Kalte Liebe in Cuxhaven - Doris Oetting - E-Book

Kalte Liebe in Cuxhaven E-Book

Doris Oetting

0,0

Beschreibung

Sie will ihre Angst im Zaum halten, keine Verzweiflung aufkeimen lassen. Als die ersten Droh-SMS eintreffen, als sie mehr werden. Als sie merkt, jemand ist in ihrer Abwesenheit in ihrer Wohnung gewesen – in dem Nest, das sie sich nach einer gescheiterten Ehe in Cuxhaven geschaffen hat. Plötzlich erscheinen ihr die Menschen, die sie liebt, in einem anderen Licht. Es bleibt ihr eine alte Tante auf Neuwerk. Wird sie bei ihr Hilfe finden?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 310

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalte

Titelangaben

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Epilog

Danksagung

Info

Doris Oetting
Kalte Liebe in Cuxhaven
Kriminalroman
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
Nicht erfunden sind Institutionen und Schauplätze in Cuxhaven und im Cuxland.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2020
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto © Mailin, adobe stock
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-214-0
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-203-4
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Doris Oetting wurde im Mai 1970 in Lübbecke geboren, lebt und arbeitet inzwischen aber seit vielen Jahren in Minden. Sie ist glücklich verheiratet, kinderlos und hauptberuflich in einer Werbeagentur tätig. Im März 2016 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem eine Sammlung von Kurzgeschichten folgte, einige kriminellen Geschichten erschienen seither in verschiedenen Anthologien. Gerne spielen ihre Romane an der Nordsee: Dem Inselroman »Haus auf Föhr« (2018) folgt nun dieser Cuxhaven-Krimi.
Mehr Informationen über die Autorin unter:
www.doris-oetting.de
Prolog
12. November 2019
Halb zwölf mittags, aber es sah aus, als ginge der Tag bereits wieder zu Ende. Jeden Moment würde es anfangen zu regnen. Die Szenerie an dem offenen Grab wirkte wie ein Standbild, während rings um den Friedhof in Otterndorf alles seinen gewohnten Lauf nahm. Busse schluckten Fahrgäste und spuckten andere aus. Männer und Frauen mit Einkaufstaschen eilten vorbei. Ein paar Schulkinder waren auf dem Heimweg und Rentner mit Hunden an der Leine flanierten durch den Ort, in der Hoffnung auf einen kurzen Plausch mit einem Bekannten. Aber an dem Familiengrab unweit der Kapelle erschien alles wie eingefroren. Als hätte man beim Anschauen eines Filmes auf Pause gedrückt.
Nina Bergmann ließ ihren Blick über die Trauergemeinde wandern, die kaum als solche bezeichnet werden konnte, da außer ihr nur Frau Mattis, der Pastor und der Urnenträger anwesend waren. Der ließ das Seil, an dem das Gefäß hing, langsam durch seine weiß behandschuhten Hände gleiten, nachdem der Pastor ihm das Stichwort gegeben hatte. Die Urne verschwand in dem kleinen, aber tiefen Loch. Frau Mattis schluchzte laut auf und schwankte bedenklich. Nina trat näher an sie heran und legte den Arm um die gebeugten Schultern der alten Dame. Frau Mattis tat ihr leid. Dass sie diesen furchtbaren Tag mit ihren vierundachtzig Jahren noch erleben musste, machte Nina traurig und fassungslos zugleich. Frau Mattis schenkte ihr einen kurzen dankbaren Blick, während weiter die Tränen aus ihren Augen herausrannen. Es musste sehr schmerzhaft für sie sein, das zu erleben. Der Mann, der vor fünf Wochen gestorben und vor drei im Sahlenburger Krematorium eingeäschert worden war und den sie heute zur letzten Ruhestätte geleiteten, war nur dreißig Jahre geworden. Außerdem war er gewaltsam zu Tode gekommen. In einer Kabine der Herrentoiletten bei der Kurverwaltung in Cuxhaven-Duhnen hatte man ihn in den Morgenstunden des sechsten Oktobers aufgefunden. Die Obduktion hatte ergeben, dass der Mann erwürgt worden war, aber vom Täter fehlte bisher jede Spur. Die Polizei ermittelte in alle Richtungen, hieß es, doch das bedeutete wohl nur, dass sie keinen Schimmer hatte, wer diese furchtbare Tat begangen haben könnte.
Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als der Pastor auf Frau Mattis zutrat, ihr die Hand schüttelte und ihr sein Beileid aussprach. Da er Nina nicht kannte, sie aber offensichtlich in irgendeiner Verbindung zu Frau Mattis stand, wiederholte er ihr gegenüber sowohl die Geste als auch die Worte. Dann verließ er die Grabstelle mit angemessen langsamen Schritten, obwohl bereits die ersten dicken Regentropfen vom Himmel fielen. Zusammen mit Frau Mattis trat sie nach vorne ans Grab, ließ die mitgebrachten Blumen auf die Urne fallen und verharrte einen Moment im Gedenken an den Verstorbenen. Sie hatte ihn zwar nicht lange, aber dennoch gut gekannt.
Zwei Stunden später stand sie vor dem Fenster in Frau Mattis’ Wohnzimmer. Die alte Dame hatte sich nach ihrer Rückkehr vom Friedhof auf ihr Sofa gelegt und war vor Trauer und Erschöpfung sofort eingeschlafen. Nina Bergmann sah hinaus auf die Straße und dachte daran, wie sie dem Mann, den sie heute zu Grabe getragen hatten, zum ersten Mal begegnet war. Es war auf den Tag genau zehn Wochen her.
Kapitel 1
Sie hörte ihn schon durch die geschlossene Tür nach ihr rufen, als sie am frühen Dienstagnachmittag von einem ihrer geliebten Strandspaziergänge zurückkehrte. Für Anfang September waren die Temperaturen noch sehr mild und sie hatte die Stunden am Meer wie immer genossen.
»Grüß Gott! Grüüüß Gott!«
Sie streifte die sandigen Gummistiefel von den Füßen und ließ sie auf der Fußmatte vor ihrer Wohnungstür stehen. Dann betrat sie ihr gemütliches Zuhause im Dachgeschoss eines alten, aber gepflegten kleinen Reihenhäuschens im Wehrbergsweg im Cuxhavener Stadtteil Duhnen. Was für ein Glück, dass sie hier vor vier Monaten eine schöne neue Bleibe für sich und Jeffrey bekommen hatte, vom Balkon aus konnte sie sogar das Meer oder, je nach Tidenkalender, das Wattenmeer sehen. Hier hatte sie ihre Wunden geleckt und war zu sich selbst zurückgekehrt.
Hinter ihr lag ein nervenaufreibendes Trennungsjahr, das sie zuerst in einem schäbigen möblierten Zimmer zur Untermiete und eine kurze Zeit auch in ihrem ehemaligen Kinderzimmer ihres Elternhauses verbracht und das seinen Höhepunkt vor ein paar Tagen in einem kurzen, aber anstrengenden Termin vor dem Scheidungsrichter gefunden hatte. Lars hatte dabei mit Beleidigungen nur so um sich geworfen und kein Hehl daraus gemacht, dass er nur noch Hass für sie empfand. Zuvor hatte er die Scheidung mit allen Mitteln zu verhindern versucht. Zuerst mit Charmeoffensiven, Geschenken und Schmeicheleien. Dann irgendwann mit Ansagen, die sie einschüchtern und die Angst vor einer Zukunft als geschiedene Frau in ihr wecken sollten. Er drohte, sie in ganz Bremen zur Persona non grata zu machen, so dass sie dort garantiert nirgends einen Job finden würde. Und er behauptete, dass alle ihre gemeinsamen Freunde ohnehin auf seiner Seite stünden, und prophezeite ihr, dass sie ein sehr einsames Leben erwarte. Aber alle seine düsteren Vorhersagen hatten ihren Entschluss, sich von ihm zu trennen, nicht ins Wanken gebracht. Zu oft hatte er sie belogen und betrogen und damit ihr Selbstwertgefühl Stück für Stück in sich zusammenfallen lassen. Das wollte sie nicht länger ertragen. Und jetzt war sie einunddreißig Jahre und geschieden. Irgendwie hatte sie sich ihr Leben ganz anders vorgestellt.
»Grüüüß Gott!«, ertönte schon wieder der schrille Ruf aus dem Raum am Ende des Flurs, das sie als Arbeitszimmer nutzte. Als freiberufliche Übersetzerin von historischen Romanen verbrachte sie hier tagsüber die meiste Zeit, denn zum Glück konnte sie sich über mangelnde Aufträge nicht beklagen.
»Hallo, Jeffrey«, rief sie zurück, während sie ihre Jacke auszog und die Schlüssel an den Haken neben der Garderobe hängte. Ihr Blick blieb an ihrem Spiegelbild hängen. Die vergangenen Wochen und Monate hatten Spuren hinterlassen. Sie sah müde und abgekämpft aus, ihre Wangen waren eingefallen und die blonden Haare farb- und glanzlos. Aber mit einem Termin beim Friseur, Spaziergängen am Strand und gutem Essen würde sie bald besser aussehen. Aufmunternd lächelte sie sich zu und betrat kurz darauf das geräumige Erkerzimmer. Ihr erster Weg führte sie zu dem riesengroßen Vogelkäfig am Fenster, in dem Jeffrey, ihr Graupapagei, ungeduldig auf einem der Naturseile hin und her wanderte, die sie quer durch den Käfig gespannt hatte. Jeffreys Voliere war drei Meter breit, zwei Meter hoch und ebenfalls zwei Meter tief. Nina hatte sie exakt für diesen Raum bauen lassen. Für Jeffrey allein war sie fast etwas zu groß, aber er sollte ohnehin möglichst bald wieder die Gesellschaft eines zweiten Vogels genießen dürfen.
»Na, mein Kleiner? Alles okay?«
»Okay, okay«, kam die prompte Antwort des gefiederten Mitbewohners.
»Sag doch mal moin. Los, sag moin!«
Wie alle Graupapageien war Jeffrey sehr sprachbegabt und wiederholte Wörter, die man ihm vorsagte, meistens schnell. Nur das mit dem Moin wollte nicht klappen, was wohl daran lag, dass Lars als fanatischer Anhänger eines süddeutschen Fußballclubs viel Zeit und Mühe darauf verwendet hatte, ihm den bayerischen Gruß beizubringen. Als ob es nicht schlimm genug war, dass er zu den Fans dieser arroganten und selbstverliebten Truppe gehörte. Wieso hatte er Jeffrey da hineinziehen müssen?
»Grüüüß Gott. Okay, okay«, plapperte Jeffrey munter weiter.
Sie lächelte und gab ihre Bemühungen, Jeffrey zu einem norddeutschen Papageien umzuerziehen, für heute auf. Sie war froh darüber, dass er gerne und viel sprach, denn so fühlte sie sich in der Wohnung nicht so allein.
Die Liebe zu diesen besonderen Vögeln hatte Lars und sie von Anfang an verbunden. Eine der verschwindend wenigen Gemeinsamkeiten, wie sie inzwischen wusste. Dabei hatte vor drei Jahren alles so gut angefangen. Als der gutaussehende Zahnarzt Lars Bergmann die Praxis seines verstorbenen Vaters übernahm und sich zeitgleich ausgerechnet in sie, Nina, verliebte, hing der Himmel voller Geigen. Nur sechs Monate später kaufte er die sündhaft teure Penthouse-Wohnung im Zentrum von Bremen, die er für sie beide und besonders für seinen vermeintlich erlesenen Freundeskreis für angemessen hielt. Kurz nach ihrem Einzug heirateten sie. Nina hatte sich nach dem Tod ihrer Mutter, die ein Jahr zuvor an Krebs gestorben war, nach dem Halt und der Geborgenheit einer eigenen Familie gesehnt. Als sie erfuhr, dass sie keine Kinder bekommen konnte, hatte Lars geglaubt, sie mit zwei Graupapagei-Männchen trösten zu können. Jeffrey verdankte seinen Namen der Tatsache, dass sie den englischen Autor Jeffrey Archer verehrte. Lars hatte dem zweiten Papageienmännchen daraufhin den Namen Stephen gegeben, in Anlehnung an Stephen King, denn er liebte Horrorgeschichten über alles. Der Züchter hatte sie darauf hingewiesen, dass ein gegengeschlechtliches Paar die bessere Alternative wäre, aber da hatten Nina und Lars sich bereits für Jeffrey und Stephen entschieden.
Als sie nach anderthalb Jahren aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, hatte Lars darauf bestanden, Stephen zu behalten, obwohl er wusste, dass man Papageien nicht einzeln halten durfte. Seit 2005 war das aus Gründen des Tierschutzes ausdrücklich verboten, doch Lars war wie immer davon überzeugt gewesen, dass Regeln und Anordnungen nur für die anderen galten, aber nicht für ihn. Leider war Stephen prompt nach nicht einmal zwei Monaten, in denen er das Fressen eingestellt und sich die Federn ausgerupft hatte und zusehends schwächer geworden war, qualvoll gestorben. Jeffrey dagegen hatte den Umzug in die neue Umgebung und die Trennung von seinem Kumpel Stephen zum Glück gut überstanden, vielleicht weil sie viel mit ihm zusammen war. Er erfreute sich bester Gesundheit und quasselte buchstäblich, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Trotzdem hatte sie vor einigen Wochen eine Anzeige auf der Homepage der Papageienfreunde Niedersachsen geschaltet, damit Jeffrey einen neuen Gefährten bekam. Leider hatte sich bisher niemand auf ihre Annonce gemeldet.
Sie ging in die Küche und schaltete den Wasserkocher ein. Sie freute sich auf einen heißen Tee und eine Ruhepause auf ihrem kuscheligen Sofa. Am Abend wollte sie noch ein paar Stunden arbeiten, denn dann hatte sie ihre produktivste Zeit und kam meistens super voran. Im Wohnzimmer trank sie ihren Tee und zappte sich durch das Nachmittagsprogramm im Fernsehen. Im Ersten lief die neueste Folge einer Telenovela, die es schätzungsweise seit hundert Jahren gab. Bei Sat. 1 begleitete ein Kamerateam ein paar Polizisten durch ihren beruflichen Alltag. Und bei Vox stritten zwei Frauen über den besten Erziehungsstil für ihre Sprösslinge. Nichts davon konnte ihr Interesse wecken. In diesem Moment klingelte das Telefon.
»Nina Bergmann«, meldete sie sich und schaltete gleichzeitig den Fernseher aus.
»Hallo, Sternchen.«
»Peter, wie schön, dass du dich meldest.« Sie freute sich wie immer über den Anruf ihres Stiefvaters, obwohl die beiden fast täglich miteinander telefonierten. Den Kosenamen, den er ihr als kleines Kind gegeben hatte, weil sie seiner Erklärung nach auch im Dunkeln leuchtete, durfte er auch heute noch benutzen, es störte sie nicht im Geringsten. Ihre Mutter hatte Peter geheiratet, als Nina drei Jahre war, und zusammen hatten sie ihr eine heitere und behütete Kindheit beschert. An ihren leiblichen Vater, der kurz nach ihrer Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hatte sie keinerlei Erinnerungen. Und da sie ihre Mutter nicht hatte quälen wollen, hatte sie auch nicht oft nach ihm gefragt. Sie hatten Peter, er machte sie beide glücklich, und nur das zählte.
In den Ferien waren sie fast immer hierher nach Cuxhaven gefahren. Selbst als Nina längst erwachsen war, hatte sie noch oft Zeit zusammen mit ihren Eltern in Duhnen verbracht. Nicht zuletzt wegen der vielen Erinnerungen an sorglose Sommer am Strand hatte sie sich für diesen Ort als neues Zuhause entschieden. Wenn ihre verletzte Seele irgendwo heilen würde, dann hier. An dem Ort, an dem sie auf Schritt und Tritt schöne Gedanken an Sandburgen, Wattwanderungen und Minigolf begleiteten, und das Gefühl, dass nichts Schlimmes geschehen konnte.
»… acht Uhr, okay?«
»Entschuldige bitte, ich war gerade abgelenkt«, gab sie zu. »Was hast du gesagt?«
»Was ist los?«, hakte Peter besorgt nach. »Hast du Sorgen? Du weißt, dass ich immer für dich da bin.«
»Natürlich weiß ich das, aber es ist alles okay.«
»Gut, dann also noch mal: Ich möchte am Samstag mit dir essen gehen.«
»Prima«, freute sie sich.
»Gut, ich hole dich um 19 Uhr ab. Wohin wir gehen, verrate ich nicht. Lass dich überraschen.«
»Schick oder leger?«, fragte sie.
»Zieh an, was du magst«, gab Peter zurück, »du siehst immer wunderschön aus. Bis Samstag, Sternchen.«
»Bis dann, ich freue mich.«
Kapitel 2
Sie hatte ihr Telefon kaum aus der Hand gelegt, als es erneut klingelte. »Nina Bergmann.«
»Guten Tag, mein Name ist Oliver Kesting und ich rufe wegen Ihres Inserats auf der Homepage der Papageienfreunde Niedersachsen an.«
»Also haben Sie einen Papagei abzugeben?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Ja, wenn auch ungern, und zwar ein Weibchen.«
»Warum wollen Sie sie denn abgeben?«
»Ich will ja gar nicht, aber es muss sein. Mein Vater hat mir sein junges Papageienpaar vererbt, das er sich vor über fünfzehn Jahren zugelegt hatte und an dem er sehr hing. Vor ein paar Wochen ist das Männchen leider gestorben. Und einen Papagei alleine zu halten, ist alles andere als artgerecht und seit einiger Zeit verboten. Aber wem sage ich das?«
»Richtig«, bestätigte sie, »und Ihre Vogeldame hat, wenn es gut läuft, noch viele Jahrzehnte ihres Lebens vor sich. Mein Jeffrey ist vierzehn und ein Scheidungsopfer. Er soll möglichst schnell wieder Gesellschaft bekommen.«
»Dann sollten wir uns kennenlernen und sehen, ob wir da nicht zwei einsame Herzen zusammenbringen können, äh, ich meine natürlich die Papageien.«
Sie hörte das Lachen in seiner angenehmen und sympathischen Stimme. Flirtete er etwa mit ihr? Sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, aber es wollte nicht so recht gelingen.
»Wo wohnen Sie?«, fragte sie, ohne auf seinen Witz einzugehen. Er sprach dialektfrei, doch das musste nicht heißen, dass er in der Nähe wohnte. Auf die Homepage der niedersächsischen Papageienfreunde konnte schließlich jeder zugreifen.
»In Stade«, antwortete Oliver Kesting in diesem Augenblick, »bis zu Ihnen sind es nur ungefähr siebzig Kilometer, ich habe schon nachgeschaut. Darf ich Sie am Wochenende besuchen? Erst mal ohne Vogel?«
Er war offenbar ein Mann der Tat, was ihr gefiel. »Klar, gerne«, hörte sie sich sagen, »wie wäre es am Freitag gegen Abend?«
»Perfekt. Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, bin ich am Freitag um 18 Uhr bei Ihnen, okay?«
Nachdem sie aufgelegt hatte, spürte sie eine unerklärliche und völlig unangebrachte Vorfreude auf den vereinbarten Termin und schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie wusste über Oliver Kesting gerade einmal, dass er aus Stade kam, eine sehr angenehme Stimme hatte und Papageien mochte. Das war fast nichts. Jedenfalls war es nicht genug, um sich auf das Treffen am Freitag zu freuen, als wäre sie fünfzehn und vom Klassenschwarm ins Kino eingeladen worden. Auf jeden Fall war klar, dass sie weder am Freitag- noch am Samstagabend an ihrem aktuellen Übersetzungsauftrag weiterarbeiten würde, deshalb sollte sie zusehen, dass sie heute und in den nächsten Tagen ordentlich vorankam.
Sie brachte ihre Tasse in die Küche. Sie warf den Teebeutel in den Biomüll und stellte dabei fest, dass der Eimer randvoll war. Also schnappte sie sich den Beutel, steckte ihren Hausschlüssel ein und lief fröhlich summend die Treppe hinunter. Unten traf sie ihre Vermieterin Gertrud Mattis. Sie war eine kleine, vom Scheitel bis zur Sohle gepflegte Dame und der lebende Beweis dafür, dass Stil und Eleganz kein Alter kannten. Nina wusste, dass Frau Mattis ihr Handarbeitsgeschäft an der Promenade vor zwölf Jahren aufgegeben hatte. Seitdem strickte, häkelte und stickte sie nur noch privat. Über ihrer akkurat gebügelten weißen Bluse trug sie heute eine zweifellos selbstgestrickte Weste, und ihre dauergewellte Frisur saß so perfekt, als hätte sie jedem einzelnen Haar eine Strafe angedroht, falls es sich ungefragt bewegte. Frau Mattis öffnete gerade die Haustür und ließ einen Mann eintreten, der nach Ninas Schätzung ungefähr so alt sein musste wie sie selbst.
»Marius, ich freue mich so sehr, dass du da bist«, sagte sie, dann wandte sie sich Nina zu und ergänzte: »Frau Bergmann, sehen Sie nur, mein Enkel ist da. Er ist der Sohn meiner Tochter, Gott hab sie selig, und mein einziges Enkelkind. Endlich hat er nach Monaten mal wieder den Weg zu seiner Oma gefunden.«
»Das freut mich für Sie, Frau Mattis«, gab Nina zurück. Sie streckte dem Mann ihre Hand entgegen. »Guten Tag, Herr …«
»Engel. Marius Engel.«
»Ich bin Nina Bergmann, die Mieterin aus der Wohnung oben. Freut mich.«
Marius Engel ergriff ihre ausgestreckte Hand. Seine fühlte sich unangenehm feucht an, und sein Händedruck war so schlaff, dass man ihn eigentlich gar nicht so nennen konnte.
»Die Mieterin«, sagte er und es klang wie ein Vorwurf. Er sah sie durchdringend und ohne die geringste Spur eines Lächelns an. Sie wich seinem Blick aus und entzog ihm ihre Hand. Nur mühsam widerstand sie der Versuchung, sie an ihrem Hosenbein abzuwischen. Durch einen Vorhang fettiger blonder Haare starrte er sie immer noch an und blinzelte dabei kein einziges Mal. Sie überlegte fieberhaft, wie sie sich aus dieser unangenehmen Situation befreien konnte, ohne auf Frau Mattis unhöflich zu wirken. Dummerweise stand Marius Engel mitten in der geöffneten Haustür, so dass sie sich an ihm hätte vorbeidrängeln müssen, um ins Freie zu gelangen. So nahe wollte sie ihm jedoch auf keinen Fall kommen. Natürlich hätte sie die Treppe hinauf und zurück in ihre Wohnung gehen können, aber mit dem vollen Müllbeutel in der Hand hätte das ausgesprochen seltsam gewirkt. Frau Mattis nahm die angespannte Atmosphäre scheinbar nicht wahr, ihre Freude über den Besuch ihres Enkels war gänzlich ungetrübt.
»Hättest du mir doch bloß vorher Bescheid gesagt, mein Junge«, plapperte sie munter drauflos. »Jetzt habe ich gar keinen Kuchen im Haus. Aber es würde mich sehr wundern, wären nicht noch Kekse da. Wir werden schon etwas finden, das dir schmeckt.«
Hätte Nina sich nicht so unbehaglich gefühlt, hätte sie darüber lachen müssen, dass Frau Mattis mit diesem erwachsenen Mann sprach wie mit einem Fünfjährigen. Fehlte nur, dass sie ihn in die Wange kniff und ihm einen warmen Kakao in Aussicht stellte.
»Du musst mich unbedingt öfter besuchen. Ich werde ja auch nicht jünger. Irgendwann bin ich nicht mehr da und dann tut es dir leid«, prophezeite Gertrud Mattis ihrem Enkel mit erhobenem Zeigefinger. Marius Engel antwortete nicht, vielleicht hatte er seiner Oma gar nicht zugehört?
»Jetzt komm rein und mach es dir gemütlich«, fuhr Frau Mattis unbeeindruckt fort und endlich zeigte ihr Gast eine Reaktion. Er machte zwar keinerlei Anstalten, seiner Oma in die Wohnung zu folgen, aber wenigstens löste er seinen Blick von Ninas Gesicht. Allerdings nur, um ihn provozierend langsam über ihren Körper wandern zu lassen. Dabei legte er den Kopf schief und wirkte wie ein schlecht gelaunter Sachverständiger, der an seinem freien Tag ein Gemälde schätzen sollte. Die Sekunden, die vergingen, während er Nina musterte, fühlten sich für sie an wie eine Ewigkeit. Marius Engels Miene blieb die ganze Zeit über völlig ausdruckslos, als würde ihm das, was er sah, weder besonders ge- noch missfallen.
Ihr Unbehagen wurde immer größer, gleichzeitig stieg Wut in ihr auf. Was bildete der Typ sich ein? Wie kam er dazu, sie derart zu taxieren? Sie waren hier nicht auf einem Viehmarkt und sie war keine preisgekrönte Kuh. Sie wollte gerade eine entsprechende Bemerkung abgeben, da schob Frau Mattis ihren seltsamen Verwandten in die Wohnung, lächelte Nina noch einmal kurz zu und schloss dann hinter sich die Tür.
Sie atmete hörbar aus. Anders als Frau Mattis hoffte sie, dass Marius Engel seine Oma auch weiterhin selten bis gar nicht besuchte. Auf weitere Begegnungen dieser Art konnte sie gut verzichten.
Kapitel 3
Draußen warf sie den Müllbeutel in die Tonne und knallte wütend den Deckel zu. Direkt vor dem Haus parkte, neben ihrem dunkelroten Renault Clio, der weiße Volvo V40, der wohl dem schrecklichen Enkel gehörte. Sie ärgerte sich. Wieso hatte sie sich dessen unverschämtes Verhalten gefallen lassen? Sie glaubte, immer noch den Blick aus Marius Engels wässrig blauen Augen auf sich zu spüren. Als würde ein toter Fisch mich anstarren, dachte sie und schüttelte sich erneut bei der Erinnerung.
Der Typ war gruselig, das stand fest. Und ausgerechnet so einer hieß Engel, das war ja wohl nicht zu fassen. Der hätte sie am liebsten mit seinen Blicken ausgezogen, dabei hätte sie schwören können, dass er schwul war. Warum sie sich dessen so sicher war, wusste sie nicht. Die homosexuellen Männer, die sie kennengelernt hatte, waren meist gepflegt, stilsicher und höflich. All das traf auf Marius Engel keinesfalls zu. Seine Haare waren fettig, sein blauer Anorak sah aus, als hätte er ihn schon in der siebten Klasse getragen, und sein Verhalten vorhin war alles andere als gentlemanlike gewesen. Wieso hatte sie ihn nicht sofort in die Schranken gewiesen, anstatt minutenlang wortlos und wie angewurzelt vor ihm zu stehen wie ein Schulkind, das einen Tadel über sich ergehen ließ? Andererseits hätte sie Frau Mattis damit ebenfalls den Moment verdorben, und das Letzte, was Nina wollte, war, ihrer netten Vermieterin die Freude über ihren seltenen Gast zu nehmen.
Als sie zurück ins Haus ging, schickte sie ersatzweise einen bitterbösen Blick durch Gertrud Mattis’ geschlossene Wohnungstür, begleitet von zwei ausgestreckten Mittelfingern. Das musste erst mal genügen. In ihrer Wohnung wusch sie sich ausgiebig die Hände. Der Hauptgrund dafür war jedoch nicht der Kontakt mit der Biotonne, sondern der mit Marius Engel. Um das ungute Gefühl loszuwerden, wollte sie sich jetzt sofort an ihren aktuellen Auftrag setzen. Die Arbeit würde sie ablenken und auf andere Gedanken bringen.
Knapp vier Stunden später lehnte sich Nina zurück, schloss die Augen und massierte ihre verkrampfte Nackenmuskulatur. Sie war gut vorangekommen und würde den Abgabetermin für die Übersetzung problemlos einhalten können. Der Roman von einer noch ziemlich unbekannten britischen Autorin handelte von den Irrungen und Wirrungen am englischen Königshof unter der Regentschaft Heinrichs VIII. Kein neues Thema, aber das Besondere an dem Buch war, dass die Geschichte aus der Sicht der Kammerzofe von Katharina von Aragon erzählt wurde. Sie war ihrer Herrin treu ergeben und spionierte in deren Auftrag nicht nur die schnell wechselnden Liebschaften des Königs aus, sondern auch seine hinterlistigen Intrigen gegen die Gattin. In berührender Intensität beschrieb der Roman aus der Perspektive der Zofe das Leid und die Einsamkeit der Königin. Trotz seines miesen Verhaltens ihr gegenüber liebte Katharina von Aragon ihren Mann und ertrug still seine Seitensprünge und den Schmerz über ihre Kinderlosigkeit. Die Scheidung, die Heinrich VIII. nur durchsetzen konnte, indem er sich zum Oberhaupt der anglikanischen Kirche erklärte, brach der Königin schließlich das Herz.
Nina hatte sich ganz in der Geschichte verloren und das Übersetzen wieder mal gar nicht als Arbeit empfunden. Inzwischen war es halb acht und dunkel geworden. Kein Zweifel, der Sommer war zu Ende und die Tage wurden kürzer. Aber was machte das schon? Mit spannenden Büchern ließ sich jede Jahreszeit verschönern. Sie warf einen Blick zu Jeffrey hinüber. Der Papagei hockte reglos auf einem Ast und schlief friedlich.
»Na, Kleiner? Bist du müde von deinem eigenen Geplapper?«, flüsterte sie und lächelte liebevoll. Wie sehr sie Jeffreys Gesellschaft mochte und brauchte. Und vielleicht hatte sie schon bald zwei dieser liebenswerten Mitbewohner. Sie ging zum Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus. Sie ertappte sich dabei, dass sie überlegte, was sie für den Besuch von Oliver Kesting aus Stade anziehen könnte. Obwohl er doch gar nicht ihretwegen kommen würde, sondern um ein neues Zuhause für sein Papageienweibchen zu finden.
Sie schüttelte den Kopf und wollte sich vom Fenster abwenden, als sie draußen schemenhaft eine Gestalt erblickte, die mitten in Frau Mattis’ Garten stand. Die Person, bei der nicht erkennbar war, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, verharrte völlig reglos. Wer immer das war, er oder sie hatte bestimmt nichts auf diesem Grundstück zu suchen. Nina trat zurück und schaltete das Licht im Zimmer aus, um die störende Spiegelung von sich selbst in der Fensterscheibe abzumildern. Der ungebetene Gast stand weiter bewegungslos da und schien nicht die geringste Angst vor Entdeckung zu haben. Sie beschloss, dem Eindringling einen Schrecken einzujagen. Sie klopfte gegen die Scheibe. Nichts geschah. Sie klopfte erneut, diesmal energischer und lauter. Wieder kam keine Reaktion, doch sie glaubte jetzt, sehen zu können, dass es sich bei der Person im Garten um einen Mann handelte.
Und dann erkannte sie ihn. Es war Marius Engel. Wieso war der immer noch hier? Immerhin waren inzwischen mehrere Stunden vergangen. Hatten er und seine Oma sich so viel zu erzählen? Und warum war er anschließend nicht nach Hause gefahren? Oder war er gar zurückgekommen? Nina stockte der Atem, als ihr klar wurde, dass er zu ihr hinaufsah. Offenbar hatte er keine Angst davor, von ihr erwischt zu werden. Vielleicht wollte er sogar, dass sie ihn bemerkte. Wie lange stand er schon da? Und warum? Sie ging zwei Schritte rückwärts und wischte sich die schweißnassen Hände an ihrem Shirt ab. Der Typ war wirklich gruselig. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
Vorsichtig und mit einem mulmigen Gefühl im Magen näherte sie sich erneut der Scheibe und schaute hinaus. Marius Engel hatte sich nicht fortbewegt. Jetzt griff er mit der rechten Hand in seine Jackentasche, holte sein Handy hervor und drückte darauf herum, ohne den Blick von ihrem Fenster abzuwenden. Die Taschenlampe an dem Mobiltelefon leuchtete auf. Marius Engel hielt das Gerät unter sein Kinn, so dass der Lichtschein auf sein Gesicht fiel. Ihre Blicke trafen sich und plötzlich schnitt er eine widerliche grinsende Grimasse, die Nina eiskalte Schauer über den Rücken jagte. Er hob die linke Hand und zeigte mit Zeige- und Mittelfinger zuerst auf sich und dann auf sie. Ich beobachte dich, hieß die Geste, und sie spürte, wie ihr schlecht wurde.
Nach einer unruhigen Nacht erwachte sie am nächsten Morgen schon um sechs Uhr. Sofort waren die Szenen des vergangenen Abends in ihrem Kopf. Das Zusammentreffen mit dem merkwürdigen Marius Engel im Treppenhaus und das Bild von ihm, wie er im Garten gestanden und zu ihr hinaufgesehen hatte. Zum Schluss noch mit dieser bedrohlich wirkenden Geste. Sie stand auf und zog die Vorhänge auf. Ihr Schlafzimmerfenster war direkt über der Haustür. Vorsichtig spähte sie hinunter. Der Volvo war nicht mehr da. Was hatte sie denn auch erwartet? Dass Marius Engel bei seiner Oma übernachtete? Sie öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und sog tief die kühle, frische Luft des Septembermorgens ein. Jetzt, bei Tageslicht erschienen ihr die Geschehnisse des gestrigen Abends schon viel harmloser. Es war sicher nur ein etwas geschmackloser Scherz gewesen und sie hatte sich einfach ein bisschen zu sehr in die Idee hineingesteigert, er wolle sie bedrohen.
Sie ging in ihr Arbeitszimmer, fuhr den Computer hoch und googelte Marius Engel. Sie suchte ihn auf Facebook und bei Instagram, aber bei den vielen Einträgen mit dem scheinbar nicht gerade seltenen Namen war der Gesuchte nicht dabei. Nina nahm sich vor, keinen Gedanken mehr an gestern zu verschwenden und sich stattdessen auf den neuen Tag zu konzentrieren. Allerdings würde sie damit lieber etwas später beginnen, es war ihr noch viel zu früh. Sie war keine Lerche, sondern eine Eule. Sie arbeitete oft bis in die Nacht hinein, schlief morgens aber gerne aus. Fest entschlossen, auch heute kein früher Vogel zu sein, kroch sie zurück ins Bett, zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, noch einmal einzuschlafen. Es gelang nicht. Nach knapp zwanzig Minuten gab sie auf, ging ins Bad und machte sich fertig für den Tag. Nachdem sie nun schon mal so früh auf den Beinen war, überlegte Nina, wie sie am besten in diesen Mittwoch starten könnte. Sie beschloss, zuerst einen ihrer geliebten Spaziergänge zu unternehmen und auf dem Rückweg frische Brötchen zu kaufen. Und sich nebenbei ein bisschen auf den Besuch von Oliver Kesting am Freitag zu freuen. Warum auch nicht?
Kapitel 4
Um kurz nach sieben Uhr verließ sie ihre Wohnung, stieg die Treppe hinunter und zog die Haustür so leise wie möglich hinter sich zu. Auf keinen Fall wollte sie Frau Mattis aufwecken, sollte die noch schlafen. Sie schlug wie gewöhnlich den direkten Weg zum Strand ein, der nur etwa fünf Gehminuten entfernt war, und ging vor bis zur Wasserkante. Es war Flut und die Wellen rollten in verlässlicher Gleichmäßigkeit heran und zogen sich wieder zurück. Der Rhythmus der Bewegung wirkte auf sie beruhigend, so dass der Gedanke an Marius Engel schon bald in den Hintergrund trat. In einiger Entfernung sah sie die Kugelbake, Cuxhavens Wahrzeichen.
Sie war noch nie so früh am Morgen hier am Strand gewesen und stellte erfreut fest, dass sie fast allein war. Die Strandkörbe waren verwaist und die Buden, an denen es tagsüber Snacks, Getränke oder Eis gab, geschlossen. Es war ein normaler Werktag außerhalb der Ferien, die Kinder waren auf dem Weg zur Schule und die Erwachsenen unterwegs zur Arbeit. Wieder einmal schätzte sie sich glücklich über die Art und Weise, mit der sie ihr Geld verdiente und durch die sie viel Freiraum und Flexibilität genießen durfte. Die Flut hatte laut Tidenkalender ihren Höchststand erreicht und das Wasser schlug mit schmatzenden Geräuschen ans Ufer. Sie marschierte am Wellenrand entlang und genoss die frische Luft, die Ruhe und die Einsamkeit, die nur von ein paar Joggern und Frühaufstehern mit ihren Hunden unterbrochen wurde.
Nach einer knappen Stunde bemerkte sie, wie hungrig sie inzwischen war, und machte sich auf den Rückweg. Sie freute sich auf ein ausgiebiges Frühstück mit frischen Brötchen, Käse, Marmelade und heißem Kaffee. Allerdings fiel ihr in diesem Moment ein, dass sie Butter und Brotbelag aufgebraucht hatte und dringend einkaufen musste. Sogar der Kaffee ging bedenklich zur Neige. Nina blickte an sich hinunter. Sie trug Jeans, ihre schwarze Fleecejacke und Sneakers, die zwar schon bessere Tage gesehen hatten, aber noch okay waren. Geld hatte sie dabei, denn die zwanzig Euro, die sie für Fälle wie diesen in ihrem Schlüsseletui aufbewahrte, würden reichen. Es sprach also nichts dagegen, im Edeka-Markt in der Duhner Strandstraße einzukaufen, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte.
Um Viertel vor neun erreichte sie den Lebensmittelladen und kaufte Brötchen für sich und, einer spontanen Idee folgend, auch für Frau Mattis. Sie hatte schon so oft hier eingekauft, dass sie sich mit verbundenen Augen zurechtgefunden hätte. Rasch hatte sie Kaffee und Marmelade in ihren Einkaufskorb gelegt und ging zum Kühlregal im hinteren Bereich des Ladens. Sie griff nach einem Paket von ihrem Lieblingskäse und anschließend nach der Butter, die unten im Regal lag. Als sie sich bückte, um ein Stück aus dem Karton zu nehmen, hörte sie: »Guten Morgen, Frau Bergmann. So schnell trifft man sich wieder.«
Sie hätte die Stimme überall erkannt, obwohl sie sie erst ein einziges Mal gehört hatte. Marius Engel. War er auf dem Weg zu seiner Oma oder hatte er tatsächlich bei ihr übernachtet? Bei dem Gedanken, die Nacht unter einem Dach mit dem unangenehmen Typen verbracht zu haben, wurde ihr speiübel. Doch heute früh um sechs Uhr hatte sein Auto definitiv nicht vor dem Haus gestanden, das wusste sie ganz genau. Wie auch immer, jetzt stand er jedenfalls direkt hinter ihr. So nah, dass sie sich nicht umdrehen konnte. Wo war er so plötzlich hergekommen? Der Laden war fast leer und außer der leisen Hintergrundmusik war nichts zu hören, also hätte sie ihn doch bemerken müssen. Auf keinen Fall sollte er ihr ansehen, wie sehr er sie erschreckt hatte und wie unheimlich er ihr war. Mit einem Ruck wandte sie sich um, was ihn dazu zwang, einen Schritt zurückzutreten. Der Magen drehte sich ihr um, als sie das anzügliche Grinsen in seinem schwammigen Gesicht sah.
»Guten Morgen, Herr Engel. Ja, was für ein Zufall. Kaufen Sie für Ihre Großmutter ein, oder gibt es dort, wo Sie wohnen, keine Läden?«
Er antwortete nicht, sondern durchbohrte sie genau wie gestern mit diesem unangenehmen Blick aus seinen blassen Fischaugen.
»Tja, also«, sagte sie, »ich muss los.« Sie drängte sich an ihm vorbei und zwang sich, auf dem Weg zur Kasse langsam zu gehen, damit er nicht merkte, dass sie vor ihm flüchtete. Während sie ihre Einkäufe und eine Papiertüte aufs Band legte, glaubte sie erneut, Marius Engels Blick auf sich zu spüren. Sie hob den Kopf und sah ihn sofort. Er stand bewegungslos vor dem Zeitschriftenregal und starrte sie schon wieder an. Was wollte der Typ von ihr?
»Elf sechsundachtzig, bitte«, sagte die Frau an der Kasse. Nina fischte den Zwanziger aus ihrem Schlüsseletui, ihre Hand zitterte. Die Kassiererin hatte es bemerkt, denn sie warf ihr einen forschenden Blick zu. Eilig packte Nina ihre Sachen in die Tüte.
»Acht Euro vierzehn zurück«, sagte die Kassiererin und hielt Nina ihr Wechselgeld hin. Sie winkte ab und verließ fluchtartig den Laden. Am liebsten wäre sie nach Hause gerannt, aber sie zwang sich zu einem angemessenen Tempo und vermied es, sich umzudrehen, um zu sehen, ob Marius ihr folgte. Es machte sie wütend, dass dieser Kerl sie dermaßen aus dem Konzept brachte, doch genau das war leider der Fall.
Als sie ins Haus trat und die Tür hinter sich schloss, fiel Nina ein, dass sie Brötchen für Frau Mattis gekauft hatte. Damit hatte sie einen guten Grund, bei ihrer Vermieterin zu klopfen. Vielleicht konnte sie herauszufinden, ob sie ihren Enkel losgeschickt hatte, um einige Besorgungen für sie zu machen. Wenn sie Glück hatte, würde die unheimliche Begegnung doch als Zufall verbucht werden.
»Ah, guten Morgen, meine Liebe«, sagte Gertrud Mattis, als sie die Wohnungstür öffnete. Nina begrüßte sie und hielt ihr die Brötchentüte entgegen. »Wie nett von Ihnen, danke«, freute sich die alte Dame. »Moment, ich hole nur meine Geldbörse.«
»Nein, nein«, wehrte Nina ab, »lassen Sie nur, ich möchte sie Ihnen schenken.«
»Dann sage ich nochmals vielen Dank.«
»Schön, dass Ihr Enkel sich diesmal so viel Zeit für Sie nimmt«, platzte Nina heraus, weil sie nicht wusste, wie sie das Gespräch sonst auf Marius Engel hätte lenken können.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Frau Mattis erstaunt. »Vor seinem Besuch gestern habe ich ihn monatelang nicht gesehen, und wann ich ihn jetzt wieder zu Gesicht bekomme, weiß auch nur der liebe Gott.«
»Aber er ist doch …«, begann Nina und verstummte sofort. Aber er ist doch gerade für sie im Lebensmittelladen, hatte sie sagen wollen, überlegte es sich jedoch anders. »Aber er ist doch gestern ziemlich lange geblieben, oder?«
»Na ja, wenn Sie drei Stunden lange nennen«, antwortete Frau Mattis. »Egal, ich will mich nicht beklagen. Wenigstens hat er sich mal wieder blicken lassen.«
Drei Stunden? In Ninas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Das bedeutete, dass Marius Engel sich gegen 18 Uhr von seiner Oma verabschiedet hatte. Und dann war er wiedergekommen, um Nina vom Garten aus zu beobachten. Er hatte sein Auto irgendwo abgestellt und war heimlich zum Haus zurückgekehrt. Warum? Sie kannten sich nicht, hatten sich an dem Nachmittag zum ersten Mal gesehen. Und wenn Frau Mattis nicht wusste, dass ihr Enkel jetzt erneut in Duhnen war, bedeutete das, dass die Begegnung vorhin im Laden kein Zufall war. Er hatte gewusst, dass Nina dort war. Er war ihr gefolgt. Wie lange schon? Und wieso um alles in der Welt?
»Ist Ihnen nicht gut?«
Sie hörte die Worte von Frau Mattis wie durch Watte. Sie reagierte erst, als die alte Dame ihr die Hand auf den Arm legte. Nina zwang sich zu einem Lächeln. Sie wollte ihre freundliche und liebenswerte Vermieterin auf keinen Fall beunruhigen.
»Es geht schon, danke. Mir ist nur ein bisschen flau im Magen. Es wird Zeit, dass ich endlich frühstücke.«
»Tun Sie das«, nickte Frau Mattis. »Es gibt kaum etwas, was sich durch ein gute Tasse Kaffee nicht zum Besten wendet.«
Kapitel 5