Das Haus an den Gleisen - Rainer Bauer - E-Book

Das Haus an den Gleisen E-Book

Rainer Bauer

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Beschreibung

Überarbeitete Neuausgabe 2023 Die 60er Jahre. Sexuelle Befreiung. Studentenunruhen. Kommunen, Hippies. Die Musik der Beatles. Der Rolling Stones. Kalter Krieg. Ende einer Kindheit. Erste Liebe. Ein Start ins Leben. Zwischen Mauerbau, Kennedys Tod und Mondlandung. Irgendwo im Westen Deutschlands steht Das Haus an den Gleisen. Darin wohnt die Familie Katzenbuckel: Drei Generationen und eine gehbehinderte Katze. Fritz gefällt die Welt nicht, in der er aufwächst, er baut sich seine eigene. Da begegnet ihm Eleanor, genannt Leo. Du kannst es! Ich helfe dir!, sagt sie. Sie ist sein weißes Kaninchen, dem er folgt und das er sein Leben lang nicht vergisst. Eines Tages ist sie verschwunden und er, der nie ein Held sein wollte, muss sich beweisen. »Der Autor hat die seltene Gabe, Atmosphäre zu schaffen, Menschen zu zeichnen und Bilder im Kopf des Lesers hervorzurufen.« "Das Buch strahlt etwas aus, was viele Menschen verloren haben: Herz, Gefühle und Menschlichkeit." "... habe das Buch regelrecht verschlungen ... ein Freund, den man nicht mehr gehen lassen möchte." "Unterhaltsam! Lesenswert! Großartig!" "Erst sagt man sich: ich lese mal das 1. Kapitel…., dann liest man das zweite, das dritte und kann nicht mehr aufhören bis zum Ende. Jetzt kommen die Fortsetzungen dran." "... eine lang nachhallende Geschichte!" "... Einladung zu einer ganz besonderen Freundschaft ... ein Buch, das nur wärmstens empfohlen werden kann!" "Ein brillantes, intelligentes, unterhaltsames, ja geradezu atemberaubendes Buch für höchsten Lesegenuss! "Dieses Buch ist so voller Einblicke, Fantasie-Szenarien und den Realitäten des Lebens, dass man Seite für Seite verschlingt." "Mein Vater wollte mir auf seine verstockte Art helfen. Er war kein großer Redner, das musste er auch nicht sein. In seinem Leben sagte er nicht viel mehr als jawohl, ich stimme Ihnen zu, Herr Hauptmann, wird gemacht, melde mich ab, Chef, sofort, amen. Ob er es zu seinem Vater sagte, zum Pfarrer, seinen Vorgesetzten oder zum lieben Gott, machte keinen Unterschied. Wenn er mich, seinen Sohn, einen komischen und schwierigen Kerl nannte, gab er mir zu verstehen, dass er dieses Gefühl kannte: Er war ein komischer schwieriger Kerl. Dieses Schicksal wollte er mir ersparen. Er verstand die Welt nicht, und die Welt verstand ihn nicht. Durch Demut und Güte suchte er sie zu besänftigen, was nicht gelang, denn der Welt war er herzlich egal, unbemerkt, als er da war, und unbemerkt, als er unter der Erde lag."

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Über dieses Buch
1 Der Kalif von Bagdad
2 Das Gesetz
3 Ach, ich hab in meinem Herzen
4 Vorüber rauscht die Jugendzeit
5 Nichts wie weg!
6 Fletchers feuchte Frauen
7 Eddie hat Schwein
8 Fritz in der Revolte
9 Hutmacher oder Schnapphase
10 Vermisst!
11 Katzenbuckels Erzählungen
12 Entgleiste Eier
DER WIND UM MITTERNACHT
Zwei Wochen Halbpension
Bratapfel und Kichererbsen
Psychos & Paten
Glück ist mehr als ein Glückskeks
Über den Autor
Kontakt

Das Haus an den Gleisen

Roman

Über dieses Buch

Die 60er Jahre. Wiederaufbau. Wirtschaftswunder. Sexuelle Befreiung. Studentenunruhen. Kommunen, Hippies. Die Musik der Beatles. Der Rolling Stones. Kalter Krieg. Das Ende einer Kindheit. Die erste Liebe. Ein Start ins Leben. Zwischen Mauerbau, Kennedys Tod und Mondlandung. Irgendwo im Westen Deutschlands steht das Haus an den Gleisen.

 

Darin wohnt die Familie Katzenbuckel: Drei Generationen und eine gehbehinderte Katze. Fritz gefällt die Welt nicht, in der er aufwächst, er baut sich seine eigene. Da begegnet ihm Eleanor, genannt Leo. Du kannst es! Ich helfe dir!, sagt sie. Sie ist sein weißes Kaninchen, dem er folgt und das er sein Leben lang nicht vergessen wird. Eines Tages ist sie verschwunden und er, der nie ein Held sein wollte, muss sich beweisen.

 

Rainer Bauer Das Haus an den Gleisen Roman

Vom gleichen Autor:

 

Der Wind um Mitternacht

1. Das Haus an den Gleisen

2. Zwei Wochen Halbpension

3. Bratkartoffeln und Kichererbsen

4. Psychos und Paten

5. Glück ist mehr als ein Glückskeks

 

Papa Tengaras Kinder, Reiseerzählung

FKK im Jobcenter, Kurzgeschichte

 

Impressum

Copyright © März 2023

Rainer Bauer

Lameystrasse 5

68165 Mannheim

Umschlaggestaltung: Rainer Bauer

 

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit schriftlicher Zustimmung des Autors zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dieses E-Book ist auch Taschenbuch erhältlich.

Für Irmgard

 

Inhaltsverzeichnis

 

1 Der Kalif von Bagdad

2 Das Gesetz

3 Ach, ich hab in meinem Herzen

4 Vorüber rauscht die Jugendzeit

5 Nichts wie weg!

6 Fletchers feuchte Frauen

7 Eddie hat Schwein

8 Fritz in der Revolte

9 Hutmacher oder Schnapphase

10 Vermisst!

11 Katzenbuckels Erzählungen

12 Entgleiste Eier

 

DER WIND UM MITTERNACHT

 

Über den Autor

Kontakt

 

 

Mit sechzehn sagte ich still,

Ich will, will groß sein, will siegen, will froh sein, nie lügen, mit sechzehn sagte ich still, ich will, will alles, oder nichts.Hildegard Knef

Für mich soll’s rote Rosen regnen

 

1 Der Kalif von Bagdad

Allein! Wieder allein! Einsam wie immer. Vorüber rauscht die Jugendzeit In langer, banger Einsamkeit. Mein Herz ist schwer und trüb mein Sinn! Ich sitz‹ im gold’nen Käfig drin.

 

Der Zarewitsch (Lehár)

Wolgalied

1

Wieder eine, die viel verspricht und nichts hält. Langes hellbraunes Haar, ein großer Mund und ein bezauberndes Lächeln … Steht jemand hinter mir? Nein, sie meint mich! Von meiner Welt kann sie nicht sein. Wo ich herkomme, wird nicht gelächelt, da wird gegrinst, und für Grinsen gibt’s eins in die Fresse.

»Wer bist du?«, fragte sie mich.

»Friedrich Karl. Fritz. Fischers Fritze fischt frische Fische. Fünf Eff. Und du?«

Das Tor stand offen, sie war hereinspaziert; ich hatte sie noch nie gesehen. Es muss ein Sonntag gewesen sein, denn sie trug ein weißes Kleidchen, weiße Söckchen und weiße Schnürschuhe.

»Eleonora. Du kannst Leo sagen.«

Ich bin das Walross, hätte ich antworten können. I am the walrus. Als die Beatles Eleanor Rigby sangen, wollte sie mit ihrem Taufnamen angesprochen werden: Ich heiße Eleanor, wie in dem Lied von den Beatles. Gut fand ich die Punks mit ihren blau-, grün- und gelbgefärbten Haaren, die Irokesen mit ihren Rasierklingen im Ohr, Frauen mit Ringen in der Nase, am Fußgelenk und Gott weiß, wo - die Beatles fand ich nicht gut. Gab es zwei Straßenseiten, eine richtige und eine falsche, wählte ich die falsche. Susanne, meine Frau, wählt die mit den hübschen Fassaden und wo die Sonne scheint; sie lebt auf der Sonnenseite des Lebens.

»Frische Fische fischt Fischers Fritze. Fünf Eff von hinten. Das kannst du nicht, stimmt’s? Dazu gehört viel Übung. Macht nichts. Es genügt, wenn ich es kann. Was ist das?«

Ich zeigte auf ihre Papiertüte.

»Was ist da drin?«

Sie musterte mich stirnrunzelnd an und ließ mich hineinsehen.

»Grünzeug?«

»Das sind Rippen vom Salat. Bei uns wird nichts weggeworfen.«

Rippen im Salat? Ich muss ziemlich verständnislos ausgesehen haben.

»Die Rippen bleiben übrig, wenn man das Grüne wegmacht«, erklärte sie und wiederholte: »Bei uns wird nichts weggeworfen.«

»Na, Kleine, hast du dich verlaufen?«

Eddie kam aus seinem Schuppen, auch er im Sonntagsstaat, schwarzer Anzug, weißes Hemd, Krawatte, drei Stiftnägel zwischen den Zähnen, die er zum Sprechen herausnahm, die Nägel, nicht die Zähne - die Zähne nahm er heraus, wenn er schlafen ging, damit er nicht knirschte oder sein schönes Gebiss verschluckte -, in der Linken den Hammer, in der rechten, seiner zersägten Hand, ein Kruzifix. Drei Fingerkuppen hatte er sich abgesägt, und wäre ihm sein Freund Kaspar nicht in den Arm gefallen, hätte er weitergesägt: Nach zwei Weltkriegen war er schmerzfrei.

Eddie war ein Lebenskünstler. Er kam immer von der Arbeit, auch wenn er nichts machte, und verbreitete eine Aura, die mir tiefen Respekt einflößte. Ein Handwerker, Nagler und Säger vor dem Herrn, einer, der anpackte, die Dinge in die Hand nahm - den Hammer, die Maurerkelle, die Wasserwaage, den Meter, das Senkblei, den Kasten Bier. Gern sah ich zu, wie er Stein für Stein in den Mörtel drückte, die Kanten sauber mit der Kelle verfugte und die Mörtelreste mit einer schwungvollen Drehung aus dem Handgelenk in die Wanne schleuderte: Ich will Maurer werden.

»Das ist mein Großvater«, sagte ich.

Wenn Eddie getrunken hatte, sagten wir: Eddie hat einen sitzen. Ede ist wieder strack! Wenn der nach Hause kommt … Da gibt’s was! Da muss die Anna sich warm anziehen!

Auf seinem Damenrad kam er angeritten wie Lawrence von Arabien auf seinem Kamel, den Rücken durchgedrückt, aufrecht wie ein Besenstiel, die Arme nach vorne gestreckt, Hände am Lenker, dunkler Anzug, weißes Hemd, einen schwarzen Hut auf dem Kopf, nicht links, nicht rechts blickend, voll konzentriert. Dank der Gnade des tiefen Einstiegs war er noch hinaufgekommen aufs Rad, herunterkommen würde er nicht mehr - musste er anhalten, würde er umkippen wie ein Sack Zement und an Ort und Stelle einschlafen.

Wie oft habe ich vor ihm gestanden und auf ihn hinabgesehen wie auf eine angeschwemmte Wasserleiche - sein scharlachrotes Gesicht, ein Netzwerk blauer Äderchen unter der runzligen, altersfleckigen Haut, an der Wange Blutspuren vom Rasieren, der gute Anzug aus der Nähe alt und speckig, das Hemd mit den gelben Schmutzrändern falsch geknöpft. Unvermittelt zuckte ein Arm, ein Bein, flatterte ein Augenlid, kam ein Rülpser aus seinem Mund oder ein Furz aus seinem Arsch. Sein offener Hosenschlitz verströmte Pissegeruch. Plötzlich umklammerte er meinen Arm, zog ihn zu sich und schlug seine falschen Zähne hinein wie in einen Ring Fleischwurst.

»Aua! Bist du noch bei Sinnen? Lass mich sofort los!«

Empört riss ich meinen Arm zurück, aber er hatte ihn schon freigegeben und schlief. Jemand schleifte ihn ins Haus und warf ihn aufs Bett.

Eduard Richter war eine Lokalgröße, eine Berühmtheit wie das früh verstorbene, ebenso liebenswürdige wie schwachsinnige Fritzchen, das hinter der Holzsägemaschine her hinkte, wie der Glöckner von Notre Dame und heruntergefallene Scheite aufsammelte.

»Und wer bist du?«

»Sie heißt Eleonora.«

»Du bist die Tochter vom Paul, stimmt’s? Welche bist du denn, Nummer vier oder Nummer fünf?«

Familien mit vielen Kindern waren üblich, zehn und mehr waren keine Seltenheit. Doch bei uns gab’s nur mich und meine Cousine Inge, die sieben Jahre älter war und sich auch Gedanken machte, die sie mir aber nicht mitteilte, weil sie meinte, ihre Gedanken seien zu groß für meinen kleinen Kopf. Allerdings war ich groß genug, mit ihr auf der Couch zu liegen und meinen Kopf auf den Hügel zwischen ihren leicht gespreizten Beinen zu betten. Das gefiel ihr. Ich sagte nichts, aber ich beobachtete alles.

Eddie, die Stiftnägel im Mund, beugte sich vor und Jesus fiel vom Kreuz. Alle paar Wochen fiel Jesus vom Kreuz und Eddie nagelte ihn wieder fest; trotzdem saß er locker. Ein lockerer Vogel, dieser Jesus. Kruzifixe hingen bei uns in jedem Zimmer, auch auf dem Klo, sogar bei den Schinken in der Räucherkammer im Keller, wo es stockfinster war. Wichtig war nicht, dass wir Ihn sahen, wichtig war, dass Er uns sah. Wir hatten ein kleines Schlachthaus, einen gekachelten Raum mit einer Blutrinne im Boden; einmal im Jahr schlachteten wir ein Schwein. Dort hing auch ein Kruzifix.

»Ich dachte, Jesus starb nur für Menschen. Müsste hier nicht ein gekreuzigtes Schwein hängen?«, fragte ich Anna.

 

2

Den tiefsten Einblick in unser Familienleben hatte der Küchenjesus, denn wir wohnten vorwiegend in der Küche. Eine Küche, ein Klo und ein wenig Hoffnung - mehr brauchten wir nicht zum Leben. Sein Stammplatz war über der Couch neben einer Buntstiftzeichnung von mir, die ebenfalls Jesus zeigte, Jesus als postmodernen Marschflugkörper, Füße, Hände und Gesicht nur angedeutet, nicht ausgeführt: Ich malte modern, nicht detailverliebt. Am Stück, sozusagen. Anna war außer sich vor Freude, als ich ihr an einem Adventssonntag mein selbst gefertigtes Werk zum Geschenk machte. Die Wand über dem Sofa füllte sich mit Heiligenlegenden und Motiven aus dem Alten Testament.

»Mein Enkelkind wird Pfarrer«, verkündete Anna stolz.

Und was für ein Pfarrer - jung, rein, schön. Schön wie die Sünde. Meine Berufung machte im Kreis ihrer Betschwestern die Runde. Früh erblickten sie in mir den Mann der Kirche. Ich fing lüsterne Blicke auf, die ich nicht einordnen konnte. Frech starrte ich zurück und wunderte mich, als sie abwechselnd rot und blass wurden.

»Da ist nur eines, was ich nicht verstehe. Warum hat das Jesuskind einen Schnurrbart?«

»Das ist kein Schnurrbart, Ännchen.« Geduldig pochte ich auf das vordere Ende des Marschflugkörpers, die Stelle, wo der Aufschlagzünder saß. »Jesus hat einen Palmzweig im Mund zum Zeichen des Friedens. Siehst du das nicht?«

Doch, jetzt sieht sie es.

Meine Bilder waren eine Schule des Sehens.

3

»Ich bin die Mittlere. Ich bin zwölf und keine Nummer.«

So alt wie ich, die Ärmste! Mit zwölf fühlte ich mich alt und ausgelaugt, meine besten Jahre lagen hinter mir, was sollte jetzt noch kommen. Älter werden wollte ich nur, weil man als Älterer besser an Weiber rankam, und mit Weibern musste man rummachen, ob man wollte oder nicht, weil die Natur uns so programmiert hatte. Ältere hatten die besseren Karten, selbst wenn sie hässlich waren. Das war eine Tatsache, die mit Biologie zu tun hatte, Brut, Nest und solche Sachen. Weibchen sind biologisch fest verdrahtet. Hart programmiert. Jungs haben mehr Freiheitsgrade. Das muss man wissen, vor allem Nestflüchter wie ich, die mit Biologie nichts zu schaffen haben wollen und ihren Spaß im Leben suchen: Ein falscher Schritt, einmal das falsche Geschenk ausgepackt - und der Spaß ist vorbei.

Leo hob ihre Tüte hoch. »Ich bringe das Futter für die Hühner.«

Ihr Vater war der Bauunternehmer Paul Karamann, der von Eddie das Baugeschäft übernommen hatte. Nach dem Krieg, als andere ihre Geschäfte wieder aufnahmen, fing Eddie gar nicht mehr an. Nach zwei Weltkriegen, zwei Dritteln seines Lebens, Mitte fünfzig, stellte er die Arbeit ein. Das Geld lag auf der Straße, er hätte es nur aufheben müssen - war er zu faul? Zu blöd? Ein versoffenes altes Arschloch? Hätte man ihn mit dem Bolzenschussgerät über die Gleise jagen müssen, ihn und nicht das Schwein, das er jedes Jahr schlachtete und jedes Mal nicht tot bekam?

Eddie wollte ihr die Tüte abnehmen, ihr Lächeln verschwand, sie zog sie an sich und erklärte:

»Ich will selbst füttern.«

Eddie trat einen Schritt zurück. Wieder fiel Jesus vom Kreuz. Wieder nahm er ihn in seine verkrüppelte Hand.

»Du bist eine Frau, die weiß, was sie will. Hast du keine Angst? Wir haben einen gefährlichen Gockel.«

Eddie rollte gefährlich mit den Augen.

Unser Gockel! Gekleidet wie ein spanischer Landedelmann mit einer rotbraunen, stets gesträubten Halskrause, die in dunkelbraunes glattes Deckgefieder überging und in tiefschwarzen Schwanzfedern auslief. Er wusste genau, an wen er sich heranmachen konnte, der Sauhund: Hühner und kleine Kinder. Kaum sah er mich, ging er mit gestrecktem Hals auf mich los. Wir standen uns gegenüber wie Wyatt Earp und die Clantons bei der Schießerei am O.K. Corral in Tombstone. Nervös zuckte sein Kopf, mal wendete er mir das linke, mal das rechte Auge zu – ich starrte zurück: So leicht verliere ich keinen Nervenkrieg.

Die Durchquerung des Hofs wurde zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Wenn ich mit meinem Ranzen auf dem Rücken zur Schule ging, lauerte er mir auf, irgendwo versteckt. Doch wo? Hinter den Mülltonnen? Hinter dem Mäuerchen, das den Garten vom Hof trennte? Hinter der Garage?

»Nein, ich habe keine Angst«, sagte sie mit fester Stimme. »Kommt her, ihr Hühner.«

Sie sprach hochdeutsch. Sie sagte Hühner, nicht Hinkel, Futter, nicht Fudder, Hahn, nicht Gockel, Stück, nicht Stückel, jetzt, nicht jetzat, rechnet, nicht rechelt, versteckt, nicht versteckelt. Das gefiel mir. Ganz schön mutig von ihr, so zu reden.

Jesus rutschte Eddie zum dritten Mal aus den Fingern. Rasend vor Zorn schleuderte er ihn aufs Pflaster, er machte zwei Hopser und blieb mit verdrehten Gliedern liegen. Ich hatte mich bereits gewundert, denn Geduld zählte nicht zu Eddies Stärken. Erschrocken sah ich auf die verdrehte Figur: Wenn ER das gesehen hatte, musste ER einschreiten. Mit Göttern ist nicht zu spaßen. Die Welt ist ein Witz, aber die Götter haben keinen Humor.

Die schlechten Nachrichten rissen nicht ab.

»Gott lebt in allen Dingen«, behauptete Anna.

»Auch in einem Korkenzieher?« Denn so sah das gefallene Jesuskind jetzt aus - wie ein Korkenzieher. Während der Teufel immer wie der Teufel aussieht. Ich finde das ausgesprochen gut vom Teufel, wenigstens einer, auf den man sich verlassen kann.

»In einem Korkenzieher ganz besonders. Gott ist sich für nichts zu schade, Kind!«

Eddie holte den Flachmann aus seinem Jackett und beruhigte seine Nerven mit einem kräftigen Schluck. Der Himmel verfinsterte sich nicht, die Posaunen blieben stumm, der Hufschlag der apokalyptischen Reiter blieb aus. Wenn’s gilt, passiert nichts. Auf die da oben ist kein Verlass, egal, wer vorne dran ist. Andere sagen bei solchen Gelegenheiten Ja, so ist das oder So isses oder Ja, ja. Eddie sagte in einem ebenso verächtlichen wie wegwerfenden Ton:

»Als fort, Frankfort!«

Hätte ich erzählt, dass morgen ein Komet vom Himmel fällt, der alles zerstört, die Erde und alles Leben darauf, er hätte nichts anderes gesagt als Als fort, Frankfort! Unter den Psychopathen meiner Familie war Eddie der Berechenbarste; im Guten und im Bösen enttäuschte er mich nie. Wortlos schnappte er sich Kreuz und Erlöser und verschwand in seinem Schuppen. Aus den Augenwinkeln schielte ich zum Küchenfenster. Mir war, als hätte ich hinter der Gardine eine Bewegung gesehen.

»Na ja«, sagte ich wegwerfend, »es ist ja nur ein Kruzifix.«

Ich wollte Eleonora, Leo, eines schenken, aber der Augenblick war ungünstig. Wendelin ließ sie in der Firma anfertigen, in der Gießerei. Gingen sie kaputt, wurden sie eingeschmolzen und neu gegossen. Die Minen der Orks im Herrn der Ringe stellte ich mir vor wie die Gießerei, in der die Kruzifixe hergestellt wurden. In seiner abgegriffenen braunen Ledertasche schleppte uns Wendelin in all den Jahren bestimmt eine halbe Tonne feuerverzinktes, pulverbeschichtetes Eisen ins Haus: Madonnen, Heilige Drei Könige, Schafe, Kühe, Ochsen, Esel, Kamele, Elefanten, Schlangen, Löwen, Hirten - und Heerscharen übergewichtiger Engel! Ich war froh, als ich das Zeug los war, mitsamt dem Haus, auch wenn ich mich damit über seinen Rat hinwegsetzte:

»Denke immer daran, mein Sohn. Grund und Boden verkauft man nicht.«

Nein, man bleibt darauf sitzen wie auf einem havarierten Schiff und fährt damit auf den Meeresgrund. Eine Familie mit drei kleinen Kindern zog ein. Mit leuchtenden Augen erzählte ich ihnen von meiner glücklichen Kindheit an diesem Ort, von Dampflokomotiven und Güterzügen, die mich in den Schlaf geschaukelt hatten, von Spielen im Hof, glücklichen Hühnern und meinem Freund, dem Gockel.

Ich sah zum Schuppen und sagte:

»Eigentlich ist er ganz in Ordnung.«

»Wir spielen im Garten. Kommst du auch?«

Das war das erste Mal, dass ich vom Garten hörte. Eigentlich war es kein Garten, vielmehr ein verwildertes Grundstück mit Bäumen und Gebüsch, das an den Judenfriedhof grenzte, zum Spielen für Kinder wie geschaffen.

Jetzt lächelt sie wieder.

Indessen steht sie keine Minute still, hüpft von einem Bein aufs andere. Das ist mir früh aufgefallen an Frauen: Sie können nicht still sitzen, müssen dauernd was machen, meistens reden. Ist niemand da, reden sie in den Hörer des Telefons; zieht man den Stecker, reden sie unverdrossen weiter. Hauptsache Geräusch, Stille ertragen sie nicht.

Mit Mädchen hatte ich noch nie gespielt, ich verkroch mich lieber auf mein Zimmer und las Räubergeschichten und Rittersagen. Götz von Berlichingen, Dietrich von Bern, Siegfried …

Nur an einer Stelle kann der Pfeil Hagen von Tronjes eindringen, eine Stelle auf Siegfrieds Rücken, so groß wie ein Blatt …

»Fischers Fritze fischt frische Fische«, sagte sie. Und: »Frische Fische fischt Fischers Fritze.«

Ich machte ein bekümmertes Gesicht.

»Fünf Eff von vorn und hinten. Was spielt ihr denn so?,« fragte ich, ohne allzu viel Interesse zu zeigen.

»Gummitwist, Fangen, Hula-Hoop und im Garten.«

»Ich kann nur sackhüpfen.«

»Du kannst es. Es ist ganz einfach. Ich zeig’s dir.«

Ich bin hier nur zu Besuch, wollte ich sagen, übers Wochenende. Hab mich unters Volk gemischt. Wollte mal hören, was die Leute über mich sagen. Ich bin Harun al-Raschid, der Kalif von Bagdad.

Du bist zu alt für mich. Ich steh auf Jüngere.

»Ja, gern«, sagte ich.

2 Das Gesetz

Entstand in der Nacht Lärm,

so fuhr ich aus dem Bette auf

und griff nach Degen und Pistolen,

die ich beständig geladen hatte.

 

Arthur Schopenhauer

1

Eddie baute unser Haus Anfang der dreißiger Jahre, als Hitler an die Macht kam. Drei Bauplätze zur Auswahl wählte er den an der Bahnlinie Frankfurt Mannheim, unweit des Bahnhofs. Weiß verputzt, schmucklos, schroff, die Fenster mit blickdichten Gardinen verhängt, wirkte es wie eine Festung. Im Erdgeschoss wohnten die beiden Alten, Eddie und Anna, im ersten Stock Johanna, Wendelin und ich in den beiden Zimmern links; Ruth, die jüngste der drei Schwestern und Alfred, ihr Mann, der Banker, rechts. Hedwig, die älteste Schwester, wohnte mit ihrem Mann Hermann und meiner Cousine Inge unter der Dachschräge im dritten Stock. Zehn Menschen auf engstem Raum, wo zwei schon keinen Frieden halten konnten.

Drei Stockwerke hoch, ein Dachboden, Kellerräume, Anbauten, ein Hof, eine Grünfläche, teils Garten, teils Rasen, bot das Haus reichlich Platz und Schlupfwinkel, die eine Untersuchung lohnten: Eddies Schuppen mit Baumaterialien, Bretter für Gerüste und Leitern; unzählige Verstecke, Winkel und Höhlen für Ratten, Ungeziefer und neugierige kleine Jungs; eine Werkstatt mit eindrucksvoll sortierten Werkzeugen und eine Werkbank zum Drunterkriechen; Wendelins Motorrad, eine schwere BMW mit Beiwagen, die Waschküche im Keller, der Hühnerstall, die Autogarage, die kalten, feuchten Kellerräume. Nicht zu vergessen die verschlossenen und verriegelten Räume der Angst, denn alle Menschen in diesem Haus hatten Angst. Wovor, weiß ich nicht, nur dass die Angst mit Händen zu greifen war und langsam in mich hineinkroch, um mich nie wieder zu verlassen.

Dauernd traf ich Leute, die sich als meine Verwandten ausgaben und meinten, sie hätten mir was zu sagen. Sie bauten sich vor mir auf, sie groß, ich klein, und sagten Sätze wie Ich bin doch die Schwester oder Ich bin doch der Opa. Stets mit diesem Nachdruck: Ich bin doch, um jeden Einwand von vornherein zu entkräften. Johanna behauptete gar kühn: Ich bin doch die Mutter! Schön, dachte ich. Ich bin der Fritz.

2

Die Toiletten lagen außerhalb, eine halbe oder eine ganze Treppe tiefer; Bäder und Duschen gab es nicht. Am Waschtag wurde auf dem Kohleofen, später dem Ölofen oder dem Elektroherd, ein großer Topf Wasser erhitzt, die Hälfte in eine Waschschüssel gegossen und mit kaltem vermischt, bis es Körperwärme hatte. Mit gespreizten Beinen stand ich davor und seifte mich mit Waschlappen und Seife ein. Ein Bein über den Beckenrand gehängt, wusch ich erst den einen, dann - schneller Schrittwechsel - den anderen Fuß. Das Wasser färbte sich dunkelbraun, am Rand bildete sich eine grobkörnige Kruste aus Schaum und Schmutz. Je länger ich in diese Brühe sah, desto abgründiger wurden meine Gedanken:

Wir sind Geworfene!

Diesen Satz hatte ich irgendwo aufgeschnappt, nun fiel er mir angesichts des Schmutzwassers wieder ein. Ich leerte die Schüssel, machte sauber und setzte eine Erfolgsmeldung ab:

»Fertig!«

Dieses Ritual vollzog sich in dem gleichen Waschbecken, in dem die Kartoffeln geschält, die Karotten gerieben und das Fleisch und der Fisch gewaschen wurden. Reihum kam jeder an die Reihe. Bis zur Sportschau um achtzehn Uhr waren wir frisch, denn Waschtag war samstags. Großer Waschtag. Dazwischen gab es kleine Waschtage - alles ohne Füße.

Nachmittags ging ich beichten. Am nächsten Morgen trat ich, innerlich wie äußerlich gereinigt, vor den lieben Gott und sagte:

»Hallo, lieber Gott! Ich bin’s, der Fritz aus der Maximilianstraße.«

Als ich groß genug war, stellte ich mich auf einen Stuhl, später, als ich noch größer war, auf meine Zehenspitzen und pinkelte in den Abfluss. Um durch das Gegurgel im Abgang nicht aufzufallen, zielte ich auf die Löcher im Sieb. So lernte ich früh, dass im Leben alles für etwas gut ist und man seine Geschäfte am besten geräuschlos verrichtet.

Wendelins Handwerkerhirn lag immer auf der Lauer. Wir sahen die Sportschau, als er sich in seinem Sessel plötzlich aufrichtete und fragte:

»Hörst du das? Dieses Pfeifen?«

»Bei mir pfeift nichts.«

»Komisch. Da ist so ein Geräusch.«

»Bei dir pfeift’s im Kopf«, meinte Johanna. »Das kommt davon, wenn man so maulfaul ist wie du. Da hört man Gespenster. Wart’s nur ab, das wird noch schlimmer.«

Geruchsrückstände beseitigte ich mit Scheuerpulver. Warum die Dinge kompliziert machen, wenn’s auch einfach geht? Warum aufs Klo gehen, wenn’s auch die Küche tut? Mädchen können das nicht. Mädchen pissen unter sich. Deshalb lassen sie Weitsicht und visionäre Gedanken vermissen und kommen zu nichts im Leben, die armen Mäuse.

»Hast du dein Geschirr gewaschen?«, fragte Johanna mit lauerndem Unterton.

»Leck mich!«

Mein Schwanz ist kein Geschirr. Vielleicht hast du ein Geschirr. Ein Einweggeschirr!

3

»Wir können von Glück sagen, dass wir nicht auf der anderen Seite wohnen.« Der westlichen Rheinseite. »Die haben bis zum Schluss gekämpft. Bei uns gab’s kaum Widerstand. Die Burschen machten sich aus dem Staub, wenn sie schlau waren. Oder hockten sich draußen im Wald in die Bunker und ließen sich vom Ami überrollen. Von einem Tag auf den anderen durfte man wieder Guten Tag sagen.«

»Warum bist du nicht ruhig, alter Narr?« Anna schickt einen Blick zum Himmel. »Immer wieder fängt er damit an.«

Nicht alle Häuser waren frisch verputzt, nicht alle Luftschutzbunker wurden gesprengt, zugemauert oder mit Erde aufgefüllt. Es ging das Gerücht, dass noch welche drin saßen, die nicht wussten, dass der Führer tot und der Krieg vorbei war. Bei der Station von Radio Liberty ragten Entlüftungsstutzen aus dem Boden … Darunter waren Bunker. Gelände, das wir mit dem Fahrrad erkundeten, Eddie, seine Kumpels von der Rentnergang, sein Freund Kaspar, der mühsam und pfeifend durch ein Loch im Hals sprach, weil sie ihm den Kehlkopf entfernt hatten, ein zweiter Mann, dessen Namen ich vergessen habe, der aber als Erster starb, und ich, der kleine Fritz.

»Da unten sitzen sie und spielen Karten, hörst du?«

Ich lauschte angestrengt, hörte aber nur die Geräusche des Waldes und hin und wieder einen Specht. Im Gras verstreute Patronenhülsen glitzerten golden wie verborgene Schätze; man musste sich nur bücken und sie aufheben. Bald hatte ich eine Sammlung Messinghülsen verschiedenster Kaliber. Nicht alle Bomben und Granaten waren ausgegraben worden, viele steckten noch in der Erde. Nicht alle Munition war verbraucht worden, einiges lagerte noch in Bunkern und Verstecken, vergraben und vergessen.

Nicht alle Menschen waren sofort gestorben, einige saßen noch im Wartesaal, Viertel-, Halb-, Dreiviertel- und innerlich Tote. Menschen, denen Gliedmaßen fehlten, Arme, Beine, Ohren, Nasen. Menschen mit Blindenbinden am Arm, geführt von Blindenhunden. Ein Torso mit stoffumwickelten Beinstümpfen fegte auf einem Holzbrett wie ein Hell’s Angel mit seiner Harley mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch unseren kleinen Ort. Erinnerungen, Kugeln und Granatsplitter hatten sich durch Gewebe und Hirnmasse gefräst und einsturzgefährdete Stollen hinterlassen wie bei Wilhelm Melchior, unserem Klassenlehrer, der mit hochrotem Kopf herumlief, immer kurz davor zu explodieren.

Anna las nie ein Buch; alles, was sie wissen musste, stand in ihrem Gesangbuch. Weltkriege, Erdbeben, Hungersnöte, Unglücke, Schreckensmeldungen aller Art zauberten ein Lächeln auf ihre Lippen, ein stilles Frohlocken in der Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen. Die Welt und die Menschen achtete sie gering, gedachte sie doch, dereinst an SEINE Tür zu klopfen:

»Sag IHM, dass ich da bin. Schließlich bin ich nicht zum Vergnügen hier!«

Wo andere sich zweimal bekreuzigten, bekreuzigte sie sich dreimal; wo andere sich beim Sündenbekenntnis dreimal an die Brust schlugen, schlug sie viermal zu – und beeilte sich, als Erste durchs Ziel zu gehen und laut und vernehmlich Amen zu rufen. Anna roch nicht nach Weihrauch, sie stank nach Schwefel wie der Antichrist. Der indessen hatte schon einen Namen.

Willy Brandt.

»So ein gottloser Mann. Ich kann ihn nicht riechen, diesen Gottlosen.«

Wie ein eingelaufenes, zu heiß gewaschenes Wäschebündel, die Füße in Filzpantoffeln, eine Decke über den Knien, drei Kissen unter dem Hintern, damit sie über die Tischkante sehen konnte, saß sie auf ihrem Küchenstuhl, reckte einen gichtigen Zeigefinger gen Himmel und krähte:

»Der Herrgott ist mein Zeuge.«

… falls es nicht stimmt, was sie erzählt: Der Führer fuhr mit der Eisenbahn an unserem Haus vorbei. Deutsche Reichsbahn. Einmal Auschwitz, hin und zurück? Nur hin. So wahr ich hier sitze! Die Fensterrahmen waren bekränzt, Fähnchen und Wimpel wurden geschwenkt. Der Nachbar, der Dackelzüchter, trug die schwarze Uniform. Totenkopffraktion. Man sagt, er habe ein drittes Ohr, es brauche nur einer leise mit den Zähnen zu knirschen …

Vielleicht nahm Eddie deshalb seine Zähne aus dem Mund, bevor er schlafen ging.

Damit er nicht knirschte.

Selbst die Dackel winkten mit ihren Pfötchen, ja, nicht wahr, mit ihren Pfötchen – und der große Mann, der Führer, stand am Fenster, grüßte und winkte zurück.

»Er soll ja sehr tierlieb gewesen sein«, sagte ich. »Wahrscheinlich meinte er die Dackel.«

»Auf der Stelle will ich tot umfallen, wenn es nicht stimmt, was ich sage.«

»Er meinte die Dackel.«

Sie fasste mich ins Auge, als wollte sie Maß nehmen, um mich vor eine Kanone zu binden. »Jede Generation erlebt einen Krieg. Du wirst auch einen erleben. Wir haben zwei Weltkriege mitgemacht.«

»Da bin ich aber froh, dass es bei mir nur einer ist.«

Ihre fest zusammengepressten Lippen, ihr mahlender Unterkiefer gemahnten mich an ein bösartiges Nagetier. Dass sie mich nach einem einfachen Tischgebet krachend zermalmt hätte wie ihren Zwieback, daran zweifelte ich keine Sekunde.

»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was Du uns bescheret hast. Amen.« Anna senkte ihren Kopf und schwieg. Listig sah sie mich an, schenkte mir ihr Mona-Lisa-Lächeln und sagte: »Wenn du gesündigt hast, Kind, musst du beichten. Deine Seele wird gereinigt. Der Herrgott vergibt dir.«

»Einfach so?«

»Wenn du aufrichtig bist und bereust und versprichst, es nie wieder zu tun.«

Wenn Reinheit so einfach zu haben war und man sich nicht einmal die Füße waschen musste wie am großen Waschtag, warum nicht.Ganz so einfach war es dann freilich doch nicht: Unter Strafandrohung stand nicht allein die Tat, genauso schlimm, wenn nicht verwerflicher, waren ihre Begleitumstände.

Was hast du dir dabei gedacht?

Hast du Lust empfunden?

Hast du dich aufgegeilt?

Na, aber hallo! Natürlich hatte ich Lust empfunden, mich aufgegeilt und mir etwas dabei gedacht. Sonst hätte ich es ja nicht machen müssen! Mir vor die Brust zu klopfen und Herr, ich habe gesündigt sagen, reicht nicht. Der Ablassverwalter wünscht breite epische Gesänge, obwohl der Herr doch alles weiß, sonst wäre er ja nicht der Herr. Drei Vaterunser, bei besonderer Schwere der Schuld ein bis zwei Rosenkränze obendrauf, und die liebe Seele ist wieder heil, bereit für neue Heimsuchungen. Lachen ist die einzige Antwort, die man Gott geben kann. Die letzte Sicherung gegen das Nichts. Wenn die durchbrennt …

Gute Nacht, Freunde!

Annas Gebetbuch verkehrt herum in meinen Händen haltend folgte ich mit dem Finger kopfstehenden Sätzen und murmelte fromm vor mich hin. Schon ganz Berater, immer auf der Suche nach einer Abkürzung, fragte ich: »Kann ich die Beschreibung nicht weglassen, alles gestehen und den Rotz in einem Rutsch wegbeten?«

Sie verzog ihren Mund zu einem Strich.

»Dem Kind fehlt die geistige Reife, Johanna. Es schlägt nach seinem Großvater. Du …« Sie stieß mir ihren knochigen Zeigefinger auf die Brust. »Jetzt hörst du mir mal zu: dass du mir bloß nicht so wirst wie dein Opa! Leben und Gott einen guten Mann sein lassen, ist zu wenig. Außer zum Fressen, Saufen, Rumhuren und in der Hölle braten, taugt er nichts. Hast du das verstanden?«

Wenigstens hat er so viel Anstand, sich zu besaufen, du Bestie!, dachte ich bei mir. Doch ich kannte ihren pädagogischen Ehrgeiz. Deshalb sagte ich nichts und nickte nur.

Sie wurde nicht müde, uns mitzuteilen, dass sie in der Schule zuoberst gesessen hatte,eine Auszeichnung, die sie ihrer Handschrift verdankte, die aussah wie auf alten Stichen, sehr kunstvoll, die Buchstaben mit weit ausholenden Girlanden und Schnörkeln verziert.

»Zu wem kommen denn die Kunden? Zu mir. Wer schreibt denn die Rechnungen? Ich. Der sitzt im Wirtshaus und klopft Sprüche. Er kann sich glücklich schätzen, dass ich ihn von der Straße geholt habe. Ich weiß nicht, ob ich das nochmal machen würde. Ich glaube, ich hätte nicht mehr die Kraft dazu.«

Sie sah in ihm einen Versager, seine Leistungen sah sie nicht: Eddie hatte keine Menschen gequält, keine Frauen verbrannt, keine Bannflüche ausgestoßen, sich nicht mit Massenmördern gemeingemacht und sich bis ins hohe Alter nicht an Kindern und Jugendlichen vergangen. Dass er seine Frau durchs Leben schleppte, wie Jesus sein Kreuz durch Jerusalem – war das kein Verdienst? Sechs Tage ging er den Kreuzweg, am siebten Tag legte er sie zur Seite und ging mit seinen Kumpels beten. Sie würgten staubige Hostien hinunter und wurden immer durstiger. Anschließend gaben sie sich bei Pontius Pilatus die Kanne.

Der Herrgott lebe hoch! Dreifach hoch!

Bibelfest war er nicht, aber ein tumber Kerl war er auch nicht. Er rechnete weniger mit dem Wiederaufbau als mit dem dritten Weltkrieg. Wer konnte es ihm verdenken? Auch wenn er sie mit der frommen Anna nicht teilte, hatte er ganz irdische, ganz diesseitige Träume. Hellsichtig den Siegeszug der Bratwurst vorwegnehmend, wollte er in unserem Vorgarten eine Würstchenbude bauen, genau auf die Ecke, wo die vom Bahnhof kommende Hohenzollernstraße auf die Maximilianstraße stieß. Autofahrer, Fußgänger, die Arbeiter und Angestellten der vielen Firmen im Industriegebiet auf der anderen Seite - alle, die vor der Schranke warten mussten, sah er als seine zukünftigen Kunden. Ich war der Einzige, der ihm zuhörte, als er seine Geschäftsidee erläuterte.

»Siehst du diese Leute? Jeden Tag kommen sie hier vorbei. Die machen wir alle zu Bratwurstessern.«

Eddie hatte Visionen. Er sah in den Leuten nicht nur Leute, er sah ihre Geldbeutel, das Kapital, das in ihnen steckte. Und er erkannte seine Mission: Warum nicht ein paar Groschen in die eigene Tasche lenken? Vision! Mission! Moderne Gedanken! Nein, Eddie war kein tumber Kerl.

Er zeigte mir die Zeichnungen, ein Projekt mit dem Namen DerKiosk, die Pläne waren fertig, sie mussten nur noch eingereicht und genehmigt werden. Mein zweiter Berufswunsch nach Maurer war Würstchenverkäufer mit dem Fernziel einer eigenen Pommesbude. Ein weiterer Versuch, der derivativen Tätigkeit meines Beraterlebens zu entkommen.

Die Bahnschranken wurden heruntergeleiert, pfeifend stampfte eine Dampflokomotive heran. Erregt sprang ich auf, zog Anna vom Stuhl und zerrte sie ans Fenster:

»Schnell, Ännchen, der Zug des Führers!«

Ach, was dauerte es lang, bis sie auf ihr Treppchen geklettert war und hinaussehen konnte.

»Das Ännchen geht arg unter sich in letzter Zeit. Es wird jeden Tag weniger«, sagte Hedwig, die älteste Schwester aus dem Dachgeschoss, die nicht gut schreiben, aber gut rechnen konnte.

Als fort, Frankfort!

»Nein, Ännchen, das hat der Führer nicht verdient. Ach, wie schade, zu spät. Hätte er das gewusst!«

»Ehrfurcht!«, krähte sie mit erhobenem Zeigefinger und ihrem brüchigen Stimmchen, das mich an Erich Honecker erinnerte – Honecker, der Erich? Kennt den noch jemand? Der Erich gewann einen Casting-Wettbewerb, er war ein gefragtes Topmodel hinter dem Eisernen Vorhang. Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf? Deutsche Demokratische Republik? Der Sender ging pleite. Die Erich-Show wurde abgesetzt. Tot umfallen will ich, wenn es nicht stimmt. So wahr ich hier sitze!

»Das Kind hat keine Ehrfurcht, Johanna. Das Kind ist schlecht erzogen. Es hat keinen Respekt vor dem Alter.«

Respekt habe ich vor der Natur, den Jahreszeiten, dem Rauschen des Meeres, dem Sternenhimmel und dem Schweigen des Universums. Mein Respekt war schnell verdient, meine Bereitschaft zur Heldenverehrung grenzenlos. Allein, wo waren die Helden?

»Dieses! Garstige! Kind!«

Bebend vor Zorn stampfte sie mit dem Fuß auf.

Ich bewunderte ihren Goldzahn, der lustig funkelte, wenn sie die Lefzen zurückzog und grinste. Ich bewunderte ihr gewelltes weißes, von Nadeln, Klammern und einem Haarnetz gehaltenes Haar, das ihr ein würdevolles Aussehen verlieh. So wollte ich auch einmal aussehen, wenn ich alt war.

4

»Du hast nicht gedient, kannst nicht mit der Waffe umgehen, hast keinen Russen erschossen. Das ist der Grund, weshalb du kein Schwein schlachten kannst und nur Sauerei machst. Man kann dich nichts heißen. Du bist zu nichts zu gebrauchen, Opa.«

Eddies Presse war mies, doch ich war mir sicher: Mein Großvater war ein Engel auf Bewährung, schon bald würde er heimkehren. Seine Frau herrschte über den Haushalt und das Schlafzimmer wie über den Himmel und seine Heerscharen. Was blieb ihm übrig? Nur die dunkle Seite der Macht.

»So sieht’s aus. Das ist die Lage. Deshalb wollen sie dir Rattengift ins Essen mischen und dich vor einen Zug legen. Ich hab’s genau gehört.«

»Ach was, Bub, du hast einen dicken Hals. Du steckst deine Nase zu viel in Bücher, denkst zu viel, redest zu viel geschwollenes Zeug. Morgen fahren wir in den Wald und schnappen frische Luft.«

In Zickzacklinien, schwankend über die ganze Breite des Wegs, fuhr er voraus. Plötzlich segelte er in weitem Bogen, einen Sturz mit gestrecktem Fuß gerade noch abfangend, in eine finstere Schneise, die schnurgerade tief in den Wald führte, wo die Bäume eng beieinanderstanden und die Sonnenstrahlen sich hoch oben im Geäst verloren. Er hielt an, legte sein Fahrrad am Wegrand ab und stapfte ins Gebüsch.

---ENDE DER LESEPROBE---