Die Föhr-Affäre - Doris Oetting - E-Book

Die Föhr-Affäre E-Book

Doris Oetting

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Beschreibung

Es war eine berauschende gemeinsame Nacht! Doch am Morgen liegt Julia Lessings Liebhaber tot neben ihr. Sie hat keine Ahnung, was geschehen ist. Und noch viel weniger weiß sie, wie sie mit der Situation umgehen soll. Denn ihre Affäre mit dem auf Föhr lebenden Künstler war ein Geheimnis – und muss es unbedingt bleiben! Im Schock ist die erfolgreiche Geschäftsfrau aus Hamburg zu keinem klaren Gedanken fähig. Panisch trifft sie eine falsche Entscheidung, die schwerwiegende Folgen für sie hat. Die Ereignisse überstürzen sich und drohen ihre Zukunft zu zerstören.Nach dem Erfolg von »Das Haus auf Föhr« folgt hier ein Inselkrimi von Doris Oetting. Spannende Unterhaltung nicht nur für Föhr-Fans.

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Inhalte

Titelangaben

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Epilog

Danksagung

Info

Doris Oetting
Die Föhr-Affäre
Inselkrimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze auf Föhr und in Hamburg.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2022
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto © Anette Damm, Dortmund
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-249-2
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-239-3
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Doris Oetting, geboren 1970, lebt im ostwestfälischen Minden. Sie arbeitet hauptberuflich in der Qualitätssicherung einer Textagentur und freiberuflich als Autorin von Kurzgeschichten und Romanen. Neben Kurzkrimis in verschiedenen Anthologien veröffentlichte sie 2016 ihren ersten Roman, eine Familiengeschichte, die überwiegend in Travemünde spielt. Anschließend folgten zwei Sammlungen von Kurzgeschichten über unterschiedliche Themen des alltäglichen Lebens. 2018 erschien der Roman „Das Haus auf Föhr“, in dem ein dunkles Familiengeheimnis aufgedeckt wird. 2020 folgte der Krimi „Kalte Liebe in Cuxhaven“, der sich mit dem Thema Stalking beschäftigt und aufzeigt, dass man sein Vertrauen leider allzu oft den falschen Menschen schenkt. Mit „Die Föhr-Affäre“ kehrt Doris Oetting nun auf ihre Lieblingsinsel zurück, diesmal mit einem Kriminalroman.
Weitere Informationen zu der Autorin unter www.doris-oetting.de
Für meinen Vater,
der schon seit fast zwanzig Jahren fehlt.
Ich hätte dir so viel zu erzählen.
Und für meine Mutter,
die noch da ist, aber doch so fern.
Und für meinen Mann.
Ohne dich wäre alles nur halb so schön.
Prolog
Still kauerte er mit geschlossenen Augen auf dem Hocker in der Ecke und presste die Hände zwischen seine Oberschenkel. Er gab sich alle Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Jungs weinen nicht. Es war so ungerecht. Er hatte es nicht getan. Er hatte den Ball nicht gegen das Schlafzimmerfenster geschossen, so dass die Scheibe in tausend Teile zerbrach. Er konnte überhaupt nicht so hoch und so weit schießen, kein einziges Mal hatte er das bisher geschafft. Er konnte ja ohnehin kaum etwas. Außerdem war er nicht mal in der Nähe gewesen, als das mit dem Fenster geschah.
Aber das würde seine Mutter ihm nicht glauben. Sie gab ihm die Schuld, so wie sie ihm an allem Schlechten, das passierte, die Schuld gab. Sie musste einfach jemanden finden, den sie bestrafen konnte, auch wenn der völlig unschuldig war. Und das war immer ihr Sohn. Versuchte er, sich zu erklären oder zu rechtfertigen, hörte sie nicht zu. Manchmal schrie sie ihn stattdessen an wie eine Wahnsinnige, ohne dass man ein Wort verstehen konnte. Manchmal blieb sie stumm, schaute einfach an ihm vorbei und sie schien weit weg zu sein. Er hatte sich schon öfter gefragt, ob sie vielleicht nicht alle Tassen im Schrank hatte. Natürlich würde er es nicht wagen, das laut auszusprechen. Nicht auszudenken, was für einen Ärger ihm das einbrächte.
Jedenfalls hatte er es längst aufgegeben, sich gegen ihre Ungerechtigkeiten zu wehren. Es hatte ja doch keinen Zweck. Sie sagte und zeigte ihm immer wieder, wo sein Platz innerhalb der Familie war. Und der war nun mal in der letzten Reihe. Er war unwichtig und wurde kaum beachtet. Die meiste Zeit saß er abseits und las. Er liebte Bücher, konnte sich stundenlang in die Geschichten vertiefen und in Gedanken all die Abenteuer miterleben, die dort erzählt wurden. Der Rest der Familie ließ ihn überwiegend in Ruhe, so wie sie auch von ihm in Ruhe gelassen werden wollten. Nur wenn etwas Schlimmes passierte, dann wurde er herbeigerufen und ohne die geringste Chance auf Verteidigung schuldig gesprochen.
So wie heute bei der Sache mit der Fensterscheibe. Ohne ihm nur einen winzigen Augenblick zuzuhören, hatte seine Mutter das Strafmaß verkündet und ihn angewiesen, sich mit blankem Hinterteil bäuchlings über den Küchenstuhl zu legen. Dann hatte sein Vater den Gürtel aus seiner Hose gezogen und ihn wieder und wieder mit voller Wucht auf ihn niedersausen lassen. Sie hatte danebengestanden und laut mitgezählt, wie sie es immer tat. Und für jeden Klagelaut, der von ihm zu hören war, kam ein weiterer Schlag dazu. Heute hatte er die Lippen und die Zähne so zusammengepresst, dass ihm jetzt nicht nur der Hintern, sondern auch die Kiefermuskeln wehtaten. Aber er hatte es geschafft, keinen Mucks von sich zu geben und somit nur das von ihr beschlossene Dutzend Gürtelhiebe kassiert.
Er konnte sich nicht daran erinnern, wann seine Mutter einmal lieb zu ihm gewesen war. Nie konnte sie sich über etwas freuen, was er tat. Wie auch, sie beachtete ihn ja nicht. Manchmal glaubte er, dass sie ihn hasste. Von seinem Vater konnte er keine Unterstützung erwarten. Er sah zwar aus wie ein starker Mann, groß und kräftig. Aber er verhielt sich oft wie ein Zwerg. Ein Wicht, der sich von seiner Frau am Nasenring durch die Manege führen ließ, die Nachbarn machten sich deswegen über ihn lustig. Er würde es niemals wagen, eine andere Meinung als die seiner Ehefrau zu vertreten oder die Stimme zu erheben in dem Haus, in das er eingeheiratet hatte. Vermutlich waren sogar die Hochzeit und der Nachwuchs beschlossen worden, ohne ihn mehr als naturgemäß unbedingt nötig einzubeziehen. Seit er denken konnte, hatte seine Mutter sich nur einmal ein wenig freundlicher um ihn gekümmert, als er krank gewesen war und niemand wusste, ob er überleben würde. Sobald er genesen war, hatte sie sich abweisender verhalten als je zuvor, so dass er sich kaum noch in ihre Nähe gewagt hatte.
Kapitel 1
Langsam drehte Julia den Kopf nach rechts und zwang sich, ihn anzusehen. Wie er dalag, ganz ruhig. Neben ihr. Auf dem zerwühlten Laken. Die morgendlichen Sonnenstrahlen, die durch die Äste des Baumes direkt vor dem bodentiefen Schlafzimmerfenster hereinfielen, unterteilten sein Gesicht und seinen Körper in helle und dunkle Streifen. Es war halb neun am Sonntagmorgen und bis vor wenigen Minuten hatten sie guten und erfüllenden Sex gehabt. Und jetzt war er tot. Beim Liebesakt auf ihr zusammengebrochen mit einem kurzen Aufschrei des Schmerzes als Abschiedsgruß.
In diesem Moment hatte auch sie sich nicht mehr bewegen können. Vor Schreck oder wegen des Gewichts des toten Körpers auf ihr. Mühsam hatte sie ihn von sich heruntergerollt und sich die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Der Anblick der weit aufgerissenen Augen in seinem Gesicht, das bald einer Wachsfigur ähneln würde, ließ sie frösteln. Sie nahm sich vor, nicht zu schreien, nicht aufzuspringen, ruhig zu bleiben, bis sie aus diesem Alptraum erwachte. Um etwas anderes konnte es sich schließlich nicht handeln.
Minutenlang lag sie da, stocksteif und bewegungslos.
Ein Geräusch aus dem Wohnraum nebenan ließ sie aus ihrer Starre erwachen. Was war das? Außer ihnen war niemand hier. Valentin war Künstler, genauer gesagt Maler, und lebte allein und gewollt abgeschieden in seinem Haus in Hedehusum, einem kleinen Ort zwischen den Dörfern Wittsum und Utersum auf der Nordseeinsel Föhr. Sie wusste aus seinen Erzählungen, dass es sich bei der kleinen Kate um das einstige Zuhause eines verarmten Bauern handelte, der selbst dieses bescheidene Heim irgendwann nicht mehr unterhalten konnte. Valentin hatte Haus und Grundstück in einem miserablen Zustand, dafür aber zu einem fairen Preis bekommen und liebevoll renoviert. Hier trafen sie sich, wann immer sie auf der Insel weilte, heimlich für ihre Stunden zu zweit. Obwohl beide ungebunden waren und ihr Liebesleben somit niemanden etwas anging, hielten sie ihre Treffen geheim. Beide hatten nicht die geringste Lust, zum Inhalt des Inseltratsches zu werden und damit Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Zum Glück gab es neben dem Haus einen Schuppen. Dort ließ sie immer schnell ihren knallroten Porsche 911 verschwinden, denn natürlich sollte niemand ein Auto vor dem Haus stehen sehen. Schon gar nicht ein so Auffälliges.
Die Räumlichkeiten im Inneren waren überschaubar. Neben dem Schlafzimmer und einem angrenzenden Bad gab es nur eine offene Küche mit Kochinsel, die an einen geräumigen Wohnbereich angrenzte. Valentin hatte das Wohnzimmer mit einer Selbstbauwand geteilt, und jenseits dieser Wand befand sich sein Atelier, ein kreatives Chaos aus Staffeleien, blütenweißen oder zum Teil bereits bemalten Leinwänden, unzähligen Farbdosen und -tuben und einem Sammelsurium an Pinseln und Rakeln. Und mit kunterbunten Farbspritzern auf dem Boden und an den Wänden, bei deren Anblick man eine kürzlich stattgefundene Konfettimaschinen-Explosion vermutete. Der typische Geruch von Farbe und Terpentin hing in der Luft und waberte durch das gesamte Haus, aber weder Valentin selbst noch Julia störten sich daran. Dafür liebten beide die Kunst zu sehr, jeder auf seine Art. Da das Haus über keinen Flur verfügte, betrat man von der Haustür aus sofort den Wohnbereich. Und aus genau dieser Richtung vernahm sie jetzt ein pochendes Geräusch.
In unregelmäßigen Abständen klopfte jemand immer wieder an die Tür. Sie blieb still liegen und wartete ab, aber das Klopfen hörte nicht auf. Wer konnte das sein? Valentin bekam niemals Besuch. Er hatte keine Freunde, weil er keine brauchte. Über irgendwelche Verwandte hatte er nie nur die geringste Andeutung gemacht. Und Kontakt zu seinen Nachbarn hätte er selbst dann nicht gepflegt, wenn es welche gäbe. Die einzigen Lebewesen in unmittelbarer Nähe seines Hauses waren Pferde und Kühe. Es gab weit und breit nur Felder, Wiesen und einen schmalen Landwirtschaftsweg, auf dem außer ihm und ihr und hin und wieder einem Bauern auf einem Traktor selten jemand unterwegs war.
Alle paar Tage fuhr Valentin mit seinem klapprigen VW Polo, an dessen beste Zeiten sich vermutlich niemand mehr erinnern konnte, in die Inselhauptstadt Wyk. In der Filiale der Postbank hatte er ein Postfach, damit nicht einmal der Briefträger zu ihm kommen musste. Dass die Leute Valentin für einen seltsamen Kauz hielten, störte ihn nicht. Julia hatte ihr ganzes Verhandlungsgeschick aufbringen müssen, ihn als Galeristin vertreten und einige seiner Bilder in ihrer Galerie in Hamburg ausstellen zu dürfen. Der Verkauf der Werke lief zwar schleppender als angenommen, aber dafür war zwischen ihr und Valtentin das entstanden, was man als Bettgeschichte ohne große Emotionen bezeichnen konnte. Beide wollten nichts Verbindliches und erst recht nichts Kompliziertes, aber sie wollten und konnten auch nicht mehr aufeinander verzichten, nachdem sie zum ersten Mal zusammen im Bett gelandet waren.
Natürlich hatte es etwas Unprofessionelles an sich, wenn eine Galeristin mit einem der von ihr vertretenen Künstler schlief. Immerhin war Julia so etwas wie seine Agentin. Da sie seine Bilder verkaufte oder es zumindest versuchte und auch hin und wieder Auftragsarbeiten an ihn vermittelte, bestand zwischen ihnen eine gewisse Abhängigkeit. Aber passierte das nicht jeden Tag unzählige Male? Der Chef mit der Sekretärin, der Arzt mit der Krankenschwester und so weiter. Hier gab es me too nun eben mal andersrum. Und wer sollte je davon erfahren? Valentins ohnehin seltenen Ausstellungen auf der Insel wurden überwiegend von Touristen besucht, wodurch eine gewisse Anonymität gewahrt blieb. Für seine bescheidenen Ansprüche verdiente er genug Geld. Julia und er hatten oft darüber gelacht, dass sein Nachname Velstand das norwegische Wort für Wohlstand war, denn genau danach strebte Valentin überhaupt nicht. Er hatte sich sein Leben ganz nach seinen Vorstellungen eingerichtet, und die Meinung anderer war nichts, worüber sich Valentin den Kopf zerbrach.
Und jetzt war er tot. Gestorben beim Sex mit ihr. Was sollte sie bloß tun? Ihr Herz schlug schnell und hart gegen ihre Rippen und auf ihrer Stirn sammelten sich Schweißperlen, während über den Rest ihres Körpers eine Gänsehaut lief. Beruhige dich und denk nach, ermahnte sie sich selbst. Du bist 42 Jahre alt, also benimm dich nicht wie ein Kind, das ein Monster im Kleiderschrank vermutet. Außerdem bist du nicht schuld an seinem Tod. Es ist passiert. Einfach passiert. Sie musste sofort den Notruf wählen. Ihre Jacke, in der ihr Smartphone steckte, hatte sie gestern an einen der Haken neben der Tür gehängt. Aber von dort kam das unheimliche Klopfen.
Da sie es ohnehin nicht mehr aushielt, neben ihm zu liegen, schwang sie die Beine aus dem Bett und griff nach ihrer Kleidung, die auf dem Fußboden lag. Schnell schlüpfte sie in ihre verwaschenen Jeans und das dunkelgrüne T-Shirt und strich mit den Fingern aus reiner Gewohnheit durch ihr streichholzkurzes blondes Haar. Barfuß und so leise wie möglich ging sie zur Schlafzimmertür, die nur angelehnt war. Sie sah durch den schmalen Spalt in den angrenzenden Wohnraum, konnte so aber fast gar nichts und somit auch nichts Außergewöhnliches erkennen. Sie schloss die Augen und versuchte sich auf das Hören zu konzentrieren. Das Klopfen kam wie vermutet von der Haustür, an der es keine Klingel gab. Irgendjemand begehrte Einlass. Aber wer? Und warum? Sie durfte auf keinen Fall öffnen. Um zu erklären, dass Valentin nicht zu sprechen war, wäre ihr vermutlich etwas eingefallen, aber wie sollte sie ihre eigene Anwesenheit begründen? Sie schafften es schon seit zwei Jahren, ihre Beziehung, ihre Affäre, ihr Techtelmechtel oder wie immer man es nennen wollte, vor dem Rest der Welt zu verbergen, und dabei sollte es jetzt erst recht bleiben.
Sie warf einen Blick zurück auf das Bett, auf Valentins leblosen Körper. Woran war er gestorben? War er einem Herzinfarkt erlegen? Oder einem Hirnschlag? Sie hatte das dringende Bedürfnis, das Schlafzimmer und damit den Anblick der Leiche hinter sich zu lassen. Außerdem musste sie irgendwie zu ihrem Handy gelangen und den Notruf absetzen. Es war zwar keine Eile geboten, Valentin war ohnehin nicht zu mehr zu helfen, aber wie sollte sie erklären, warum sie so lange damit gewartet hatte? Allerdings war das Klopfen noch immer zu hören, obwohl inzwischen zehn Minuten oder mehr vergangen waren. Würde der ungebetene Gast denn nie aufgeben? Sie musste leise sein, um ihm nicht zu verraten, dass jemand im Haus war. Vorsichtig öffnete sie die Tür ein Stück weiter, schlich in den Wohnraum und entdeckte sofort die Herkunft der Klopfgeräusche. Sie hatten am gestrigen Abend vergessen, das winzige Fenster neben der Haustür zu schließen, und jetzt wurde es vom Wind hin und her geschleudert und schlug immer wieder auf und zu.
Sie schlich hinüber und sah nach draußen. Es war weit und breit niemand zu sehen. Erleichtert, dass wenigstens dieses Problem gelöst war, schloss sie das Fenster. Dann holte sie ihr Handy aus der Jackentasche und ließ dabei den Blick durch den Raum wandern. Auf dem Couchtisch stand noch die leere Flasche Rotwein, daneben die beiden benutzten Gläser. Die Decke, in die sie sich spät in der Nacht eingewickelt hatten, lag auf der Armlehne des schon ziemlich verschlissenen Sofas. Ins Bett gegangen waren sie erst gegen drei Uhr morgens, allerdings nicht, um zu schlafen. Sie hatten nur wenig Nachtruhe im herkömmlichen Sinn gehabt, aber dazu wäre die Zeit auch zu schade gewesen.
Ihr Blick wanderte weiter und blieb im Küchenbereich hängen. Bei ihrer Ankunft am späten Abend, sie hatte die letzte Fähre aus Dagebüll genommen, hatte Valentin sie wie so oft mit einem leckeren Essen verwöhnt. Anschließend hatte er aufgeräumt und abgewaschen, wobei er ihre Hilfe wie immer ablehnte. Er war ein wunderbarer Koch. Gewesen, setzte sie in Gedanken hinzu. Valentin lag tot nebenan im Schlafzimmer. Der furchtbare Anblick, dem sie für den Moment entflohen war, drang zurück in ihr Bewusstsein. Sie musste jetzt endlich die Polizei rufen und den Todesfall melden.
Sie tippte die 112 in ihr Handy, doch bevor sie die Taste für den Verbindungsaufbau drückte, stockte sie und sah plötzlich die Schlagzeile im Inselboten schon vor sich: Künstler Valentin Velstand beim Sex gestorben! Wer ist die unbekannte Geliebte? Damit würde Valentin posthum doch noch zum Inselgespräch. Und sie selbst auch. Der Polizei gegenüber würde sie sich ausweisen müssen. Vielleicht würde es auch der Presse gelingen, ihren Namen in Erfahrung zu bringen. Die fanden doch immer irgendwie heraus, was sie nicht wissen sollten.
Welche Kreise würde eine solche Geschichte ziehen? Vielleicht würden auch Journalisten außerhalb von Föhr die Story dankbar aufgreifen, wenn sie sonst nichts Spannendes auf Lager hatten. Waren tote Künstler nicht für die Medien schon immer interessanter gewesen als lebende? Möglicherweise würde sogar in Hamburg darüber berichtet werden. Vermutlich mit einer erheblich reißerischeren Schlagzeile. Sex mit bekannter Harvestehuder Galeristin endet tödlich. Oder ähnlich. Die Klatschweiber aus dem schicken Stadtteil, in dem Julia wohnte und arbeitete, würden sofort auf sie kommen und hätten ihre wahre Freude daran. Sie, die erfolgreiche, stets durchgestylte und unnahbar wirkende Galeristin und dieser ziemlich unbekannte und auf den ersten Blick etwas abgerissen wirkende Inselmaler.
Besonders ein ganz bestimmter Mensch wartete nur auf eine Gelegenheit, sie durch den Dreck zu ziehen, und würde sich diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen. Sie starrte ihr Smartphone mit der eingetippten 112 an und zögerte noch immer.
Kapitel 2
Konstantin Schöller spürte ihren Blick auf sich, bevor er die Augen aufschlug. Es war früh am Sonntagmorgen und er hätte gerne etwas länger geschlafen, aber das passte diesem Betthäschen neben ihm scheinbar absolut nicht. Das war das Lästige an seinen One-Night-Stands, dass manche Weiber dachten, sie könnten anschließend gleich bei ihm einziehen. Jetzt fing sie auch noch an, sein Brusthaar zu kraulen. Wie er es hasste, beim Aufwachen nicht allein zu sein. Er ging lieber zu seinen Eroberungen nach Hause und haute wieder ab, sobald er seine sexuellen Bedürfnisse gestillt hatte. Nur äußerst selten nahm er Frauen mit in seine Penthouse-Wohnung. Blöd, dass er es gestern doch getan hatte. Er setzte sich auf, aber sofort drehte sich das Schlafzimmer um ihn. Tequila. Ja, damit hatte er sich abgeschossen. Mit reichlich Tequila. So viel, dass er sexuelle Höchstleistungen kaum noch für möglich gehalten hatte. Aber scheinbar hatte er es geschafft. Oder die kleine Brünette neben ihm war mit wenig zufrieden.
Um sich von ihrer Anwesenheit abzulenken, ging Konstantin in Gedanken die Termine für die kommende Woche durch. Als Nachhilfe- und Fitnesslehrer hatte er sein Auskommen, aber seinen teuren Lebensstil finanzierte hauptsächlich das Erbe seiner verstorbenen Lieblingstante. Seine größte Leidenschaft waren seine politischen Aktivitäten für die Freie und Hansestadt gewesen, die ihm ein gewisses Ansehen und die Aussicht auf einen Platz im Senat beschert hatten, aber das war alles lange her. Konstantin drehte sich um und gab dabei einen Seufzer von sich, den die Frau neben ihm vollkommen falsch deutete. Sofort begann sie erneut, ihn zu kraulen. Er sah sie an. Sie war jung und attraktiv, auch wenn ihre Wimperntusche nicht mehr genau dort anzutreffen war, wo sie hingehörte. Mit leicht geöffneten Lippen sah sie ihn an, offensichtlich auf eine erneute Runde Matratzensport hoffend. Ihm wurde übel, was zu gleichen Teilen am Tequila und ihrer Erwartungshaltung lag.
»Zieh dich an!«, forderte er sie auf.
Ihre Finger in seinem Brusthaar hielten für einen Moment inne, kraulten dann aber unbeirrt weiter.
»Ich sagte, du sollst dich anziehen«, wiederholte er.
»Und dann?«, fragte sie und bemühte sich um einen verführerischen Klang in der Stimme.
»Und dann kannst du gehen, denn das hier war eine Übernachtung ohne Frühstück, kapiert?« Er stand auf, ging, nackt wie er war, zum Schlafzimmerfenster und drehte ihr dabei seine Kehrseite zu.
»Aber … ich meine …«, stotterte sie.
Anstatt zu reagieren, kratzte er sich den Allerwertesten. Die Geräusche hinter ihm ließen ihn erfreut feststellen, dass sie aufgestanden war und sich anzog. Sie versuchte es mit einer Verabschiedung. »Also, dann … Ruf mich an, okay?«
Erneut erhielt sie keine Antwort und wenige Sekunden später fiel die Wohnungstür ins Schloss.
Er kroch zurück ins Bett, das er endlich wieder für sich allein hatte, und dachte nach. Wie lange wollte er so noch weitermachen? Mit zwanzig war es normal, jedes Wochenende die Puppen tanzen zu lassen. Mit dreißig machte es noch immer Spaß. Mit vierzig war es schon nicht mehr so lustig. In zwei Jahren wurde er fünfzig, da bekam seine Lebensweise langsam etwas Tragisches. Die passende Frau für ihn schien es nicht zu geben. Jünger als er sollte sie sein, schlank, hübsch und nicht allzu gebildet. Er war nicht scharf drauf, mit ihr die Weltpolitik zu diskutieren oder zu jedem Thema ungefragt ihre Ansicht zu hören. Er wollte sich mit ihr sehen lassen können und jederzeit unkomplizierten Sex haben. Das reichte ihm nun, da er alle politischen Ambitonen begraben hatte.
Ein einziges Mal hatte er eine Frau getroffen, mit der ihm eine Zukunft möglich schien. Sechs Jahre war das jetzt her. Als er Julia Lessing in ihrer Galerie zum ersten Mal gesehen hatte, war er sofort von ihr angetan gewesen. Attraktiv und kultiviert war sie. Genau richtig, um mit ihr in den Kreisen Eindruck zu machen, in denen er sich damals bewegte. Mit dieser Frau an seiner Seite hätten sich bestimmt noch mehr wichtige Türen für ihn öffnen können, denn zu ihrer Kundschaft zählten die Ehefrauen der Männer, die ihm bei seiner politischen Karriere von Nutzen waren. Die Galerie hätte sie aus diesem Grund nach der Hochzeit mit ihm sogar behalten dürfen. Als kleinen Zeitvertreib. Mehr als ein Hobby war es ohnehin nicht, einer liquiden Klientel bunte Bildchen oder seltsame Gegenstände aus verschiedensten Materialien aufzuquatschen. In die sogenannten Kunstwerke interpretierte doch jeder was anderes hinein, richtig oder falsch gab es nicht. Und damit war Kunst für Konstantin, für den nur Zahlen, Daten und Fakten zählten, absolut unbedeutend.
In diesem Moment spürte er, wie sein Körper noch immer reagierte, wenn er intensiv an Julia dachte. Trotz Übermüdung und Kater bewegte ihn die Erinnerung an sie jetzt noch, und zwar steil nach oben. Dabei hatte die Schlampe ihn damals nicht nur abgewiesen, sie hatte ihn ruiniert. Nicht finanziell, aber beruflich und gesellschaftlich. Zum Essen und ins Theater ließ sie sich bereitwillig einladen. Immer wieder. Wie viele Stunden verbrachte er damit, sich die Zauberflöte oder La Traviata reinzuziehen? Anstatt mit Julia ins Bett zu gehen, hörte er Carmen zu. Er ertrug Figaros Hochzeit, anstatt seine eigene zu planen. Erst nach Wochen, in denen er sie immer wieder angerufen, eingeladen, Blumen und kleine Geschenke geschickt und sich geduldiger gezeigt hatte, als er es sich selbst jemals zugetraut hätte, ließ sie einen Kuss zu. Sonst nichts. Herrje, sie lebten doch nicht mehr in den Fünfzigern, in denen Männer sich monatelang Zeit nahmen, um eine Frau rumzukriegen.
Irgendwann schaffte er es aber, sie in seine Wohnung zu locken. Scheinbar war ihr nicht annähernd so klar wie ihm, was dort geschehen sollte. Als seine Küsse leidenschaftlicher wurden und er beginnen wollte, ihren Körper zu erkunden, reagierte sie wie eine Klosterschülerin. Sie wollte sofort gehen, was er verhinderte. Daraufhin beschimpfte sie ihn und stieß ihn immer wieder von sich. Das hatte kein Weibsbild vorher gewagt. Und da hatte er ihr gezeigt, wer der Herr im Haus war. Er hatte ihr ein paar Ohrfeigen verpasst und sie an den Haaren zum Sofa gezerrt, um sich zu nehmen, was er sich in den Wochen und Monaten zuvor redlich verdient hatte. Sie wehrte sich mit Händen und Füßen, biss und kratzte ihn, bis er so wütend war, dass er ihr eine ordentliche Tracht Prügel verabreichte. Erst als sie aus Mund und Nase blutete und ein Auge komplett zugeschwollen war, zerrte er sie zur Wohnungstür und warf sie raus. Danach fühlte er sich besser. Allerdings nicht lange, denn die Schlampe ging zur Behandlung ihrer kleinen Blessuren ins Krankenhaus und zeigte ihn an.
Anfangs ging er siegessicher davon aus, dass eine unbedeutende Galeristin nichts ausrichten konnte gegen einen hoffnungsvollen Senats-Anwärter. Er nutzte die Zeit bis zur Verhandlung, um überall herumzuerzählen, dass gar nichts passiert sei und die dumme Kuh ihn nur fertigmachen wolle, weil er sie zurückgewiesen hatte. Aber dann ließ sich vor Gericht ironischerweise eine Frau in den Richtersessel fallen und damit war sein Schicksal besiegelt. Julias detaillierte Schilderung des Abends, ihr ärztliches Attest und nicht zuletzt sein, er musste es zugeben, ein wenig überhebliches Verhalten, das wohl eher unangebracht, aber halt angeboren war, überzeugten die Richterin schnell. Wegen Nötigung und Körperverletzung verurteilte sie ihn zu einer Geld- und Bewährungsstrafe. Die Kohle war ihm scheißegal, aber die zwei Jahre auf Bewährung kosteten ihn die Stelle am Gymnasium und die Aussicht auf einen Senatsposten. Seitdem gab er Nachhilfe in Mathe und Physik und Kurse in einem angesagten Fitnessstudio, gelegentlich engagierten ihn auch gar nicht mal so unbedeutende Menschen für ein Personal Training. Seine politischen Aktivitäten hatte er zwangsläufig an den Nagel gehängt. Selbst wenn er laut Strafgesetzbuch fünf Jahre nach seiner Verurteilung wieder ein öffentliches Amt bekleiden durfte, wer würde die Kandidatur eines Vorbestraften unterstützen?
Jetzt, sechs Jahre später, war seine Bewährungsstrafe längst abgelaufen, aber seine Wut auf Julia Lessing genauso brodelnd wie damals. Manchmal hielt er sich in der Nähe ihrer Wohnung oder der Galerie auf und beobachtete sie. Er hatte ihr vor Gericht ewige Rache geschworen. Warum hatte sie aus diesem kleinen Zwischenfall so eine große Sache gemacht? Warum war sie nicht froh und dankbar, dass er, der aufstrebende Politiker und künftige Senator, sich überhaupt für sie interessierte? Eines Tages, da war er sicher, würde sich die Gelegenheit bieten, ihr alles heimzuzahlen. Der perfekten Julia Lessing würde ein Fehler unterlaufen, der ihre weiße Weste besudelte. Und dann wäre er zur Stelle, um den Fauxpas auszuschlachten und ihr ebenso zu schaden, wie sie ihm geschadet hatte.
Kapitel 3
Julia stand immer noch mitten in Valentins Wohnzimmer und starrte auf ihr Handy, als würde sie darauf warten, dass es den Notruf von selbst wählte und ihr damit die Entscheidung abnahm. Was für ein Albtraum. Nein, auf keinen Fall durfte sie im Zusammenhang mit Valentins Tod genannt werden. So ein Mist, dass ihr diese harmlose Bettgeschichte jetzt Ärger einzubringen drohte. Hätte sie bloß von Anfang an die Finger von Valentin gelassen, aber hinterher war man ja immer schlauer. Wie hätte sie ahnen sollen, dass er ihr am Ende, also an seinem tatsächlichen Ende, solche Scherereien machen würde? Das fehlte gerade noch, dass sich alle das Maul darüber zerissen, dass sie was mit einem ihrer Künstler angefangen hatte. Sie konnte das Gerede beinahe schon hören, und die Schlagzeilen, die vor ihrem geistigen Auge aufploppten, wurden immer krasser und schonungsloser.
Jetzt galt es, mit allen Mitteln einen Skandal zu verhindern. Valentin konnte sie ohnehin nicht mehr helfen, er war tot und daran war nichts mehr zu ändern. Selbst wenn eine Obduktion der Leiche die natürliche Todesursache, wie immer diese lautete, zweifelsfrei belegen würde, bliebe dennoch ein übler Beigeschmack an ihr haften. So war es doch immer. Irgendetwas blieb hängen. Besonders auf einer Insel wie Föhr. Und genau hier plante Julia ihre Zukunft, auch wenn sie darüber noch mit niemandem gesprochen hatte. Deshalb durfte ihr Name hier auf gar keinen Fall im Zusammenhang mit dieser Tragödie genannt werden.
Julia beschloss, abzuhauen. Valentins Leiche im Schlafzimmer zurückzulassen und wegzulaufen. Wenn der Tod ihn in irgendeiner anderen Nacht ereilt hätte, wäre er ja auch allein in seinem Haus gewesen. Sie löschte die eingetippte 112 und steckte ihr Smartphone in die Hosentasche. Wo waren ihre Schuhe? Im Schlafzimmer. Sie ging hinüber und warf einen verstohlenen Blick auf den Toten.
Es war nicht so, dass sie Valentin geliebt hatte, aber sie hatte ihn gemocht. Die Liebe im romantischen Sinn, die Liebe, die tief aus dem Herzen kam, hatte sie vor langer Zeit aus ihrem Leben verbannt. Und zwar an dem Tag, an dem Heiko vor 14 Jahren bei einem Autounfall gestorben war. Mit Ende zwanzig, nach fünfjähriger Beziehung und vier Wochen vor der geplanten Hochzeit. Das Glück ging von einer Sekunde zur anderen. Nicht leise und behutsam, es schlug die Tür laut hinter sich zu. Beinahe wäre Julia an der Trauer und den zerplatzten Träumen zerbrochen. Sie trug einen Teil ihrer Seele mit ihm zu Grabe und brauchte lange, um sich dem Leben wieder zuwenden und nach vorne schauen zu können. Niemals mehr würde sie sich verlieben, schwor sie sich. Nie wieder wollte sie sich aus tiefstem Herzen und mit Haut und Haaren auf jemanden einlassen, keine emotionalen Höhenflüge mehr zulassen, um nie wieder so tief zu fallen, wenn die Liebe aus welchem Grund auch immer endete. Bei ihren Eltern hatte alles auch ohne die ganz großen Gefühle immer wunderbar funktioniert. Ihre Mutter und ihr Vater, beide Richter am Landgericht Hamburg, hatten sich respektiert und geschätzt, sowohl beruflich als auch privat. Und falls sie sich tief und innig geliebt hatten, war es ihnen hervorragend gelungen, das zu verbergen. Was im Leben vor allem zählte, waren Ehrgeiz, Leistung und Pflichtbewusstsein. Gefühle störten da nur. Von Schmetterlingen im Bauch wurde man nicht satt.
So hatten Julias Eltern es ihr vorgelebt.
In der Pubertät hatte Julia sich fest vorgenommen, alles anders zu machen. Welcher Teenager tat das nicht? Auf keinen Fall wollte sie sich mit weniger als dem Prinzen auf dem weißen Pferd zufriedengeben. Als Heiko auftauchte, nicht auf einem weißen Pferd, aber in einem getunten schwarzen Golf GTI, wähnte sie sich auf der Sonnenseite des Lebens. Aber fünf Jahre später verdunkelte sich die Sonne durch seinen tödlichen Unfall für immer. Da wusste sie, dass die Liebe nichts ist, worauf man bauen und sich verlassen sollte. Und wenn man nicht nach ihr suchte, vermisste man sie auch nicht. Natürlich hatte Julia immer mal wieder unbedeutende Affären gehabt. So wie mit Valentin. Eine Frau hatte schließlich Bedürfnisse. Aber geliebt hatte sie nach Heiko nie wieder. Auch Valentin nicht. Dennoch würde er ihr fehlen, dachte sie und bemerkte erstaunt, dass ihr eine einzelne Träne übers Gesicht lief. Ungeduldig wischte sie sie fort und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Sie war gut darin, Gefühle zu verdrängen, sich auf Fakten zu fokussieren und rational zu denken und zu handeln. Sonst wäre sie beruflich nicht dort, wo sie war. Wenn sie sich ausgerechnet jetzt von Gefühlen überrollen ließ, half ihr das nicht, das Richtige zu tun.
Kapitel 4
Julia richtete den Blick auf das große Bild über dem Bett. Die Rote Dominanz. Sie hatte das Werk immer gern angesehen, weil ihr kräftige Farben gefielen. Rot ganz besonders. Außerdem hatte das Gemälde bisher für sie eine gewisse Erotik ausgestraht. Jetzt allerdings, mit dem toten Valentin direkt darunter, wirkte es auf einmal bedrohlich, alarmierend, beängstigend. Einen Moment lang starrte sie Valentin an. Er war nicht der erste Verstorbene, den sie in ihrem Leben sah. Aber mit ihm war sie in der Sekunde seines Todes auf eine äußerst angenehme Weise intim gewesen. Sie bemühte sich, diese frische Erinnerung zurückzudrängen, sie musste jetzt an sich denken. Er war tot. Wem würde es nützen, wenn diese unabänderliche Tatsache ihr eigenes Leben aus den Angeln hob?
Kurz dachte sie darüber nach, die Leiche lieber verschwinden zu lassen, anstatt sie hier im Bett zurückzulassen. Aber wie sollte sie das anstellen? Das Haus anzünden und alles zu Asche werden lassen, was sich darin befand? Nein, das wäre zu auffällig. Ein Loch buddeln und ihn im Garten vergraben? Das käme immerhin einem richtigen Begräbnis am nächsten. Dann aber wischte sie alle Überlegungen beiseite und entschied sich endgültig dafür, einfach von hier zu verschwinden. Sobald Valentins Leiche gefunden wurde, würde sie als seine Galeristin vielleicht informiert werden und könnte dafür sorgen, dass er eine anständige Beerdigung bekäme.
Ein anderer Gedanke, der sich plötzlich in den Vordergrund schob, ließ sie allerdings erneut in Panik geraten. Falls der von wem auch immer herbeigerufene Notarzt nicht zweifelsfrei einen natürlichen Tod attestierte, würde das routinemäßig die Polizei auf den Plan rufen. Den Beamten würden dann sofort die beiden benutzten Weingläser auffallen. Schnell spülte Julia die Gläser, trocknete sie ab und stellte sie zurück in den Schrank, ohne sie noch einmal mit ihren Fingern zu berühren. Die leere Weinflasche wischte sie sorgfältig ab, bevor sie sie in den Karton mit dem Altglas stellte. Aber was war mit Valentins Körper? Dann fiel Julia eine Reportage über Kriminalistik ein, die sie interessiert verfolgt und in der ein Rechtsmediziner erklärt hatte, dass die Sicherung von Fingerabdrücken auf menschlicher Haut trotz akribischer Forschung bis heute schwierig und selten erfolgreich war. Falls Valentins nackter Körper darauf untersucht würde, konnte sie also hoffen, dass keine verwertbaren Spuren von ihr gefunden würden. Und im Haus? Sie musste alles gründlich putzen, bevor sie sich aus dem Staub machte. Ja, das war die Lösung.
Julia hatte für den Nachmittag ihr Eintreffen in der Pension Marina angekündigt, die hier auf der Insel inzwischen ihr Stammquartier war. Für die Inselurlaube mit ihren Eltern hatten sie verschiedene Ferienwohnungen gebucht. Als sie für das erste schwierige Gespräch mit dem etwas kauzigen Maler Valentin Velstand angereist war, war ihre Suche nach einem Luxushotel, wie sie es inzwischen bevorzugte und gewohnt war, erfolglos geblieben. Nichts erschien ihr exquisit genug, um ihren Ansprüchen zu genügen. Also hatte sie sich kurzerhand auf das Abenteuer eingelassen, das genaue Gegenteil auszuprobieren. Leben wie in der guten alten Zeit. Urig, bescheiden und hausbacken. Zurück zum Natürlichen. Im Casual-Look und ungeschminkt. Sie hatte gehofft, dadurch auch auf Valentin Velstand unkompliziert, unprätentiös und nahbar zu wirken.
Julia hätte selbst nicht gedacht, dass es ihr in der kleinen Pension von Greta Mortensen so gut gefallen würde. Die Herzlichkeit der Wirtin, die warme und behütete Atmosphäre des Hauses und die Entschleunigung, auf die sich Julia gleich nach ihrem Einzug hatte einlassen können, hatten sie positiv überrascht. Bei jedem folgenden Inselaufenthalt hatte Julia daraufhin wieder im Haus Marina eingecheckt. Hin und wieder regten sich in ihr zwar Zweifel, ob sie sich nicht selbst etwas vormachte, wenn sie ohne jegliches Make up und in Jeans und T-Shirt im Haus Marina ein- und ausging, denn eigentlich war sie der Inbegriff einer durchgestylten Großstadtpflanze. Aber sie fühlte sich jedes Mal wohl, das ließ sich nicht leugnen.
Es blieben ihr noch ein paar Stunden, um die Spuren ihrer Anwesenheit in Valentins Haus zu entfernen und danach möglichst entspannt in der Pension einzutreffen. Sie musste gründlich vorgehen, durfte nichts übersehen. Sie wollte gerade das Bettzeug auf ihrer Seite des Bettes abziehen und überlegte, wie sie Valentins Körper aus dem Bett hieven könnte, um dasselbe auf seiner Seite zu tun, als sie erneut innehielt. Schnappte sie jetzt komplett über? Was machte sie hier? Scheinbar drehte sie jetzt langsam durch, anders war dieser unüberlegte Aktionismus nicht zu erklären. Die Gedanken in ihrem Kopf rasten immer wieder vor und zurück, wurden hin und her geschleudert zwischen Panik und Logik, als könnten sie sich für keins von beidem entscheiden.
Julia presste beide Hände an ihre Schläfen und versuchte, sich zu konzentrieren. Valentin war eines natürlichen Todes gestorben, daran konnte es keinen Zweifel geben. Und falls doch, konnte man ihr nicht das Geringste anhängen, denn sie hatte nichts getan. Selbst wenn man Spuren von ihr fand, wären ihr diese nicht zuzuordnen, da sie in keiner polizeilichen Datenbank gespeichert war. Und warum sollte es nach der Feststellung der natürlichen Todesursache überhaupt eine entsprechende Spurensuche und polizeiliche Ermittlungen geben?
Obwohl der Nebel in Julias Hirn sich langsam lichtete, wurde ihr plötzlich übel. Sie ging kurz auf die Terrasse und ließ sich auf einen der Stühle fallen, die dort standen. Ihr Innerstes war aufgewühlt wie das Meer bei schwerem Sturm. Ihr Herz schlug wild und schnell. Sie musste sich unbedingt in den Griff bekommen. Greta Mortensen verfügte über ein ausgeprägtes Feingefühl und würde bei Julias Ankunft sonst sofort Verdacht schöpfen. Zwar würde sie nicht nachfragen, dazu war sie zu höflich, aber ihr abwartendes und verständnisvolles Schweigen brachte jeden früher oder später dazu, sich ihr anzuvertrauen.
Julia schloss kurz die Augen, atmete tief ein und aus und überlegte. Sollte sie überhaupt wie geplant die nächsten zwei Wochen hier auf der Insel verbringen oder lieber gleich wieder abreisen, um so viel Distanz wie möglich zwischen sich und dieses schreckliche Ereignis zu bringen? Nein, sie wollte, sie musste sogar bleiben, damit Föhr nicht für immer ein Ort des Grauens für sie blieb. Die Insel sollte ihr neues Zuhause werden. Sie musste die Erinnerung an Valentin und besonders die an den heutigen Tag tief in sich verschließen, weitermachen und ihre Pläne verwirklichen. Was sie hier erlebt hatte, durfte nicht ihre Zukunft auf der Insel gefährden.
Erst vor wenigen Monaten hatte sie beschlossen, einen Teilhaber für die Galerie zu suchen. Sie hatte auch ihre Mitarbeiterin Franziska gefragt, ob sie Interesse habe, aber es war eher unwahrscheinlich, dass diese das Geld dafür aufbringen könnte. Auf jeden Fall wollte Julia sich dort aus dem aktiven Geschäft zurückziehen. Sie hatte durch ihre zuletzt sehr regelmäßigen Aufenthalte auf Föhr gemerkt, dass sie langsam genug hatte vom Harvestehuder Schickimicki. Von dem gestelzten Verhalten, den Lügen und dem oftmals in jeder Hinsicht falschen Lächeln.
Und sie wollte weg von Konstantin Schöller. Sie hatte ihn immer mal wieder gesehen, wenn er vor der Galerie oder ihrer Wohnung herumlungerte, sie beobachtete und sich dabei nicht halb so unauffällig verhielt, wie er wahrscheinlich annahm. Was war er nur für ein Dreckskerl. Darüber täuschten auch seine maßgeschneiderten Anzüge nicht hinweg. Sie hatte dafür gesorgt, dass er seine gerechte Strafe bekam, aber zu welchem Preis? Nach der Urteilsverkündung hatte er ihr zugerufen, dass sie ab heute einen Feind fürs Leben habe. Ihre bisher nur hin und wieder aus dem Nebel auftauchende Idee, Hamburg zu verlassen, hatte danach allmählich immer schärfere Konturen angenommen.
Natürlich war es ein großer Schritt, von Hamburg nach Föhr zu ziehen, aber ein Hintertürchen ließ sie sich ja immerhin offen. Der Mietvertrag für die Galerie lief weiter, die Galerie blieb bestehen. Nur ihre Eigentumswohnung musste sie verkaufen, denn sie brauchte das Geld für die Umsetzung ihrer Pläne auf Föhr. Zusätzlich würde sie sogar noch einen Kredit benötigen, aber da würde es keine Probleme geben.
Julia war davon überzeugt, dass die friesische Karibik heilende Kräfte für Körper und Seele hatte. Hier hatte sie vor vielen Jahren die Trauer um Heiko verarbeitet und wieder erkannt, dass das Leben lebenswert war. Auch nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie hier Zuflucht gefunden. Damals hatte sie sich schrecklich allein und verlassen gefühlt. Elternseelenallein, falls es das Wort überhaupt gab. Wenn die Eltern gestorben waren, dann war man endgültig erwachsen. Weil man niemandes Kind mehr war. Auch wenn man sich schon lange nicht mehr von der Mutter hatte trösten lassen, auch wenn man schon lange nicht mehr den Rat des Vaters eingeholt hatte, man hätte es jederzeit tun können. Vorher.
Um zu trauern und die schwermütigen Gedanken wieder loszuwerden, hatte Julia nach der Beerdigung fast vier Wochen auf Föhr verbracht. Und die Insel hatte ihren Teil zur Heilung beigetragen. Und jetzt plante sie, für immer zu bleiben. Inzwischen waren ihre Pläne so weit fortgeschritten, dass deren Umsetzung kaum noch etwas im Weg stand. In Wyk wollte sie eine kleine, überschaubare Galerie eröffnen. Sie kannte das Museum der Westküste in Alkersum, das von überregionaler Bedeutung war. Sie wusste aber auch, dass es viele Künstler auf Föhr gab, die wunderbare und außergewöhnliche Arbeiten vorzuweisen hatten, es jedoch nie in eine Ausstellung oder in eine große Galerie schaffen würden. Ihnen wollte sie eine Bühne geben, sie sichtbar und erlebbar machen. Und sie wollte endlich wieder selbst malen, denn dafür war seit Jahren keine Zeit geblieben. Allein der Gedanke, dass irgendetwas diesen Traum zerplatzen lassen könnte, schnürte ihr die Kehle zu. Nein, sie durfte nicht mit Valentins Tod in Verbindung gebracht werden. Sie hatte keineswegs vor, ihren Einstand hier auf Föhr damit zu geben, dass ihr Name in negativen Schlagzeilen auftauchte. Und Schöller die Gelegenheit zur Rache auf einem Silbertablett servieren, wollte sie erst recht nicht.
Sie ging zurück ins Haus, und ließ ein letztes Mal ihren Blick durch den Wohnbereich schweifen, bevor sie die Tür hinter sich zuzog. Sie würde wohl nie mehr herkommen. Im Schuppen setzte sie sich hinters Steuer ihres Autos und fuhr davon. Die Schuppentür ließ sie offen, aber wen interessierte das jetzt noch?
Kapitel 5
Franziska Pohlmann erwachte an diesem Sonntagmorgen gegen halb elf, reckte und streckte sich und seufzte zufrieden beim Gedanken an den gestrigen Abend. Sie hatte mit ihrem neuen Freund im The Table, einem hochkarätigen Sterne-Restaurant in der Hamburger Hafencity, gegessen. Vor drei Wochen hatte sie Dominik von Bahlstedt kennengelernt. Er zelebrierte in der Kunstgalerie Julia Lessing, in der Franziska arbeitete, eine Art Großeinkauf, um, wie er ihr erklärte, sein nagelneues Penthouse künstlerisch aufzupimpen.