Das glückliche Nichts - Sven Kosnick - E-Book

Das glückliche Nichts E-Book

Sven Kosnick

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Beschreibung

Wie kann die buddhistische Zen-Meditation im christlichen Umfeld praktiziert werden? Dieser Frage geht der Autor auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen nach. Am Ende fügt er eine Sammlung von 44 Koans aus der Bibel ein, die erste dieser Art. Die zweite Auflage enthält eine Reihe von Aufsätzen, die grundsätzliche Fragen der Religion ansprechen, Religion und Naturwissenschaft, Ethik, Schwierigkeiten mit der Bibel usw.

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Sven Kosnick

Das glückliche Nichts

Sven Kosnick

Das glückliche

Nichts

Teil 1 Christuserfahrungen auf dem Zen-Weg

Teil 2 Integrale Aufsätze zu Zweifeln an der Religion

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung «Impressumservice», Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Deutschland.

2., stark erweiterte Auflage 2022

© 2022 Sven Kosnick

ISBN: 978-3-347-69021-9 (E-Book)

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg, Germany

Inhalt

Vorwort

Teil 1 Christuserfahrungen auf dem Zen-Weg

Eine Parallele: 3-D-Bilder

Was «machen» wir im Zen?

Vier verschiedene Meditationsweisen

Der Zen-Lehrer

Mein eigener Weg

Die Verwechslung von Ich und Selbst

Alltag

Christ sein und Zen üben

Die richtige Religion

Mystik und Gotteserfahrung

Gott und Buddhismus

Die Evolution der Religion nach Spiral Dynamics

Exkurs: Komplementarität

Zen, Christentum und Spiral Dynamics

Das Ich

Möchte ich das Ich loslassen?

Die Verletzungen

Luther und die Schattenarbeit:

Gutsein gelingt nicht

Vierundvierzig biblische Koans

Teil 2 Integrale Aufsätze zu Zweifeln an der Religion

Was soll Religion?

Glauben Sie, was in der Bibel steht?

Der Mythos und die Wahrheit

Der Mythos von Adam und Eva

Der Mythos von der Jungfrauengeburt Jesu

Religion und Naturwissenschaft

Die Evolutionstheorie

Die Urknalltheorie

Und das Leid?

Ethik und Religion

Aber in der Bibel steht … Über die Verbindlichkeit der Heiligen Schrift

Hermeneutik: Wie interpretiere ich richtig?

Paulus der Pharisäer und Paulus der Mystiker

Gestorben für unsere Sünden. Braucht Gott Blut, um vergeben zu können?

Literatur

Über den Autor

Der Mensch ist ein Unendlichkeitswesen.

Johannes Kopp

Vorwort

Nachdem ich mein Theologiestudium in Tübingen beendet hatte, dachte ich, ich würde meinen Glauben einigermaßen verstehen. Meine Bildungslücken kannte ich, den Glauben zu vermitteln traute ich mir dennoch zu. Nachdem ich begann, die Zen-Meditation regelmäßig zu praktizieren, öffneten sich mir die biblischen Texte und die Texte der Liturgie in immer neuen Tiefen. Dieser Prozess ist bis heute in Gang. Ich verstand, dass ich im Studium erst an der intellektuellen Oberfläche gekratzt hatte. Paradoxerweise brauchte ich einen buddhistischen Meditationsweg, um die eigene Grundlage tiefer verstehen zu lernen. Tagelange Stille ist ein wunderbarer Lehrer. Die Tiefendimension des christlichen Glaubens kann durch die Stille geöffnet werden.

Über diesen Weg möchte ich mit diesem Buch Rechenschaft ablegen. Es ist ja keine Selbstverständlichkeit, dass ein Christ Zen übt. Ich möchte meine Christuserfahrungen auf dem Zen-Weg darstellen und ich möchte sie in den Dialog mit der religionswissenschaftlichen Literatur bringen. Daher ist dies auf der einen Seite ein sehr persönliches Buch. Auf der anderen Seite kommt immer wieder die Literatur zu Wort. Mystik ist schon immer interreligiös gewesen. Mystiker haben die Grenzen der eigenen Religion schon immer überschritten. Wir dürfen voneinander lernen. Vor allem aber dürfen wir verstehen, dass die Religionen in ihren Unterschiedlichkeiten einen gemeinsamen Kern haben: die Erfahrung des Wunderbaren.

Religionsgeschichtliches Neuland betritt die Koansammlung aus der Bibel. Biblische Texte zu meditieren und an ihnen zu einer Erfahrung zu kommen, die die Qualität eines Satori hat, ist in der Geschichte des Christentums schon oft vorgekommen. Es war allerdings eher Zufall bzw. das religiöse Genie Einzelner. Das buddhistische Zen hat einen Methodenweg entwickelt, der das Christentum bereichern kann. Ich hoffe, dass sich Christen vom Koanweg inspirieren lassen, mit dieser Sammlung üben und ihre Erfahrung vertiefen.

Sven Kosnick, Stuttgart 2019

Vorwort zur zweiten Auflage

In einer Reihe von Aufsätzen möchte ich grundsätzliche Fragen zur Religion ansprechen. Dieser zweite Teil, der der zweiten Auflage angefügt wurde, ist vor allem in der Schule entstanden. Meine Schülerinnen und Schüler haben ihre Fragen gestellt und es waren oft dieselben. So sind im Lauf meiner Arbeit Texte entstanden, die ihre Themen aufnahmen. Ich hoffe, sie bringen einem größeren Kreis an Lesern ein wenig Freude.

Sven Kosnick, Stuttgart, Juni 2022

TEIL 1

Christuserfahrungenauf dem Zen-Weg

Eine Parallele: 3-D-Bilder

Mit einem Vergleich möchte ich beginnen. 3-D-Bilder, wie auf der vorigen Seite abgedruckt, sind eine präzise Parallele zur Grundfrage des Zen und zur Grundfrage der Religion überhaupt. Auf den ersten Blick sind 3-D-Bilder zweidimensional. Wir brauchen eine spezielle Blicktechnik und etwas Übung, um die Tiefendimension des Bildes sehen zu können. Oft wird eine genaue Anweisung für diese Blicktechnik mitgegeben, damit die dritte Dimension sichtbar wird. Mit dieser Technik muss ausprobiert und geübt werden. Und plötzlich erscheint ein völlig neues Bild.

Mir persönlich ist es Jahre nicht gelungen, diese andere Ebene in den 3-D-Bildern wahrzunehmen. Andere erzählten von Motiven, die ich nicht in Ansätzen erkannt habe. Manchmal fragte ich mich, ob sie mir eigentlich nur erfundene Motive schildern. Sie gaben mir diese Anweisungen, die ich schon kannte: Du musst mit einem unscharfen Blick hinschauen. Oder die «Nasenspitzenmethode»: Die Nasenspitze auf das Papier setzen, den Blick so lassen und langsam das Bild nach hinten führen. Ich probierte es erneut und sah wieder nichts. Manche können innerhalb von Sekunden das 3-D-Motiv erkennen. Andere probieren es minutenlang und schildern, was sich ihnen auftut. Wieder andere müssen ein um das andere Mal üben und nach vielen Versuchen schaffen sie es irgendwann. Bis es mir nach Jahren selbst gelang, musste ich einfach für wahr halten und glauben, was die Anderen mir erzählten.

So wie mir die 3-D-Bilder erscheint vielen Menschen der Glauben. Sie müssen anscheinend für wahr halten, was Andere erzählen. Sie müssen für wahr halten, wenn jemand von Erleuchtung spricht, wenn er behauptet, dass in dieser Gegenwart so etwas wie der Himmel zu finden ist und wenn er erzählt, dass wir vom Göttlichen geliebt werden. Der Tod soll nicht das Ende sein und wir sollen für unser Tun über den Tod hinaus verantwortlich sein. Auf dieses «Für-wahr-halten» haben viele Menschen keine Lust mehr. Es funktioniert heute nicht mehr, glauben zu müssen, was andere erzählen. «Ich glaube nur, was ich sehe.» ist eine häufige Einstellung. Nur: Die zweite Bildebene ist da, aber eben nicht auf Anhieb sichtbar. Wer die erste Ebene für die ganze Realität hält, geht an der eigentlichen Absicht des Bildes vorbei.

Mit freundlicher Genehmigung von Andreas und Christian Bergel, www.catwins.de. Mir ist es nicht gelungen, dieses 3-D-Bild zu sehen, es soll eine Katze zu erkennen sein.

An diesem Punkt gibt es zwei Möglichkeiten. Ich halte die Behauptungen der Religionen überhaupt nicht für wahr, oder ich möchte selbst spüren und erfahren, wovon die Rede ist. Hier kommt die nächste Parallele zwischen dem 3-D-Bild und dem Zen. So wie wir lernen können, diese andere Bildebene zu sehen, so kann der Mensch auch lernen, die göttliche Wirklichkeitsebene unserer Welt wahrzunehmen. Es gibt auch dabei Anweisungen, wie der Mensch diese Wahrnehmungsfähigkeit entwickeln kann. Meditation und andere Formen von Spiritualität bieten Methoden an, mit denen das trainiert werden kann. Der Mensch hat ein Sinnesorgan für Gott. Dieses Sinnesorgan ist bei vielen Menschen wenig entwickelt. Es ist der eigene Geist, das eigene Bewusstsein. In diesem Geist die Spürfähigkeit und die Sehfähigkeit für das Göttliche zu entwickeln, dazu sind die verschiedenen spirituellen Übungen hilfreich.

Der Zweig der Religion, in dem Spiritualität und Meditation geübt werden, wird Mystik genannt. In der Mystik hält der Mensch die religiösen Behauptungen nicht für wahr, sondern er spürt und erfährt selbst, wovon die Religionen reden.

Das Wort «spüren» ist in der Religion noch viel zu wenig in seiner Bedeutung gewürdigt. Es ist nicht notwendig, an das Göttliche zu glauben im Sinne von «für-wahr-halten». Ich kann es ahnen, spüren, erfahren. Der Glaube fängt vielleicht damit an, dass ich Behauptungen für wahr halte. Wenn mir jemand von einer anderen Ebene des 3-D-Bildes erzählt, halte ich es zuerst auch nur für möglich. Ich glaube ihm. Das ist jedoch nicht das Ende des Weges, sondern hoffentlich der Anfang. So wie ich immer und immer wieder versuche, die 3-D-Ebene des Bildes zu sehen, so übe ich immer und immer wieder, das Göttliche zu erspüren. Der Glaube wird zuerst zu einer Ahnung. Der Mensch ahnt das Göttliche, er wird immer wieder zart von dieser Wirklichkeit berührt. Das wird hoffentlich deutlicher und zu einem Spüren. Irgendwann wird das Gespür zu einer klaren Erfahrung, z.B. bei dem Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung. Er wurde im Alter gefragt, ob er an Gott glaube. «Nein, ich weiß», antwortete er.1 Sein Glaube war ein Herzenswissen.

Die Problematik des 3-D-Bildes beantwortet ein zentrales Gegenargument gegen die Mystik: Innere Erfahrung wäre doch rein subjektiv. Wenn mehrere Menschen ein solches Bild betrachten und sie sehen alle ungefähr dasselbe, liegt objektive geistige Realität vor. Wenn es rein subjektiv wäre, müsste jeder Betrachter etwas Anderes wahrnehmen. Dass dem nicht so ist, zeigt den objektiven Charakter dieser Wahrnehmung.

In den Religionen ist es genauso. Wenn Menschen das Göttliche wahrnehmen, ähneln sich ihre Schilderungen. Sie sind überwältigt von der Tiefe des Göttlichen, sie sind erschüttert von dem Glück, das sie erleben, sie sind berührt von der Schönheit, die sie sehen dürfen. Erleuchtungserfahrungen im Zen können gerade deshalb von einem Lehrer oder Meister bestätigt werden, weil der Grundcharakter gleich ist. Menschen, die Erleuchtungserfahrungen gemacht haben, erkennen sich gegenseitig. Sie hören sich zu und merken, dass sie prinzipiell dasselbe erfahren haben. Die Einzelheiten sind individuell. Keine Erleuchtung gleicht der anderen. Der Grundcharakter ist aber identisch.

Daher trifft das Argument, solche Erfahrungen wären rein subjektiv, nicht zu. Die Ähnlichkeit zeigt, dass hier eine objektive geistige Wirklichkeit geschaut wurde. Wir müssen zwischen subjektiv und introspektiv unterscheiden. Eine subjektive Erfahrung ist eine innere geistige und völlig individuelle Erfahrung, die kein anderer Mensch machen wird. Eine introspektive Erfahrung ist ebenfalls innerlich und geistig. Sie wird jedoch von vielen Menschen gemacht, sie können darüber reden und merken im Gespräch, dass der Andere prinzipiell dasselbe erfahren hat. Daher hat sie objektiven Charakter.

Das Christentum hat sich folgende Frage zu wenig gestellt: Wie kann der Mensch lernen, das Göttliche wahrzunehmen? Manche Menschen spüren von alleine. Die Frage wird jedoch dem Zufall überlassen, bzw. häufig nicht gestellt. Wie kann ein Mensch das Gespür für das Göttliche entwickeln? In den Kirchen und Schulen lernen wir das Denken. Wie lernen wir zu spüren? In den Kirchen wird sozusagen von der nächsten Ebene des 3-D-Bildes erzählt, ohne das Spüren einzuüben. An diese Ebene können wir glauben, oder auch nicht. Wie der Glaubende die göttliche Wirklichkeitsebene selbst spüren lernen kann, wird sehr selten erzählt und noch seltener eingeübt. Es ist allerdings das Entscheidende auf dem Weg zum eigenen «Ich weiß».

In den letzten Jahren hat sich das geändert. Die Mystik ist im Christentum wiederentdeckt worden. Viele Methoden der Übung wurden geschildert. Dabei haben Christen über den kirchlichen Horizont hinausgeschaut und probieren auch spirituelle Methoden anderer Religionen. Sie praktizieren Yoga, tibetische Meditation, Zen und vieles mehr. Sie merken, dass das Fremde ihnen das Eigene verständlich machen kann.

Spiritualität ist sozusagen die Lernmethode, die andere Ebene des 3-D-Bildes wahrzunehmen. Da bei vielen Menschen das Sinnesorgan für Gott kaum bis gar nicht ausgeprägt ist, ist es oft erforderlich, den Geist zu «trainieren». Das kann dauern. Menschen sind in dieser Frage sehr unterschiedlich. Es gibt Menschen, die haben dreißig Jahre Zen geübt, bis sie eine erste Erfahrung gemacht haben. Andere üben nur wenige Monate. Das Sinnesorgan entwickelt sich im Lauf der Zeit und wer eine tiefe Sehnsucht nach der göttlichen Wirklichkeit hat, der wird immer mehr ahnen und spüren, der wird immer öfter vom Göttlichen in seinem Herz berührt werden und irgendwann seine klare und deutliche Erfahrung machen.

Platon hat mit seinem Höhlengleichnis dieselbe Schwierigkeit ausgedrückt. Das Höhlengleichnis ist ein Gedankenspiel. Menschen sind in einer Höhle angekettet und können nur auf eine Wand schauen. Hinter ihnen werden mit Hilfe eines Feuers und Figuren Schatten an die Wand geworfen. Das halten sie für die Wirklichkeit.

Ein Mensch kann sich befreien. Er erkennt die wahre Natur der Schattenbilder. Er findet danach den Weg aus der Höhle an die Erdoberfläche. Dort sieht er ein reicheres Leben als das in der Höhle. Er schaut in die Sonne und sieht ein blendendes «Nichts». Er erkennt, dass diese Sonne die eigentliche Quelle allen Lebens ist, auch in der Höhle. Er denkt an seine Mitmenschen in der Höhle und kehrt zu ihnen zurück. Er erzählt ihnen von seinen Erfahrungen und versucht ihnen diese Wirklichkeit schmackhaft zu machen. Sie wollen nichts davon hören. Als er dennoch weiter erzählt, werden sie zornig und schlagen ihn am Ende tot. Platon denkt hier natürlich noch nicht an Christus, sondern an Sokrates. Er wurde von einem Athener Gericht zum Tod verurteilt, weil seine Wahrheiten die Athener überfordert haben.

Das Höhlengleichnis drückt die Hilflosigkeit der Religionen seit 2400 Jahren aus. Grundlage der Religion ist die Wahrnehmung einer höheren Wirklichkeit. Über diese Wirklichkeit lässt sich nicht diskutieren, wenn sie nicht geschaut wurde. Der Rückkehrer in Platons Höhlengleichnis möchte auch nicht diskutieren. Er möchte, dass die Angeketteten sich mit ihm auf den Weg aus der Höhle machen. Nun glauben die Gefangenen jedoch nicht, dass es mehr gibt als die Schattenbilder an der Wand. Der Rückkehrer ist jetzt völlig hilflos. Überzeugen kann er sie nur, indem er ihnen die Welt außerhalb zeigt. Wenn keine Bereitschaft vorhanden ist, sich auf den Weg zu machen, hat er keine Chance.

Die Sonne, das Leben auf der Erde und in der Höhle sind die eine, ungetrennte Wirklichkeit. Genauso sind die beiden Ebenen des 3-D-Bildes nicht voneinander trennbar. Die eine gibt es nur mit der anderen. Die Wirklichkeit, die wir im Zen entdecken möchten, ist auch nicht von dieser irdischen Welt getrennt. Wir gehen nicht irgendwo anders hin. Wir entdekken keine Welt außerhalb unserer Höhle. Was im Zen gefunden werden kann, ist die Tiefendimension dieser irdischen Wirklichkeit. Das glückliche Nichts ist nicht jenseits dieser Welt. Es ist in ihr bereits Gegenwart, in allem, was wir tun und sind.

Wenn der Mensch deutlich spürt, darf dieses «Ich weiß» nicht rechthaberisch werden. Wer so weiß, der sieht Gott überall, in sich, in den Anderen, in Allem. Er kann sich nicht mehr über andere erheben, er kann nicht mehr rechthaberisch sein, denn er nimmt jeden anderen als Gleichnis und Ebenbild Gottes wahr. Die Rechthaberei ist eine große Krankheit in allen Religionen. Daran zu arbeiten ist eine der Aufgaben auf dem weiteren Weg. Wenn wir diese Erkenntnis weitergeben möchten, geht das nur in Liebe und Respekt vor dem Anderen.

Wenn wir Religion so verstehen, ist sie «Sinn und Geschmack für das Unendliche», so die berühmte Definition von Friedrich Schleiermacher aus dem Jahr 1799.2 Sie ist nicht an ihre mythologischen Geschichten gebunden, sie ist nicht auf ihre Glaubenssätze begrenzt. Die Grundlage ist die religiöse Erfahrung.

1 Im Gespräch mit Georg Gerster 1960, www.youtube.com/watch?v=KJyryI8Oifw.

2 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion, S. 36.

Was «machen» wir im Zen?

Im Zen geht es um einen inneren Prozess. Es geht nicht um die Vermittlung von gedanklichen Glaubensinhalten. Es geht auch nicht um Bücher lesen, Texte verstehen oder das Übernehmen einer bestimmten Weltanschauung. Wenn Sie einen Zen-Kurs besuchen, sitzen Sie nicht an einem Tisch, vor Ihnen Block und Stift und schreiben mit, was vorne jemand sagt. Am Ende findet kein Test statt, in dem abgefragt wird, ob Sie die Inhalte des Vortrags im Gedächtnis behalten und verstanden haben. Sie müssen nichts auswendig lernen. Es geht auch nicht darum, zum Buddhismus oder zum Christentum zu konvertieren. Im Christentum haben wir den Schwerpunkt auf die Gedankengebäude gelegt. Luther hat einen Katechismus geschrieben, dessen Worte auswendig gelernt werden können. Das Examen im Theologiestudium bestehen die Studierenden, wenn sie die richtigen Bücher gelernt haben und ihre Inhalte wiedergeben können. Auch darum geht es im Zen nicht. Im Gegenteil, Sie sollen Ihre Gedanken loslassen. Das intellektuelle Auswendiglernen der richtigen Texte hat mit dem Erspüren der göttlichen Wirklichkeit wenig zu tun. Dem Sinn und Geschmack für das Unendliche3 können die vielen Worte sogar im Weg stehen.

Vor aller Methode, vor aller Technik steht die Sehnsucht. Alle Meditationstechnik bringt wenig, wenn ich diese Sehnsucht nach der göttlichen Wirklichkeit nicht in mir habe. Eine Geschichte, die mir dazu in Indien erzählt wurde, handelt davon. Ein Heiliger fragte einen Schüler: «Was ersehnst du dir am meisten?» Der Schüler antwortete: «Gott.» Als wenige Tage später beide beim Baden an einem Fluss waren, tauchte der Heilige den Schüler etwas länger unter. «Was wolltest du dort unten am meisten?», fragte er. «Luft.» lautete die Antwort des Schülers. «Wenn du Gott so ersehnst wie der Ertrinkende die Luft, wirst du ihn schauen», erwiderte der Heilige.

Eine zweite Geschichte stammt aus dem Zen: Eines Tages sagte ein Mann aus dem Volk zu Zen-Meister Ikkyû: «Meister, wollt Ihr mir bitte einige Grundregeln der höchsten Weisheit aufschreiben?» Ikkyû griff sofort zum Pinsel und schrieb: ‹Aufmerksamkeit›. «Ist das alles?» fragte der Mann. «Wollt Ihr nicht noch etwas hinzufügen?» Ikkyû schrieb daraufhin zweimal hintereinander: ‹Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit›. «Nun», meinte der Mann ziemlich gereizt, «ich sehe wirklich nicht viel Tiefes und Geistreiches in dem, was Ihr gerade geschrieben habt.» Daraufhin schrieb Ikkyû das gleiche Wort dreimal hintereinander: ‹Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit›. Halb verärgert begehrte der Mann zu wissen: «Was bedeutet dieses Wort ‹Aufmerksamkeit› überhaupt?» Und Ikkyû antwortete sanft: «Aufmerksamkeit bedeutet Aufmerksamkeit.»4 Die Aufmerksamkeit des Geistes ist der Weg, das Spürvermögen des Menschen zu verfeinern.

Was machen wir also im Zen? Wir sitzen auf einem Bänkchen oder einem Kissen und tun (im Idealfall) nichts. Manchmal gebe ich als Zenlehrer den Hinweis, nicht einmal zu meditieren. Der Meditierende tut gar nichts, er sitzt nur in aller Aufmerksamkeit. Wer das versucht, wird schnell bemerken, dass im Kopf eine Affenherde von Gedanken umherspringt. Je mehr ich diese Gedanken zur Ruhe bringen möchte, desto wilder springen sie. Jetzt versucht der Meditierende, die Gedanken immer wieder zu lassen. Ein Gedanke entsteht. Er bemerkt ihn und lässt ihn los. Die Aufmerksamkeit löst sich wieder von dem Gedanken und kehrt zum Sitzen zurück. Der nächste Gedanke kommt und auch den lässt er wieder und kehrt zum aufmerksamen Sitzen zurück.

Sich in seinem Leib aufrichten und sich in seinen Gedanken lassen, das ist eine Kurzformel für die Zen-Übung von Pater Lasalle. Pater Johannes Kopp hat diese Anleitung von seinem Freund Lasalle in seinen Kursen weitergegeben. Alles lassen, sein Wollen lassen, seine Gedanken, seine Ängste, sein Können, sein Unvermögen. Alles lassen, sich selbst, seinen Besitz, sein Wissen, seine Unterscheidungen. Die Unterscheidung von angenehm und unangenehm, von netten und unerfreulichen Menschen, von Freund und Feind. Alles lassen. Und sich lassen. Es reicht nicht, die Gedanken loszulassen. Die Quelle aller Gedanken bin ich. Daher muss ich mich lassen, wenn die Gedanken weniger werden sollen. Mich in meinen Gedanken lassen. Dasein genügt. Ich möchte nirgendwo hin, nicht zur Erleuchtung, nicht zu Gott, ich möchte nur da sein. In diesem Da-Sein ist alles da, Gott, Erleuchtung, Erfüllung. Ich übe mich in die Gegenwart ein. Ich weiß, dass in dieser Gegenwart Gott gegenwärtig ist, die Erleuchtung gegenwärtig ist. Und so bin ich auch da und lasse mich los in die Gegenwart. Ich lasse alle Ziele los. Ein Ziel stünde in der Meditation im Weg.

So wird einmal oder zweimal täglich für 25 Minuten geübt. Wer das ein Jahr lang tut, wird immer noch nicht für 5 Minuten ohne Gedanken sitzen können. Aber er wird ein anderer Mensch geworden sein. Und die Zeit ohne einen Gedanken wird länger.

Meister Eckhart schreibt: «Niemals steht ein Unfriede in dir auf, der nicht aus dem Eigenwillen kommt, ob man es nun merke oder nicht… Darum fang zuerst bei dir selbst an und lass dich! Wahrhaftig, fliehst du nicht zuerst dich selbst, wohin du sonst fliehen magst, da wirst du Hindernis und Unfrieden finden, wo immer es auch sei.» «Du musst wissen, dass sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, dass er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen.»5

Vier verschiedene Meditationsweisen

Die zuvor genannte Übung des einfachen Sitzens wird im Japanischen Shikantaza genannt. Ihr Charakter ist eben dieses aufmerksame Nichtstun. Alle Sehnsucht geht in die Gegenwart. Die Gefahr bei dieser Form der Meditation ist unaufmerksame Selbstzufriedenheit. Weil ich nirgends hinmöchte und nichts erreichen möchte, bin ich in der Gefahr, nicht mehr zu üben. Shikantaza ist dabei die schwierigste Form der Übung im Zen. Es braucht ein enormes Maß an Aufmerksamkeit, um sich bei dieser Meditation immer wieder in seinen Abschweifungen wahrzunehmen.

Shikantaza ist die erste der vier Arten von Meditation im Zen. Bei der zweiten Meditationsweise bleibt die Aufmerksamkeit beim Atem. Es geht nur darum, den Atem in seinem Wesen zu erspüren, ihn wahrzunehmen, seine Tiefe wahrzunehmen. Die Übung besteht auch hier darin, seine Gedanken zu bemerken und zu lassen. Die Aufmerksamkeit wird immer wieder zum Atem zurückgeholt. Die Aufgabe besteht nicht darin, nicht zu denken und nur zu atmen, sondern immer wieder zu bemerken, dass meine Gedanken abschweifen. Dann lasse ich den Gedanken los, ich lasse mich in diesem Gedanken los und bringe die Aufmerksamkeit zurück zum Atem, immer wieder.

Der Meditierende nimmt zuerst wahr: «Ich atme.» Nach einer Weile merkt er, dass der Atem sich selbst atmet: Es atmet. Er ist ein eigenständiges Phänomen, das ich nur störe. Im Lauf der Zeit lernt er, sich aus dem Prozess des Atmens mehr und mehr herauszunehmen. Ich nehme wahr, dass mein Ich den Atem disharmonisch macht. Und wenn ich mich immer weiter herausnehmen kann, verändert sich der Atem und wird harmonischer, völlig von alleine. Zu Anfang mag der Atem nicht harmonisch sein. In diesem Fall wird dieser Disharmonie in aller Aufmerksamkeit einfach zugeschaut und nicht versucht, selbst etwas zu verändern. Das einzige, was der Atem von mir bekommt, ist Aufmerksamkeit. Es atmet. Dieser Atem ist ein spannendes Geschehen. Das klingt vielleicht seltsam, wer mit dem Atem übt, der kennt dies jedoch. Es ist das Gegenteil von langweilig. Jeder Atemzug ist voller Leben, voller Dynamik, spannender als ein Kinofilm. Wenn mir langweilig ist, lenke ich die Aufmerksamkeit auf den Atem und bin beseelt von diesem Geschehen. Wer tief in seinen Atem hineinkommt, der kann stundenlang sitzen, atmen und wird diese Zeit als wunderschön und spannend empfinden.

Atmen ist ein kostbares Geschenk. Im Mythos von Adam und Eva heißt es, dass Gott Adam den Atem einhaucht. Das Kennzeichen eines Mythos ist, dass seine existenzielle Grundwahrheit auch heute noch gilt. Auch heute ist jeder Atemzug von Gott eingehaucht und wer dem Quell des Atems nachspürt, der spürt das Absolute und den Atem als das Absolute. Ich bemerke, dass nicht nur es atmet. Alles atmet. Wenn ich ganz verschwunden bin, atmet nichts, dynamisch und lebendig. Jeder Atemzug enthält die Unendlichkeit des Universums. Der Atem ist ein Weg zu Gott. Fünf Minuten störungsfrei atmen und der Mensch ist tief erleuchtet, sagte mein Zen-Meister Pater Johannes in einem Teisho.

Die dritte Weise des Übens besteht darin, den Atem zu zählen. Jedes Ausatmen wird mit einer Zahl belegt. Bei zehn kehre ich wieder zu eins zurück. Auch hier besteht die Übung darin, sich in seinen Gedanken und Gefühlen immer und immer wieder loszulassen und zum Zählen des Atems zurückzukehren. Wer mit dem Üben des Zen anfängt, dem wird vom Lehrer meist diese Form der Übung empfohlen, weil der Verstand ein wenig Zügel angelegt bekommt. Man bemerkt durch das zählende Begleiten des Ausatmens leichter, wenn die Gedanken abhanden kommen. An manchen Tagen ist die Seele so aufgewühlt, dass es utopisch ist, den Atem bis zehn zu begleiten. Dann hilft es, nur bis drei zu zählen und wieder bei eins anzufangen. Es geht überhaupt nicht um eine Leistung, überhaupt nicht um das Zählen, sondern einzig und allein um das Atmen. Jede Zahl legt sich in den Atem wie eine Schneeflocke in einen Fluss, sagte Pater Johannes immer wieder in seinen Kursen.

Das Zen kennt noch eine vierte Weise der Aufmerksamkeit. Der Meditierende arbeitet an einem Koan. Ein Koan ist ein Paradox, das mit Hilfe der Logik nicht gelöst werden kann. Das bekannteste ist das Koan Mu. Ein Mönch kommt zum Meister Joshu und fragt ihn: «Hat auch ein Hund die Buddhanatur?» Joshu antwortet: «Mu.»6 Mu heißt übersetzt eigentlich ‹Nein› oder ‹Nicht›. Darum geht es hierbei aber nicht. Diese Silbe soll der Meditierende mit sich tragen. Er soll dieses Wörtchen werden. Und wenn er zu seinem Zen-Meister kommt, soll er ihm dieses Mu zeigen.

Dieses Koan kann den Meditierenden zur Verzweiflung bringen, er kommt in eine Sackgasse und findet keine Lösung. Hier muss sich der Mensch noch viel mehr lassen, weil er mit seinem ganzen Können und Wissen erst recht nichts erreicht. Dann kann etwas passieren. Wenn die Spannung am größten wird, kann auch hier die Erfahrung entstehen, dass der Meditierende sich völlig lässt. Es kann passieren, dass er verschwindet und einzig und alleine nur das Eine existiert. Ich verwende diesen Begriff des «Einen», da alle Worte hier falsch sind. Man könnte auch Gott oder Christus sagen oder auch «Nichts». Das Wort ist nicht so wichtig. «Lass mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden.»7

Dieses «Dich» ist kein von mir getrenntes Du mehr. Ich bin verschwunden und dieses Du ist das einzige, was es gibt. Ich bin völlig in diesem Du verschwunden. Es ist ein Moment der absoluten Seligkeit. Das Problem von Leben und Tod ist gelöst, der Sinn des Lebens ist gefunden, das Problem der Zeit ist gelöst. Ich weiß, wer ich vor der Geburt meiner Eltern war. Ich weiß, wo ich nach dem Tod des Körpers sein werde. Diese Erfahrung wird im Zen die Erleuchtung, Satori, genannt.

Ein anderes Koan lautet: «Du hörst den Ton, wenn zwei Hände zusammenklatschen. Wie ist der Ton einer Hand?»8 An diesem Koan wird das Paradox deutlicher. Es kann durch Logik nicht gelöst werden. Es kann durch Schlussfolgern und Nachdenken nicht gelöst werden. Das Denken soll in eine Sackgasse kommen. Wenn der Meditierende in dieser Sackgasse steckt, nicht mehr vor und zurück weiß, kann es zu einem Sprung der gesamten Persönlichkeit kommen. Ein Spalt im Denken tut sich auf und die Erleuchtung ist da.

Der Kern aller Koans ist die Frage: Wer bin ich? Was ist mein wahres Wesen? Alle Lebensumstände, vor allem die Sterblichkeit des Menschen sollen ihn dazu bringen, sich diese Frage zu stellen. Der Tod ist wie ein solches Koan. Er soll zur großen Frage werden, der Mensch soll sich lassen und in Gott hineinfallen. Das wahre Wesen des Menschen wird aufleuchten. Der Mensch wird die Erfahrung machen, dass er in seinem wahren Wesen von Geburt und Tod nicht getroffen werden kann. Dieses Sitzen in der Stille ist ein Weg der Selbsterkenntnis und der Gotteserkenntnis. Wenn es gelingt, sich einmal völlig zu lassen, völlig zu verschwinden, wird der Mensch Gott schauen, in sich, auf dem Grund der Seele. Wer das erfahren hat, ist zu seinem wahren Wesen erwacht. Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis sind eins.

In den Anfangsjahren kostet der Kampf mit den Gedanken die meiste Kraft. Diese Affenherde im Kopf wird umso wilder, je stiller das Ich sein möchte. Ganz wichtig ist, dass die Übung bereits in ihrer Unvollkommenheit einen sehr hohen Wert hat. Es ist nicht nötig, in völliger Stille zu sitzen. Die Gedanken und Gefühle möchten ja auch wahrgenommen und befriedet werden, keinesfalls verdrängt oder abgespalten. Es melden sich die Themen, mit denen ich mich auseinandersetzen muss. Das Bild, das hier oft verwendet wird, ist die Wolke, die vorbeizieht. Ich meditiere nicht wie ein geschlossener Dampfkochtopf, bei dem kein Gedanke entweichen darf. Dabei wird der Druck irgendwann zu groß. Es ist wichtig, die Gedanken wahrzunehmen. Aufmerksam. Und dann ist es wichtig, die Gedanken und Gefühle loszulassen. Das ist schwierig. Mitunter sehr schwierig. Manchmal melden sie sich so heftig und immer wieder, dass es Tage dauern kann, bis ich wirklich loslassen kann und Frieden einkehrt. Vor allem muss ich mich selbst in diesen Gedanken loslassen.

Der Zen-Lehrer