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Lama Ole Nydahl

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Beschreibung

Neueste Forschungen zu den sogenannten Nahtoderfahrungen machen ein Weiterleben des Bewusstseins nach dem Tod immer wahrscheinlicher. Auch für den Buddhismus ist der Tod ein Tor in eine neue Daseinsform. Lama Ole Nydahl beschreibt die vielen subtilen Erfahrungen im Verlauf des Sterbens und erläutert den Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt. Außerdem erfährt man, wie jeder durch bestimmte Meditationen einen besseren Übergang und eine höhere Bewusstseinsebene in der jenseitigen Welt erreichen kann. Das Wissen um diese geheimnisvollen Vorgänge vermittelt nicht nur ein klares Verständnis vom Ende des Daseins, sondern bereichert auch die Sicht auf das Leben im Hier und Jetzt.

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Lama Ole Nydahl

Von Tod und Wiedergeburt

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Über dieses Buch

Neueste Forschungen zu den sogenannten Nahtoderfahrungen machen ein Weiterleben des Bewusstseins nach dem Tod immer wahrscheinlicher. Auch für den Buddhismus ist der Tod ein Tor in eine neue Daseinsform.

Lama Ole Nydahl beschreibt die vielen subtilen Erfahrungen im Verlauf des Sterbens und erläutert den Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt. Außerdem erfährt man, wie jeder durch bestimmte Meditationen einen besseren Übergang und danach eine höhere Bewusstseinsebene erreichen kann.

Das Wissen um diese geheimnisvollen Vorgänge vermittelt nicht nur ein klares Verständnis vom Ende des Daseins, sondern bereichert auch die Sicht auf das Leben im Hier und Jetzt.

Inhaltsübersicht

DankVorwortDer Kreislauf des LebensBuddhismus und WissenschaftOhne Anfang und EndeDas Tibetische TotenbuchDie Wege zum GlückDie Vier Edlen WahrheitenDie Vier GrundgedankenDauerhaftes Glück findenDie ZufluchtDie Wege und Mittel im DiamantwegDer Weg der BegeisterungDer Weg der EinsichtDer Weg der MittelDie Vorbereitung auf den TodIm Hier und Jetzt das Ende im SinnAnnehmen und LoslassenSich zum Besten aller entwickelnDie äußere Vorbereitung auf den TodDie Körperhaltung beim SterbenDas innere Erleben des SterbendenDas Entstehen der ElementeDas Auflösen der ElementeAuflösen des Erd-ElementsAuflösen des Wasser-ElementsAuflösen des Feuer-ElementsAuflösen des Wind-ElementsEnergien im TodDas Sterben geht weiterErscheinen: Befreiung von ZornZunehmen: Befreiung von AnhaftungErlangen: Befreiung von DumpfheitDie SterbebegleitungWürdevolles AbschiednehmenDie Sechs Befreienden TatenGroßzügigkeitUmsichtiges HandelnGeduldBegeisterte TatMeditationWeisheitSterben als VorgangBesondere HerausforderungenUmgang mit SchmerzenPassive SterbehilfeOrganspendeSelbstmordHilfe über den Tod hinausBestattung und TrauerfeierTrauerDer entscheidende AugenblickDas Klare Licht des WahrheitszustandsDie Lichtformen des FreudenzustandsDie WiedergeburtDie Wiedergeburt in den DaseinsbereichenWiedergeburt in den drei Bereichen des LeidensWiedergeburt in den drei Bereichen des bedingten GlücksLangfristige VorbereitungGeschickte MittelDas Bewusste SterbenPhowa in den Wahrheitszustand (Dharmakaya-Phowa)Phowa in den Freudenzustand (Sambhogakaya-Phowa)Phowa in den Ausstrahlungszustand (Nirmanakaya-Phowa)Phowa für sich selbst (Phowa der drei Bewusstheiten)Phowa für andere (Haken des Mitgefühls)Phowa-KurseDie Kunst des SterbensSabtju RinpocheDer Silberschmied, der zum Regenbogenkörper wirdDer 12. Pandito Hambo Lama Dorzho Itigilow (1852–1927)Kalu Rinpoche (1904–1989)Lopön Tsechu Rinpoche (1918–2003)Hannah Nydahl (1946–2007)Der 16. Gyalwa Karmapa (1924–1981)MeditationenLicht-Atem-MeditationDie Meditation des Gebens und Nehmens»Liebevolle Augen«-Meditation16.-Karmapa-MeditationMeditation auf den Buddha des Grenzenlosen Lichtes (vorbereitende Meditation für die Teilnahme an einem Phowa-Kurs)GlossarPersonenregisterLiteraturÜber den AutorAdressen
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Dank

Ich möchte allen danken, mit deren Hilfe dieses Buch entstanden ist. Peter Speier sammelte meine Vorträge zum Thema und überreichte mir schon 1991 ein vollständiges Manuskript. Astrid Poier aus Graz gelang eine kürzere Zusammenstellung der Belehrungen 1993. Erst nach 2005 war aber die Zeit gekommen, sich auf dieses Buch einzustellen. Die vielen Fragen bei meinen Phowa-Kursen, die Erfahrungen mit Schülern beim Sterben und mein eigener Fallschirmunfall vertieften die Belehrungen.

Meine Caty – wie überall, wo Erfolg ist – begleitete das Entstehen dieses Buches die letzten zwei Jahrzehnte; Michael Fuchs und Pit und Maike Weigelt unterstützten uns die letzten fünf Jahre. Mika Blauensteiner verdanken wir die professionellen Fotos und Graphiken. Das umfangreiche Glossar erstellten wieder mit großer Sorgfalt Manfred Seegers, Jim Rheingans und Burkhard Scherer.

In unserem Europa-Zentrum, auf Sardinien und in Graz wurden wir wie immer liebevoll von unseren Freunden versorgt und konnten jeden Augenblick zum Schreiben nutzen.

Ich denke, viele werden ihnen allen mit mir danken.

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Vorwort

Als meine Frau Hannah erfuhr, dass sie Lungenkrebs hatte, waren wir erschüttert, aber innerlich gefasst. Wir wussten, was uns und vor allem sie erwartete. Ihr Geist blieb weit, trotz unserer starken Liebe zueinander. Sie nutzte die letzten Monate ihres Lebens, so gut es ging, um ihre Arbeit abzuschließen, und verabschiedete sich dann einen Tag bevor sie ihre Sprache verlor bewusst von allen Freunden. Sie starb würdevoll mit einem Lächeln auf den Lippen.

 

Seit uns 1968 in Nepal Buddhas Lehre begeisterte, waren wir durch unsere tüchtigen Lehrer auf das Helfen anderer und den eigenen Tod vorbereitet worden. Meine Frau brauchte keine weiteren Belehrungen und wandte die entsprechenden Meditationen voller Vertrauen an. Ihre Umgebung konnte sich bestens auf ihre Bedürfnisse einstellen, denn auch sie wusste, was nun wichtig war, und so wurde sie liebevoll beim Sterben begleitet und unterstützt.

Auch die Trauerzeit um Hannah sah anders aus als üblich. Ich arbeitete nach einer kurzen Zurückziehung weiter, denn ich wusste, dass es ihr in dem jetzigen Zustand viel besser ging als in ihrem kranken Körper, und weil ich sicher war, dass wir in zukünftigen Leben freudvoll unser Wirken gemeinsam fortsetzen würden.

Dem Wunsch unserer Lamas und ihrer Übertragung entsprechend geschult, wurde ich über die Jahre zum Lehrer für diesen entscheidenden Augenblick im Leben. Mit steigender Freude kann ich immer wieder beobachten, welch heilsame Wirkung Buddhas Belehrungen auf verunsicherte Menschen haben, die nicht wissen, was sie am Lebensende erwartet.

Allen Schülern, die die Belehrungen zum zeitlosen Geist, zum Sterben, zum Tod sowie zur Wiedergeburt und vor allem die Übung des Bewussten Sterbens (Phowa) kennen, ist eine Sache gemein: Sie schauen unerschrocken in die Zukunft, denken an andere und sind Kraftspender für ihr Umfeld. Sie sind das stille Zentrum des Sturms, der angesichts eines bevorstehenden Todes meist über die Familie hereinbricht.

 

Mag dieses Buch vielen die Angst vor dem Sterben nehmen und ihnen helfen, schon jetzt die Samen für großes künftiges Glück zu legen!

 

Mit Blick über den See und die Berge im Europa-Zentrum im Juli 2010, im Segensfeld der Schützerin Weißer Schirm, am Tag von Schwarzer Mantel.

 

Euer Lama Ole

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Der Kreislauf des Lebens

Alles fängt mit dem Zusammenschluss der größten und der kleinsten Zelle des Menschen an: der Eizelle der Frau und dem Spermium des Mannes. Aus dieser Verschmelzung entstehen innerhalb von neun Monaten Billionen von Zellen in 200 verschiedenen Ausprägungen. Nach einem Monat hat sich ein etwa sechs Millimeter großes Wesen gebildet, und vier Wochen später zeigen sich die Arme, Beine, Hände und Füße. Dabei ist die Entwicklung des Embryos nicht nur von Zellwachstum geprägt, sondern auch durch den Verfall von eben erst gebildeten Zellen. Damit die Hände später nicht wie kleine Paddel aussehen, müssen die Zellen der Schwimmhäute zwischen den Fingern sterben, denn erst dadurch werden die einzelnen Finger beweglich. Auch die Augäpfel könnten ohne gezieltes Absterben nicht vollständig ausgebildet werden, denn die Augen entwickeln sich aus einer einfachen Einstülpung der Haut zu einem komplexen Sinnesorgan. Ohne das Auflösen der Zellkerne in der ausgebildeten Linse wäre unser Blick im wahrsten Sinne des Wortes getrübt.

Ebenso entsteht im Gehirn zuerst ein Überschuss an Zellen, im weiteren Verlauf formen sich die Hirnareale durch die Rückbildung einzelner Zellen immer weiter aus. Doch die Erneuerung endet nicht – ganz entgegen der Annahme der Neurologie und Hirnforschung in den 90er Jahren, die das Gehirn bei Erwachsenen für nicht entwicklungsfähig hielten. Heute weiß man, dass es bis ins hohe Alter wandlungsfähig bleibt und selbst der Wegfall einer Hirnhälfte kompensiert werden kann.[1]

Buddhismus und Wissenschaft

In der modernen Wissenschaft verabschiedet man sich zunehmend davon, den Menschen nur als eine Biochemiefabrik zu betrachten. Die ursprüngliche Annahme, dass das Gehirn den Geist »herstellt«, lag nahe, da sie sich gut in die materialistische Denkweise und europäische Geistesgeschichte einfügte.[2] Es wurde als eine wissensverarbeitende Maschinerie angesehen und das Bewusstsein auf eine dazugehörige Kontrollinstanz begrenzt. Dies ließ aber viele Bereiche ungeklärt, und hinzu kam das grundsätzliche Problem, dass der Geist Eigenschaften besitzt, die kein materieller Gegenstand aufweist.

 

In den letzten Jahren löst sich jedoch die Gehirnforschung zunehmend von dieser rein dinglichen Sichtweise und erweitert den Erfahrungshorizont über das neurobiologisch Erfassbare hinaus. Nicht nur, weil man hirnbiologisch viele Beobachtungen so nicht erklären kann, sondern vor allem, weil in der Nahtodforschung vermehrt nachgewiesen wurde, dass klare Erfahrungen unabhängig vom Gehirn möglich sind. Gewahrsein lässt sich also nicht darauf begrenzen – es ist eher ermöglichend als herstellend. In Befragungen von Menschen mit Nahtoderlebnissen berichten diese übereinstimmend von einem Gefühl der Ruhe und des Friedens (ca. 90 Prozent), von Lichtwahrnehmungen (ca. 77 Prozent) oder außerkörperlichen Wahrnehmungen.[3]

 

Ebenso wie die Quantenphysik entfernt sich auch die Gehirnforschung heute in großen Schritten von der Sichtweise, dass es nur die Wirklichkeit gibt, die man messen oder durch die Sinne wahrnehmen kann. In zunehmendem Maße gehen die Hirnforscher inzwischen davon aus, dass menschliche Wahrnehmung zu großen Teilen das Ergebnis einer geistigen Gestaltung ist. So ist zum Beispiel die Gehirnaktivität, abgesehen von der Aktivierung der Sinnesorgane, nahezu gleich, ob man einen Sonnenaufgang am Meer tatsächlich sieht oder sich mit geschlossenen Augen nur vorstellt. Es gibt zudem vielfache Hinweise darauf, dass das Bewusstsein nicht vom Gehirn hergestellt wird, sondern zeitlich, räumlich und örtlich unbegrenzt ist.

 

Insbesondere, wo Neurowissenschaften und Quantenphysik zusammenkommen, wird es aus buddhistischer Sicht spannend. Hier ergänzen viele Ansätze und Sichtweisen Buddhas 2500 Jahre alte Belehrungen. Während die klassische Physik von einer objektiven Wirklichkeit ausgeht, brechen sowohl die Quantenmechanik als auch die Relativitätstheorie mit dieser Vorstellung.[4] Ähnlich wie im Buddhismus geht man hier immer mehr davon aus, dass es keine Welt unabhängig vom Betrachter gibt, oder wie es Einstein einmal ausdrückte: »Realität ist eine Illusion, aber eine sehr hartnäckige.«[5]

Sowohl die Quantenphysik als auch der Buddhismus gehen über die dualistische Sichtweise hinaus, vermeiden die Extreme des Entweder-oder und bevorzugen stattdessen das Sowohl-als-auch. Vor 1200 Jahren drückte der Verwirklicher Saraha im Norden Indiens es lebensnah so aus: »Wer glaubt, die Welt sei wirklich, ist dumm wie ein Ochse. Wer glaubt, sie sei nicht wirklich, ist noch dümmer« (weil es auf bedingter Ebene gegen das Gesetz von Ursache und Wirkung – Karma – arbeitet).

Der Raum wird als an sich leer von eigenen Eigenschaften gesehen und dennoch als alles verbindend, alles Wissen enthaltend und von allem ungetrennt. An der Universität von Cambridge ließ Rupert Sheldrake im Herbst 2004 eine Gruppe von Menschen erraten, wer sie unter vier möglichen und ihnen bekannten Teilnehmern gerade angerufen hatte. Die Übereinstimmungen gingen weit über die statistisch zu erwartenden 25 Prozent von Versuch und Irrtum hinaus, sondern lagen bei 42 Prozent.[6]

Der Quantenphysiker Anton Zeilinger von der Universität Wien versteht die Quantenmechanik als eine Informationstheorie und hat zum Beispiel durch Versuche mit »verschränkten Teilchen« (Photonen) bewiesen, dass im Raum im selben Augenblick an unterschiedlichen Stellen ohne physische Übertragungswege dasselbe Wissen erscheinen kann.[7] So müssen Forscher häufig ihre Nobelpreise teilen, weil sie zwar zeitgleich, aber unabhängig voneinander in unterschiedlichen Ländern ihre Einsichten gewinnen.[8]

Dass unser Universum letztlich aus Information besteht, erschüttert die stark materiell geprägte Wissenschaft bis in die Grundfesten und bestätigt gleichzeitig die Belehrungen Buddhas, dass der alles umgebende Raum eher ein Behälter als etwas Trennendes ist, also kein schwarzes Loch, sondern vielmehr etwas, was die Wesen umfasst und verbindet.[9]

 

Verlässt man das bis jetzt gelehrte Weltverständnis und folgt den neuesten Erkenntnissen der Quantenphysik, Neurowissenschaft und Nahtodforschung, ist Wiedergeburt einsichtig. Es ist vergleichbar mit einem Radio: Auch wenn das Gerät kaputt ist, spielen die Radioprogramme weiter. Wenn der Empfänger, das Gehirn, allmählich zerfällt, was beim Sterben der Fall ist, und immer weniger Programme abspielen kann, verschwindet nicht der gesamte Mensch, sondern nur seine materielle Erscheinung, alle seine Eigenschaften bleiben erhalten. Das, was man hat, vergeht, das, was man ist – der Erleber aller Dinge –, lebt weiter, jenseits von Raum und Zeit. Der Tod ist ebenso wie die Geburt nur ein Übergang in einen anderen Bewusstseinszustand. Der Erleber aller Dinge verbindet sich nach einem Zwischenzustand (sanskr.: antarabhava, tib.: bardo), in dem die am stärksten gespeicherten Eindrücke hochkommen, mit einem dazu passenden neuen Körper und in einer seinem Inhalt entsprechenden Welt.

 

Unser Gewahrsein – das, was jetzt durch unsere Augen schaut, durch die Ohren hört, durch die Haut spürt und an gestern oder morgen denkt, unser Geist, der dies alles kann, ist in seinem wahren Wesen sowohl zeitlos als auch unbegrenzt. Er ist wie ein Spiegel, in dem die Bilder kommen und gehen, er selbst verändert sich aber nicht. Er ist wie das Meer, in dem die Wellen entstehen und verschwinden, während das Meer jedoch beständig bleibt. Das bedeutet, dass unser Gewahrsein, dem alles entspringt, niemals hergestellt wurde und deswegen auch nicht auseinanderfallen kann. Weil der Erleber nicht geboren wurde, kann er auch nicht sterben. Nur unsere Körper werden, weil bedingt, vergehen.

Der Geist ist das, was alles erkennt, aber er bleibt von nichts begrenzt oder eingeengt. Er ist wie der Raum. Daher ist alles, was geschieht, sein freies Spiel. Ob Dinge entstehen oder sich auflösen, ob sie kommen oder gehen, alles zeigt den Reichtum des Geistes. Das Letztendliche ist zu allen Zeiten und überall vorhanden. Ständig spielt der Geist mit sich selbst, lässt Welten, Zustände, Neigungen und innere Erlebnisse voller Gedanken und Gefühle in und aus sich heraus geschehen. Erscheint äußerlich oder innerlich nichts, zeigt dies den Raum des Geistes, seine innewohnende Möglichkeit. Wird etwas erlebt oder geschieht etwas, zeigt dies dessen Klarheit und Fähigkeit zum freien Spiel. Dass beides zugleich vorhanden sein kann, verweist auf seine Unbegrenztheit.

Je mehr man versteht, dass der Geist an sich unzerstörbar ist, desto eher lösen sich Erwartungen und Befürchtungen auf, und man kann frei im Augenblick verweilen oder handeln. Man bleibt auf diese Weise immer seltener in seiner Vorstellungswelt von Vergangenheit und Zukunft hängen oder denkt, etwas beweisen oder entschuldigen zu müssen. Nach und nach entsteht eine Sichtweise, mit der alles spannend ist, bloß weil es geschieht und es die Möglichkeiten des Geistes ausdrückt. Statt Hoffnungen und Befürchtungen erlebt man plötzlich Raum und Freiheit außen wie innen und erfährt mit Wonne, wie viel Überschuss und Kraft die Wesen besitzen und weitergeben können und wie viel Reichtum sich entfalten kann. Ob etwas zusammenkommt durch Jugend, Kraft und Liebe oder sich durch Alter, Krankheit und Tod auflöst, beides zeigt das uferlose Spiel des Geistes, ist Ausdruck seiner unbegrenzten, ihm innewohnenden Möglichkeiten.

Ohne Anfang und Ende

Über die Welt, das Leben, den Tod und das Danach machen sich die Menschen seit Jahrtausenden Gedanken, und es wurden unzählige Annahmen und Ansichten dazu entwickelt. Die Vorstellung, dass es einen Anfang und ein Ende der Welt gäbe, ist dabei weit verbreitet. Sie findet sich bei Wikingern ebenso wie im griechischen Denken oder in den drei großen Glaubensreligionen des Mittleren Ostens, in denen Gottesvölker mit oft schwierigen Göttern sie auf dem Weg zu einem gelobten Land erfahren. Während in Glaubensreligionen ein persönlicher Gott der Verursacher und Endzweck ihrer Welt ist, gehen der Buddhismus und andere Erfahrungsreligionen wie Hinduismus und Taoismus von einem beständigen Kreislauf des Werdens und Vergehens (Kreislauf des Lebens) aus.

Die Welt ist nicht die Schöpfung einer höheren Macht oder etwas objektives Äußeres, sondern wird durch Wahrnehmung und Handlungen laufend geschaffen, weswegen man sich durch die Entwicklung einer überpersönlichen Einsicht befreien kann. Statt nach einem Sündenfall oder einem Schuldigen für die Widerwärtigkeiten des Lebens zu suchen und auf etwas Jenseitiges zu hoffen, schaut man auf die gegebenen Umstände und Wirkungen und zielt auf die Entwicklung von dem, was ist, sowohl im Leben als auch darüber hinaus. Dementsprechend findet man handfesten Rat zum Meistern des Lebens und des Sterbens und zu einer glücklichen Wiedergeburt im Allgemeinen in den Erfahrungsreligionen und hier im Besonderen im tibetischen Buddhismus.

 

Um das Verständnis für die verschiedenen Zustände und Verhaltensweisen des Geistes zu erleichtern, unterteilen die buddhistischen Belehrungen den Kreislauf des Lebens. Er besteht zwar aus einer beständigen Kette von aneinanderhängenden Augenblicken, lässt sich aber in Zwischenzustände gliedern. Solche Zwischenzustände von einem bestimmten Anfangspunkt bis zu einem bestimmten Endpunkt werden mit dem Begriff »Bardo« bezeichnet. Wörtlich übersetzt bedeutet er »Lücke« oder »zwischen«. Es gibt unendlich viele solcher Bardos, denn alles verändert sich ständig. So gesehen, befindet man sich – bis zur Erleuchtung – stets im Übergang von einem Zustand zum anderen. Allgemein verstanden bezeichnet Bardo den Zwischenzustand zwischen dem jetzigen Leben und der Wiedergeburt in das darauffolgende Leben. Nur der Zustand, in dem der Wissende seine eigene Zeitlosigkeit erkennt – Befreiung oder Erleuchtung –, ist kein Bardo.

Im Tibetischen Totenbuch spricht man an manchen Stellen von nur zwei Bardos: dem des Lebens und dem des Todes; an anderen Stellen aber auch von vier: dem des Lebens, des Sterbens, der Soheit und des Werdens. Bei noch genaueren Erklärungen werden im Zwischenzustand des Lebens noch zwei weitere unterschieden, so dass man insgesamt von sechs Bardos spricht: dem Bardo des Wachzustands, des Traumes, der Meditation, des Sterbens, der letztendlichen Natur und des Werdens.[10]

Die sechs Bardos entsprechen drei immer wiederkehrenden Bewusstseinszuständen von der Geburt bis zu dem Zeitpunkt, in dem der Sterbeprozess unwiderruflich eingesetzt hat, und drei aufeinanderfolgenden Zwischenzuständen, die sich zwischen dem Sterben und dem nächsten Leben abspielen.

Abb. 1 Kreislauf des Lebens

Bardo des Lebens (sanskr.: jatyantarabhava, tib.: rangzin bardo): Im Wachzustand arbeitet jeder mit der gemeinsam erfahrenen Sinneswelt durch Körper, Rede und Geist. Man ist bewusst, kann denken und überlegt handeln. Die Welt wird als fest und logisch erlebt. Während des Tages wird eine gemeinsame, wenn auch von der eigenen Einstellung gefärbte Welt erfahren. Das Geteilte ist, was die Reichweite unserer Sinne und die Offenheit der jeweiligen Kultur an Erfahrungen zulassen, und das Eigene ist der »Dreh«, den man ihr durch eigene Wünsche und Erwartungen gibt. In dieser Zeit kann man bewusst sein Leben verändern, steuern und mit seinem Geist arbeiten (vgl. die Kapitel »Die Wege zum Glück« und »Die Wiedergeburt«). Mit Hilfe buddhistischer Mittel kann man sich hier am besten für die Zukunft und somit auf alle anderen Zwischenzustände vorbereiten.

Bardo des Traumes (sanskr.: svapanantarabhava, tib.: milam bardo): Die Traumphasen während des Schlafes werden als zweites Bardo innerhalb des Bardos des Lebens bezeichnet. Dazu gehören auch Rauschzustände durch nicht psychedelische Drogen oder Alkohol. Im Traum werden während dreier nächtlicher Abschnitte drei Arten von Erfahrungen gemacht: Zuerst werden die Eindrücke des Tages verarbeitet, danach können körperliche Erfahrungen während des Tiefschlafes aufkommen, und kurz vor dem Aufwachen ist der Geist mitunter offen für in Kürze erscheinende Geschehnisse, während beim ungestörten Durchschlafen Vorausschauungen auf die in der Ferne liegende Zukunft möglich sind. Er wird als genauso wirklich erlebt wie die Tageswelt, obwohl Dinge völlig frei und unabhängig von Zeit, Ort und Körper geschehen, nicht mit anderen geteilt werden, nur den Geist betreffen und auch nicht in Zeitfolge ablaufen. Im Tiefschlaf, in dem das Bewusstsein in der Körpermitte verweilt und nur von Verwirklichern mit bestimmten Meditationsübungen erfahren wird, herrscht völlige Unwissenheit.

Bardo der Meditation (sanskr.: samadhyantarabhava, tib.: samtan bardo): Ein fortgeschrittener Buddhist meditiert regelmäßig mit der Absicht, seinen Geist zu erkennen. So hält er während der Geschäftigkeit des Alltags eine möglichst reine Sichtweise und überlagert damit den täglichen, meist gewohnheitsmäßigen Erlebnisfluss. Man lernt auf diese Weise, immer weniger auf störende Gefühle einzugehen, verweilt bewusster im Augenblick und kann allmählich die zeitlosen Eigenschaften des Geistes erfahren. Nach Beendigung der sitzenden Vertiefung wird, wenn sich die Aufgaben des Lebens wieder melden, diese Ebene bestmöglich festgehalten. So lernt man mit jeder Meditation nicht nur den Geist besser kennen, sondern das weite Sowohl-als-auch-Gewahrsein lässt einen das Erlebte auch besser überschauen. Man verwendet den Begriff Bardo der Meditation nur dann, wenn ein direktes Erleben der Natur des Geistes tatsächlich stattgefunden hat. Erst dann ist man in der Lage, zwischen Meditation und Nachmeditation zu unterscheiden. So, wie einem der Wechsel von einem Erfahrungsbereich in den nächsten (Schlaf/​Meditation) über die Jahre immer vertrauter wird, kann man auch den Sterbeverlauf später, falls es körperlich möglich sein sollte, bewusst durchlaufen und je nach Fähigkeit für die Zukunft bestens nutzen (vgl. die Kapitel »Die Wege zum Glück« und »Das Bewusste Sterben«).

 

Die täglichen Erfahrungen sind aber nicht die einzigen Zwischenzustände, die durchlebt werden. Fallen die Bedingungen für ein Leben weg, kann der Körper den Geist nicht mehr halten. Seine Energiebewusstheit verlässt ihn dann, und drei weitere Bardos erscheinen mit Kraft.

Bardo des Sterbens (sanskr.: mumursantarabhava, tib.: chikai bardo): Der erste dieser Zwischenzustände, der Bardo des Sterbens, ist der Sterbevorgang selbst, das heißt die Zeit kurz vor, während und kurz nach dem klinischen Tod, den alle seit anfangsloser Zeit immer wieder erlebt haben und bis zur Erleuchtung immer wieder erfahren werden (vgl. Kapitel »Das Bewusste Sterben«).

Bardo der Soheit (sanskr.: dharmatantarabhava, tib.: chönyi bardo): Während des zweiten Zustands, dem Bardo der Soheit, besteht die Möglichkeit, mit dem Klaren Licht des Geistes zu verschmelzen. Auf diese Weise erkennt man das Wesen des Geistes und wird erleuchtet. Bleibt dieser Augenblick ungenutzt, folgen für gutausgebildete Menschen etwa 68 Stunden der Unbewusstheit. Sobald man daraus erwacht, können Buddhisten in den nächsten sieben Tagen ihren Lehrern und den Buddhaformen begegnen, zu denen sie durch Einweihung oder geleitete Meditationen eine Verbindung aufgebaut haben, und in ihre Kraftfelder höchster Freude eintreten (vgl. Kapitel »Der entscheidende Augenblick«).

Abb. 2 Die sechs Zwischenzustände

Bardo des Werdens (sanskr.: bhavantarabhava, tib.: sipä bardo): Hat man die Möglichkeit, einen überpersönlichen Zustand zu erreichen, im vorherigen Bardo nicht nutzen können, gelangt man ab dem zehnten Tag in den nächsten Zwischenzustand, den Bardo des Werdens. Die Eindrücke des Speicherbewusstseins, bestehend aus Neigungen und Karma, bilden hier ein immer festeres Muster, das einen innerhalb der folgenden 39 Tage an ein neues Leben in der bedingten Welt bindet (vgl. Kapitel »Die Wiedergeburt«).

Das Tibetische Totenbuch

Im Westen sind vor allem die Unterweisungen des Tibetischen Totenbuches (tib.: Bardo Thödröl, dt.: Befreiung durch Hören im Zwischenzustand) sehr bekannt. Sie sind in einer buddhistischen Schrift aus dem 8. Jahrhundert enthalten, die auf den Begründer des tibetischen Buddhismus, Guru Rinpoche, zurückgeht, und genießen unter anderem aufgrund ihrer Ähnlichkeit der geschilderten Lichtphänomene mit den von heutigen Forschern beschriebenen Nahtoderfahrungen eine breite Anerkennung. Das Tibetische Totenbuch enthält Belehrungen über den Sterbeverlauf und die Wiedergeburt und erklärt Möglichkeiten, aus dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt auszubrechen. In den drei alten Schulen Tibets las man das Buch zu Lebzeiten, damit man sich im Sterben und im Zwischenzustand an die Anweisungen erinnerte und unmittelbar Befreiung erlangen konnte. Auch Verstorbenen im Zwischenzustand wurde aus dem Buch vorgelesen, um sie auf den Weg zu einer besseren Wiedergeburt zu führen.

Gleichwohl sollte auch hier der Verstand nicht abgeschaltet werden, denn in Tibet herrschten bis zur chinesischen Eroberung im Jahre 1959, die noch viel mehr Leiden brachte, mittelalterliche Zustände mit wenig Polizei und Ordnungshütern. Die Behörden – weitgehend die Landbesitzer in Lhasa und die drei umliegenden großen Klöster – versuchten deswegen durch die Erhaltung eines gewissen Angstpegels in der Gesellschaft, die Bevölkerung gefügig zu halten, was bei den friedvollen Bewohnern in der Mitte des Landes auch gelang. Dementsprechend betonte man gerne das Leiden beim Sterben und die Höllen danach. Zieht man gegenwärtige Erkenntnisse der Forschung zur Nahtoderfahrung mit in Betracht, ergeben sich, sicherlich nicht nur aufgrund der guten Schmerzmittel heutzutage und der zivilisierten Gesellschaften westlicher Länder, weit bessere Aussichten. Letztendlich hängen die Eindrücke und die im Geist hochkommenden Bilder nach dem Tod von der Einstellung und Lebensführung ab.

Einen umfassenden Einblick in die vielfältigen Erfahrungen und Abläufe nach dem Tod bis zur erneuten Wiedergeburt bieten vor allem die buddhistischen Lehrer (tib.: Lamas) der drei »Alten« oder »Rotmützen«-Meditationsschulen Tibets. Ihre großen Meditationsmeister, auch Verwirklicher genannt, bilden dabei die Grundlage der Belehrungen. Da der Geist nicht nur neue Erfahrungen hervorbringt, sondern auch bisherige speichert, erinnern sich diese durch ihre Klarsicht an Erfahrungen aus früheren Leben. Das erklärt vieles und schenkt unerschütterliche Sicherheit.

Belehrungen Buddhas, die Aussagen Guru Rinpoches, Erfahrungen buddhistischer Meister und Einsichten anderer, die vielleicht in früheren Leben buddhistisch meditierten, bestätigen tiefe Hoffnungen: Es gibt zeitlose »überpersönliche« Bewusstseinsebenen höchster Freude und bereits zu Lebzeiten erlernbare Mittel, um im Augenblick des Todes den Geist dauerhaft aus jeder Art von Schmerz zu befreien und – gelingt es, das dann entstehende Klare Licht als das eigene Wesen zu erkennen – sogar die Erleuchtung zu verwirklichen. Diese Körper, Rede und Geist umfassenden Übungen heißen auf Tibetisch Phowa, und die einfachste und für jeden verwendbare wird im Kapitel »Das Bewusste Sterben« beschrieben. Diese Meditation schwächt schon im Leben Todesängste ab und bringt diejenigen, die sie gelernt haben, selbsttätig auf sogenannte »reine«, das heißt befreite und überaus glückliche Bewusstseinsebenen, aus denen es kein Zurückfallen gibt.

Wer wünscht, alle dem Geist innewohnenden Fähigkeiten und Eigenschaften in diesen Bereichen zu entfalten, sollte sich frühzeitig entscheiden, hierzu den Sterbevorgang zu nutzen. Zu keiner anderen Zeit kommen die Bedingungen für riesige Entwicklungssprünge so günstig zusammen wie hier: Wenn alle Sinneseindrücke wegfallen, sich Gewohnheiten auflösen und sich alle Energien bündeln, öffnet sich der Weg in ein ungeheures Entwicklungsfeld. Man wird dann, je nach Einsicht und Mut, seinen Geist immer tiefer als zeitlose Wahrheit, selbstentstandene Freude und tatkräftige Liebe erkennen.

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Die Wege zum Glück

Selbst wenn man die gleichen guten Bedingungen hätte wie Buddha vor 2500 Jahren: ein Königreich, Freunde, Geliebte, Bedienstete, Ausbildung, Sport, Gesundheit und einen frohen Geist, würde man dennoch eines Tages erkennen müssen, dass die Vergänglichkeit nicht vor der eigenen Haustür haltmacht und alle äußeren Freuden nicht ewig währen. Auch wenn man mit viel Glück kaum krank werden würde, so käme man sicher an Alter und Tod nicht vorbei. Als Buddha im Alter von 29 Jahren nach der Begegnung mit Krankheit, Alter, Tod in einer darauffolgenden langen Nacht des Grübelns diesen leidvollen Vorgang des Lebens als unumgänglich erkannte, schaute er am nächsten Morgen in die Augen eines Verwirklichers und verstand: Es gibt hinter den Erlebnissen einen zeitlosen Erleber, auf den immer und überall Verlass ist. Dieses Gewahrsein zum Besten aller zu verwirklichen, erschien ihm das sinnvollste Ziel überhaupt, und so machte er sich auf den Weg, genau das zu tun.

Die Vier Edlen Wahrheiten

Nach seiner Erleuchtung mit 35 Jahren begann Buddha, »der Erwachte«, seine 45 Jahre andauernde Lehrtätigkeit mit vier Kernsätzen:

 

»Es gibt Leid.« Diese Aussage ist nicht so schwarzseherisch, wie Unbedarfte sie auf den ersten Blick erleben und sie noch heute an vielen Universitäten verstanden wird, sondern zeigt beim näheren Hinsehen auf den unendlichen Reichtum, der dem Geist innewohnt. Verglichen mit der zeitlosen Wonne, die das letztendliche Wesen eines jeden ist, bleibt jede bedingte Erfahrung mehr oder weniger leidvoll, und sogar die schönsten Augenblicke eines Lebens zeigen nur bruchstückhafte Einblicke davon. Buddha unterschied drei Arten von Leid: Das »Leid des Leidens« wird erlebt, wenn alles zusammenbricht und man weder äußeren noch inneren Halt verspürt, wie bei schweren Verlusten, Trennung, unbezwingbaren Schmerzen oder beim Sterben ohne dauerhafte Werte. Das »Leid der Vergänglichkeit« beschreibt, dass man nichts festhalten kann und alles Glück, Schöne und Angenehme einem letztendlich zwischen den Fingern zerrinnt. Das »Leid der Unwissenheit« bedeutet schließlich, nicht erleuchtet zu sein und deswegen nicht zu verstehen, »wie die Dinge sind«.[11] Während man mit den ersten beiden groben Formen des Leidens beschäftigt ist, erlebt man selten die viel feinere dritte, welche jedoch die eigentliche Ursache für alle Leiden ist und sich erst mit der vollen Erleuchtung auflöst.

Abb. 3 Drei Arten von Leid

»Leid hat eine Ursache.« Alle Wesen suchen Glück und wollen Leid vermeiden, doch sie ernten oft das Gegenteil. Der Mensch beherrscht zwar durch sein Wissen die äußere Welt, seine innere macht aber bei den meisten, was sie will, und verursacht, wenn sie Körper und Rede mit einbezieht, das Verhalten, das zu Leiden führt. Da etwas letztendlich Böses sich entsprechend dem Gesetz von Ursache und Wirkung stets selbst zerstören würde, bleibt als einzig logische Erklärung für Leid die eigene Dummheit. Der unerleuchtete Geist ist wie ein Auge, das die äußeren Erscheinungen zwar bestens wahrnimmt, aber sich selbst nicht sieht. Genau diese grundlegende Unwissenheit verursacht jede Not. Obwohl alles Persönliche, seien es Körper, Gedanken oder Gefühle, seiner ständigen Veränderungen wegen kein dauerhaftes und wirkliches »Sein« aufweisen kann, erfährt sich der durch die Sinne erlebende Geist aufgrund der erwähnten Unwissenheit als ein von der Ganzheit getrenntes »Ich«. Das wiederum macht die äußere und durch die Sinne erfahrene Welt zu einem »Du« – zu etwas von einem Getrennten. An dieser Zweiheit festzuhalten und Körper, Rede und Geist als »Ich« zu verstehen, verhindert das letztendliche Glück. Das Eingehen auf die ständig anwachsenden Bedürfnisse führt grundsätzlich zu Enttäuschung. Solange die Fehlvorstellung eines als wirklich und von der Ganzheit getrennten Ichs erhalten bleibt, ist jeder verwundbar. Man nimmt dann alle Erfahrungen persönlich, schaut aus einem sehr engen Winkel in die Welt und macht Fehler.

Ergebnisse dieses Irrtums sind Begierde nach dem, was zu fehlen scheint, und Widerwillen gegenüber dem, was einen vom angeblichen Glück abhält. Die unschönen Zustände von Verwirrung, Begierde und Abneigung führen zu hässlichen Folgegefühlen: dummer Stolz, der durch Herabsetzung anderer dem eigenen Lebensgefühl auf Dauer schadet, sowie Geiz, Neid und Hass. Ihre unzähligen (Buddha spricht von 84000 möglichen) Verbindungen verursachen weitere Störgefühle, geistige Schleier und Verwirrungen. Sie sind die Ursache für alle klotzigen und schwierigen Taten, Worte und Gedanken.

Versäumt man es, sich einen Überblick über die obenerwähnten Abläufe zu schaffen, und handelt trotz der deutlich erkennbaren Flüchtigkeit aufgrund seiner Gefühle, befindet man sich schon im schwierigen Rad von Ursache und Wirkung. Man erfährt auf diese Weise laufend die Wirkungen früherer Taten, ohne sich bewusst zu sein, dass man sie selbst verursacht hat, und setzt daher nochmals Kurzsichtiges, Schädliches oder Ungeschicktes in die Welt. Die dabei unvermeidlich entstehenden Kreise von Einengung und Leid wirken bis zum völligen Auflösen dieses grundlegenden Irrglaubens ständig und überall, beeinflussen das ganze Leben und reichen über den Tod hinaus.

 

»Es gibt ein Ende vom Leid.« Buddhas dritte Aussage ist herzerwärmend: Hier sprach er nicht von Dingen, die er gehört hatte oder die woanders geschehen waren, sondern belegte die freudvolle Aussage mit seinem eigenen Beispiel.

Was so bescheiden erklärt wird, ist tatsächlich Allwissenheit und stete höchste Wonne, eben Erleuchtung. Es gibt eine Erfahrung, nach der es sich zu streben lohnt, eine zeitlose, wirkliche Zuflucht, die jedem bereits innewohnt und die man nur entdecken muss. Dieser Zustand ist furchtloser Raum und die Erfahrung davon dauerhafte höchste Freude. Jedes Wort und jede Handlung werden dabei begleitet von vorausschauender Weisheit und tatkräftiger Liebe. Ohne die Trennung von einem »Ich« hier und einem »Du« woanders strahlt der Geist wie eine Sonne, die mühelos von sich aus strahlt. Buddha zeigte bis zu seinem Lebensende ununterbrochen diesen letztendlichen Zustand und verband Einsicht und Mitgefühl in Wort und Tat.

 

»Es gibt einen Weg zum Ende des Leids.« Mit dieser vierten Aussage machte er alles greifbar. In seinem Lehrstil zeigte sich, dass er langfristig lieber Kollegen als gläubige Anhänger wünschte. Statt dogmatisch vorzugeben, wie oder was zu denken oder zu glauben sei, lehrte er seine Schüler, alles kritisch zu hinterfragen und die wahren Zusammenhänge des Lebens selbst zu erkennen.

Als er starb, waren seine letzten Worte: »Ich kann froh von hier gehen. Alles, was euch nutzen kann, habe ich bereits gegeben.« Da eine solche Aussage leicht zur Unselbständigkeit hätte führen können, ergänzte er: »Jetzt glaubt mir kein Wort, bloß weil ein Buddha es sprach, sondern untersucht alles selbst. Seid euer eigenes Klares Licht!« Das war eine ausdrückliche Aufforderung an seine Schüler, nicht nach Glaubenssätzen zu greifen, sondern alles mit eigener Erfahrung zu überprüfen.

Verantwortung für sich zu übernehmen war also die Aufgabenstellung, und er lehrte seine unterschiedlich ausgerichteten Schüler dies auf verschiedenen Ebenen: Denjenigen, die vor allem eigenes Leid auflösen wollen, gab er die Belehrungen des südlichen Buddhismus, auch Theravada oder Grundlagenfahrzeug genannt; diejenigen, die vor allem aus Mitgefühl und mit Einsicht anderen nutzen wollen, bereicherte er mit den Mitteln des nördlichen Buddhismus, bekannt auch als Mahayana oder Großer Weg, und hielt schließlich den Schülern, die den großen Sprung wagen und sich wie Buddhas verhalten wollen, bis sie solche geworden sind, den leuchtenden Spiegel ihrer eigenen Buddhanatur vor, die Sichtweise und Übungen des Vajrayana oder Diamantweges.

Buddhas Schüler verbrachten nach seinem Tod Monate damit, seine Lehren zusammenzutragen, und mehrere von ihnen hatten ein kristallklares Gedächtnis. So entstanden die 108 (mitunter 103 oder 106) Bücher und 84000 Belehrungen des Kanjurs, der (tibetischen) Sammlung seiner Lehren. Später wurde er noch durch den Tenjur erweitert, Erläuterungen früher indischer Meister. Er umfasst 254 ähnlich dicke Bände.

Im Wesentlichen besteht Buddhas Weg aus drei Pfeilern: Wissen – das hinterfragt werden soll, Meditation – wodurch das als gültig und nützlich Anerkannte vom Kopf ins Herz rutscht und einen bereichert, und einer Verhaltensweise – die den Übenden ermöglicht, die Wirkung der Lehren zu erfahren und sie wirksam abzusichern.

Die Vier Grundgedanken