Das Haus auf Föhr - Doris Oetting - E-Book

Das Haus auf Föhr E-Book

Doris Oetting

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Beschreibung

Urlaub auf Föhr! Aber für Marina sind es mehr als nur Ferien. Sie reist allein, will der Tristesse ihrer Ehe entfliehen. Die ruhige Nachsaison lässt ihr Zeit zum Nachdenken, während sie die Insel erkundet. In der Pensionswirtin Greta findet sie eine Freundin. Ihren Mann vermisst sie nicht. Abends lauscht sie Gretas Geschichten aus ihrer Kapitänsfamilie, um die sich ein Geheimnis rankt. Immer weiter dehnt Marina ihren Aufenthalt aus, die Zeit steht still. Bis sie das alte Haus entdeckt, das in ihr eine ungeahnte Sehnsucht entfacht, darin ihr Leben neu zu gestalten. Voller Energie nimmt sie den Kampf auf, es zu einer Heimstatt nicht nur ihres eigenen Glücks zu machen.

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Inhalte

Titelangaben

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil II

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Teil III

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Danksagung

Info

Doris Oetting
Das Haus auf Föhr
Inselroman
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.  
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2018
Tel.: 0561/766 449 0
Titelbild: © Jürgen Nickel, Fotolia.com
Schriften: Linux Libertine;
Tangerine by Toshi Omagari 1001fonts.com
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-192-1
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-182-2
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Doris Oetting wurde im Mai 1970 in Lübbecke geboren, lebt und arbeitet inzwischen aber seit vielen Jahren in Minden. Sie ist glücklich verheiratet, kinderlos und hauptberuflich in einer  Werbeagentur tätig. Im März 2016 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem eine Sammlung von Kurzgeschichten folgte. Der Bezug zum Alltag und dem ganz normalen Leben mit seinen Höhen und Tiefen, durch den sich der Leser jederzeit wiedererkennt, ist für Doris Oetting bei allem, was sie schreibt, von Wichtigkeit.
Mehr Informationen über die Autorin unter:
www.doris-oetting.de
Für Rainer
Teil I
März 1968 bis November 1969
1
Hafen von Le Havre, MS Bodenstein
Er wusste, dass die Kollegen hinter seinem Rücken über ihn tuschelten und lachten und ihm den Spitznamen Emi, als Abkürzung von Eremit, gegeben hatten. Seine blasse Haut und die eher hagere Statur hatten ihren Teil dazu beigetragen. Er war sich der schiefen Blicke bewusst, die ihm die anderen zuwarfen, wenn sie an ihm vorbeigingen. Oft schnappte er Teile ihrer Unterhaltung auf, wobei »Eigenbrötler«, »Bücherwurm« und »komischer Kauz« die harmlosesten Titel waren, die sie für ihn fanden.
All das machte ihm nichts aus, denn sie waren ihm genauso egal wie er ihnen. Und sie hatten ja Recht, er lebte tatsächlich wie ein Einsiedler hier an Bord. Er war nun mal lieber allein, auch wenn Einzelgänger es als Teil einer Schiffsbesatzung schwer hatten. Alles war auf Kameradschaft ausgerichtet. Das musste so sein, die Abläufe funktionierten sonst nicht reibungslos.
Soweit es seinen Job betraf, hatte Emi kein Problem damit, sich einzufügen. Aber außerhalb der Dienstzeiten hielt er nicht viel vom ständigen Miteinander. Wenn seine Schicht als Ingenieur im Maschinenraum zu Ende war und er gegessen hatte, zog er sich sofort in seine Koje zurück, um zu lesen oder zu schlafen. Manchmal, bei schönem Wetter, suchte er sich ein Plätzchen an Deck und tauchte ein in die Welt der wenigen Bücher, die er mitgenommen hatte und immer wieder las. Ab und zu kaufte er sich auch im Hafen eine Tageszeitung, um darüber informiert zu sein, was in der Welt um ihn herum so geschah. Und es geschah viel. Die Tschechoslowakei bemühte sich unter Alexander Dubcek um Demokratie, und die Lage spitzte sich gefährlich zu. In Amerika kämpfte Martin Luther King um mehr Akzeptanz der schwarzen Bevölkerung und in Berlin und Paris bestimmten Studentenaufstände die Schlagzeilen. Reden konnte er darüber allerdings hier an Bord mit niemandem.
Als Emi vor knapp einem Jahr, Ende April 1967, auf dem Lloyd-Frachter MS Bodenstein angeheuert hatte, war für ihn damit ein Traum in Erfüllung gegangen. Jahre zuvor war es noch leicht gewesen, Arbeit auf einem der vielen Schiffe zu bekommen, die zur wachsenden deutschen Handelsflotte gehörten. Der Krieg hatte personelle Engpässe geschaffen, immerhin fehlte fast eine ganze Generation. Inzwischen gab es wieder genug gut ausgebildete Nachwuchs-Nautiker und –Ingenieure, die auf einem Schiff des Norddeutschen Lloyd anheuern wollten, denn die Flotte galt als eine der modernsten der Welt.
Nachdem Emi ein Mitglied der Besatzung der MS Bodenstein geworden war, hatte er sich anfangs bemüht, Anschluss zu finden und sich in die Gemeinschaft einzufügen. Es war für alle Beteiligten eine Quälerei. Er unterschied sich in seinem Denken und seinen Interessen zu sehr von den Kollegen, die nach dem Ende ihrer Schulzeit kein Buch mehr aufgeschlagen hatten. Dienstfreie Zeit bedeutete für sie, Karten zu spielen und Bier zu trinken. Wenn sie sich überhaupt einmal über das aktuelle Zeitgeschehen unterhielten, drehte sich alles um die Fußball-Europameisterschaft, die im Sommer in Italien stattfinden würde. Alle fragten sich, ob es den Italienern wohl gelingen würde, den Titel im eigenen Land zu holen. Emi war das völlig egal. Es gab in der Welt weitaus drängendere Fragen.
Sobald das Schiff irgendwo im Hafen lag, ging Emi an Land spazieren, während die anderen Männer zwielichtige Kneipen oder Bordelle aufsuchten. Auf beides konnte er gut verzichten. Heute war er beim Landgang wieder allein unterwegs gewesen. Er war ein bisschen in der Umgebung des Hafens herumgelaufen und hatte in einem gutbürgerlichen Gasthaus ein deftiges Abendessen zu sich genommen. Dann war er langsam zum Schiff zurückgegangen. Gegen elf Uhr erreichte Emi die MS Bodenstein, die wirklich ein imposanter Anblick war.
Emi hatte seit seiner Jugend auf einem Handelsschiff fahren wollen, aber nie den Traum gehabt, Kapitän zu werden. Seine Welt war der Maschinenraum. Er liebte das kraftvolle Stampfen des Motors, ohne den das Schiff keine einzige Seemeile zurücklegen konnte. Im Fall der MS Bodenstein war es ein Achtzylinder-Diesel MAN Vulkan mit 9000 PS. Dieser bärenstarke Motor ermöglichte eine Dienstgeschwindigkeit von 17,5 Knoten. Emi genoss das gleichmäßige Hämmern der Kolben, das sich wie ein Herzschlag anhörte und trotz des Lärms eine beruhigende Wirkung auf ihn hatte. Wegen der Lautstärke der Maschinen war bei der Arbeit keine Unterhaltung mit den Kollegen möglich, so dass seine schweigsame und zurückgezogene Art dort kein Problem darstellte.
Als Emi sich jetzt satt, zufrieden und müde der Gangway näherte, sah er in einiger Entfernung einen Mann mitten über das Hafengelände gehen. Torkeln war allerdings der weitaus passendere Ausdruck, denn die Person war zweifellos sturzbetrunken. Emi erkannte trotz des spärlichen Lichts und der dunklen Kleidung des Mannes, dass es sich um den Kapitän der MS Bodenstein, Deik Hansen, handelte, obwohl er die Kapitänsmütze nicht trug.
Emi überlegte, was er tun sollte. Bei jedem anderen hätte er nicht gezögert, dem armen Tropf, der da zu tief ins Glas geschaut hatte, zu helfen, wohlbehalten in seine Koje zu gelangen. Beim Kapitän war das nicht so einfach. Alle wussten zwar, dass der Mann zu viel trank, aber niemand wagte es, das auszusprechen. Deik Hansen wäre nicht glücklich darüber, wenn ihn einer seiner Untergebenen ins Bett brächte. Von Dankbarkeit ganz zu schweigen.
Emi beschloss, sich nicht einzumischen und sich dieses drittklassige Schauspiel nicht länger anzusehen. Er wandte den Blick ab und ging mit schnellen Schritten auf das Schiff zu. Als er den letzten Abschnitt der Gangway erreicht hatte und die MS Bodenstein durch die geöffnete Luke betreten wollte, hörte er hinter sich ein Hupen. Sofort drehte er sich um und sah einen LKW über das Gelände rasen, direkt auf Deik Hansen zu. Der sah sich irritiert um und schien keine Ahnung zu haben, was der Lärm zu bedeuten hatte. Der Fahrer des LKW bremste scharf, aber es war zu spät. Der Wagen erfasste den Kapitän, der wie festgewachsen stehen geblieben war, mit voller Wucht. Er flog durch die Luft und landete ein paar Meter entfernt auf dem Asphalt, wo er reglos liegen blieb. Der Unglücksfahrer hielt an, doch er stieg nicht aus. Und nach wenigen Sekunden gab er Vollgas und verließ den Unfallort und sein hilfloses Opfer.
2
Hafen von Le Havre
Deik Hansen lag flach auf dem Rücken und zitterte am ganzen Körper. Schwere Wolken zogen über den Nachthimmel und verbargen den Blick auf die Sterne.
Er versuchte, sich zu bewegen, aber es gelang ihm nicht. Bestimmt hatte er sich zahlreiche Knochenbrüche zugezogen, er wollte gar nicht wissen, wie viele. Sein Kopf fühlte sich an, als würde darin mit einem Presslufthammer gearbeitet, und Blut sickerte aus einer Wunde an der linken Schläfe, mit der er hart auf dem Asphalt aufgeschlagen war.
Das Schlimmste jedoch waren die stechenden Schmerzen, die ihn bei jedem einzelnen Atemzug durchfuhren, als würde jemand ein Messer in seinen Eingeweiden herumdrehen. Er war kein Arzt und verfügte nur über bescheidene medizinische Kenntnisse, aber ihm war klar, dass nur schwere innere Verletzungen der Grund für diese beinahe unerträglichen Qualen sein konnten.
Er versuchte, flach zu atmen, doch das nützte nichts. Er schloss die Augen und hoffte darauf, das Bewusstsein zu verlieren, um für kurze Zeit verschnaufen zu dürfen. Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Sein Körper verweigerte ihm den Gehorsam, sein Geist blieb leider wach. Vermutlich hatte er das der beachtlichen Menge Alkohol zu verdanken, die er im Laufe des Abends in der schäbigen Hafenkneipe zu sich genommen hatte. Eine üble Spelunke, aber wen interessierte das schon? Ihn jedenfalls nicht. Ihn interessierte nur, dass der Wirt unaufgefordert sein Glas nachfüllte.
Er war das, was man im Volksmund einen typischen Quartalssäufer nannte. Oft trank er monatelang nicht einen Tropfen, um anschließend mehrere Tage durchzusaufen. Wenn es gut lief, fiel die Trinkphase in einen Hafenaufenthalt, denn dann konnte er bei den Landgängen unbeobachtet saufen. Auf dem Schiff aber musste er sich enorm zusammenreißen, damit die Besatzung tagsüber keinen Verdacht schöpfte, wenn er als ihr Kapitän auf der Brücke des Frachters die Kommandos gab. Den Zutritt zu seiner Kajüte, in der er einen Vorrat an Rum oder Wodka versteckte, hatte er strikt untersagt. Noch nie hatte es einer der Männer gewagt, sich über seinen Befehl hinwegzusetzen. Sie wussten, warum.
Zu Hause bei seiner Familie verbrachte er zum Glück wenig Zeit, so dass er die Saufgelage bisher vor seiner Frau hatte geheim halten können. Nicht, dass ihn ihre Meinung sonderlich interessierte, aber er verzichtete gerne auf das zu erwartende Gezeter und ging solchen Konflikten lieber aus dem Weg. Seine Frau erfuhr, was sie unbedingt wissen musste, und was und wie viel das war, bestimmte er ganz allein.
Er hatte Rike vor neun Jahren geheiratet, weil sie einen wohlgeformten Körper, ein hübsches Gesicht und ein zurückhaltendes Wesen hatte. Und weil all das in genau dieser Reihenfolge für ihn wichtig war. Dass sie nicht besonders klug war und sich für nichts interessierte, was nicht direkt vor ihrer Haustür passierte, hatte ihn nie gestört. Wer wollte sich schon mit einem Weibsbild über das politische Weltgeschehen unterhalten? Bestimmt war ihr in ihrer beschränkten Welt und ihrem noch beschränkteren Kopf völlig entgangen, dass US-Soldaten vor wenigen Tagen, am 16. März, in einem vietnamesischen Dorf unzählige Zivilisten erschossen hatten. Dabei demonstrierten die eigenen Landsleute längst in Scharen auf Straßen und Plätzen und protestierten gegen den Vietnamkrieg. An Rike gingen solche Geschehnisse meistens unbemerkt vorbei, aber sie zog seine Söhne groß und hielt sein Haus in Ordnung, und das war auch alles, wofür er sie brauchte. Außerdem war sie bis über beide Ohren in ihn verliebt, was ihm schmeichelte, wenn es ihn auch nicht sonderlich überraschte. Er liebte sie nicht, allerdings war die Auswahl an ansehnlichen und heiratsfähigen Mädchen in seinem Heimatort Nieblum auf der Nordseeinsel Föhr nicht groß gewesen. Rike hatte ihn also mehr aus Mangel an Konkurrenz für sich gewinnen können.
Die Familie war ihm sowieso weitestgehend egal. Alles, was er je gewollt hatte, war, Kapitän zu sein. Wie sein Vater, sein Großvater und seine übrigen männlichen Vorfahren bis zurück in die Zeiten des Walfangs.
Noch einmal versuchte er, sich zu bewegen, aber es gelang ihm wieder nicht. Die Schmerzen schienen von überallher zu kommen, er hätte auf die Frage, wo es weh tut, nicht antworten können. Allerdings fragte ihn sowieso niemand. Er war allein und so hilflos wie zuletzt wohl als Baby.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er hier schon lag, jegliches Zeitgefühl war ihm abhandengekommen. Es hatte angefangen zu regnen, und die Tropfen, die ihm auf das Gesicht prasselten, vermischten sich mit dem Schweiß, der ihm auf der Stirn stand. Die Kopfwunde blutete immer noch und in seinem Körper breitete sich ein Taubheitsgefühl aus. Er wusste instinktiv, dass es eng für ihn wurde, wenn nicht bald Hilfe kam.
Zu Hause lagen seine beiden Jungen jetzt in ihren Betten und schliefen. Rike wahrscheinlich auch, denn sie war mit dem dritten Kind schwanger und am Ende eines Tages erschöpft. Die Jungen waren jetzt acht und fünf Jahre, und weiterer Familienzuwachs war nicht geplant gewesen. Die ersten Schwangerschaften hatten an Rikes Körper ihre Spuren hinterlassen, so dass es inzwischen eine seiner leichtesten Übungen war, sich im Ehebett zurückzuhalten. Natürlich hatte ein Mann Bedürfnisse, aber die wurden in jedem Hafen der Welt bereitwillig bedient. Und zwar ohne übertriebene Erwartungen in Sachen Zärtlichkeit oder Einfühlungsvermögen.
Nach dem Dorffest im vergangenen August hatte es ihn aber doch einmal überkommen. Sturzbetrunken war er über Rike hergefallen. Ihre Gegenwehr und ihr Gewimmer hatte er ignoriert. Eine Frau musste schließlich dafür sorgen, dass es ihrem Mann gutging und er bekam, was er brauchte. War das etwa nicht schon zu allen Zeiten so gewesen? Und bei diesem ausschließlich triebgesteuerten Akt war das Kind entstanden, das in zwei Monaten, im Wonnemonat Mai, geboren würde.
Komisch, eigentlich dachte er fast nie an seine Familie in Nieblum. Was war denn los mit ihm? Er erkannte sich selbst kaum wieder. Sein Zuhause war die MS Bodenstein und sein Leben war das geschäftige Treiben an Bord oder in den Häfen. Alles, was er brauchte, waren das Schiff und eine Besatzung, die bedingungslos seine Befehle befolgte. Frau und Kinder hatte er, weil es dazugehörte. Ehemann und Vater war er nur nebenbei. Er war Kapitän, und was konnte es Besseres geben?
Inzwischen fühlte sich sein Körper an, als würde er nicht mehr zu ihm gehören, und der Kopf, als sei er mit Watte gestopft. Er nahm um sich herum keine Geräusche wahr, aber vielleicht waren da auch keine. Wenigstens wurden durch das taube Gefühl die Schmerzen erträglicher, so dass es ihm gelang, seine Lage ein bisschen zu verändern. Er öffnete die Augen und drehte den Kopf leicht in die Richtung, in der er das Schiff vermutete.
Da lag sie, die MS Bodenstein. Groß und stolz ragte der Frachter des Norddeutschen Lloyd an der Kaimauer empor. Vor mehr als elf Jahren, am 29. Dezember 1956, hatte die Reederei das Schiff von der Werft übernommen. Und seit nun knapp drei Jahren hatte er an Bord das Sagen.
Sein Blick blieb an der Gangway hängen, die über ihm aufragte. Und plötzlich erinnerte er sich daran, dass er auf dem Weg zurück aufs Schiff gewesen war. Da die Besatzung von Bord gegangen war, hatte er eine Runde an Deck spazieren gehen wollen, um danach in die Koje zu fallen und seinen Rausch auszuschlafen.
Tagsüber ließ er sich fast nie an Deck blicken. Sein Revier war die Brücke, die Kommandozentrale.
Die Ingenieure sagten, die Maschine sei das Herz eines Schiffes, und das stimmte. Aber die Brücke mit all ihren Knöpfen, Schaltern und Hebeln war das Gehirn. Und er allein hatte dort das Sagen.
»Kapitän Deik Hansen«, murmelte er vor sich hin, um sich ein bisschen von den Schmerzen abzulenken. Es klang sogar in dem jämmerlichen Zustand, in dem er sich befand, wie Musik in seinen Ohren. Seitdem er denken konnte, hatte er gewusst, dass er eines Tages Kapitän sein würde.
Was hatte sein Vater gesagt? »In jeder Familie gibt es Schwächlinge, die es zu nichts bringen, aber von denen abgesehen, sind wir Kapitäne. Nichts als Kapitäne.«
Seine Mutter hatte gehofft, dass er einen anderen Beruf wählen und an Land bleiben würde. Frauen waren nun mal schwach. Sie hatten ständig vor irgendetwas Angst, wollten Ruhe und Beständigkeit, scheuten das Risiko. Der Vater hatte ihm beigebracht, dass ein Mann, der seinen Weg klar vor sich sah, auf die Meinung der Weiber nichts geben durfte. Also hatte er sich nur auf sich konzentriert und nun war er Kapitän Deik Hansen. Niemals hätte er sich mit weniger zufriedengegeben.
Eine Welle des Schmerzes überflutete ihn und er stöhnte gequält auf. Um sich erneut abzulenken, richtete er den Blick so gut es ging wieder auf die MS Bodenstein.
Der Frachter, eines von insgesamt sechsunddreißig Schiffen des norddeutschen Lloyd, hatte eine Länge von 152 Metern, eine Größe von rund 5800 Bruttoregistertonnen und eine Tragfähigkeit von 8000 Tonnen. Ihre Fahrten gingen von Bremen über Hamburg, Antwerpen und Amsterdam zunächst bis zur Karibikinsel Aruba.
Auf der Insel der Niederländischen Antillen gab es viele Raffinerien, so dass dort Brennstoff für die Reise gebunkert werden konnte.
Wenn der Frachter mit genügend Dieselkraftstoff für den Schiffsantrieb und Lebensmitteln für die Verpflegung der 44 Besatzungsmitglieder ausgestattet war, ging die Fahrt weiter. Durch den Panamakanal nach Los Angeles und San Francisco bis hinauf nach Vancouver und zurück nach Europa. Eine solche Fahrt dauerte ungefähr drei Monate.
Die Ladung der MS Bodenstein bestand bei der Ausreise aus Kinderspielzeug, Maschinenteilen, Traktoren oder Autos. Auf der Rückreise nach Bremen transportierte sie Baumwolle, Holz, Getreide, Kaffee oder Tabak. Dass sie hier in Le Havre vor Anker lagen, war eine Ausnahme und normalerweise nicht Teil ihrer üblichen Routen, aber was machte das schon? Kneipen und Huren gab es überall auf der Welt und sie unterschieden sich kaum voneinander.
Das Auslaufen der MS Bodenstein war für den nächsten Tag um die Mittagszeit geplant. Die Hauptmaschine brauchte vier Stunden, um ihre notwendige Betriebstemperatur zu erreichen, er musste das Kommando also gegen acht Uhr morgens von der Brücke aus geben. Zeit genug, um bis dahin einen klaren Kopf zu bekommen.
Mit diesen Gedanken war er nach seinem Landgang auf das Schiff zugegangen. Plötzlich hatte er ein Hupen gehört und sich verwirrt umgesehen. Wie aus dem Nichts war ein Lieferwagen direkt vor ihm aufgetaucht und auf ihn zugerast. Es hatte ausgesehen, als säße gar kein Fahrer in dem Wagen, aber vielleicht war einfach ein nahezu unsichtbarer Schwarzer am Steuer. Davon gab es in Frankreich viel mehr als in Deutschland, denn das hatte seine Kolonien in Afrika ja schon nach dem Ersten Weltkrieg verloren. Sein Großvater war Kapitän auf einem Frachtschiff gewesen, das Kautschuk und Elfenbein in unvorstellbaren Mengen aus Deutsch-Ostafrika transportiert hatte. Der hatte immer schon vor diesen Untermenschen gewarnt. Und jetzt war er von einem Neger angefahren worden.
Alles war blitzschnell gegangen. Bevor er reagieren und zur Seite springen konnte, hatte ihn der Wagen erfasst und durch die Luft geschleudert. Schlagartig fühlte er sich nüchtern, als er auf dem harten Boden landete.
Zuerst spürte er keinen Schmerz. Noch mal Glück gehabt, war sein erster Gedanke. Der zweite war, dass der Idiot da in dem Auto jetzt sein blaues Wunder erleben würde. Dann setzten die Schmerzen ein, und er erkannte, dass es ihn wohl doch schwer erwischt hatte. Er musste abwarten, bis der LKW-Fahrer oder sonst jemand sich um ihn kümmerte. Er lauschte angestrengt. Waren da Stimmen? Oder Schritte, die sich ihm näherten? Oder eine Autotür, die zugeschlagen wurde, weil der Unfallfahrer sich endlich auf den Weg zu dem Opfer machte? Aber alles, was er tatsächlich hörte, war das Quietschen der Räder, als das Auto davonraste. Weit und breit war niemand aufgetaucht, um sich um ihn zu kümmern.
Er versuchte, nicht in Panik zu geraten. Spätestens bei Anbruch des Tages würden sie ihn hier finden. Wenn der Hafen in den Morgenstunden zum Leben erwachte und alle an ihre Arbeit gingen, würden sie sehen, was passiert war. Und sie würden sich darum drängeln, ihm zu helfen. Ein Kapitän, der seine Männer im Griff hatte, war für sie der Master next God, und genauso war es auch bei ihm.
Wie lange würde es wohl noch dauern, bis sie ihn fanden? Er spürte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Die Kopfwunde blutete immer noch, das Zittern verstärkte sich von Minute zu Minute und sein Blick wurde unscharf. Er schloss die Augen.
3
Nieblum
Sie saßen zusammen am Küchentisch. Links von Rike der achtjährige Sönke und auf ihrem Schoß der fünfjährige Fiete.
Der Sturm, bereits der vierte in diesem Frühjahr, rüttelte heftig an den Fensterläden und heulte so laut, dass es sich anhörte, als hätte ein Rudel Wölfe vor dem Haus Stellung bezogen.
Vor über einer Stunde war der Strom ausgefallen, ausgerechnet in dem Moment, als im Radio »Massachusetts« von den Bee Gees lief. Rike liebte diesen Song, der bis zum Januar des Jahres auf Nummer eins in den Charts gestanden hatte. Schade, aber vielleicht spielten sie das Lied ja später noch mal, wenn der Sturm sich gelegt hatte und die Jungen in ihren Betten lagen.
Jetzt hieß es allerdings erst mal abwarten, bis das Wetter sich beruhigte.
Die Kerzen, die in der Mitte des Tisches standen, flackerten im Wind, der durch die Fensterritzen pfiff. Um das gespenstische Heulen des Sturms zu übertönen, hatte Rike ein Kinderlied nach dem anderen gesungen, aber jetzt fiel ihr keines mehr ein. Zum Glück war Fiete, der sich gefürchtet hatte, auf ihren Knien ruhig geworden, und damit das so blieb, saß Rike trotz ihres schmerzenden Rückens so still wie möglich.
In zwei Monaten würde ihr drittes Kind zur Welt kommen, und obwohl ihr Bauch kleiner war als bei ihren ersten beiden Schwangerschaften, fühlte sie sich doch wie ein aufgeblasener Ballon.
»Mama, wann gibt’s endlich Abendessen?«, fragte Fiete.
»Sobald wir wieder Strom haben«, antwortete sein Bruder an Rikes Stelle, »sonst funktioniert der Herd nicht, du Doofie.«
»Mama, der soll nicht Doofie zu mir sagen«, beklagte sich Fiete.
Rike legte ihm den Zeigefinger an die Lippen. »Sscht. Tu einfach so, als hättest du es nicht gehört.«
Fiete rutschte beleidigt von ihrem Schoß, weil er von seiner Mutter ein bisschen mehr Unterstützung erwartet hatte. Als der Wind draußen erneut aufheulte, überlegte er es sich aber sofort wieder anders und schmiegte sich an Rike.
»Jetzt ist der Sturm bald vorbei«, meinte Sönke zuversichtlich.
Rike lächelte. Deik war selten daheim, also hatte Sönke automatisch die Rolle des Mannes im Haus übernommen.
Sie hatte bei ihren Söhnen nicht das Gefühl, dass sie ihren Vater vermissten. Als Kapitän eines Frachtschiffs verbrachte Deik die meiste Zeit des Jahres auf See, so dass die Kinder ein Familienleben mit beiden Elternteilen kaum kannten.
Rikes Blick wanderte von Sönke zu Fiete. Die Jungen waren das genaue Abbild ihres Vaters. Sie hatten seine blonden Haare, die blaugrauen Augen, die etwas zu lange Nase und sein markantes Kinn geerbt. Rike hatte braune Augen und braune Haare, die sie meistens zu einem Zopf geflochten trug. Sie wünschte sich von Herzen, dass ihr drittes Kind ein Mädchen würde. Und dass die Kleine ihr ähnelte, denn sonst würden die Leute im Ort stutzig werden. Wenn die Tochter nach ihr käme, wären alle damit zufrieden, dass die Jungen aussahen wie der Vater und das Mädchen wie die Mutter. Sie ahnten ja nicht, wie oft Rike betete, dass die Kleine dafür aber vom Wesen her wie ihr Vater würde. So freundlich, so liebenswert und so anständig wie er. Und vollkommen anders als Deik.
Langsam verstummten vor dem Haus die Geräusche des Sturms. Sönke ging zum Lichtschalter und probierte aus, ob sie wieder Strom hatten. Tatsächlich spendete die Hängeleuchte über dem Tisch sofort ein gleißendes Licht. Rike und Fiete kniffen die Augen zu.
Rike seufzte. Mit dem Unwetter war auch ihre kurze Verschnaufpause vorbei. Nun musste sie den Jungen ihr Abendessen zubereiten und danach die Küche aufräumen. Und dann war da noch der kniehohe Stapel mit der Bügelwäsche, die im Korb neben der Tür auf sie wartete.
Als Rike gegen Mitternacht erschöpft in ihr Bett fiel, konnte sie trotz aller Müdigkeit nicht einschlafen. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um ein und dasselbe Thema. Ihre Kinder hatten verschiedene Väter.
Deik hätte sie für ihren Ehebruch aus dem Haus gejagt und dafür gesorgt, dass sie ihre Söhne nie wiedersah. Und fast alle hier im Dorf hätten das verstanden und richtig gefunden. Zwar neigten sich inzwischen die Sechzigerjahre dem Ende zu, aber das engstirnige und einseitige Denken vieler Menschen leider noch nicht.
Zum Glück ahnte Deik nichts von ihrer Untreue, er war viel zu überzeugt, dass es kein anderer Mann mit ihm aufnehmen konnte. Er sah sich als absoluten Hauptgewinn an. Es war nicht zu fassen, dass Rike selbst das auch mal geglaubt hatte.
Nur ein einziger Mensch auf der Welt kannte ihr Geheimnis. Und dieser Mensch war der Vater ihres ungeborenen Babys.
Rike warf einen Blick auf ihren Wecker. Kurz nach zwei Uhr. Sie schwang die Beine aus dem Bett und ging hinüber zum Fenster. Draußen beleuchtete der Vollmond den Weg vor dem Haus. Es war, als hätte es den schweren Sturm vor ein paar Stunden nicht gegeben.
Rike erinnerte sich daran, was ihre Mutter ihr immer gesagt hatte, als sie ein kleines Kind war: Bei uns ist die Welt noch in Ordnung, weil wir hier auf der Insel leben. Die Menschen auf dem Festland machen sich immer um irgendetwas Sorgen. Aber Sorgen können nicht schwimmen, deshalb kommen sie nicht hierher und deshalb sind wir alle glücklich und zufrieden.
Rike massierte sich die schmerzenden Schläfen und lächelte wehmütig bei dem Gedanken an ihre Eltern, die einander und ihre einzige Tochter von Herzen geliebt hatten. Über ihre Enkelkinder hätten sich die beiden sehr gefreut. Aber über den Schwiegersohn? Rike war sicher, dass ihr Vater und ihre Mutter Deik nicht gemocht und versucht hätten, ihr die Heirat auszureden. Hätte sie auf ihre Eltern gehört? Vermutlich nicht. Sie war so verliebt gewesen. Vielleicht hätte sie sich sogar mit ihnen überworfen für diesen Mann, dem sie, das wusste sie heute, kaum etwas bedeutete.
Inzwischen waren Rikes Füße eiskalt und sie schlüpfte zurück unter die Bettdecke. Sie schloss die Augen, entschlossen, endlich einzuschlafen. Es gelang ihr nicht.
4
Hafen von Le Havre, MS Bodenstein
Von seinem Logenplatz oben auf der Gangway aus hatte Emi alles mit angesehen. Seine schweißnassen Hände umklammerten das Geländer, aus seinem Gesicht war vor Schreck jegliche Farbe gewichen. Dann, mit einem Ruck, setzte er sich in Bewegung und rannte die Gangway hinab und auf den Verletzten zu. Er kniete sich neben seinen Kapitän, der aus einer Kopfwunde blutete und die Augen geschlossen hatte. Der rechte Arm und das linke Bein lagen in unnatürlichem Winkel zum Körper, was auf komplizierte Knochenbrüche schließen ließ. Deik Hansen atmete nur flach und verzog jedes Mal schmerzverzerrt das Gesicht. Emis Anwesenheit schien er gar nicht wahrzunehmen.
Emi musste Hilfe holen. Sofort. Sich kümmern. Aber er stand nur wie versteinert da, während die Gedanken durch seinen Kopf wirbelten wie Staubkörner im Sonnenlicht. Er sollte einen Krankenwagen rufen, damit der Kapitän in eine Klinik gebracht und untersucht werden konnte. Wenn sich allerdings herausstellen würde, dass die Verletzungen nicht so schwer waren, wie es auf den ersten Blick schien, würde ihn der unnötige Aufwand nur wütend machen. Und dann würde Emi vorläufig keine ruhige Minute mehr an Bord haben, denn der Kapitän war für seine Art, die Männer nach Lust und Laune zu schikanieren, berühmt und berüchtigt. Außerdem würde jeder Arzt sofort feststellen, dass Deik Hansen betrunken war, was dieser ja unter allen Umständen geheimhalten wollte.
Und wenn die Verletzungen doch schwer und lebensbedrohlich waren? Was wäre, falls der Kapitän starb?
Emi erschrak über sich, als er sich bei der Überlegung ertappte, welche Chance sich daraus für ihn ergeben würde. Und diese Chance hatte nicht das Geringste mit seinem Beruf oder dem Schiff zu tun.
Emi sah sich vorsichtig um. Noch immer war kein Mensch zu sehen. In diesem Moment fasste er den Entschluss, den Kapitän sich selbst und seinem Schicksal zu überlassen. Ein einziges Mal wollte Emi sein eigenes Glück über alles andere stellen.
Er stand auf und entfernte sich Schritt für Schritt vom Ort des Geschehens. Wie ferngesteuert ging er auf die MS Bodenstein zu und die Gangway hinauf. Oben nahm er denselben Platz ein wie zuvor und begab sich erneut in die Rolle des Beobachters. Falls dies heute der letzte Tag im Leben von Deik Hansen sein sollte, dann konnte er es auch nicht ändern. Und falls nicht, sollte ihn doch jemand anderer retten.
Wenn das Schiff über Nacht im Hafen lag, gab es nur eine Wache an Bord. Alle übrigen Besatzungsmitglieder waren ausgegangen, um sich an Land zu vergnügen. Emi fragte sich kurz, warum der Wachhabende den Unfall nicht bemerkt hatte. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass es kurz vor Mitternacht war. Es dauerte sicher noch, bis die Männer vom Landgang zurückkamen.
Emi wischte sich den Schweiß von der Stirn und schloss für einen Moment die Augen, als könnte er auf diese Weise Ordnung in seine wirren Gedanken bringen. Als er den Blick wieder auf das Unfallopfer richtete, hatte sich an dem Bild, das sich ihm bot, nichts verändert. Lange stand er auf seinem Beobachtungsposten und verharrte ebenso reglos wie der Verletzte.
Eine Stunde später hörte Emi durch den Regen hindurch, der vorhin eingesetzt hatte, Stimmen, die langsam näherkamen. Er vermutete, dass die Besatzung der MS Bodenstein zurückkehrte von ihrem Landgang. Träge vom Essen, schläfrig vom Alkohol und befriedigt von Hafennutten würden sie in ihre Kojen fallen und in wenigen Minuten um die Wette schnarchen. Es war fraglich, ob sie den am Boden liegenden Kapitän bemerkten, denn er lag nicht direkt auf ihrem Weg, sondern abseits und komplett im Dunkeln.
Emi hatte absolut keine Lust, seinen Kollegen zu begegnen oder von ihnen gefragt zu werden, warum er hier herumstand. Mit einem letzten Blick auf Deik Hansen betrat er das Schiff und legte sich schlafen.
Nach wenigen Stunden, um fünf Uhr morgens, wurde Emi durch nervöses Stimmengewirr geweckt. Er hatte das Gefühl, erst vor ein paar Minuten eingeschlafen zu sein, weil sich die Bilder des vergangenen Abends nicht aus seinem Kopf vertreiben lassen hatten. Er setzte sich auf, schwang die Beine aus der Koje und lauschte. Aus dem Radio drang blechern das Lied »Judy in Disguise« an sein Ohr. Dieser nervtötende Song von John Fred & His Playboy Band wurde gerade auf allen Sendern rauf und runter gespielt, und die einigermaßen fröhliche Melodie stand in krassem Gegensatz zum Inhalt der Unterhaltung, die Emi Stück für Stück mitbekam.
»Ein Unfall?«
»Keiner weiß es.«
»Kapitän Hansen?«
»Ja, es heißt, er sei tot.«
»Verfluchte Scheiße.«
»Wer hat ihn gefunden?«
Alle redeten durcheinander, aber nach kurzer Zeit hatte Emi die bruchstückhaften Informationen zusammengesetzt.
Beim Dienstantritt um halb fünf hatte der Hafenmeister die Leiche von Deik Hansen entdeckt und die Polizei alarmiert. Dass der Kapitän des deutschen Frachters von einem Auto überfahren worden war, wurde anhand der Reifenspuren schnell ermittelt. Nun galt es, den Fahrer des Wagens zu finden und zu klären, ob wegen eines Unfalls mit Fahrerflucht, Totschlags oder sogar Mordes ermittelt werden musste. Allerdings wussten alle Beteiligten, dass der Eifer der französischen Beamten sich in Grenzen halten würde, da es sich um ein deutsches Schiff und auch um ein deutsches Todesopfer handelte.
5
Nieblum
Als Klaas Petersen, der Nieblumer Pfarrer, mitten am Vormittag zusammen mit zwei Polizisten vor ihrer Tür stand, wusste Rike sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Väterlich legte er ihr den Arm um die Schultern, drängte sie sanft zurück ins Haus und lenkte ihre Schritte in die Küche. Die Polizeibeamten folgten ihnen.
Nachdem Rike sich gesetzt hatte, nahm der Pfarrer ihr gegenüber Platz, hielt ihre Hände und sagte: »Rike, du musst jetzt tapfer sein.«
Dann nickte er den Polizisten zu, die nahe der Küchentür stehen geblieben waren.
Der ältere der beiden räusperte sich und fragte: »Sind Sie die Ehefrau von Deik Hansen, dem Kapitän des zur norddeutschen Lloyd gehörenden Frachtschiffes MS Bodenstein?«
»Natürlich ist sie das, wären wir sonst hier?«, stieß Klaas Petersen hervor, dem es auf die Nerven ging, wie der Beamte sich an der Routine festhielt.
Rike nickte nur stumm.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann in der vergangenen Nacht bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.«
Nach seinen Worten hätte man in der Küche eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. Die Polizeibeamten traten verlegen von einem Fuß auf den anderen, während Pfarrer Petersen Rikes Hände immer noch festhielt, als wollte er ihr damit Halt geben.
Rike war wie benommen. In ihrem Kopf wirbelten unzählige Gedanken durcheinander.
Deik war tot? Gestorben bei einem Unfall? Das hieß, er kam nie mehr in dieses Haus, ihr Zuhause. Sie musste ihn nie wieder sehen. Nie wieder die Beleidigungen hören, die er ihr an den Kopf warf, weil er der Meinung war, dass sie einen Mann wie ihn nicht verdient hatte. Nie wieder die Grobheit ertragen, mit der er die Kinder anpackte, damit aus ihnen echte Kerle würden. Von den körperlichen Attacken auf sie selbst ganz zu schweigen. Nie wieder würde sie vor ihren Söhnen so tun müssen, als ob sie sich auf Deiks nächsten Heimaturlaub genauso freute wie sie. Nie wieder musste sie, wenn er zurück aufs Schiff ging, Tränen der Erleichterung weinen, die ihre Kinder für Tränen der Traurigkeit hielten.
Endlich konnte sie ihr Leben friedlich und ohne Angst mit den Kindern genießen.
Andererseits war sie nun in allen Dingen auf sich allein gestellt. Deik hatte vor vielen Jahren eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen. Wenn dieses Geld jetzt zur Auszahlung kam, müsste sie sich finanziell keine Sorgen machen. Aber was, wenn die Versicherung nicht zahlte? Die fanden doch immer irgendein Haar in der Suppe, so dass der Versicherte leer ausging. Und dann? Wie sollte es dann weitergehen? Wo konnte sie das Baby unterbringen, wenn sie selbst arbeiten musste? Und wo könnte sie überhaupt Geld verdienen? Sie hatte ihre Ausbildung zur Arzthelferin damals kurz nach der Hochzeit abgebrochen, weil Deik der Meinung gewesen war, seine Frau brauche nicht zu arbeiten. Als sie dann ihr erstes Kind erwartete, war das Thema ohnehin erledigt gewesen. Bliebe also nur eine Stelle als landwirtschaftliche Helferin oder als Bedienung in einem Lokal und Restaurant.
Es gab von nun an viel zu bedenken und zu überlegen. Gut, dass ihr nicht die Trauer den Sinn vernebelte, denn um Deik trauern oder ihn vermissen würde sie nicht.
Rike warf einen Blick auf die Küchenuhr. Kurz vor elf. Die Jungen kamen nicht vor ein Uhr aus der Schule. Ihr blieb also noch ein bisschen Zeit für sich allein.
Allein?
Sie entzog dem Pfarrer ihre Hände und legte sie auf ihren Bauch. Sie war nicht allein. Sie trug ihr drittes Kind unter dem Herzen. In acht Wochen würde es zur Welt kommen und damit den neuen Lebensabschnitt unterstreichen, der jetzt begann.
»Ich möchte Sie alle bitten, zu gehen«, sagte Rike, ohne die drei Männer anzusehen.
Die Polizeibeamten schienen erleichtert und verließen sofort die Küche. Sekunden später war zu hören, wie die Haustür geöffnet wurde und kurz danach wieder ins Schloss fiel.
Klaas Petersen erhob sich von seinem Stuhl, tätschelte Rike die Schulter und meinte: »Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, lass es mich wissen. Du wirst einen Weg für dich und die Kinder finden und die Gemeinde wird für dich da sein. Kopf hoch, mein Kind.«
Rike nickte und begleitete ihn hinaus. Sie schloss die Haustür, lehnte sich von innen dagegen und atmete tief durch.
Mein Kind, hatte Pfarrer Petersen gesagt. Wie seltsam das klang, wenn man erwachsen und selbst Mutter war. Andererseits kannte der Pfarrer Rike wirklich seit ihrer Kindheit. Er hatte sie getauft und konfirmiert und ihr beigestanden nach dem Tod ihrer Eltern. Er hatte sie und Deik getraut und auch ihre beiden Söhne getauft. Rike hatte das Gefühl, dass der Pfarrer in ihr las wie in einem Buch – und deswegen war sie froh, jetzt allein zu sein.
6
Hafen von Le Havre
Jedes einzelne Besatzungsmitglied wurde befragt, aber niemand hatte etwas gesehen oder war in der Nähe des Tatortes gewesen. Die meisten Männer konnten sich gegenseitig Alibis geben, weil sie den Abend zusammen verbracht hatten. In einigen Fällen halfen die Damen des horizontalen Gewerbes bei der Frage, wo sich der ein oder andere Mann zur fraglichen Zeit aufgehalten hatte.
Als sich bei Emis Befragung herausstellte, dass er allein an Land gegangen war, wurde der Wirt des Gasthofes verhört, in dem Emi gegessen hatte. Dieser erinnerte sich an seinen Gast, aber nicht an die genaue Uhrzeit des Besuchs, also gab es nur Emis eigene Aussage, die nicht widerlegt werden konnte. Aber es gab keine Verdachtsmomente gegen ihn. Die Beamten wussten nicht weiter.
Am Dienstag, vier Tage nach dem Unfall, sofern es einer war, betrat der neue Kapitän, dem der Norddeutsche Lloyd das Kommando für die MS Bodenstein übertragen hatte, das Schiff. Die Reederei war verärgert über die Geschehnisse, in die der Frachter verwickelt war. Die zeitliche Verzögerung und die damit entstandenen Mehrkosten wirkten ebenfalls nicht stimmungsaufhellend, weshalb Kapitän Larsen nicht besonders entspannt seinen Dienst antrat. Unmissverständlich forderte er die Männer auf, sofort den Alltag und ihre Arbeit aufzunehmen.
Als die Behörden das Schiff weitere zwei Tage später zur Weiterfahrt freigaben, wurde es gegen Mittag von Schleppern aus dem Hafen gezogen, um endlich die nächste Etappe ihrer Reise anzutreten.
Die gesamte Besatzung war heilfroh, dass sich das Auslaufen nicht noch mehr verzögerte, denn es brachte Unglück, wenn ein Schiff an einem Freitag ablegte. Aberglaube war etwas, was alle Seeleute auch heutzutage noch gemeinsam hatten, weshalb sie sich stets gute Gründe zurechtlegten, eine Seereise nicht an einem Freitag beginnen zu müssen.
Emi erledigte wie immer seine Aufgaben an Bord und verbrachte, ebenfalls wie gewohnt, seine dienstfreie Zeit allein. Er hoffte darauf, mit jeder Seemeile, die sie zurücklegten, die Erinnerungen an die Unglücksnacht zu vergessen, an die Umstände von Deik Hansens Tod und vor allem die Rolle, die er selbst dabei gespielt hatte.
7
Frachter MS Bodenstein
Emi hockte auf dem Palaverdeck, auf dem die Männer sich in ihren Pausen und in der Freizeit oft aufhielten. Sie befanden sich auf der Fahrt durch den Panamakanal und kamen gut voran. Auf der MS Bodenstein wie auch auf den übrigen Lloyd-Frachtern gab es keine Klimaanlage, weshalb man bei hohen Außentemperaturen draußen an Deck am besten aufgehoben war.
Emi dachte über die jüngsten politischen Ereignisse nach, die so schnell passierten, dass man kaum folgen konnte. Vor zwei Wochen, am 4. April, war der Bürgerrechtler Martin Luther King in Memphis, Tennessee, erschossen worden. Falls John, das einzige farbige Besatzungsmitglied der MS Bodenstein, wegen dieser Meldung schockiert und traurig war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken, und alle anderen interessierte die Nachricht ohnehin nicht.
Nur wenige Tage später hatte Emi aus den Nachrichten im Radio erfahren, dass auf Rudi Dutschke, den Wortführer der Berliner Studentenbewegung, ebenfalls geschossen worden war. Er hatte überlebt, aber die schweren Hirnverletzungen, die er erlitten hatte, würden ihn wohl für immer von der politischen Bildfläche verschwinden lassen. Was würde sich in seiner Heimat noch alles ereignen, bis er nach Hause kam, fragte Emi sich. Und während er den Blick in die Ferne schweifen ließ, wurde er langsam schläfrig.