen.«

»Weiß ich. Aber die sagte, Brambach sei öfter hier.«

»Die?«

»Es war ’ne Frau.«

»Und was heißt öfter?«

»Keine Ahnung.«

Das hatte doch alles keinen Zweck. Während wir redeten, lenkte ich meine Schritte zurück den Berg hinauf. Am besten, wir trafen uns oben und ich brachte Opladen dazu, mich wieder heimzufahren.

»Wieso weißt eigentlich nur du von diesem Anruf? Ich meine, sind deine Kollegen nicht auch informiert worden? Und gehen der Sache nach?«

»Glück, Rott. Der kam auf meinen Apparat. Und du weißt ja: Ich kann gut mit Frauen.«

»Ja, ja, du kannst gut mit Frauen. Aber ihren Namen hat sie nicht gesagt, oder? Weißt du was? Ich komm jetzt rauf, und dann…«

Ich brach ab, weil mich etwas aus dem Konzept brachte. Ein Wagen, den ich kannte, war an mir vorbeigefahren. Ein kleines rotes Auto mit Bergisch Gladbacher Kennzeichen. Es kurvte die Straße hinauf. Ich hatte den blonden Haarschopf der Fahrerin erkannt. Er gehörte Wonne.

»Was ist?«, fragte Opladen im Telefon.

»Wir treffen uns oben«, sagte ich, drückte den roten Knopf und lief los. Es nieselte immer noch. Die Luft war feucht, aber trotz des herbstlichen Anflugs warm. Ich begann zu schwitzen. Als ich den obersten Parkplatz erreichte, fand ich ihren Wagen erst nicht. Ich lief dorthin, wo Opladen geparkt hatte– an der Kurve, die von der obersten Ebene hinunterführte.

Dann sah ich sie. Sie war gerade aus dem Wagen gestiegen und schien irgendwas in ihrer Handtasche zu suchen. Dabei drehte sie sich von mir weg.

Ich rief ihren Namen. Sie hörte mich nicht. Ich rief noch einmal. Mir kam der Gedanke, dass die Frau dort drüben, etwa fünfzig Meter entfernt, vielleicht doch nicht Wonne war, sondern nur jemand, der ihr ähnlich sah. Aber dann wandte sie mir ihr Gesicht zu. Sie war es wirklich. Was machte sie hier?

Sie erkannte mich. Ging auf mich zu. Aber sie kam nur wenige Schritte weit.

In der Kehre zwischen den Straßen schmückte eine eigenartige Bronzefigur den Rasen. Es war die stilisierte Darstellung einer ziemlich dicken Frau auf einem Betonblock, die gerade eine Yoga-Übung zu versuchen schien. Etwas, was mit Gleichgewicht zu tun hatte: die Beine kreuzen, die Arme irgendwie verschränken. Mir war die Figur schon früher aufgefallen, aber ich hatte keine Ahnung, was sie darstellen sollte oder warum sie hier überhaupt stand. Vielleicht war sie ein Zeichen dafür, dass man sich hier oben vor dem Motel, in unmittelbarer Nähe des Waldes und der Talsperre, nicht mehr auf einer Autobahnraststätte befand, sondern in einem Naherholungsgebiet. Obwohl das gleichmäßige Rauschen des Verkehrs im Tal einen ständig an die meistbefahrene Verkehrsader Deutschlands erinnerte.

Die schlanke Wonne mit ihrem hellen Haar stand neben der grünlich grauen Figur, die durch ihre Farbe fast mit dem Hintergrund aus Bäumen und Sträuchern verschwamm. Wieder griff sie in die Handtasche, und jetzt wusste ich auch, warum. Sie hatte sich am Auto wohl gefragt, ob sie einen Schirm brauchte. Die Regenstärke stand ja gerade so auf der Kippe vom Nieselregen zum richtigen Niederschlag. Jetzt war sie wohl zu dem Ergebnis gekommen, dass ihr Knirps zum Einsatz kommen musste, und sie griff in die Tasche.

Auf einmal presste sie die Hand auf die Brust. Etwas schien ihr plötzlich wehzutun.

Sehr wehzutun.

Es quälte sie so, dass sie ins Taumeln geriet. Die Tasche rutschte an ihr herunter, fiel ins Gras. Wonne beugte die Knie. War ihr schlecht geworden?

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich einen trockenen Knall vernommen hatte. Ein Geräusch, wie man es dort, wo Autos waren, immer mal hören konnte und auf das ich nicht geachtet hatte.

Sie löste ihre Hand von der Brust. Auf ihrer Bluse breitete sich etwas Dunkles aus.

Meine Beine waren wie von selbst losgerannt. Erst als ich bei ihr war, überrollte mich die Erkenntnis. Sie verpasste mir einen Faustschlag, der mich einen Moment lang lähmte. Ich versuchte, Wonne zu packen, doch sie fiel einfach hin und blieb auf dem Rücken liegen.

Um mich herum erhob sich Geschrei. Leute kamen angelaufen. Ich sah es aus den Augenwinkeln, denn ich blickte nur meine Freundin an.

Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Ihr Mund formte etwas. Meinen Namen.

»Remi«, hauchte sie. »Remi.«

Jetzt, endlich, löste ich mich aus meiner Erstarrung. Meine Hand war taub, als ich nach dem Handy tastete. Da hörte ich, wie jemand etwas von »Notarzt« rief. Es fiel mir schrecklich schwer, den Blick von Wonne, meiner Wonne, abzuwenden, aber ich musste mit den Leuten reden.

»Sagen Sie, dass es eine Schussverletzung ist«, schrie ich den älteren Herrn mit Regenjacke an, der gerade das Handy ans Ohr hielt. »Sagen Sie es«, bellte ich. »Es ist wichtig. Sofort.« Er gehorchte. »Und sie ist schwanger«, rief ich. »Ungefähr vierter Monat. Sagen Sie das auch.«

Die Polizei.

Wo war die Polizei?

Wo war Opladen?

Ich beugte mich wieder zu Wonne, aus deren Brust immer mehr Blut sickerte. Ich legte meine Hände unter ihren Kopf, flüsterte ihren Namen. Sie hatte die Augen geschlossen und sagte nichts. Und ihr Gesicht war weiß wie Papier, der Lippenstift, der Lidschatten grausame Masken.

Lass sie nicht tot sein, hämmerte es in mir.

Nicht tot.

Ich packte ihr Handgelenk. Da musste doch der Puls sein. Ich fand ihn, oder vielmehr glaubte ich, ihn zu finden, verlor ihn jedoch wieder und wusste nicht, ob ich mit meinen gefühllosen Fingern überhaupt etwas gespürt hatte. Dann kam es mir vor, als ob Wonne den Kopf bewegte. Gleichzeitig schien sich in mir ein furchtbarer Abgrund aufzutun. Ein Gefühl von tiefer Leere und Schwäche, während es in meinen Ohren ratterte und sauste.

Als ich den Kopf wieder hob, wurde mir klar, dass das Geräusch nicht in mir war. Jedenfalls nicht mehr, denn unter ohrenbetäubendem Knattern senkte sich wie ein riesiges Insekt ein leuchtend orangefarbener Hubschrauber auf einen der unteren Parkplätze. Die Rotoren erzeugten einen Sturm, unter dem sich die Äste der Bäume am Waldrand bogen.

Es musste viel Zeit vergangen sein. Mehrere blau-silberne Streifenwagen standen da. Man hatte den Bereich abgesperrt. Opladen stach mit seinem karierten Hemd hervor. Er sprach mit einem Beamten, telefonierte gleichzeitig. Und dann kam das Team aus dem Hubschrauber mit einer Trage zu uns herübergerannt.

Das bedeutet, dass sie noch lebt, dachte ich. Sonst würden sie ja nicht kommen. Sie lebt. Und der kleine Mann lebt auch. Noch.

Man zog mich weg. Die Sanitäter mit Anzügen in der gleichen grellen Farbe wie der Hubschrauber beugten sich über sie. Ich sah nur noch Wonnes Beine auf dem Rasen liegen. Ihre Füße in den braunen Stiefeln mit den hohen Absätzen.

»Sie ist schwanger«, rief ich wieder. »Vierter Monat.«

Sie reagierten nicht. Dokterten nur an ihr herum. Es schien ewig zu dauern. Ich spürte Nässe am Bein. Ich kniete auf dem Rasen, ohne es bemerkt zu haben.

Wenn sie jetzt aufstehen und die Köpfe schütteln, dachte ich, und mir wurde unendlich flau. Die Umgebung schien sich zu verdunkeln.

Dann rief einer etwas. Sie legten Wonne auf die Trage, brachten sie im Laufschritt zum Hubschrauber, luden sie ein. Ich rappelte mich auf, und dabei wurde mir schwarz vor Augen. Aber ich musste doch hinterher. Nach ein paar Schritten hielt mich jemand fest. Ich schrie, wollte mich losreißen. Zwei Uniformierte waren plötzlich da und drängten mich weg. Eine Menschenmenge hinter der Absperrung sah zu.

Der Mann, der mich festgehalten hatte, war Opladen.

»Kein Zweck, Rott«, rief er. »Später.«

»Wohin bringen sie sie?«

»Merheim.«

»Ist das nicht zu weit? Das ist doch Köln. Was ist mit Gummersbach? Wuppertal?«

Der Hubschrauber knatterte jetzt richtig los, erhob sich in den Himmel, wurde zu einem schwarzen Umriss und verschwand in Richtung Köln.

»Merheim ist richtig, glaub mir. Die sind spezialisiert. Und der Helikopter braucht keine zehn Minuten.«

Das sich entfernende Geräusch verschmolz nach und nach mit dem Rauschen der Autobahn.

»Ich muss dahin«, sagte ich. »Ich muss zu ihr. Kann mich jemand hinbringen?«

Die Tür eines Streifenwagens wurde geöffnet. Ich wurde auf die Rückbank verfrachtet. Die Türen schlugen zu, der Lärm blieb draußen.

Die uniformierten Beamten und Opladen standen vor der Kühlerhaube und schienen über irgendwas zu diskutieren. Ich konnte sie nicht hören. Ab und zu rauschte eine knappe Meldung aus dem Funkgerät.

Schließlich stiegen die beiden Beamten vorne ein. Opladen blieb draußen und ging weg. Das Martinshorn ertönte. Die Menschen auf der Serpentinenstraße machten Platz, als wir losrollten. Dann nahm der Wagen Fahrt auf. Es waren noch mehrere Streifenwagen vor uns. Auf der Autobahn fingen sie an zu rasen. Doch dann verließen wir dieA1. Da stimmte was nicht.

»Was macht ihr?«, schrie ich. »Nach Merheim geht’s in die andere Richtung.«

Zuerst kam keine Reaktion.

»Hallo?« Meine Stimme überschlug sich. »Da ist gerade meine Freundin angeschossen worden. Ich will zu ihr. Wohin fahrt ihr denn?«

3

Ich schloss die Augen, doch ich wurde die Bilder nicht los– die Bilder von ihrem schrecklich blassen, geschminkten Gesicht, von dem Schattenriss des Hubschraubers am Himmel.

Irgendwann bremste der Wagen. Wir waren am Polizeipräsidium in der Friedrich-Engels-Allee angelangt. Es ging durch das hintere Tor auf den Parkplatz. Der Beifahrer sprang hinaus und öffnete mir die Tür, als wäre ich ein Staatsgast.

»Kommen Sie bitte mit, Herr Rott.«

»Hören Sie, ich muss nach Merheim zu meiner Freundin.«

Er ging in das Gebäude. Ich folgte ihm. »Haben Sie wenigstens diesen Brambach erwischt?«, rief ich. »Können Sie mir sagen, ob…«

»Gehen Sie bitte hier rein. Die Kollegen kommen gleich.«

Wir waren an einem kleinen Raum angekommen, in dem sich ein paar Stühle und ein Tisch befanden. Der Beamte schob mich hinein, die Tür schloss sich, und ich war allein.

Was sollte das?

Na gut, Sie brauchten mich als Zeugen. War ja zu verstehen.

Aber ich musste nach Merheim. Vielleicht konnte ich wenigstens anrufen. Wie war die Nummer?

Ich wollte im Internet nachsehen und griff nach meinem Smartphone.

Gerade hatte ich es aus der Tasche geholt, da hörte ich Stimmen auf dem Flur. Drei Zivilbeamte kamen herein. Einer von ihnen kam mir bekannt vor.

Es war Kriminaldirektor Günther. Leiter der Direktion Kriminalität. Chef von soundso vielen Beamten. Wie immer im Anzug. Diesmal in einem Modell aus grau glänzendem Stoff. Seine hellen Augen fixierten mich, während er sich in einen Stuhl fallen ließ. Die Kollegen blieben stehen.

»Guten Tag, Herr Rott. Warum nehmen Sie nicht Platz?«

»Ich glaube, ich stehe lieber. Und außerdem…«

»Nun setzen Sie sich schon.«

»Kann ich nicht erst nach meiner Freundin sehen?«

»Sie ist in der Klinik und wird versorgt. Sie können gleich zu ihr. Wenn wir die Sachlage geklärt haben.«

»Die Sachlage? Ich habe Brambach nicht gesehen.«

»Was haben Sie denn überhaupt dort zu suchen gehabt? Ich meine, Sie und Frau Freier?«

»Zu suchen gehabt…« Ich zögerte. Was konnte ich sagen? Durfte Günther wissen, dass Opladen mich geholt hatte, um ihm bei der Festnahme zu helfen? Natürlich nicht. Mir wurde klar, dass ich ganz schnell eine gute Geschichte brauchte.

»Es ist doch kaum ein Zufall, dass Sie ausgerechnet dort auftauchen, wo einer meiner Kommissare gerade nach jemandem fahndet. Sie und Ihre Freundin.«

»Zufall… na ja, warum nicht? So was kann vorkommen.«

»Kann es. Was wollten Sie dort?«

Ich schwieg.

»Wussten Sie, dass Herr Opladen dort sein würde?«

»Ja… also.«

»Sie wussten, worum es ging?«

»Nicht so richtig.«

»Warum haben Sie dann eben gesagt, Sie hätten Brambach nicht gesehen? Sie kennen sogar seinen Namen. Sie wussten, warum Herr Opladen dort war.«

»Ja, ich habe Herrn Opladen getroffen. Er hat mir das von Brambach gesagt.«

»An der Raststätte?«

»Ja.«

»Er stellt das aber ganz anders dar.«

Pause. Alle starrten mich an. Ich schwitzte.

Verdammter Mist, dachte ich. Verdammter, verdammter Mist.

Ich räusperte mich. »Und wie stellt er es dar?«

»Er sagt, Sie hätten behauptet, Brambach dort gesehen zu haben. Damit hätten Sie Herrn Opladen dazu gebracht, zu der Raststätte zu fahren.«

»Was?«

»Und dann wäre Frau Freier aufgetaucht und jemand hätte geschossen. Was ist Ihre Freundin von Beruf, Herr Rott?«

»Journalistin. Aber das hat doch damit nichts…«

»Nichts zu tun? Herr Rott, was gibt es denn Besseres für eine Journalistin, als bei einer Festnahme dabei zu sein? Es tut mir wirklich leid, dass Ihre Freundin verletzt wurde, aber man sollte sich in so was nicht einmischen. Das wissen Sie. Sie haben Frau Freier mit diesem Spielchen selbst in Gefahr gebracht.«

»Habe ich nicht. Das stimmt doch alles nicht.«

»Was stimmt denn dann?«

Es war mir egal, wenn Opladen Ärger bekam. Ich erzählte alles, und ich sagte die Wahrheit. Dass der Hauptkommissar mich abgeholt hatte. Dass ich ihm helfen sollte, nach Brambach zu fahnden.

Als ich fertig war, beugte sich Günther vor und betrachtete mich eine Weile. Dann wandte er sich zu seinen Kollegen um, die wie auf Kommando grinsten und die Köpfe schüttelten. Günther drehte sich zurück und sah mich wieder an.

»Was ist das denn für eine Geschichte? Warum hätte Herr Opladen das tun sollen?«

»Fragen Sie ihn. Vielleicht sagt er es Ihnen.«

»Selbst wenn es stimmen würde. Was hätte dann Ihre Freundin dort gewollt?«

»Das frage ich mich auch.«

Er schwieg wieder eine Weile. Ihm schien ein neuer Gedanke durch den Kopf zu gehen.

»Der Hinweis kam von einer anonymen Anruferin, sagten Sie. Diese Frau war nicht zufällig Ihre Freundin? Um eine Polizeiaktion für die Presse zu provozieren?«

»Blödsinn!«, rief ich. »Wenn Sie mir die Sache mit Opladen nicht glauben wollen– okay. Aber das ergibt ja nun gar keinen Sinn. Wenn sie so was gemacht hätte, wäre Brambach nicht dort gewesen. Und aus der Polizeiaktion wäre nichts geworden. Außerdem, wer hätte dann schießen sollen, wenn alles ein Fake war?«

»Eben. Es ist Blödsinn. Vielleicht wissen Sie also tatsächlich, wo Brambach steckt? Sie wissen doch sonst immer so viel.«

»Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß, und das war die Wahrheit. Ich will jetzt gehen.«

»Nehmen wir an, Ihre Freundin war wirklich zufällig da«, wandte Günther ein. »Wann haben Sie Frau Freier das letzte Mal gesehen? Ich meine, vor dem Ereignis an der Raststätte?«

»Gestern.«

»Haben Sie in der Zwischenzeit mit ihr gesprochen? Telefoniert?«

Ich seufzte. »Hören Sie, das bringt doch alles nichts. Ich kann Ihnen nur sagen, wie es gewesen ist. Ich war mit Opladen da. Wonne, ich meine, Frau Freier, kam dazu. Ich weiß nicht, warum. Ich war selbst darüber erstaunt. Ich wollte gerade mit ihr sprechen, da fiel schon der Schuss.«

»Warum nehme ich Ihnen das nicht ab, Herr Rott?«

»Weiß ich doch nicht.«

»Sie haben gewusst, dass Brambach dort sein würde. Sie haben den Hauptkommissar dorthin gelockt…«

»Ich habe gar nichts.«

»Sie haben Kontakt zu Brambach. Oder sie hatten ihn. Was wissen Sie? Sagen Sie es uns.«

Ich hatte die graue Tischplatte vor mir angesehen. Nun hob ich den Kopf.

»Ich weiß nur, was in der Zeitung stand. Dass er abgehauen ist. Es war so, wie ich sagte. Ich habe nicht gesehen, woher der Schuss kam. Und ganz bestimmt habe ich nicht mit einem solchen Verlauf der Ereignisse gerechnet. Mehr habe ich nicht auszusagen.«

Günther nickte. »Also gut. Wir werden dem nachgehen, Herr Rott. Wir werden allem nachgehen.«

»Das hoffe ich doch. Ich bin genauso daran interessiert, dass Brambach bestraft wird, wie Sie. Mehr sogar.«

Niemand hielt mich auf, als ich hinausging. Erst als ich auf dem Gang war, drängten sie sich an mir vorbei.

»Eins noch«, sagte Günther. »Keine Alleingänge. Brambach ist gefährlich. Halten Sie sich zurück.«

Damit ging die kleine Truppe davon.

Ich blieb stehen, stützte mich auf eine Fensterbank. Hinter der Scheibe lag die triste Hinterhofszenerie von der Rückseite des Präsidiums.

Schließlich holte ich mein Handy heraus und suchte die Nummer der Merheimer Klinik im Internet. Ich konnte mit meinen zitternden Händen kaum tippen.

Nach mehrmaligem Verbinden bekam ich jemanden an den Hörer, der mir Auskunft geben konnte.

»Herr Rott?«, wiederholte eine weibliche Stimme meinen Namen. »Sind Sie mit der Patientin verwandt?«

»Das nicht, aber…«

»Nicht?«

»Doch, doch«, sagte ich. »Ich hatte mich verhört. Frau Freier ist meine Frau.«

»Ich kann Ihnen am Telefon ohnehin nichts sagen.«

»Was ist mit dem kleinen Mann, ich meine, mit dem Kind? Wissen Sie, dass sie schwanger ist?«

»Ja, das wurde mitgeteilt. Der Notarzt hat es uns gesagt.«

»Dann kann ich gar nichts tun? Wann kann ich denn zu ihr?«

»Nach der Operation.«

»Das heißt, sie lebt. Sie wird operiert, und wenn sie aufwacht, kann ich mit ihr sprechen.«

»Das kann Ihnen nur ein Arzt sagen. Kommen Sie am besten her.«

»Wie lange wird die Operation noch dauern?«

»Das weiß ich leider nicht. Aber es scheint langwierig zu sein. Kommen Sie am besten her, so schnell Sie können. Auf Wiederhören.«

Ich legte auf und starrte aus dem Fenster. Dann setzte ich mich in Bewegung, denn ich hatte was zu klären.

»Rott. Wie kommst du hierher?«

Ich hatte einfach Opladens Büro betreten. Der Hauptkommissar blickte erschrocken nach links und rechts, aber es waren keine Kollegen in der Nähe.

»Ich bin mit meinen Füßen in dein Büro marschiert, stell dir vor. Oder dachtest du, dein großer Chef hätte mich schon eingebuchtet?«

Er senkte die Stimme. »Kannst du nicht machen. Wir haben Ärger.«

»Nicht wir, Opladen. Ich. Weil du denen einen vom Pferd erzählt hast.«

Er stand auf und holte einen Schlüssel aus der Schublade, dann ging er zur Tür.

»Wo willst du hin?«

»Heim.«

»Du bleibst hier. Du musst mir helfen.«

Wieder sah er sich unsicher um.

»Nein.«

»Hier, du hast vergessen, was zu bearbeiten.«

Sein Schreibtisch war bis auf eine aufgeschlagene Akte leer. Ich überflog sie, weil ich intuitiv dachte, sie hätte etwas mit Brambach zu tun. Aber es war etwas anderes. »Unbekannte Männerleiche«, stand auf dem Deckblatt. Ich fand sogar eine Ortsangabe. Beyenburg.

»Für die Kollegen«, sagte Opladen. »Geh weg, Rott. Du hast eben Mist gebaut. Tut mir leid wegen deiner Freundin.«

Er verließ den Raum und marschierte über die Gänge. Ich folgte ihm bis in den Hinterhof. Zum Glück kamen wir nicht an Günther und seinen Leuten vorbei. Die anderen Beamten, denen wir begegneten, dachten wohl, ich hätte irgendwas Dienstliches mit Opladen zu tun. Als er in sein Auto steigen wollte, packte ich ihn. Er wehrte sich.

»Rott, was soll der Scheiß? Du bist hier auf Polizeigelände.«

»Ich hab Mist gebaut? Ich hab gar nichts gemacht. Du wirst was für mich tun, Opladen. Hör mir genau zu. Ich will genau zwei Dinge von dir. Erstens: Schwör mir Stein und Bein, dass die Sache auf der Raststätte wirklich mit Brambach zu tun hatte.«

Er sah mich verwirrt an. »Spinnst du? Woher soll ich das wissen? Ich weiß doch nicht, wer geschossen hat.«

Ich hielt einen Moment inne. Er hatte recht. »Ich meine was anderes. Hast du mich wirklich nur mitgenommen, um nach der Festnahme als Held dazustehen? Oder gibt es noch was, das ich wissen sollte?«

»Keine Ahnung, was du meinst. Vermutlich war es Brambach, das liegt auf der Hand. Aber genau wissen wir das erst, wenn wir ihn haben. Oder nach weiteren Ermittlungen.«

Ich überlegte einen Moment. Sicher, die Polizei brauchte einen hundertprozentigen Beweis, um davon auszugehen, dass es Brambach gewesen war. Ich brauchte den nicht. Ich benutzte nämlich meinen gesunden Menschenverstand. Und der sagte mir Folgendes: Die Wahrscheinlichkeit, dass bei so einer Suchaktion ein anderer als der Gesuchte da rumballerte, war so gering wie zwei Sechser im Lotto in Folge. Ach was, drei. Mindestens zehn.

»Und jetzt kommt Punkt zwei«, sagte ich. »Du wirst mir die Akte von diesem Brambach besorgen. Alles, was es über ihn gibt. Ich will wissen, was das für ein Typ ist, der auf meine Freundin geschossen hat.«

Er machte sich los. Umso besser. Der Schweißgeruch hatte in den vergangenen Stunden schwer zugelegt. Wahrscheinlich stellte das alles hier Opladens Deo auf eine harte Probe. Seit Weihnachten, als er das letzte Mal welches benutzt hatte. Falls überhaupt.

»Wie, denkst du, soll ich das machen?«, fragte er.

»Mir egal. Kopier sie. Schick sie mir. Scan sie ein und mail sie.«

Er machte ein Gesicht, als hätte ich was Saublödes gesagt. »Vergiss es. Ich schulde dir nichts, Rott.«

Ich konnte nicht an mich halten und packte ihn an der Gurgel, schüttelte ihn. Aus Opladens Kehle kam ein undefinierbares Röcheln. Die Wut in mir schlug jetzt wieder frische Flammen, hell und heiß. Ich hörte es richtig knistern und fauchen.

»Du Arschloch. Du hast Wonne und mich in diese Situation gebracht und gibst es noch nicht mal zu. Wenn dem Kind oder Wonne was passiert… wenn die nicht durchkommen…« Ich brachte es kaum über die Lippen. »Opladen, ich mach dich alle. Es ist mein Ernst. Ich hätte nichts mehr zu verlieren, weißt du? Mir wäre völlig egal, ob ich im Knast lande. Und wenn ich nicht innerhalb von einer Stunde diese Akte habe, gehe ich zu Günther und bringe ihm alle Beweise gegen dich, die ich habe.«

Ich ließ ihm etwas Luft. »Eine Stunde«, wiederholte ich.

»Beweise?«, röchelte er.

»Denk an die vielen schönen Interna, die ich in den letzten Jahren von dir erfahren habe. Die reichen, um Günther einen mindestens zweistündigen Vortrag halten zu lassen.«

Ich ließ ihn ganz los. Er rieb sich den Hals.

»Gibt’s hier ein Problem?«, fragte da eine Stimme neben mir. Gleich drei Uniformierte umringten uns.

»Von mir aus nicht«, sagte ich so freundlich wie möglich. »Ich hatte nur gerade den Eindruck, dass unser Hauptkommissar hier etwas schwächelt. Wohl weil er die Ereignisse in Remscheid nicht gut verkraftet hat. Nicht dass er uns noch zusammenklappt.« Ich klopfte freundschaftlich Opladens Schulter. Der nickte.

»Alles okay«, sagte er zu den Kollegen. »Schönes Wochenende.«

»Du uns auch«, sagte einer. »Dienstwochenende.«

Sie gingen, ohne sich noch einmal umzusehen.

»Du weißt Bescheid«, zischte ich und wandte mich zum Gehen.

Erst draußen vor dem Tor fiel mir ein, dass ich ja kein Auto hatte. Ich lehnte mich an die Mauer des Präsidiums. Opladen kam nicht vom Parkplatz gefahren. Das war ein Zeichen dafür, dass er wieder ins Gebäude gegangen war. Und hoffentlich Brambachs Akte für mich raussuchte.

4

Alles in mir drängte mich, zu Wonne zu kommen. Ich wollte bei ihr sein, ihr alles Mögliche sagen.

Doch kaum war ich die dreihundert Meter bis zur Ampel an der Ecke vom Mäuerchen gefahren, wo ich auf Grün warten musste, schoben sich andere Gedanken dazwischen.

Was hatte Brambach eigentlich ausgefressen? Weshalb war er im Knast gewesen?

Ich versuchte mich zu erinnern, was ich in der Zeitung darüber gelesen hatte, aber ich wusste es nicht mehr. Dafür fiel mir etwas anderes ein. Etwas Seltsames, das im Artikel groß herausgestellt worden war. Brambach hatte nämlich gar nicht mehr so viel Zeit abzusitzen gehabt. Ein paar Wochen, einen Monat vielleicht. Trotzdem war er geflohen. Hatte kurz vor seiner Entlassung alles aufs Spiel gesetzt. Warum hatte er das getan?

Egal, das würde ich später in den Unterlagen nachlesen können, die mir Opladen hoffentlich bald zukommen ließ.

Ein Hupkonzert ließ mich hochschrecken. Die Ampel war längst grün. Hinter mir staute sich der Verkehr. Ich fuhr los. Und auf einmal stand mir deutlich vor Augen, wo ich hinmusste. Natürlich zu Wonne, ganz klar. Aber die Remscheider Autobahnraststätte lag ja auf dem Weg. Und je früher ich etwaigen Spuren nachging, desto besser.

So quälte ich mich dieselbe Strecke zurA1 hinauf, die heute Mittag Opladen gefahren war. Und es war wirklich eine Qual. Ich erinnerte mich an meine Gedanken während der ersten Fahrt. Daran, dass ich überlegt hatte, ob Brambach aus der JVA Ronsdorf getürmt war. An den Moment, in dem mich Opladen damit überrascht hatte, dass er auf die Autobahn gefahren war. Den kleinen Spezialweg von der Raststätte West hinüber zur Raststätte Ost. Und wie niemals zuvor in meinem Leben wünschte ich mir so sehr, dass es möglich wäre, die Zeit zurückzudrehen. Die Dinge ganz und gar ungeschehen zu machen.

Nachdem ich die weiten Kurven hochgefahren war, entdeckte ich oben vor dem Motel eine freie Parktasche direkt neben einem kleinen roten Fiat500. Wonnes Auto. Es stand immer noch da. Ich parkte ein, schaltete den Motor aus und brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich das Gefühl hatte, dass meine Beine mich weit genug tragen würden, um den Wagen zu verlassen.

Es regnete nicht mehr. Die Wolkendecke war nur noch ein dünner Schleier. Jeden Moment konnte die Sonne durchbrechen. In der Helligkeit leuchtete das Rot von Wonnes Wagen wie eine offene Wunde. Zwei Streifenwagen standen noch da. Der Ort, wo Wonne gelegen hatte, war mit Flatterband abgesperrt. Ein Grüppchen von Beamten beriet sich abseits. Mich beachteten sie nicht.

Ich ging einmal um den ovalen Parkplatz herum. Vogelgezwitscher mischte sich mit dem Rauschen der Autobahn von unten. An der vorderen Biegung, wo die Straße heraufkam und wo die Spazierwege in den Wald und zur Talsperre abzweigten, blieb ich stehen. Das Motel befand sich jetzt gegenüber– gekennzeichnet durch die senkrecht an dem mehrstöckigen Gebäude angebrachten roten Buchstaben. Davor gab es eine Terrasse mit ebenfalls roten Schirmen. Sie lag etwas erhöht und war vom Geschehen auf dem Parkplatz durch eine grün getönte mannshohe Glasstellwand getrennt.

Ich blickte nach unten auf die Stellplätze für die Lkws. Vor wenigen Stunden hatte es dort noch so viel Platz gegeben, dass der Rettungshubschrauber hatte landen können. Jetzt waren alle besetzt. Die Brummifahrer bereiteten sich auf den Feierabend vor. Manche ließen ihr Fahrzeug sicher das ganze Wochenende hier stehen.

Ich sah Jogger, die an der Holzbarriere vor der Abzweigung zum Waldweg ihre Dehnübungen machten. Andere saßen bei geöffneten Türen im Auto, die Beine draußen, und wechselten ihre Schuhe. Wer gerade von seiner Waldtour zurückkam, schlug seine Treter aus, bevor er sie im Wagen verstaute. Grüppchen von Rentnern mit Rucksäcken, Schirmen und Regenjacken waren hier, um den Wald zu erkunden. Hundebesitzer nahmen ihre Tiere an die Leine. Aus dem Wald drang Gekläff– gefolgt von lauten Ermahnungen.

Wie viele Möglichkeiten hatte ein Mörder, unerkannt von hier abzuhauen?

Unzählige.

Er konnte als Jogger, Wanderer, Spaziergänger aus dem Wald, aus einem Wagen, sogar vom Hotel aus geschossen haben. Wenn dann niemand sah, dass er die Waffe wieder in seinen Rucksack oder in eine andere Tasche steckte, blieb er unerkannt. Er konnte danach einfach in ein Auto steigen. Oder in passender Kleidung in den Wald hineinjoggen. An der Abzweigung der Spazierwege gab es sogar eine Bushaltestelle. Die Raststätte war an das Netz des öffentlichen Nahverkehrs angeschlossen.

Ich checkte den Fahrplan, der in einem kleinen Fensterchen aushing. Die Linie673 fuhr alle zwei Stunden und brachte die Fahrgäste nach Remscheid-Mitte.

Ohne darüber nachzudenken, hatte ich meine Schritte auf den Fußweg gelenkt. Es ging zwischen einem Zaun und der Längsseite des Motels entlang. Bald konnte ich die Staumauer und die weite Wasserfläche der Talsperre sehen. Sie schien so einsam dazuliegen wie ein See in Kanada und sah auch genauso aus: romantisch von Wald umgeben. Weiter hinten erhoben sich gerade ein paar Vögel von den Ästen und stiegen in den Himmel. Idyllisch.

Das beständige Rauschen des Verkehrs konnte man mit ein bisschen Phantasie für das Geräusch eines nahen Wasserfalls halten. Damit war die Illusion perfekt. Man durfte nur nicht nach links ins Tal schauen, wo man hinter den Bäumen in ständiger Bewegung die Fahrzeuge über die Autobahn rasen sah.

Ein kühler Wind kam vom Wasser her, und ich raffte meinen Mantel etwas zusammen. Dabei merkte ich, dass ich ein gefaltetes Blatt Papier in der Tasche hatte. Brambachs Fahndungsporträt, das Opladen mir gegeben hatte.

Nachdenklich betrachtete ich es. Dann ging ich zum Parkplatz zurück. Es hatte wohl keinen Sinn, jeden hier zu fragen, ob er oder sie diesen Mann schon mal gesehen hatte. Aber wenigstens im Motel wollte ich es versuchen.

Bevor ich durch die Glastür trat, bemerkte ich ein Schild am Eingang: »Dieses Haus wird videoüberwacht«. Das hieß, der Parkplatz wohl nicht. Und die Stelle, wo Wonne angeschossen worden war, auch nicht.

An der Rezeption schüttelte man die Köpfe, als ich Brambachs Foto herumzeigte. Auch als ich fragte, ob die Polizei hier gewesen sei. Seltsam– hatte Opladen denn nicht nach Brambach gefragt?

Ich bedankte mich und verließ das Gebäude. Dann blickte ich hinüber zu der seltsamen bronzenen Frauenfigur und versuchte, mich an das Schreckliche in allen Details zu erinnern. Wonne hatte dort gestanden, hatte sich an die Brust gegriffen, war zusammengesackt.

Die Kugel hatte sie von vorne erwischt.

Das hieß, der Schütze hatte jenseits der heraufkommenden Straße gestanden. Verdeckt von Bäumen.

Ich lief hinüber und wurde selbst sofort von tief hängenden, sommerlich begrünten Ästen verschluckt. Ich drehte mich um. Der Blick auf die Bronzefigur war perfekt.

Mein Herzschlag beschleunigte sich.

Spuren auf dem Waldboden?

Keine– nur ein bisschen Müll. Fast-Food-Verpackungen. Eine zerknüllte Dose. Undefinierbares Papier, das sich im Regen aufgelöst hatte, aber sicher schon länger hier lag.

Ich bückte mich und versuchte, zwischen Laub, Tannennadeln, niedrigem Gebüsch und Dreck die Patronenhülse zu finden. Doch Brambach war sicher Profi genug, um sie mitzunehmen. Oder die Polizei hatte sie gefunden.

Ich richtete mich auf. Was hatte er getan, nachdem er geschossen hatte? Nur einen Steinwurf entfernt verlief ein Weg. Er führte nicht hinunter zur Talsperre, sondern bergauf in die Hügel. Wanderwege waren gekennzeichnet. Und auf einem der Bäume war das Symbol des Jakobsweges zu sehen.

Ich folgte dem Weg und hörte von hinten Geschnaufe. Da kam ein junges Paar den Weg heraufgejoggt. In Profi-Laufkleidung: sehr enge schwarze Hosen und Oberteile, dick besohlte Schuhe. Verbissene Gesichter. Die Hände zu Fäusten geballt. Die Arme angewinkelt vor dem Oberkörper. So kämpften sie sich den Berg hinauf.

Ab und zu ging ein mehr oder weniger mit Gras zugewachsener Wirtschaftsweg von der Wanderstrecke ab. Ich begegnete niemandem mehr. Schließlich war ich auf einer Anhöhe angekommen. Tiefer, schöner bergischer Wald. Das Rauschen der Autobahn hatte nachgelassen. Der Weg verzweigte sich wieder.

Ich verschwendete meine Zeit.

Der Mörder hätte hier heute Nachmittag gemütlich auf einem Baumstamm sitzen oder sich im Wald verstecken und abwarten können.

Eilig lief ich zurück zum Parkplatz. Im Gehen checkte ich meine Mails. Keine Nachricht von Opladen. Die Stunde, die ich ihm als Ultimatum gesetzt hatte, war längst vorbei. Ich lehnte mich an meinen Wagen und wählte seine Nummer.

Es klingelte sehr lange. Der Hauptkommissar meldete sich nicht.

Klar, dachte ich. Er sieht, dass du ihn anrufst. Du musst die Nummer unterdrücken oder von einem anderen Apparat aus anrufen. Einen anderen Apparat sah ich gerade nicht. So fummelte ich mich durch das Menü meines Smartphones, bis ich irgendwas mit »Anrufeinstellungen« und »Anruf-ID« fand.

Dann wählte ich noch mal.

»Opladen«, sagte Opladen geschäftig. Man erwartete fast, dass er noch ein zackiges »bei der Arbeit« anfügte.

»Du bist ja doch da«, sagte ich. »Wo bleibt die Akte?«

Sofort senkte Opladen die Stimme. Ich sah ihn direkt vor mir, wie er sich panisch umsah und prüfte, ob jemand beobachtete, wie er mit mir sprach. Coole Polizisten sehen wirklich anders aus. Und meistens hatten sie auch nicht so ein dämliches Gesicht.