Das große Siegel - Lama Ole Nydahl - E-Book

Das große Siegel E-Book

Lama Ole Nydahl

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Beschreibung

Lama Ole Nydahl erläutert den uralten, tibetischen Weisheitstext, der unter der Bezeichnung »Das große Siegel« bekannt ist. Er beschreibt Weg und Ziel des ›Diamantwegs‹, jenes buddhistischen Erleuchtungspfades, der grenzenlose Einsicht in die Natur des Geistes schenkt. Lama Ole Nydahl erläutert dieses zeitlose Dokument anhand von vielen Beispielen aus der heutigen Zeit und führt damit den Leser zum erleuchteten Handeln im Hier und Jetzt, das jenseits von Erwartungen oder Befürchtungen ist und in dem man nichts mehr festhält, sondern durch das Loslassen zur Reife gelangt.

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Seitenzahl: 263

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Lama Ole Nydahl

Das Große Siegel

Von der grenzenlosen Einsicht in die Natur des Geistes

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungDanksagungVorwortEinleitungVers 1Vers 2Vers 3Vers 4Vers 5Vers 6Vers 7Vers 8Vers 9Vers 10Vers 11Vers 12Vers 13Vers 14Vers 15Vers 16Vers 17Vers 18Vers 19Vers 20Vers 21Vers 22Vers 23Vers 24Vers 25Die Mahamudra-ÜbertragungslinieBuddha (ca. 563–483 v. Chr)Saraha (8./9. Jh.)Nagarjuna (10. Jh.)Shawaripa (ca. Ende 10. Jh.)Maitripa (1007–1077)Marpa (1012–1096)Milarepa (1052–1135)Gampopa (1079–1153)Karmapa Düsum Khyenpa – 1. Karmapa (1110–1193)Karma Pakshi – 2. Karmapa (1204–1283)Rangjung Dorje – 3. Karmapa (1284–1339)Mikyö Dorje – 8. Karmapa (1507–1554)Rangjung Rigpe Dorje – 16. Karmapa (1924–1981)GlossarAdressen von buddhistischen ZentrenDEUTSCHLAND (www.diamantweg.de)ÖSTERREICH (www.diamantweg.at)SCHWEIZ (www.buddhismus.org)
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Widmung

Meine Auslegungen von Karmapas Wünschen sind der wachsenden Zahl gut ausgebildeter und selbstständiger Menschen gewidmet, die ihre vielseitigen Betätigungen und Erfahrungen in einen Erleuchtungsweg einbauen möchten.

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Danksagung

Unseren tiefsten Dank an Rangjung Rigpe Dorje, den 16. Gyalwa Karmapa. Er übertrug meiner Frau Hannah und mir das Große Siegel in Kopenhagen, Frankreich und Sikkim.

Der Verfasser und seine Muse beim Abschätzen einiger Erfahrungswerte des Textes. Gemeinsamer 100-Meter-Bungeesprung in Axalp, Schweiz

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Vorwort

Liebe Freunde,

diese zweite, ausführlichere Ausgabe der Erläuterungen zu den Mahamudra-Wünschen des 3. Karmapa (1284–1339) war eine lange Geburt. Ihr Entstehen erstreckte sich über einige Jahre und nahm in Zügen, Autos, Flugzeugen und während mehrerer Zurückziehungen allmählich Gestalt an. Das lag wohl in der Natur der Sache, denn diese Verse schließen das ganze Bewusstsein und nicht nur die Ebene der Begriffe ein. Wir wollten Worte finden, die die letztendliche Weisheit aus immer neuen Richtungen beleuchten und gleichzeitig dem Leser Raum geben, diese Weisheit zu erfassen. Dafür haben wir zuweilen auf die fremd klingende Fachsprache verzichtet. Stattdessen flossen Erinnerungen an Belehrungen verwirklichter Lamas, viel spürbarer Segen, eigene Meditations- wie Liebeserfahrungen und Catys klarer Kopf als wirkliche Schätze in die Arbeit an diesem Buch ein. Hinterlässt das Buch also eher ein erleichtertes Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten als zusätzliches Gepäck an Vorstellungen, wurde sein Ziel erreicht.

Da die Burg der Unwissenheit aus jeder Richtung zu erstürmen ist, ist der Zugang zu jedem Vers unterschiedlich und weil der erste im Westen tätige Karmapa, der 16. (1924–1981), so durchgehend auf Lebensnähe bestand, führen wir seinen Stil hier weiter. Mehrmals erscheinen daher zeitgemäße Erläuterungen in einem sonst zeitlosen Text, der unmittelbar auf das, was erlebt wird – den Erleber allen Geschehens –, selbst zeigt. Die erleuchteten Einsichten ziehen sich mit wiederholenden und neuen Bildern wie ein roter Faden durch das Buch. Die ersten Verse schaffen den nötigen Hintergrund, damit man sich dann in späteren Kapiteln vollständig auf die Erleuchtungserfahrungen von Karmapa einlassen kann. Und wer zum Schluss kein Regenbogen geworden ist, sollte sich vornehmen, das Buch bald wieder zu lesen.

Die Wünsche des Großen Siegels vermitteln den Erfahrungsstrom aller Karmapas. Seit den frühen siebziger Jahren, als Buddhas Lehre im Westen Fuß fasste, sind die erwähnten Erlebnisebenen zum heiß begehrten Ziel der wachsenden Zahl westlicher Diamantweg-Buddhisten geworden.

»Maha« heißt auf Sanskrit »groß« und »Mudra« bedeutet »Siegel« oder »Zeichen«. Der Name rührt von einem Versprechen her, das Buddha vor 2650 Jahren seinen nächsten Schülern gab: »Sucht keine höheren Belehrungen als diese, es gibt sie nicht.«

 

Lest und genießt!

 

Aus dem neuen Zurückziehungs-Zentrum in Wiehl im Segensfeld der Schützerin Weißer Schirm, am Tag von Schwarzer Mantel im September 2005

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Einleitung

Jede Beobachtung der äußeren wie der inneren Welt wirft einen auf den Geist (jedes im Glossar erklärte Wort wird beim ersten Vorkommen im Buchtext kursiv gesetzt) zurück. Nur er ist ständig und wirklich vorhanden, jedoch nicht als irgendetwas Dingliches. Das, was wahrnimmt, ist seinem Wesen nach unveränderlich und zeitlos wie der Raum, während das Wahrgenommene – die inneren Zustände wie auch der äußere Rahmen – in ständigem Wandel begriffen ist. Nur der Erleber allen Geschehens – der Geist selbst – ist immer und überall.

Das Große Siegel (tibet.: Chag Chen, sanskr.: Mahamudra) wurde von Buddha gelehrt, um den Geist voll zu erwecken und seine Erleuchtung zu besiegeln. Wer die Strahlkraft des Spiegels hinter den Bildern fortwährend erkennt und die Unerschütterlichkeit des tiefen Meeres jenseits seiner Wellen erlebt, ist am Ziel.

Der buddhistische Weg ist eine ständig anwachsende Erfahrung von innerem Reichtum und Freude, die mit der Erleuchtung dauerhaft wird. Die Wonne zeigt in den Augenblicken ihren Reiz, in denen keine Gewohnheiten oder Erwartungen einen ablenken. Einige erahnen die Kraft dieses Zustandes beim freien Fall, bevor sich der Fallschirm öffnet, oder in der Schräglage auf dem Motorrad, andere während der Verschmelzung in der Liebe. Er zeigt sich blitzschnell beim Niesen, als das freudige »Aha« bei einer neuen Einsicht oder während man das Glück anderer nachempfindet. Wer einen der unterschiedlichen Wege des tibetischen Buddhismus mit seinen bis heute lebendigen Übertragungen geht, kann innerhalb eines Lebens solche Augenblicke zu einem Dauerzustand ausdehnen. Schon nach einer kurzen Begegnung mit einem Lehrer des Großen Siegels, und vor allem durch die freundschaftliche Verbindung mit ihm und die Mitarbeit in seinen Gruppen, fängt ein umfassendes geistiges Wachstum an. Sowohl in der Meditation als auch im restlichen Leben wird man immer beständiger ein freudiges Einssein mit allem erleben, bis man sich schließlich wundert, dass man jemals Leid und Enge erlebte.

»Raum ist Freude«, »Jedes Geschehnis ist das freie Spiel des Geistes«, »In allen Wesen den möglichen Buddha sehen und bewusst Körper und Rede einsetzen, um ihre innewohnende Kraft hervorzubringen« – derartige Aussagen zeigen seit Buddhas Zeiten den grenzenlosen Reichtum der Verwirklicher, sie beschreiben das Ziel und den Weg des Großen Siegels. Seine geschickten Mittel ermöglichen selbstständigen Menschen, auch anderen zu helfen. Das Große Siegel erklärt ohne übertriebene Wissenschaftlichkeit oder Gefühlsduselei sowohl das Letztendliche (das Ziel) als auch das Bedingte (den Weg) als an sich freudvoll. Angesichts der heute oft geschmacksarmen geistigen Fertigmenüs haben diese Belehrungen für viele Menschen eine wachsende Anziehungskraft.

 

Erleuchtung ist die volle Entfaltung aller Eigenschaften und Fähigkeiten der Wesen, einschließlich der unentbehrlichen Vernunft. Deshalb kann auch der Weg dahin nichts enthalten, was abgehoben oder unverständlich wäre. Karmapa weiß das. Und obwohl er diesen Text so ausdrucksstark und kunstvoll verfasste, genügt ein bloßes Mitschwingen mit den Versen nicht. Erst durch kritisches Mitdenken können seine Worte ganz entschlüsselt werden. Daher meine auf die heutige Welt zielenden Erläuterungen.

Ohne kritisches Nachdenken werden mehrere Bedeutungsebenen zu spät oder nicht erkannt. Deswegen wähle ich mitunter Erläuterungen aus der jetzigen Zeit, die einem die Augen öffnen für die Welt. So wird das Verständnis für den Text geschärft und man bekommt einen reifen Überblick über die Geschehnisse. Gleichzeitig entwickelt man dadurch die Fähigkeit, die Bedingungen des täglichen Lebens zu meistern.

Jede buddhistische Entwicklung setzt mit einer Untersuchung der Ausgangssituation an. Zu Beginn jeder Übung begreift man zunächst, dass die im eigenen Leben gerade vorhandenen Bedingungen eine höchst kostbare und erstaunlich seltene Möglichkeit bieten: Man kann tatsächlich bewusst sein Leben in Richtung Befreiung und Erleuchtung steuern. Nur sehr wenige haben die Gelegenheit, gebildet, frei und fähig Buddhas Lehre in ihrer ganzen Fülle zu begegnen, und noch viel weniger nutzen ihr Glück.

Die zweite Überlegung betrifft die Vergänglichkeit aller Dinge. Jeder kann jeden Augenblick sterben. Äußeres wie Inneres ändern sich ständig. Nur das leuchtende Gewahrsein des Geistes ist unvergänglich und überall. Das ist es, was den Geist so wichtig macht. Man versteht, dass man die Zeit jetzt nutzen sollte, denn niemand weiß, wie lange er noch leben wird.

Die dritte Überlegung gilt dem Gesetz von Ursache und Wirkung (sanskr.: Karma, tibet.: Lä). In jedem Augenblick bestimmen die Gedanken, Worte und Taten eines jeden seine Zukunft. Man legt ständig selbst die Samen für das eigene Erleben, und es lohnt sich, sehr bewusst zu sein. Werden schädliche Eindrücke nicht entfernt, reifen auch sie als Erfahrungen heran, die denselben Gefühlsgehalt tragen wie ihre Ursachen.

Schließlich begreift man, warum es sinnvoll ist, sich zu entwickeln. Man sieht, wie jedes Wesen mit bedingten und deswegen kurzfristigen Mitteln nach dauerhaftem Glück strebt und zugleich Leid vermeiden will, was offensichtlich unmöglich ist. Erleuchtung bedeutet, einen Glückszustand zu verwirklichen, der weder vergehen noch sich auflösen kann, und diese reiche Möglichkeit des Geistes aus Faulheit auszublenden, wäre schade. Wer glaubt, der Körper zu sein und die Dinge zu besitzen, findet bei Krankheit, Alter, Tod und Verlust keinen Halt. Man hat dadurch weniger Kraft und vermisst häufig den nötigen Weitblick, um anderen langfristig helfen zu können.

Diese vier Überlegungen führen zur Suche nach Werten, denen man wirklich vertrauen kann. Hat man sie gefunden, lockt ihre Verwirklichung. Die Öffnung von Körper, Rede und Geist unveränderlichen Zuständen gegenüber wird im Buddhismus Zuflucht genannt.

Das Einzige, was überall und zeitlos vorhanden ist, ist der Raum. Obwohl er häufig als ein Nichts oder etwas Fehlendes verstanden wird, ist er bestimmt kein schwarzes Loch. Viel eher ist er ein Behälter, der alles verbindet, ermöglicht und umfasst. Das Wesen des Raumes ist furchtlose Einsicht. Seine Erfahrung ist spielerische Freude und sein Ausdruck tatkräftige Liebe. Buddha (tibet.: Sangye) verkörpert diese vollkommene Verwirklichung. Deshalb ist sein erleuchteter Bewusstseinszustand die erste Zuflucht.

Der Buddha unserer Zeit, Shakyamuni Gautama, lebte vor 2600 Jahren. Er ist der vierte von tausend Buddhas, die, solange begabtes Leben auf der Erde besteht, erscheinen werden. Da dieselbe Wahrheit – die Buddhanatur – allen Wesen innewohnt, ist es ein großes Geschenk, dazu Zuflucht nehmen zu können. Buddhas Belehrungen erinnern einen ständig daran, dass man genau die gleichen Voraussetzungen hat wie er, um zur Erleuchtung zu gelangen. Man muss sich nur zielgerichtet entwickeln.

Die zweite Zuflucht, die er gab, ist der Weg zur Erleuchtung. Seine Lehre (sanskr.: Dharma, tibet.: Chö) besteht aus 84000 Hilfsmitteln, die in 108 dicken Büchern festgehalten sind. Sie ermöglichen jedem, mit der gewünschten Geschwindigkeit zum Ziel zu kommen.

Die dritte Zuflucht, die Freunde auf dem Weg (sanskr.: Sangha, tibet.: Gendün), sind die so genannten Bodhisattvas, anerkannt oder unbekannt, mit deren Hilfe man sich entwickelt. Ihre Fähigkeit zu helfen zeigt sich durch zwölf Eigenschaften, die sich auf jeder von zehn Ebenen bis zum Buddhazustand verzehnfachen. Auf der ersten Stufe kann man z.B. 100 Menschen von Nutzen sein, auf der zweiten 1000, auf der dritten 10000 usw. Da sie sowohl Äußeres als auch Inneres wie einen Traum erfahren, sind sie unverwundbar und dank ihrer starken Wünsche, anderen zu nutzen, werden auch sie eine echte Zuflucht.

Jede buddhistische Schule nimmt Zuflucht zu diesen so genannten Drei Juwelen: Buddha, seiner Lehre und den Freunden auf dem Weg (Buddha, Dharma, Sangha). Im Diamantweg (tibet.: Dorje Thegpa, sanskr.: Vajrayana) des tibetischen Buddhismus öffnet man sich zusätzlich einer vierten Zuflucht, die die ersten drei zusammenbringt und im Leben verankert. Es ist der verwirklichte Lehrer, der einen als unmittelbares Beispiel auf dem Weg begleitet (sanskr.: Guru, tibet.: Lama).

Er gibt, wie hier der 3. Karmapa, seinen Schülern einen direkten Zugang zu ihrem Geist. Um Gerüchte zu vermeiden, muss man von ihm erwarten können, dass er für jeden ersichtlich als Mönch, Laie oder Verwirklicher lebt. Er muss die Verbindungen zu seinen Lehrern halten, das sichert die Übertragung ab, echte Lebenserfahrung besitzen und Buddhas Körper, Rede, Geist, Eigenschaften und Tatkraft sinnvoll vertreten. Zusätzlich soll er die Drei Wurzeln der Erleuchtung vermitteln: Begeisterung in seinen Schülern durch Segen erwecken, die besonderen Mittel des Diamantweges richtig weitergeben und mit erleuchteten Schützern verbunden sein, deren kraftvolle, von Flammen umgebenen Formen die meisten aus Museen oder Kunstbüchern kennen. So macht der Lehrer jede Erfahrung zu einem Schritt auf dem Weg des Schülers. Jeder, der sich schnell entwickeln will, sollte sich die Mühe machen, mögliche Lehrer möglichst ungeschminkt zu beobachten, bevor man sich auf sie einlässt. Er sollte sie möglichst ohne die Verpackung einer fremden Kultur und ohne exotisches Make-up – also im Alltag – überprüfen und dann selbst entscheiden, ob sie dasselbe tun und sagen und ob man ihr Beispiel für das eigene Leben verwenden will. Weil Roben und Rituale durch die Ankunft tibetischer Politik im Westen sehr an Stellenwert verloren haben, sollten die Leute heute umso mehr auf den Nutzen schauen, den die Lehrer ihnen bringen können, oder sehen, ob sie ihnen ganz einfach vertrauen können und sie mögen.

Buddhas Belehrungen bestehen in ihrer Ganzheit aus drei großen Richtungen. So können Menschen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen den Weg finden, der am besten zu ihnen und ihren Bedingungen passt. Allen gemein ist die Verantwortung für das eigene Leben durch die Lehre von Ursache und Wirkung (der Kleine Weg), die aber von Menschen, die natürlicherweise auch an andere denken, durch Mitgefühl und Weisheit ergänzt wird (der Große Weg). Durch die Fähigkeit, die Geschehnisse und Dinge als rein zu sehen, erreicht man die letztendliche Ebene des Diamantweges.

Die aus den Belehrungen des Kleinen Weges hervorgegangenen südlichen buddhistischen Schulen des Theravada (sanskr.: die »Worte der Ordensältesten«) nehmen Zuflucht mit der Einstellung, das eigene Leid beenden oder verringern zu wollen. Man findet sie vor allem in Sri Lanka, Thailand, Burma, Vietnam, Laos und Kambodscha. Ihr Ziel ist die Befreiung von allem Leid.

Noch sinnvoller ist die Zuflucht jedoch in Verbindung mit dem allumfassenden Wunsch des nördlichen Buddhismus, der hauptsächlich in Vietnam, China, Nord- und Südkorea, Japan und Taiwan verbreitet ist. Im »Großen Weg« (tibet.: Thegtschen, sanskr.: Mahayana) möchte man sich so schnell wie möglich so weit entwickeln, dass man allen nützen kann. Durch die guten Wünsche für alle Wesen vorangetrieben, entwickelt man ungeheure Kraft und kann so allmählich die besonders wirksamen Mittel des »Diamantweges« verwenden, die in Tibet und heute vor allem im Westen bekannt sind.

Eine solche Umstellung der eigenen Werte von Bedingtem und Vergänglichem auf Letztendliches und Zeitloses ist nach der Untersuchung unserer Ausgangslage durch die Vier Grundgedanken der notwendige zweite Schritt auf dem Weg. Von dem Wunsch begeistert, anderen helfen zu können, und aufgrund der Erfahrung von der Traumähnlichkeit und Veränderlichkeit – also der »Leerheit« aller Gefühle und Erscheinungen – wird die künftige Arbeit mit dem Geist abgesichert und kann in großem Umfang anfangen.

Zwei Einstiegsmöglichkeiten bieten sich an, wenn man sich für den Diamantweg entschieden hat. Einige wenden sofort viel Zeit und Schwung auf, um die Grundübungen (tibet.: Ngöndro)[1] so oft wie möglich zu wiederholen. Dies ist eine Abfolge von vier Meditationen, bei denen man mit Körper, Rede und Geist die innere Verbindung zur Zuflucht stärkt, schädliche Eindrücke aus früheren Worten, Taten und Gedanken reinigt, neue schöne Eindrücke im Geist aufbaut und mit der letzten Übung sein Band zum Lehrer stärkt. Damit schafft man eine gesunde Grundlage, um sich weiterzuentwickeln.

Andere dagegen ziehen es vor, das buddhistische Zentrum in ihrer Nähe zu besuchen, etwas Zeit für eine tägliche Meditation zu finden, buddhistische Sichtweisen zu untersuchen und sich allmählich anzueignen und ein paar Kurse in ihr Leben einzubauen. Beide Vorgehensweisen sind gut. Sobald eine gewisse Reife erreicht wurde, stehen demjenigen, der die Grundübungen abgeschlossen hat, drei und demjenigen, der die vielen Wiederholungen nicht gemacht hat, zwei weiterführende Meditationswege innerhalb des Diamantweges offen. Die verschiedenen Wege nutzen drei dem Geist innewohnende, kraftvolle Eigenschaften: seine Fähigkeit zu tun, zu wissen und sich einzufühlen.

Der erste Meditationsweg, der »Weg der Mittel«, kam mit dem Helden Marpa vor 950 Jahren über die Berge von Indien nach Tibet. Er erhielt diese Übertragung Buddhas von dem Verwirklicher Naropa. Bei diesen Meditationsübungen entsteht man aus dem Raum als verschiedene Buddhaformen aus Energie und Licht. Dabei kommen vor allem tiefe Atemübungen und die inneren Energiebahnen des Körpers zur Anwendung. Dieser Weg, auch der »Weg der Sechs Lehren Naropas« genannt, kann nur nach Abschluss der Grundübungen vollständig verwendet werden. Die für bestimmte Übungen unerlässlichen monate- bis jahrelangen Zurückziehungen von der Gesellschaft, um in Abgeschiedenheit zu meditieren, sind heutzutage für Leute, die im Leben stehen, kaum durchführbar. Menschen aus dem Westen, die gern in die jahrelangen, meist zölibatären Zurückziehungen gehen, sind zudem oft von vornherein nicht die Wildesten und bleiben erfahrungsgemäß auch danach lieber im Kloster oder bei ihren eigenen Belangen. Die meisten dieser Übungen sind übrigens nicht allgemein zugänglich, sondern geheim und werden nur unter besonderen Bedingungen gelehrt. Außer dem Phowa, einer für die moderne Welt sehr geeigneten Übung, um das Bewusste Sterben zu erlernen, und einer einfachen Meditation auf das Klare Licht des Geistes kann man ohne eine lange und gründliche Vorbereitung der Schüler den »Weg der Mittel« kaum mit gutem Gewissen lehren. Es können zu viele Hindernisse auftreten. Wer es dennoch wagt, und es gibt sogar unter hoch betitelten Rinpoches einige, die im Westen die Erfahrungen der letzten 2600 Jahre missachten und z.B. Geheimlehren anderer einfach veröffentlichen, nützt seinen Schülern meistens nur sehr kurzfristig. Der geprellte Stolz nach erfolglosen Versuchen mit zu anspruchsvollen Übungen, für die einem die Grundlagen fehlen, kann in zukünftigen Leben den Zugang zum Diamantweg sehr erschweren. Unter den Übungen des buddhistischen Tantra, wie der »Weg der Mittel« auch bezeichnet wird, erfordern vor allem die so heiß begehrten Vereinigungsübungen jahrelange Erfahrung in der Meditation, eine sehr besondere Gefährtin bzw. Gefährten und lange Zurückziehungen. Wer nackt durch tiefes Atmen den Schnee um sich herum zum Schmelzen bringen kann, ist in etwa bereit.

 

Die Meditationen des »Weges der Einsicht« waren vor 950 Jahren das Geschenk von Marpas zweitem Hauptlehrer, dem heute weniger bekannten Maitripa. Obwohl seine Mittel einfacher und weniger mit Geschichten behaftet sind, sind seine auf Bewusstheit und Vertiefung bauenden Übungen brauchbarer und dadurch nützlicher in der heutigen Welt. Bei diesen geht es darum, den Geist zu beruhigen und festzuhalten, bis Eingebungen entstehen, was in allen buddhistischen Wegen als Mittel für Entwicklung verwendet wird und auch andere Heilswege und Religionen kennen. Was den Verlauf auf die Ebene des Großen Siegels hebt, ist die Erfahrung, dass Erleber, Erlebtes und Erleben allesamt Seiten ein und derselben Ganzheit sind.

Im ersten Teil des »Weges der Einsicht«, Shine (tibet.) oder Shamatha (sanskr.) genannt, wird auf der bedingten Ebene gearbeitet. Diese Übung beruhigt und festigt den Geist. In verschiedenen Ausführungen ist sie in allen Erfahrungsreligionen wie dem Buddhismus, Taoismus und Hinduismus bekannt. Auch in den Glaubensreligionen wird die hier angestrebte Vertiefungsebene gelegentlich durch Beten erreicht. Sie ist die Quelle einer Art von übersinnlichen Fähigkeiten und Wundern. Fast jedes Mittel und jeder Sinnesreiz lassen sich im »Weg der Einsicht« verwenden, um den Geist zu beruhigen und festzuhalten. Einige Schulen arbeiten hier mit bildhaften Vorstellungen, andere lieber nicht. Einige beobachten z.B. beim langsamen, storchähnlichen Gehen oder auch beim Kauen ihren Geist. Am bekanntesten auf dem Kleinen Weg ist das Zählen der Atemzüge oder das Spüren des Luftstromes an der Nasenspitze. Im Großen Weg sowie im Diamantweg sind ebenfalls Shine-Übungen enthalten, die von dem Wunsch nach Erleuchtung zum Besten aller durchdrungen sind.

Der zweite Teil vom »Weg der Einsicht«, Lhaktong (tibet.) oder Vipashyana (sanskr.) genannt, bedeutet »mehr sehen«. Durch die Beruhigung des Geistes erfährt man zunehmend den Erleber als ein tiefes Gewahrsein. Der Geist verweilt hier ausschließlich auf der letztendlichen Ebene und erfährt die »Leerheit«, eben die nicht vorhandene Wirklichkeit und die gegenseitige Bedingtheit aller äußeren wie inneren Erscheinungen.

Eine Form der Meditation ohne Hilfsmittel, bei der man »nur« auf den Geist meditieren soll, wird von mehreren bekannten Lamas schon unmittelbar nach der Zuflucht angeboten, was ich für verkehrt halte. Obwohl er sich leicht beschreiben lässt, erfordert dieser Weg »ohne Form oder Stützen« besonders umfassende Belehrungen und setzt eine intensive Betreuung sowie den gezielten Aufbau zahlloser guter Eindrücke voraus. Umso mehr, weil auftauchende innere Reinigungen besonders ernst genommen werden, wenn man keinen Gegenstand für seine Meditation hat. Der Geist sollte, allgemein gesagt, nur so lange beruhigt bleiben, wie er auch völlig bewusst ist. Ansonsten wird das Ergebnis statt der Leuchtkraft eines funkelnden Diamanten ein beurteilendes Gedankenjagen oder eine angenehme, aber dumpfe »Mattscheibe« sein. Aus diesem Grund wurden diese Belehrungen in Tibet nicht vor den Grundübungen gegeben. Tatsächlich ist das richtige Beruhigen und Halten des Geistes auf einem Punkt ohne Hilfsmittel viel schwieriger, als sich auf die vielseitigsten Buddhaformen mit ihren häufig langen und anfänglich fremdartigen Mantras einzulassen, wie sie im »Weg der Mittel« verwendet werden.

Zwischen den beschriebenen Wegen der Mittel und der Einsicht, beide segnend und verbindend, liegt der dritte Zugang zur Erleuchtung. Er arbeitet mit allen Eigenschaften des Geistes und setzt »begeisterte Einfühlung« – Begeisterungsfähigkeit und das tiefe Vertrauen in den Lehrer als Ausdruck der eigenen Möglichkeiten – voraus. Diese Meditationsweise wird vielleicht erst seit dem 16. Karmapa als eigener Weg gelehrt, und man wundert sich, dass dies nicht schon früher geschah. Guru Yoga (skt.) oder Lami Naljor (tib.) genannt, war sie schon immer die geheime Kraft der Kagyü-Linie und ist auch heute ein Eckpfeiler der neuen Karma-Kagyü-Gruppen im Westen. Die Meditationen auf den eigenen Lehrer und Karmapa als untrennbar helfen mehr Schülern, sich dem Segen der Linie zu öffnen, als irgendeine andere Übung. Hingabe muss jedoch unbedingt mit menschlicher Reife verbunden sein. Vertrauen zum Lehrer darf nicht zu Unselbstständigkeit, Humorlosigkeit oder zwanghafter Nachahmung führen. Wie schädlich sich das auswirkt, verdeutlichen die häufigen Skandale bei den verschiedensten Sekten. Stattdessen soll der Lehrer geschickt dem Schüler den furchtlosen Raum erschließen, den er sich selbst erkämpft hat, und ihn selbstständig machen. In der Freiheit voller spiegelnder Erfahrungen findet man die vollkommenen Eigenschaften, die dem Geist eines jeden schon immer innewohnen.

Die Kraft von Maitripas Lehre liegt in ihrer vielfältigen Anwendbarkeit. Aufbauend auf einem ansonsten freundlichen Austausch mit der Umwelt, lässt sie sich auch ohne Zurückziehungen fließend in das tägliche Leben einfügen.

Die drei beschriebenen Meditationswege sollten so früh wie möglich mit der Sichtweise des Großen Siegels verbunden werden. Erst die Einsicht, dass der Erleber (der Geist selbst), das Erlebte (jedes Spiel des Geistes) und das Erleben (die Fähigkeit des Geistes, wahrzunehmen) immer miteinander verbunden und letztendlich eins sind, verwandelt jedes Geschehen in eine erleuchtende Erfahrung. Diese höchste Anschauung macht jeden zugleich lebensnah und verantwortlich. Man blickt dann eher weit als kurz und erfüllt lieber die für die Zukunft sinnvollen Bedürfnisse als die oberflächlichen Wünsche der Wesen. Wer die Welt als den Fluss der eigenen und der gemeinsamen Träume erkennt, die sie ist, kann nicht umhin, mit Mitgefühl zum Besten aller Wesen zu arbeiten. Ob also im »Weg der Mittel« das Erlebnis von Raum als Freude den Antrieb liefert, im »Weg der Einsicht« die Erfahrung von seiner grenzenlosen Einsicht entsteht oder im »Weg des Vertrauens« die Fähigkeit zur Hingabe und das Vertrauen in die eigene Buddhanatur die Grundlage sind – alle drei Meditationswege des Diamantweges finden ihre Krönung in der Erleuchtung, der Frucht des Großen Siegels.

Einmal zum Buddha geworden, erlebt man keine Trennung von Raum und Zeit. Hier wird die Kraft von zehntausend Volt der Freude in jeder Zelle des Körpers erfahren. Jenseits der üblichen Sinne nimmt man die Welt durch die Schwingung jedes Atoms wahr. Man handelt aus der Allwissenheit des Geistes heraus und befreit die Wesen im Hier und Jetzt dauerhaft. So wird alles sinnvoll. Alles ist dann das freie Spiel des Geistes. Alle Wesen werden als Buddhas erkannt, etwas, was sie nur noch selbst entdecken müssen. Die ganze Welt strahlt und ist ein Reines Land. Das ist der Zustand der Buddhas und das Ergebnis des Großen Siegels.

Bildhafte Übersicht über Buddhas Lehre. Die folgenden fünfundzwanzig Verse über diese Erfahrung verfasste der 3. Karmapa Rangjung Dorje vor 700 Jahren. Sie zeigen genau und klar auf das Wesen des Geistes und sind so frisch, als wären sie gerade erst geschrieben worden.

 

 

Lamas und Buddhas der Yidam-Kraftkreise,

Buddhas und Bodhisattvas der zehn Richtungen und drei Zeiten,

denkt liebevoll an uns und gebt euren Segen,

damit sich unsere Wünsche so erfüllen, wie wir sie machen!

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Vers 1

Wenn etwas wachsen soll, muss zunächst ein Feld vorhanden sein. Dann sind Samen, Sonne und Regen vonnöten. Erst ihr Zusammenkommen macht eine Ernte möglich. So ist es auch mit der Erleuchtung. Karmapa beginnt im ersten Vers sofort, das nötige Kraftfeld zusammenzustellen.

Alle Lehren Buddhas beginnen mit der Zufluchtnahme zur vollen Entfaltung des Geistes, deren Merkmale dem Leser schon am Anfang dieser erleuchtenden Wünsche bekannt sein sollten. Das Wissen ist notwendig, denn dieser Zustand ist das Ziel. Ohne die erste Sprosse der Leiter ergeben die weiteren wenig Sinn. Woraus besteht die Zuflucht? Aus den »Drei Kostbaren und Seltenen«: dem Buddha, seiner Lehre, den Bodhisattvas – den Freunden auf dem Weg – und aus den »Drei Wurzeln« der Entwicklung: dem Lama, den Yidams und den Schützern.

Die Buddhas sind keine Götter, sie erschaffen nicht, weder richten noch strafen sie, sondern sie sind einfach Freunde der Wesen. Da sie keine Trennung durch Zeit und Raum empfinden, sind sie allwissend und voll erleuchtet. Das Sanskritwort »Buddha« kommt von »Erwachen«. »Sangye«, die von den Tibetern gewählte Übersetzung, bedeutet: ohne jeden Schleier und voll entfaltet. Ein Buddha ist Halter eines Bewusstseinszustandes, der sich kurz gefasst durch drei Ebenen, vier Tatbereiche und Fünf Weisheiten beschreiben lässt. Später im Text wird immer wieder auf diese Punkte eingegangen, die in meinem Buch »Wie die Dinge sind«[2] näher erläutert sind. Deswegen hier nur eine eher stichpunktartige Darstellung.

Die drei Ebenen sind die der furchtlosen Wahrheit, der selbst entstandenen Freude und der langfristig sinnvollen Tat. Sie entstehen von selbst aus der Erfahrung vom Geist als einem unzerstörbaren Raum, als leuchtend klar und grenzenlos. Daraus entwickeln sich die vier Tatbereiche. Je nach Möglichkeit befrieden, bereichern, begeistern oder schützen die Buddhas die Wesen. Sobald Störgefühle als schädlich erkannt werden und unausgelebt wieder im Raum versickern, entstehen an ihrer Stelle befreiende Einsichten. Mühelos entfaltet so ein erleuchteter Geist spiegelähnliche, ausgleichende, unterscheidende, erfahrungsmäßige und alles durchdringende Weisheit.

Buddhas Lehre ist von ihm nicht zu trennen, sie ist sein Lebenswerk. Ihre vielseitigen Hilfsmittel – 84000 Belehrungen in 108 zolldicken Büchern – führen seit 2550 Jahren die Wesen zur vollen Entfaltung ihrer Fähigkeiten. Der gewaltige Umfang der Lehre muss hier keinen verschrecken. Man kann sie sich eher wie eine Apotheke vorstellen, die für jeden »Fall« etwas vorrätig hat, aber man braucht niemals das ganze Sortiment einzunehmen.

Ein Bodhisattva zu werden, ist das vorläufige Ziel des nördlichen Buddhismus. Da auf dieser Einsichtsstufe die Illusion von einem wirklichen »Selbst« aufgelöst ist, nicht jedoch der Schleier der einengenden Vorstellungen, kann er zwar Fehler machen, aber nicht mehr auf eine Stufe des Leids herunterfallen. Bodhisattvas nützen mit wachsender Fähigkeit den Wesen, während sie sich selbst weiterentwickeln. Sie drücken die reichen Eigenschaften von Kraft, Weisheit und Liebe aus und helfen dadurch anderen.

Die Anrufung der Lamas und Yidam-Kraftkreise zeigt, dass Karmapa mehr will als nur eine wörtliche Vermittlung. Es handelt sich in diesem Fall um einen Diamantweg-Text. Alle buddhistischen Schulen verwenden die äußere Zuflucht der eben erwähnten Drei Kostbaren und Seltenen. Auf Sanskrit heißt sie »Buddha, Dharma und Sangha«. Hier geht es jedoch um die letztendliche Erfahrung des Großen Siegels, um die Arbeit mit allen Ebenen von Körper, Rede und Geist. Dafür wird eine hautnahe Zuflucht gebraucht, die »Drei Wurzeln« einer unmittelbaren Verwirklichung. Sie werden »Lama« oder »Lama, Yidam und Schützer« genannt und geben einer schnellen ganzheitlichen Entwicklung den nötigen Schub. Schon am Anfang ruft Karmapa Rangjung Dorje also die wirksamsten Kräfte für seine Leser herbei.

Wie sind die Drei Wurzeln zu verstehen? Weil Wahrheit innen und außen ein und dieselbe ist, können auch sie niemals etwas anderes sein als besonders nützliche Spiegel für den eigenen Geist.

Vom Lehrer – dem Lama – erhält man das, was Segen genannt wird: innere Wärme und das Vertrauen, dass das Ziel erreichbar ist. Er hat entweder unerschütterliche Kraft erlangt oder kann auf andere Weise durch sein Beispiel die Zuflucht vertreten. Als »Wurzel der Verwirklichung« ist er – wie auch die Gruppen, die seine Übertragung halten – auf einem schnellen Entwicklungsweg unentbehrlich. Laufen lernen kann jeder selbst, aber fürs Fliegen braucht man einen Lehrer. Obwohl oft gesagt wird, dass man die Eigenschaften seines Lamas übernimmt, wird man im Buddhismus – und vor allem mit den frischen Mitteln des Diamantweges – niemals dessen bloße Kopie. Natürlich haben Lehrer und Schüler schon grundlegende Ähnlichkeiten und gehen deswegen die Verbindung ein, aber es wird an keinem Kurzen gezogen und kein Langer wird zusammengedrückt, um einem vorgegebenen Maß zu entsprechen. Das Sinnbild vom Eintreten in den freudvollen Spiegelsaal, den der Lehrer durch seine Furchtlosigkeit geschaffen hat, ist viel zutreffender. In seinem Kraftkreis entdeckt man die einem selbst innewohnenden Fähigkeiten am überzeugendsten.[3]

Mit Yidam sind höchst wirksame Mittel zur unmittelbaren Erfahrung des Geistes gemeint. Fast jeder kennt die farbenprächtigen Buddhaformen, die friedvoll oder schützend, weiblich wie männlich, einzeln oder vereinigt als hologrammähnliche Gestalten aus Energie und Licht erscheinen. Sie spiegeln die jedem innewohnenden erleuchteten Eigenschaften von Körper, Rede und Geist so wider, dass man sie leicht verwirklichen kann. Die Einstellung des Großen Siegels sowie die Verschmelzung mit den Lichtbuddhas führen bei jeder Beschäftigung mit ihnen zu überpersönlichen Rückkopplungserfahrungen, so, wie man das eigene Gesicht mit jedem Blick in einen Spiegel besser kennen lernt. Ganzheitlichere Mittel zur Verwirklichung von Mut, Freude, Mitgefühl und Weisheit gibt es nicht. Eigentlich drückt schon ihr tibetischer Name alles aus: »Yi« bedeutet »Geist« und »Dam« heißt »Band«. Diese Übertragungen ermöglichen die Verbindung unseres Geistes mit seiner Buddhanatur.

Alle Befreiten und Erleuchteten sind ständig von Kraftkreisen (sanskr.: Mandala, tibet.: Kyilkhor) umgeben. Auf Abbildungen von Yidams werden diese Kraftkreise häufig wie der Grundriss eines Gebäudes abgebildet, entweder gemalt oder mit gefärbtem Sand gestreut. Dies sind ihre wunscherfüllenden Lichtpaläste. Als Ausdruck der 32 vollkommenen Eigenschaften, die sich ab der Befreiung zeigen und bei der Erleuchtung zur vollen Blüte kommen, verdichten sie sich um sie herum. Drücken die Buddhas friedvolle Geistesinhalte aus, sind ihre Lichthäuser viereckig und aus regenbogenfarbigen Wänden. Zeigen sie sich aber kraftvoll, erscheinen diese dunkler und dreieckig. Sie alle sind ihrem Wesen nach rein, durchsichtig und von kraftvollen Schützern umgeben.

Kein Buddha ist jemals ohne diese Lichtfelder, auch wenn sie selten auf den Rollbildern (tibet.: Thangka) abgebildet oder in den Texten erwähnt werden. Ihre Kraft auch nur kurzfristig und teilweise zu erfahren, ist unvergesslich und verändert das Leben.

Nichts läuft jedoch ohne die Schützer, die Geber der Tatkraft. In dieser Anrufung werden sie nicht erwähnt, sondern durch das gesamte Kraftfeld ausgedrückt. Hannah und ich hatten sie in der ersten Übersetzung hinzugefügt.[4] Sie sind vom Lama nicht zu trennen und daher selbstverständlich immer dabei. Blitzschnell eingreifend, schützen sie die Wesen wirksam. Trotz ihrer wilden Erscheinung sind alle Gestalten, die in ihrer Stirn ein zusätzliches senkrechtes Weisheitsauge tragen, ganz ohne Störgefühle. Es gibt bei ihnen weder Widerwillen noch Zorn. Sie drücken sich so kraftvoll aus, um die Wesen von ihren Schwierigkeiten zu befreien. Im Gegensatz zu unerleuchteten Kraftfeldern vertagen sie leidvolle karmische Erfahrungen nicht, sondern sind fähig, deren Ursachen weitgehend zu beheben. Deswegen heißen sie auf Tibetisch »Yeshe Gönpo«, Schützer aus höchster Weisheit. Im Innenleben der Wesen entfernen diese Schützer Leiden, durch deren Bewältigung sie nichts dazugelernt hätten. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass immer nur so viel Schwieriges aus dem Speicherbewusstsein an die Oberfläche gelangt, wie man verkraften und in seinen Weg einbauen kann. Nach außen hin wirken die Schützer oft sehr offensichtlich: Sie halten Unfälle und andere entwicklungshemmende Ereignisse fern oder schwächen sie ab. Alle angerufenen Erleuchtungskräfte – die ganze Zuflucht überhaupt – wirken auf diese Weise. Sie sind wie Haken, die in die bedingte Welt hineinreichen und einem jeden helfen, der sich ihnen öffnet. Dass sie überall tätig sind, wird bildhaft durch die zehn Richtungen – Zenit, Nadir sowie Haupt- und Nebenkompassrichtungen – ausgedrückt, und dass sie jederzeit helfen, durch die drei Zeiten, einen häufig verwendeten Sammelbegriff für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Was einen idealistischen Menschen im Westen befremden mag, auch wenn er selbst oft erst nach vielen Überlegungen Vertrauen zur Wahrheitsnatur seines Geistes und zum Lehrer gewonnen hat, ist Karmapas letzter Wunsch, dass die Zuflucht auch alles richtig ausführen möge.