Das Föhr-Geheimnis - Doris Oetting - E-Book

Das Föhr-Geheimnis E-Book

Doris Oetting

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Beschreibung

Eine Leiche im Auto statt Erholung im Strandkorb. Der Kurzurlaub auf Föhr wird für Mona Menkwitz zu einem Horrortrip. Selbstlos steht eine alleinstehende, kauzige Insulanerin ihr bei. Doch nach und nach kommen Mona Zweifel, ob Insas Hilfe bedingungslos ist. Wird ihre schicksalhafte Begegnung in inniger Freundschaft oder in einem neuen Albtraum enden?

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Inhalte

Titelangaben

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Epilog

Danksagung

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Info

Doris Oetting
Das Föhr-Geheimnis
Inselkrimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze auf Föhr und in Hamburg.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2023
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto © Martina Thewes, Hamburg
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-256-0
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich:
ISBN: 978-3-95475-246-1
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Doris Oetting, geboren 1970, lebt im ostwestfälischen Minden.  Neben Kurzkrimis in verschiedenen Anthologien veröffentlichte sie 2016 ihren ersten Roman, eine Familiengeschichte, die überwiegend in Travemünde spielt. Anschließend folgten zwei Sammlungen von Kurzgeschichten über unterschiedliche Themen des alltäglichen Lebens. 2018 erschien der Roman „Das Haus auf Föhr“, in dem ein dunkles Familiengeheimnis aufgedeckt wird. 2020 folgte der Krimi „Kalte Liebe in Cuxhaven“, der sich mit dem Thema Stalking beschäftigt und aufzeigt, dass man sein Vertrauen leider allzu oft den falschen Menschen schenkt. Mit „Die Föhr-Affäre“ kehrte Doris Oetting 2022 wieder auf ihre Lieblingsinsel zurück, diesmal mit einem Kriminalroman, dem nun ihr zweiter Inselkrimi »Das Föhr-Geheimnis« folgt.
Mehr Informationen zur Autorin findet man auf ihrer Website: www.doris-oetting.de
Liebe ist kein Solo.
Liebe ist ein Duett.
Schwindet sie bei einem,
verstummt das Lied.
(Adelbert von Chamisso)
Für meinen liebsten Duettpartner!
Prolog
Montag, 6. Februar, Elmshorn
Mona trommelte nervös mit den Fingern auf die Fensterbank. Nur aus dem Küchenfenster ihrer kleinen Wohnung konnte sie die Straße vor dem Haus beobachten. Jeden Moment würde Tom eintreffen. Inzwischen war bei seinen Besuchen eine gewisse Routine eingekehrt. Er kam immer montags und donnerstags gegen 19 Uhr. Zum hundertsten Mal überprüfte sie den Sitz ihrer Frisur in dem Spiegelbild der Fensterscheibe. Tom mochte es, wenn sie ihre schulterlangen blonden Haare offen trug. In den engen Jeans und dem schwarzen Shirt mit dem tiefen Ausschnitt sah sie sexy, jedoch nicht zurechtgemacht aus. Außerdem war sie barfuß, weil ihm ihre rot lackierten Fußnägel gefielen. Passend zu ihrem unauffälligen, aber dennoch perfekt durchdachten Ich-hänge-nur-so-zu-Hause-rum-Style hatte sie auf ein aufwendiges Make-up verzichtet und stattdessen nur roséfarbenen Lipgloss aufgetragen und ihre blauen Augen mit etwas Wimperntusche betont.
Ungeduldig wanderte Monas Blick die Straße entlang bis zur Kreuzung. Ein aufgeregtes und erwartungsvolles Kribbeln durchfuhr ihren Körper. Heute Abend würde sie dem Alleinsein, aus dem ihr Leben überwiegend bestand, wieder für ein paar Stunden entfliehen. Ihre Kolleginnen in der Spedition, in der sie als kaufmännische Angestellte arbeitete, hatten sich daran gewöhnt, dass Mona, die sonst bereitwillig jede Überstunde machte, sich zweimal pro Woche auf die Minute genau in den Feierabend verabschiedete. Vielleicht dachten sie, sie würde zum Sport gehen, um sich ihre knackige Figur zu erhalten, oder Kurse bei der Volkshochschule besuchen oder was auch immer. Es spielte keine Rolle. Sie verstand sich blendend mit den vier Frauen aus dem Büro. Zu fünft verbrachten sie viele Mittagspausen und trafen sich hin und wieder mal abends, aber das war es dann auch schon. Was sie verband, war und blieb ein rein kollegiales Verhältnis und keine der Beteiligten hätte es mit Freundschaft verwechselt.
Die Abende verbrachte Mona überwiegend allein in ihrer Wohnung, las, sah fern oder ging früh schlafen. An den Wochenenden besuchte sie ihre Eltern, die noch immer in Lübeck wohnten, umgeben von unzähligen Andenken an ein glückliches Familienleben und die Zeiten, als auch Monas tödlich verunglückte jüngere Schwester noch lebte. Woche für Woche fuhr sie am Samstagvormittag die knapp hundert Kilometer in die Hansestadt. Sie erzählte dem Vater von ihrem Job und ließ sich von der Mutter bekochen. Bei sonnigem Wetter ging sie mit beiden im Stadtpark spazieren, spielte an Regentagen mit ihnen Karten oder Monopoly, übernachtete in ihrem ehemaligen Kinderzimmer und behielt alles für sich, was den Eltern Sorgen bereiten könnte. Und am Sonntagabend fuhr sie zurück nach Elmshorn. Die Freude in den alten und von der Trauer über den Verlust der jüngeren Tochter gezeichneten Gesichtern ihrer Eltern war jede Mühe und jeden gefahrenen Kilometer wert. Außerdem wartete zu Hause ja leider niemand auf sie.
Als Mona merkte, dass ihre Augen feucht wurden, wie immer beim Gedanken an ihre Schwester und ihre Eltern, blinzelte sie die Tränen weg und sah genau in diesem Moment, wie Toms Auto in ihre Straße einbog. Das Kribbeln auf ihrer Haut verstärkte sich und im Unterleib breitete sich ein erwartungsvolles Ziehen aus. Hätte ihr vor einem halben Jahr jemand gesagt, dass sie sich jemals auf einen verheirateten Mann einlassen würde, hätte sie aus tiefster Seele und mit der angemessenen Portion Empörung widersprochen. Auch wenn sie, abgesehen von ein paar unbedeutenden Liebesabenteuern, seit Jahren Single war und mit inzwischen vierzig nicht mehr das, was man eine junge Frau nannte, hatte sie doch immer an ihren Prinzipien festgehalten. Bis sie Tom getroffen hatte.
Und jetzt war er da, die achtzig Kilometer von Neumünster bis zu ihr lagen hinter ihm. Er parkte, sprang aus dem Wagen und lief mit großen Schritten zur Haustür. Mona drückte den Türöffner, noch ehe er geklingelt hatte. Für ein paar Stunden konnte sie die Einsamkeit im Besenschrank einsperren und geborgen und geliebt sein wie Millionen andere Frauen. Bis zu dem unausweichlichen Moment, in dem er mit einem bedauernden Blick auf seine sündhaft teure, goldene Rolex verkünden würde, dass er zurück nach Neumünster fahren müsse. Tom vermied den Begriff nach Hause und dafür war Mona ihm dankbar. Sie wollte, dass er sich bei ihr zu Hause fühlte. Und sie war sicher, dass das in ihrer gemeinsamen Zeit in ihrer Wohnung, genauer gesagt in ihrem Bett, der Fall war.
Zwei Stunden später lag sie neben ihm und sah ihn an. Tom hatte die Augen geschlossen, aber das leichte Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte, verriet ihr, dass er nicht schlief. Nach dem Sex, dem berauschenden, erfüllenden und unvergleichlichen Sex, lagen sie jedes Mal schweigend da und hingen ihren Gedanken nach. Hatte er in diesen Momenten Gewissensbisse, dachte er an seine Frau oder doch eher an berufliche Dinge? Mona fragte nicht danach. Viel lieber gab sie sich den Erinnerungen an den Abend ihres Kennenlernens hin.
Am Silvesterabend bei der Hauseinweihungsparty ihrer Kollegin Petra war sie buchstäblich in ihn hineingelaufen und hatte ihn mit dem Inhalt ihres Sektglases übergossen. In dem Moment hatte sie sich gewünscht, in dem edel gefliesten Küchenfußboden versinken zu können, aber Tom hatte nur gelacht und ihr sofort einen weiteren Sekt besorgt, um mit ihr auf den Schreck anzustoßen. So waren sie ins Gespräch gekommen. Mona war sich darüber im Klaren, wen sie vor sich hatte, denn der erfolgreiche und dazu überaus attraktive Bauunternehmer Thomas Lehbrink war durch seine außergewöhnlichen Projekte über die Stadtgrenzen Neumünsters hinaus bekannt. Er hatte auch in diversen Artikeln der Elmshorner Nachrichten bereits Erwähnung gefunden, und zwar immer mit Fotos. Petras Mann hatte beruflich mit ihm zu tun, was Toms Anwesenheit auf der Party erklärte. In Begleitung war er nicht. Mona hatte den ganzen Abend über mit ihm geredet, getrunken und getanzt. Nachdem Petra ihr zugeflüstert hatte, dass er verheiratet war, hatte sie sich nach Kräften dagegen gewehrt, sich in diesen für eine ernsthafte Beziehung aussichtslosen Kandidaten zu verlieben.
Am nächsten Tag hatte Tom ihr per Boten einen riesigen Rosenstrauß geschickt. Auf der beigefügten Karte stand: Danke für den schönsten Abend seit langer Zeit. Mona hatte daraufhin in seiner Firma angerufen, sich mit ihm verbinden lassen und sich artig für die Blumen bedankt. Und dann hatte sie seine Einladung zum Essen angenommen. Nie zuvor hatte sie einen Mann getroffen, der so charmant, gut aussehend, höflich, lustig und – perfekt war. Monas schlechtes Gewissen Toms Frau gegenüber hatte er binnen Sekunden zum Schweigen gebracht, indem er ihr traurig erzählte, dass es in seiner Ehe keine Liebe gebe, weil seine Gattin es von Anfang an nur auf sein Geld abgesehen habe. Solange er ihr den Geldhahn nicht zudrehe, interessiere Toms Frau sich nicht weiter für sein Leben. Was für ein berechnendes Luder, dachte Mona. Warum war diese Trulla nicht glücklich, einen Ehemann zu haben, noch dazu einen wie Tom. Mona hatte immer davon geträumt, zu heiraten, aber inzwischen waren die Männer, die altersmäßig zu ihr passten, aus vielerlei Gründen uninteressant, weil zum Beispiel verheiratet, also zu meiden. Aber Toms Frau konnte sie nichts wegnehmen, was die gar nicht haben wollte. Am selben Abend hatte ihre Affäre begonnen, und Mona hatte sich vorgenommen, Mister Perfect Thomas Lehbrink zu zeigen, wie sich echte Liebe anfühlte..
Kapitel 1
Samstag, 20. Mai, Oevenum auf Föhr
Insa warf einen Blick auf ihren Wecker. Verdammt! Sie schlief noch immer nicht, dabei war es schon kurz vor zehn. Seit eineinhalb Stunden wälzte sie sich hin und her und grübelte. Dabei war ihr Leben so langweilig, ereignislos und eintönig, dass es gar nichts zum Grübeln gab. Das sollte ihr erst mal einer nachmachen, dieses ständige Nachdenken über nichts und wieder nichts.
Insa wusste, dass sie sich mit jeder Minute, die sie im Bett liegen blieb, und mit jedem Wechsel von der linken auf die rechte Seite und wieder zurück nur immer weiter vom Schlaf entfernen würde. Manchmal wäre ein Ehemann doch ganz praktisch, denn mit dem hätte sie sich jetzt unterhalten oder in der Küche eine warme Milch trinken können. Allerdings müsste es sich dafür um ein brauchbares Exemplar von einem Mann handeln und nach Insas Erfahrungen gab es das nicht. Sie hatte jedenfalls nie den Richtigen gefunden – sie hatte allerdings auch nie nach ihm gesucht.
Insa seufzte, kroch unter ihrer warmen Decke hervor, knipste die altmodische Nachttischlampe mit dem geschwungenen Messingfuß an und schlüpfte in die Pantoffeln. Auf dem Weg zur Schlafzimmertür nahm sie ihren zerschlissenen Bademantel vom Haken und zog ihn an. Dann schlurfte sie über den Flur in die Küche. Das grelle Licht von der Deckenleuchte, die sie genau wie das Haus und fast das gesamte Mobiliar von ihren Eltern übernommen hatte, ließ sie ein paar Mal blinzeln. Ihr kleines etwas windschiefes Kapitänshaus hier in Oevenum auf Föhr schien zu einer anderen Zeit zu gehören. Von außen wirkte es heimelig und gemütlich, und sie hatte oft erlebt, dass Spaziergänger mit einem Lächeln davor stehen blieben. Wenn die wüssten, dachte Insa.
Sie band den Gürtel des Bademantels zu und versuchte vergeblich, ihre kinnlangen, glatten und von zahlreichen grauen Strähnen durchzogenen hellbraunen Haare zu ordnen. Nachdem sie die Milch aus dem Kühlschrank geholt hatte, goss sie etwas davon in einen kleinen Topf und stellte den Herd an. Auf dem Küchentisch lag der Karton von der Pizza, die Insa sich zum Abendessen hatte liefern lassen. Schinken, Salami und Pilze – so wie immer. Früher hatte Insa manchmal für Arbeitskolleginnen gekocht oder für Männer, mit denen sie für ein paar Wochen zusammen gewesen war. Bei ihrer Arbeit als Küchenhilfe in einem Restaurant, das es inzwischen längst nicht mehr gab, hatte sie viel gelernt und die Gerichte zu Hause gerne nachgekocht. Sie war für ihre Kochkünste immer sehr gelobt worden, aber das alles war so lange her, dass es zu einem anderen Leben zu gehören schien. Nur noch für sich allein zu kochen, fand Insa unsinnig und überflüssig.
Insa stellte ihre Lieblingstasse bereit, ging hinüber ins Wohnzimmer und schaltete dort das Licht ein. Ihr Blick wanderte zu dem Sofa, auf dem seit Jahren niemand Platz genommen hatte, weil sie beim Fernsehen ausschließlich in ihrem abgewetzten Lieblingssessel saß. Auf der anderen Seite des Raumes befand sich der ehemalige Essbereich. Inzwischen war der große Tisch übersät mit Werkzeugen, da Insa ihn als Arbeitstisch nutzte. Es gab auch nur noch einen einzigen Stuhl. Besuch bekam sie fast nie, und wenn, gab es in der Küche genügend Platz und Stühle. Auf den Regalen an der Wand und auf dem Fußboden lagerten unzählige fertige Holzarbeiten. Seit frühester Kindheit hatte Insa gerne geschnitzt, und inzwischen war sie so perfekt darin, dass sie schon lange von diesem Kunsthandwerk leben konnte. Aus Zweigen, Ästen und kleinen Holzstücken erschuf sie die unterschiedlichsten Dinge, zum Beispiel Figuren für Puppenhäuser oder Spielzeugkreisel. Auch Becher und Schalen für verschiedene Verwendungen, Garderobenleisten und Dekorationsgegenstände entstanden unter ihren geschickten Händen. Alles in allem mehr Werke, als sie jemals verkaufen konnte. Aber womit sollte sie sich sonst beschäftigen? Das Schnitzen war Insas einzige Flucht aus der Eintönigkeit ihres Lebens, daher machte sie immer weiter. Wenn sie sich nicht mit ihren Schnitzarbeiten beschäftigte und sich dabei konzentrieren müsste, würden ihre quälenden Erinnerungen sie von innen zerfressen, dessen war sich Insa sicher.
Sie verkaufte ihre Werke hauptsächlich im Internet. Vor über zehn Jahren hatte sie jemanden damit beauftragt, einen Onlineshop für sie zu erstellen, den sie trotz magerer Computerkenntnisse im Griff hatte. Selten bot sie ihre Ware auf Märkten an, aber auch wenn Insa sich ihres Könnens durchaus bewusst war, gestaltete sich der direkte Kontakt mit ihrer Kundschaft schwierig für sie. Mit ihr entgegengebrachter Begeisterung oder überschwänglichem Lob wusste sie nicht umzugehen. Insa war geübt darin, Kritik einzustecken, Ungerechtigkeiten hinzunehmen, Wutausbrüche auszuhalten und Lieblosigkeit als normal zu empfinden, denn all das waren die Pfeiler ihrer Kindheit gewesen. Das abweisende und wortkarge Verhalten, mit dem sie ihren Kunden auf dem Markt begegnete, hatte ihr den Ruf einer kauzigen Eigenbrötlerin eingebracht, was Insa traurig machte, aber sie konnte nun mal nicht aus ihrer Haut.
Seit sie erwachsen war, und das war sie schon lange, denn inzwischen war sie achtundvierzig Jahre alt, lebte sie ein einsames und überwiegend freudloses Leben. Natürlich gab es Zeiten, in denen Insa das Alleinsein zu schaffen machte und sie sich jemanden wünschte, mit dem sie Freude und Sorgen teilen könnte, aber dieser Wunsch war bisher unerfüllt geblieben. Wenn sie in Wyk war, beobachtete sie ab und zu das bunte Treiben auf der Promenade, sah junge Frauen und Männer, die voller Neugier, Hoffnungen und Pläne waren. Sie hatten Träume, denen sie nachjagten. Und sie hatten es immer eilig. Insa hatte es nie eilig. Die Langeweile und Einsamkeit ihres jetzigen Lebens hatten sie schon lange ausgebremst. Auch die jungen Leute, die jetzt noch durch ihr Leben hasteten, würden irgendwann Frust, Ängste, Kummer und Verluste erleben und eines Tages so müde sein wie Insa. Vielleicht war sie wirklich kauzig und verschroben und all das, was hinter vorgehaltener Hand über sie gesagt wurde. Aber rückblickend und mit dem Verstand einer erwachsenen Frau fragte sie sich, wie sie, geprägt durch ihre Kindheit, ein normaler Mensch hätte werden sollen. Was immer normal hieß.
Inzwischen war es halb elf. Insa hatte ihre heiße Milch getrunken, aber von der Müdigkeit, die sie dazu gebracht hatte, früh ins Bett zu gehen, fehlte jede Spur. Kurz entschlossen kehrte Insa ins Schlafzimmer zurück, zog eine alte Jeans, einen Kapuzenpullover und dicke Socken an. Obwohl die erste Hälfte des Wonnemonats Mai schon vorüber war, wurde es nachts noch recht kühl. Auf dem Flur schlüpfte Insa in ihre ausgetretenen, dafür aber bequemen Boots, zog ihren flaschengrünen Anorak an, nahm den Schlüssel vom Regal und verließ das Haus. Es war nicht das erste Mal, dass sie nachts durch die Gegend lief, um ihre Gedanken zu ordnen. Manchmal half es, das Karussell aus unschönen Erinnerungen zu stoppen.
Insa lief zügig den Karkstieg entlang. Sie war eine hochgewachsene Frau mit langen Beinen und entsprechend großen Schritten. Sie schaute nicht nach links oder rechts. Warum auch, es war dunkel und kaum jemand unterwegs. Trotz der körperlichen Anstrengung fanden Insas Gedanken erneut den Weg in die schmerzhaften Kindheitserinnerungen. Das passierte inzwischen nicht mehr sehr häufig, aber wenn sie einmal zurückgekehrt waren, verließen sie Insa nicht so schnell. Sie beschleunigte ihre Schritte. Schon nach wenigen Minuten war sie außer Atem, aber sie verlangsamte ihr Tempo nicht, denn sie wollte so erschöpft und müde wie möglich sein, wenn sie in ihr Haus zurückkehrte.
Wie lange war sie jetzt schon unterwegs? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Der Weg nach Nieblum war ihre bevorzugte Strecke für ihre häufigen spätabendlichen oder nächtlichen Spaziergänge. Sie traf keine Menschenseele. Obwohl – was war denn das da vorne? Insa kniff die Augen zusammen, als könnte sie dadurch besser sehen, und starrte angestrengt geradeaus. Vor ihr mitten auf der Straße war jemand. Eine Frau in einem eng anliegenden Kleid und mit hochhackigen Schuhen. Nicht gerade die richtige Kleidung für eine Nachtwanderung, noch dazu bei diesen kühlen Temperaturen. Sie lief, so schnell ihr unpraktisches Schuhwerk das zuließ.
War das nicht diese unfähige Zicke aus der Augenarztpraxis? Vor ein paar Wochen hatte Insa geglaubt, einen Holzspan im Auge zu haben. Die starken Schmerzen, die Beeinträchtigungen beim Sehen und das Gefühl eines Fremdkörpers hatten sie sehr beunruhigt, also hatte sie sich sofort auf den Weg zum Augenarzt gemacht. Da sie aber keinen Termin hatte, war sie am Empfang sehr unwirsch und pampig behandelt worden. Sie solle einen Termin vereinbaren oder als Notfall ins Krankenhaus gehen, hatte die Arzthelferin gesagt und sich sofort dem nächsten Patienten zugewandt. Insa war nach Hause gegangen und hatte ihr Auge zigmal mit Wasser ausgespült. Die Beschwerden hatten sich daraufhin gebessert und waren in den folgenden Stunden ganz verschwunden, also war alles halb so wild gewesen, aber das konnte man ja vorher nicht wissen. Tja, dachte Insa, man trifft sich eben immer zweimal. Sie würde der blöden Praxiskuh, jetzt mal einen gehörigen Schrecken einjagen und sich damit verspätet für die Unfreundlichkeit revanchieren. Danach ging die bestimmt nie wieder nachts spazieren.
»Hey! Bleiben Sie stehen!«, rief Insa laut.
Die Frau blieb wirklich wie angewurzelt stehen und sah sich verwirrt nach allen Seiten um. Insa erkannte schockiert, dass es sich doch nicht um die Sprechstundenhilfe aus der Augenarztpraxis handelte. Dabei war sie so sicher gewesen. Mist! Die Blicke der beiden Frauen trafen sich. Am liebsten hätte Insa einfach kehrtgemacht, aber in den Augen der Fremden hatte Insa so viel Panik und Verzweiflung gesehen, dass sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen konnte, so sehr sie es eigentlich auch wollte. Mit einem Seufzer setzte sie sich in Bewegung und ging langsam auf die Frau zu.
»Was machen Sie denn um diese Zeit mitten auf der Straße?«
Die Frau starrte stur geradeaus, als versuchte sie angestrengt, Insa zu ignorieren.
»Brauchen Sie Hilfe? Kann ich etwas für Sie tun?«
Unvermittelt drehte die Frau sich um und rannte davon. Langsam ging Insa die Sache auf die Nerven. Jetzt fing es auch noch an zu regnen. Sie lief der Verwirrten hinterher und schloss mit wenigen Schritten zu ihr auf. »Was stimmt denn nicht mit Ihnen?«, fragte sie nun schon etwas ungeduldiger.
Entgegen aller Erwartung lief die Frau nicht wieder vor ihr weg, sondern blieb stehen. Sie war nach Insas Einschätzung Ende dreißig oder Anfang vierzig. Ihr Kleid und die Schuhe sahen teuer aus. Die langen blonden Haare waren feucht vom Regen. In ihrem Blick lag eine beinahe greifbare Panik und sie zitterte am ganzen Körper.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, wiederholte Insa ihre Frage und legte der Fremden vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Eine Geste, die die Frau zusammenzucken ließ.
»Nein, ich … es ist nichts … es ist … alles okay …«, stammelte sie.
»Tja, ich sehe aber, dass irgendetwas nicht okay ist. Warum laufen Sie hier in der Dunkelheit herum? Und warum sind Sie so aufgewühlt?« Insa redete nie lange um den heißen Brei.
Die Frau schlang die Arme um ihren Körper, als wollte sie sich selbst Halt geben. Sie sah Insa an und die Tränen, die über ihr Gesicht liefen, vermischten sich mit dem Regen. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Entweder weil sie entsetzlich fror oder weil sie unter Schock stand. Insa überforderte die Situation. Geduld und Einfühlungsvermögen waren nicht ihre Stärken und auf diese Frau musste sie so behutsam einreden wie auf einen kranken Gaul, um auch nur die geringste Information zu erhalten.
»Hören Sie, ich will Ihnen helfen, aber dafür muss ich wissen, was mit Ihnen los ist. Machen Sie Urlaub hier auf Föhr? Haben Sie irgendwo ein Zimmer gemietet? Sind Sie allein unterwegs? Soll ich …« Insa verstummte, als sie sah, dass die Fremde mit dem Finger die Straße hinunter zeigte. Wegen der Dunkelheit und des Regens erkannte sie zwar nichts, aber sie ahnte, was die Frau andeutete.
»Ist da irgendwo Ihr Auto? Hatten Sie einen Unfall?« Die Frau nickte.
»Haben Sie die Polizei verständigt?« Die Frau schüttelte den Kopf.
»Haben Sie ein Telefon bei sich?« Insa verfluchte sich im Stillen dafür, dass ihr eigenes Handy zu Hause lag, aber wer konnte denn mit so etwas rechnen? Und für sich selbst brauchte sie es nicht. Es gab niemanden, den sie in einem Notfall zu Hilfe rufen könnte.
Die Frau schüttelte erneut den Kopf. Insa hätte sich am liebsten die Haare gerauft. »Ist noch jemand im Wagen?«
Jetzt nickte die Frau wieder.
»Dann lassen Sie uns doch hier nicht länger herumstehen!« Insa packte sie am Handgelenk und zog sie in die gezeigte Richtung. »Kommen Sie, wir müssen zurück zu Ihrem Auto und sehen, was da los ist.«
»Er ist tot«, sagte die Fremde so leise, dass Insa hoffte, sich verhört zu haben.
Kapitel 2
»Was haben Sie gesagt?«
Als die Frau nicht antwortete, packte Insa sie an beiden Schultern und schüttelte sie leicht. »Was Sie da eben gesagt haben, will ich wissen!« Aber ehe die Fremde antworten konnte, fügte Insa hinzu: »Sie sind ja so durch den Wind, dass Sie gar nicht mehr wissen, was Sie sagen. Also, los jetzt!« Sie setzte sich in Bewegung und zog die Fremde hinter sich her wie ein verängstigtes Kind am ersten Schultag.
Nach wenigen Minuten tauchten am Anfang eines Landschaftswegs, der von der Straße abbog, die Umrisse eines Autos vor ihnen auf. Es stand ein paar Meter von der eigentlichen Straße entfernt. Die Fremde umklammerte Insas Hand jetzt so fest, dass es schmerzte. Je näher sie kamen, umso sicherer wurde Insa: Es handelte sich um einen schwarzen Jaguar, denn die markante Kühlerfigur hätte vermutlich jedes Kind erkannt. Er war unbeleuchtet und schien verlassen, aber auf den ersten Blick unbeschädigt.
Plötzlich riss die fremde Frau sich von Insa los und blieb von einem erneuten Weinkrampf geschüttelt stehen. Insa trat näher an das Auto heran. Der Wagen hatte nicht die geringste Beule, soweit sie das in der Dunkelheit sehen konnte. Wenn es eine Bremsspur gegeben hatte, so war sie in dem bereits vom Regen aufgeweichten Boden nicht mehr zu sehen. Was für ein seltsamer Unfall war das denn? Insa trat zur Fahrertür und spähte durch die Scheibe. Sie sah einen Mann, dessen Oberkörper reglos auf dem Lenkrad lehnte. Vorsichtig versuchte sie, die Autotür zu öffnen, was problemlos gelang. Sollte sie den Verletzten anfassen oder lieber nicht? Herrje, wenn sie doch nur ihre Erste-Hilfe-Kenntnisse irgendwann einmal aufgefrischt hätte!
»Ist im Auto irgendwo ein Handy? In seinem Jackett vielleicht?«, rief sie in Richtung der Fremden, die sich mit langsamen Schritten dem Wagen näherte.
Als sie endlich neben Insa stand und ebenfalls ins Auto sah, sagte sie monoton: »Er ist tot, das habe ich Ihnen doch schon gesagt.« Dann drehte sie sich zu Insa um und fügte hinzu: »Wir hatten keinen Unfall. Ich habe ihn ermordet.«
Insa wurde vor Entsetzen abwechselnd heiß und kalt. Sie nahm den Regen nicht mehr wahr und starrte die fremde Frau nur an, die aufgehört hatte zu weinen und zu zittern und auf einmal ganz ruhig wirkte. Sie musste sich verhört haben, unmöglich konnte die Frau gesagt haben, was Insa verstanden hatte. Mit einer Stimme, die ihr selbst fremd vorkam, fragte sie: »Was sagen Sie da?«
Statt zu antworten, drängte die Frau Insa sanft zur Seite, beugte sich in den Wagen, fasste den Mann an beide Schultern und lehnte seinen Oberkörper an die Rückenlehne. Sein Kopf kippte seitlich weg und sie bettete ihn behutsam an die Kopfstütze. Dann beugte sie sich über ihn und holte ihre Handtasche aus dem Fußraum auf der Beifahrerseite. Sie richtete sich mit ihrer Tasche im Arm wieder auf und trat zur Seite. Insa schnappte nach Luft bei dem Anblick, der sich ihr bot. Jetzt war sie es, die am ganzen Körper zitterte. Die Augen des Mannes waren weit geöffnet und blickten leblos, die Lippen waren blutleer. Über sein Kinn zog sich ein tiefer Kratzer und aus seiner linken Brust schaute eine silberne Nagelfeile heraus, die vermutlich im Herz steckte. Sein blütenweißes Hemd war rund um die Einstichstelle blutdurchtränkt. Es gab nicht den geringsten Zweifel daran, dass er tot war.
Eine Ewigkeit, die vermutlich nur aus wenigen Sekunden bestand, verging. Dann hörte Insa wieder die Stimme der fremden Frau dicht neben sich. »Sie können mir nicht helfen. Niemand kann mir helfen. Sie werden jetzt gewiss die Polizei verständigen.«
»Ich habe kein Handy dabei.«
»Dann gehen Sie nach Hause und telefonieren von dort. Ich warte hier.«
Insa erwachte aus ihrer Starre. »Sagen Sie mir, warum Sie das getan haben! Warum haben Sie Ihren Mann umgebracht?«
Die Fremde antwortete: »Tom war nicht mein Mann. Wir hatten nur seit einiger Zeit ein Verhältnis. Am Anfang war es wunderschön, aber dann nicht mehr. Ich weiß nicht, wie viele Male er mich verprügelt und vergewaltigt hat. Und heute wollte er es wieder tun, aber heute habe ich mich gewehrt.«
Insas Gedanken wirbelten wild durcheinander, aber sie bekam keinen einzigen zu fassen. Nur eines wusste sie genau: Sie glaubte der Frau jedes Wort. Ein Satz, den die verzweifelte Fremde gesagt hatte, lief nun in Insas Kopf in Dauerschleife: Ich weiß nicht, wie viele Male er mich verprügelt und vergewaltigt hat. Hätte Insas Mutter sagen können, wie oft sie in ihrer Ehe verprügelt und vergewaltigt worden war? Vermutlich nicht. Bestimmt hörte man auf, zu zählen, sobald man begriff, dass es sich nicht um die Ausnahme handelte, sondern um die Regel. In den Augen und der demütigen Körperhaltung der Frau erkannte sie ihre Mutter, die sich stets geduckt durch ihr Leben bewegt hatte. Ein Gefühl von Ekel stieg in ihr auf. Und der Mann, der direkt vor ihr mausetot in seinem Auto saß, war also vom gleichen Schlag wie ihr Vater. Ein echter Mistkerl. Ein charakterlicher Totalausfall. Und letztlich doch nichts weiter als ein bedeutungsloser Nichtsnutz, der sich aufspielte, indem er die Frau an seiner Seite erniedrigte.
Einerseits war Insa sich im Klaren darüber, dass sie den Mord umgehend der Polizei melden musste, damit die Täterin festgenommen wurde. Aber andererseits hatte dieser Typ doch gar nichts anderes verdient. Insa sah sich außerstande, in diesem Moment, mit der Leiche direkt vor ihrer Nase und der unglückseligen Frau neben sich, irgendeine Entscheidung zu treffen. Und es hatte ja alles überhaupt keine Eile. Dem Mann konnte nicht mehr geholfen werden.
Entschlossen schlug Insa die Autotür wieder zu, wischte sich reflexartig die Hände an ihren Hosenbeinen ab und sagte zu der Fremden: »Wir müssen überlegen, was jetzt zu tun ist. Kommen Sie, gehen wir erst einmal zu mir nach Hause.«
Insa war sicher, dass die Frau ihr folgen würde, und das tat sie. Schweigend liefen sie den knapp vier Kilometer langen Weg zurück bis zu Insas Haus. Unterwegs begegnete ihnen niemand, was sowohl an der nächtlichen Uhrzeit als auch am Regenwetter liegen mochte. Als Insa mit kalten und klammen Fingern ihre Haustür aufschloss, war sie froh und erleichtert wie selten zuvor über ihr Zuhause. Sie zeigte der Fremden den Weg in die Küche. Dann verschwand sie selbst im Badezimmer, zog die nassen Sachen aus, trocknete sich ab und schlüpfte in den Hausanzug, der auf dem Badewannenrand lag. Als sie wenige Minuten später die Küche betrat, stand ihr nächtlicher Gast unschlüssig mitten im Raum, die Handtasche noch immer fest an sich gedrückt. Insa bedeutete ihr mit einer Geste, sich zu setzen. Die Frau tat es und stellte die Tasche neben ihren Stuhl. »Danke«, brachte sie mit klappernden Zähnen hervor.
»Mein Gott, Sie frieren ja!«
Insa ging hinaus und legte der Fremden ein Handtuch, einen Jogginganzug und Wollsocken ins Badezimmer. Nicht der neueste Trend, aber besser als in einem durchnässten Sommerkleid zu schnattern vor Kälte.
Zurück in der Küche schaltete Insa den Wasserkocher ein, um Tee zuzubereiten. Den hatten sie beide nötig. Wenig später stellte sie eine Tasse vor der Frau ab und musterte ihre Besucherin im Licht der Küchenlampe. Sie war gepflegt und gut aussehend, hatte eine makellose Haut und feine Gesichtszüge. Die von der Kälte geröteten Hände, die sie sofort dankbar um die Teetasse legte, sahen weich aus und die Nägel waren in einem unauffälligen Roséton lackiert. Insa brannte darauf, zu erfahren, wie es zu dem Mord gekommen war, aber sie gab der Frau Zeit, sich zu sammeln. In der Zwischenzeit freute sie sich im Stillen darüber, dass der Zufall ihr diesen nächtlichen Gast beschert hatte, um den sie sich nur allzu gerne kümmern wollte.
Nach einigen Minuten, in denen das von ihrem Kleid tropfende Wasser kleine Pfützen neben ihrem Stuhl bildete, straffte sie die Schultern und richtete sich etwas auf. »Danke, dass ich hier sein darf, Frau Walzmann«, sagte sie leise.
Insa war nicht erstaunt, dass die Fremde ihren Namen kannte, denn das große hölzerne Schild neben ihrer Klingel war kaum zu übersehen. »Nennen Sie mich Insa. Und wie heißen Sie?«
»Mona. Ich heiße Mona Menkwitz. Was soll ich denn jetzt nur machen?«
»Zunächst mal Tee trinken und ein bisschen zur Ruhe kommen, Mona. Es ist nicht gut, wichtige Entscheidungen zu treffen, wenn man so durcheinander ist wie Sie gerade.«
»Aber ich habe einen Menschen getötet.« Monas Augen füllten sich erneut mit Tränen, dabei hatte sie sich gerade erst ein bisschen beruhigt.
»Erzählen Sie mir alles ganz in Ruhe. Sagen Sie mir, was passiert ist und wie es zu dem … äh, Unglück kam. Und dann finden wir gemeinsam eine Lösung. Einverstanden?«
Kapitel 3
Es vergingen weitere Minuten, in denen Mona in ihre Tasse starrte, als könnte sie dort die Lösung ihres Problems erkennen, wenn sie nur lange genug hineinsah. In Insas Innerem sorgte der Tee für eine wohlige Wärme, die sie trotz aller Aufregung müde machte. Inzwischen war es schon Mitternacht, und Insa erinnerte sich nicht, wann sie zuletzt so lange wach geblieben war. Normalerweise ging sie gegen neun Uhr ins Bett. Selbst wenn sie, so wie heute, nicht sofort einschlafen konnte und eine Weile draußen herumlief, hatte die Nacht noch genug Stunden, denn vor acht Uhr morgens stand sie nie auf. Abweichungen von ihrem gewohnten Tagesablauf gab es nicht. Wer oder was hätte die auch hervorrufen sollen?
Bis auf wenige kurze Techtelmechtel in jüngeren Jahren war Insa immer allein gewesen. Es war wohl auch besser so. Dabei sehnte sie sich so sehr nach Gesellschaft, nach Freundschaft. Nach jemandem, dem sie etwas bedeutete und der ihr etwas bedeutete. Wie alt musste sie werden, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen? Die gleichgültigen Blicke ihres Vaters nicht mehr zu sehen und das ablehnende Gekeife ihrer Mutter nicht mehr zu hören?
Manchmal machte das Leben sie so müde. Es gab nichts, worauf sie sich freuen konnte. Ihre Vergangenheit hatte sie oft so fest im Griff, dass sie die Gegenwart kaum wahrnahm und an die Zukunft keinen Gedanken verschwendete. Alles um sie herum schien Kraft und Lebensfreude zu haben, nur sie nicht. Die Kühe auf den Weiden, die Pferde auf den Koppeln, die Vögel in den Bäumen, die Möwen über der Nordsee, selbst die Pflanzen am Wegesrand und erst recht die Leute, die ihr begegneten. Wenn sie nachts unterwegs war, traf sie zum Glück kaum jemanden.
Trotz allem hatte sie nie darüber nachgedacht, von hier fortzugehen. Sie liebte die Insel und die Weite von Meer oder Wattenmeer. In Oevenum und den umliegenden Dörfern gab es jede Menge Natur und in der Inselhauptstadt Wyk bekam man alles, was man brauchte, und mehr als das; Insa benötigte wenig. Oft kam es ihr so vor, als verschonten die Widrigkeiten des Lebens und alle negativen Entwicklungen der Welt ihre Insel. Wenn es ein Paradies auf Erden gab, dann war es zweifellos Föhr, die friesische Karibik. Insa hatte großes Verständnis für die Touristenströme, die Jahr für Jahr auf die Insel kamen, um sich zu erholen, salzige und gesunde Luft zu atmen und ein bisschen heile Welt zu erleben. Auch wenn viele die Insel dabei nie richtig kennenlernten. Sie schlenderten bloß die Strandpromenade entlang, machten Halt an Waffel- oder Eisbuden, kauften Buddelschiffe oder Plüsch-Seehunde und saßen abends in Restaurants mit Messinglampen über den Tischen und Dekorationen aus Treibholz. Am liebsten mochte Insa den Herbst und den Winter, wenn kaum Touristen da waren, die Insulaner die Promenade für sich allein hatten.
»… wirklich Notwehr, das müssen Sie mir glauben!«
Oh je, jetzt hatte Mona Menkwitz endlich angefangen, zu reden, und Insa hatte nicht zugehört, weil sie so tief in ihren Gedanken versunken war. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich selbst. Zeig, dass du noch fähig bist, die Gesellschaft anderer Menschen zu ertragen und dich für sie zu interessieren.
Sie flüchtete sich in eine Notlüge. »Entschuldigung, ich bin manchmal ein bisschen schwerhörig. Was haben Sie gesagt?«
»Die Sache mit der Nagelfeile. Es war Notwehr. Mein … Freund und ich, wir haben uns furchtbar gestritten. Wir haben uns eigentlich nur noch gestritten, wenn wir uns gesehen haben. Dabei hat vor fünf Monaten alles so schön angefangen, es war … es war perfekt, wissen Sie?«
Insa nickte, obwohl sie es natürlich nicht wusste.
»Wir haben uns auf einer Party kennengelernt. Silvester war das. Tom war so charmant und weltmännisch und geistreich und witzig. Dazu noch so gut aussehend. Einfach ein Traummann. Ich wusste, dass er verheiratet war, aber seine Ehe war nicht glücklich, seine Frau wollte nur sein Geld und sein Ansehen, hat ihn aber nicht geliebt. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, aber wenn sie ihn doch nicht geliebt hat?«
Mona sah Insa über den Tisch hinweg mit einem Blick an, der um Absolution bat, aber Insa brachte nur ein leichtes Lächeln zustande. Selbstverständlich war seine Ehe unglücklich und seine Gattin ein gefühlloses Monster, was sonst, dachte sie im Stillen. Wie naiv erwachsene Frauen doch im Überschwang der Gefühle sein konnten.
»Und wie ging es dann weiter?«, fragte sie, denn dummerweise saß der Traummann jetzt tot in seinem Traumauto.
»Die ersten zwei Monate war alles fast zu schön, um wahr zu sein. Tom besuchte mich so oft wie möglich. Ich wohne in Elmshorn und er in Neumünster, also musste er immer achtzig Kilometer hin- und wieder zurückfahren, um mich zu sehen, aber das hat ihm nichts ausgemacht. Er war so aufmerksam und interessierte sich einfach für alles, was ich dachte oder was mich beschäftigte. Er las mir jeden Wunsch von den Augen ab, führte mich in die tollsten Restaurants und sagte, dass jeder Tag ohne mich ein verlorener Tag sei. Und erst der Sex mit ihm … aber lassen wir das.«
»Ja, lassen wir das«, stimmte Insa zu.
»Tja, und Mitte März, da hat es dann angefangen.«
»Was hat angefangen?«
»Tom hat sich verändert. Er wurde zum totalen Kontrollfreak. Wollte über jede Minute meines Tagesablaufs Bescheid wissen. Er stand alle paar Tage unangemeldet vor meiner Tür. Wenn ich nicht da war, drehte er komplett durch, rief mich an und bestellte mich nach Hause wie eine Pizza vom Bringdienst. Und dann machte er mir mit wenigen Worten, aber umso mehr Brutalität klar, wie wütend ich ihn gemacht hatte. Er verbot mir, mich mit meinen Kolleginnen zu treffen oder am Wochenende wegzufahren. Ich sollte immer zu Hause und für ihn verfügbar sein. So hat er es wirklich genannt: verfügbar.«
»Und haben Sie sich etwa an seine Anweisungen gehalten?«, fragte Insa, die Monas Erzählung sehr an ihre Eltern erinnerte.
»Nein, aber ich habe Verabredungen so gelegt, dass Tom am Vorabend bei mir gewesen war, denn zweimal hintereinander kam er nicht nach Elmshorn. Und wenn er anrief, bin ich schnell an einen ruhigen Ort gegangen, damit ich sagen konnte, ich sei allein zu Hause. Da wusste ich noch nicht, dass er mein Handy ortete. Aber das hat er mir dann sehr bald verraten und verpasste mir eine Platzwunde und Würgemale am Hals.«
Kapitel 4
Insa ballte unter dem Küchentisch die Fäuste. Sie hätte am liebsten nicht länger zugehört, aber da sie noch immer nicht erfahren hatte, was vor wenigen Stunden am Straßenrand geschehen war, ertrug sie tapfer die Vorgeschichte und fragte: »Hat denn niemand Ihre Verletzungen bemerkt?«
»Nein. Mit verschiedenen Frisuren und großen Halstüchern kann man eine Menge verbergen. Ich habe mich zu sehr dafür geschämt, dass ich mich von einem Mann behandeln ließ wie der letzte Dreck. In wenigen Wochen war Tom vom charmanten Liebhaber zum brutalen Mistkerl geworden. Ich habe ihn nur noch zum Teufel gewünscht, aber vermutlich war er selbst der Teufel.«
»Ist das da auch von ihm?«, fragte Insa und zeigte auf eine Verletzung über Monas linkem Auge.
»Ja, die Schramme hat sein Ehering hinterlassen, als er mir vor zwei Tagen mehrfach ins Gesicht geschlagen hat. Ich habe versucht, sie geschickt zu überschminken. Tom hat es gehasst, durch sichtbare Verletzungen an unsere Zankereien, wie er es nannte, erinnert zu werden. Zankereien. Was für ein harmloses Wort für das, was sich bei jedem unserer Zusammentreffen abspielte.« Mona zupfte ihren Pony, so gut es ging, über den Kratzer und schüttelte den Kopf. »Wie konnte ich nur so dumm sein? Wie eine unerfahrene Sechzehnjährige bin ich ihm auf den Leim gegangen, durch sein gutes Aussehen, seinen Charme und seinen traurigen Dackelblick, wenn er über seine Ehe sprach. Nie hätte ich gedacht, dass seine liebevolle und fürsorgliche Art nur Show und er in Wirklichkeit ein Monster war, das mich wie ein Spielzeug behandelte und mich nach Lust und Laune benutzte oder in die Ecke pfefferte. Er war ein selbstverliebter Narzisst, um den sich immer alles drehen musste.«
»Warum haben Sie sich nicht von ihm getrennt?«, wollte Insa wissen.
»Das habe ich versucht«, antwortete Mona mit einem bitteren Lachen. »Immer wieder habe ich es versucht. Zuerst setzte es auch dafür nur Prügel«, sie malte bei den letzten beiden Wörtern Anführungszeichen in die Luft, »aber dann kamen die Drohungen und Vergewaltigungen. Er machte mir klar, dass er allein bestimmte, wie lange diese sogenannte Beziehung dauerte. An einem Montag sperrte er mich sogar in meiner eigenen Wohnung ein. Meinen Schlüssel, meinen Laptop und mein Handy nahm er mit. Einen Festnetzanschluss habe ich nicht und aus dem Fenster springen konnte ich auch nicht, ich wohne im vierten Stock.«
»Haben Sie nicht um Hilfe gerufen?«
»Nein, dazu habe ich mich zu sehr geschämt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er erst nach vier Tagen zurückkommen würde.«
»Vier Tage?« Insa war fassungslos.
Mona nickte und senkte den Blick. Es war ihr anzusehen, wie sie sich selbst dafür verachtete, wie sie sich hatte behandeln lassen.
»Und weiter?«, ermunterte Insa sie zum Weitererzählen.
»Nachdem ich fast eine ganze Woche unentschuldigt im Büro gefehlt habe und auch nicht zu erreichen war, wurde mir gekündigt. Es fanden ohnehin gerade Personaldiskussionen statt, also hat die ganze Sache dem Chef ziemlich in die Karten gespielt. Ich war am Boden zerstört und unglaublich wütend auf Tom, aber er hat nur gesagt, dass er den Unterhalt für mein kleines, unbedeutendes Leben locker aufbringe. Er hat mein Leben wirklich klein und unbedeutend genannt.« Mona schwieg einen Moment und rang um Fassung. »Er sagte, er könne seine Besuche bei mir nun praktischerweise noch flexibler gestalten, weil ich ab jetzt immer zu Hause sei. Er hat mir verboten, mir eine neue Stelle zu suchen. Und als ich ihm sagte, dass ich mir das nicht gefallen ließe, für mich selbst sorgte und auf jeden Fall arbeiten ginge, hielt er mir Fotos unter die Nase, die mich, wie soll ich es sagen, in sehr kompromittierenden Situationen zeigen. Die hatte er ganz am Anfang unserer Beziehung gemacht. Angeblich, um sich damit die Wartezeit bis zum nächsten Treffen zu versüßen. Aber dann benutzte er sie, um mich damit unter Druck zu setzen. Er wollte die Fotos an jede Firma schicken, bei der ich anfing. Und dann würde ich die Probezeit garantiert nirgends überstehen.«
»Und damit hatte er Sie genau da, wo er Sie haben wollte«, fasste Insa zusammen.
»Ja. Ich saß zu Hause rum und er kam vorbei, wann immer er Sex wollte. Schnellen, brutalen Sex. Nicht wie am Anfang. Auf einmal wollte er es etwas härter. Ich solle mich nicht so anstellen. Ich habe ihm damit gedroht, ihn anzuzeigen, aber darüber hat er nur gelacht, denn dann stehe mein Wort gegen seins und er habe überall hilfreiche Kontakte. Ich solle mich einfach damit abfinden, dass die Sache mit uns erst dann zu Ende sei, wenn er mit mir fertig sei.«
»Was für ein Arschloch«, entfuhr es Insa. »Und dann hat er beschlossen, mit Ihnen ein paar Tage hier auf Föhr zu verbringen.«
»Ja, er meinte, bevor er mit seiner Frau auf die Seychellen fliege und diese Affenhitze, wie er sich ausdrückte, ertragen müsse, wolle er ein bisschen frische Nordseeluft atmen. Und sich an mir so verausgaben, dass er die sexuelle Sendepause im ehelichen Urlaub leichter verkrafte.«
»Seit wann sind Sie denn hier auf der Insel?«
»Wir sind heute«, Mona warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, »besser gesagt, gestern Vormittag angekommen. Ich hatte zwei Zimmer in einer kleinen Pension für uns gebucht. Normalerweise steigt Tom natürlich nur in den besten Hotels ab, aber er hatte die Wahl der Unterkunft mir überlassen, und ich dachte, eine Pension sei weniger anonym. Er müsste sich dort zusammenreißen, könnte mich nicht so brutal behandeln, weil das sofort auffallen würde. Ihm habe ich gesagt, dass ich mal für ein bisschen mehr Gemütlichkeit sorgen wolle. Leider wurde er furchtbar wütend, als er die Pension sah und meinte, ein bisschen Komfort habe noch niemandem geschadet, aber ich sei eben sogar für eine simple Zimmerbuchung zu blöd. Schließlich willigte er ein, für die paar Tage würde es schon irgendwie gehen, aber seine Laune besserte sich danach nicht mehr.«
»Ich will ja nicht neugierig sein«, murmelte Insa, »aber wieso haben Sie zwei Zimmer in der Pension gebucht? Das dürfte ihm nicht gefallen haben.«
»Im Gegenteil. Das war genau richtig. Tom hasste es, nachts nicht allein zu sein. Seine Frau und er hatten von Beginn ihrer Ehe an getrennte Schlafzimmer, hat er mir erzählt. Auch auf ihren Reisen übernachteten sie immer in getrennten Zimmern. Und bei mir in Elmshorn blieb er ja auch nie über Nacht. Er konnte angeblich nur gut und erholsam schlafen, wenn er allein war. Das war so eine Macke von ihm. Eine von vielen, wie ich inzwischen weiß. Er sagte immer, Frauen dürften ihn liebend gerne in sein Bett begleiten, sollten aber auch schnell wieder verschwinden.«
»Aha«, war alles, was Insa dazu einfiel.
»Nachdem wir also in unserer Pension eingecheckt hatten«, fuhr Mona fort, »standen am Nachmittag Termine mit einem Makler an, weil Tom sich für einige Grundstücke hier auf der Insel interessiert. Er ist Bauunternehmer, wissen Sie. Ich war nur als Deko dabei. Abends hat besagter Makler uns dann noch zum Essen eingeladen. Ein schmieriger Typ übrigens, der mir die ganze Zeit in den Ausschnitt gestarrt und blöde Witze erzählt hat.«
»Und dann haben Sie sich irgendwann auf den Heimweg zu Ihrem Quartier gemacht«, sagte Insa in dem Bemühen, die Geschichte etwas voranzutreiben.
»Ja. Und unterwegs gerieten wir wie so oft in einen Streit. Tom war wieder wütend auf mich, weil ich angeblich nicht nett genug zu seinem Geschäftspartner gewesen sei, mich zu wenig an der Unterhaltung beteiligt und stattdessen gelangweilt auf meinem Putenbruststeak herumgekaut habe. Aber was hätte ich denn zu diesem sehr speziellen Gespräch beitragen sollen? Jedenfalls ahnte ich schon, was noch passieren würde, und fing an zu zittern. Ich wusste, was es für mich bedeutete, mehrere Tage und Nächte am Stück mit ihm verbringen zu müssen. Tom bemerkte das Zittern meiner Hände, was ihn noch wütender machte. Also nahm ich die Nagelfeile aus meiner Handtasche, um mich irgendwie zu beschäftigen. Tom zählte mir während der Fahrt die widerlichen Dinge auf, die er mit mir vorhatte. Mir wurde ganz schlecht vor Angst. Zuerst wollte ich ihn anflehen, mir nicht mehr wehzutun, aber ich wollte mich nicht mehr klein, erniedrigt und wertlos fühlen. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und schrie ihn an, dass er ein perverses Schwein sei und ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle. Dass ich mit seiner Frau reden und ihr alles erzählen werde. Und dass mir die widerlichen Fotos egal seien, weil ich die Stadt und vielleicht sogar das Land verlasse und er mir dann nicht mehr schaden könne.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er drehte komplett durch. Trat wie ein Verrückter auf die Bremse und hielt an. Ein Auto fuhr laut hupend an uns vorbei, weil wir die Straße blockierten. Daraufhin fuhr er genervt noch ein paar Meter in den Feldweg rein. Er brüllte mich an, was mir denn einfiele und wie ich mit ihm reden würde. Dann legte er eine Hand an meinen Hals und drückte zu. Das hatte er schon öfter gemacht, weil er es mochte, Todesangst in meinen Augen zu erkennen. Er sagte, er habe immer schon mal über gewisse Grenzen hinausgehen wollen. Heute Nacht würde er sich nicht mehr zurückhalten und daran sei ich ganz allein schuld. Wenn es blöd für mich liefe, könne er mich einfach verschwinden und es wie einen Unfall aussehen lassen. Niemand dürfe ihm drohen, so eine kleine Schlampe wie ich schon gar nicht. In diesem Moment war ich sicher, dass ich die kommende Nacht nicht überleben würde.«
Mona verschränkte nervös die Finger. Ihr war deutlich anzumerken, wie die Erinnerung an das Gespräch ihr zusetzte. »Er umfasste meinen Kopf mit seinen Händen und drückte so fest zu, dass ich mich fühlte wie in einem Schraubstock. Dann zog er mich ganz nahe zu sich heran, seine Spucke flog mir ins Gesicht und ich sah den blanken Hass in seinen Augen. Ich wusste, dass ich zurückrudern musste, wenn ich diese Nacht überleben wollte. Also bat ich ihn um Verzeihung für mein Verhalten und gab vor, es einfach nicht auszuhalten, ihn mit seiner Frau teilen zu müssen, weil ich ihn so sehr liebte und brauchte. Ich sagte ihm, dass ich verrückt nach ihm sei und so scharf auf ihn, dass ich nicht mehr warten könne bis zu unserer Ankunft in der Pension, sondern hier und jetzt mit ihm schlafen wolle. Er glaubte mir natürlich jedes Wort, er hielt sich nun mal für den tollsten Kerl der Welt. Ich beugte mich zu ihm hinüber und öffnete seine Hose. Die Nagelfeile hatte ich in den Ärmel meines Kleides geschoben. Als er genüsslich den Kopf zurücklehnte und die Augen schloss, zog ich sie hervor und stach zu.«
»Hat er sich noch wehren können oder war er sofort tot?«, fragte Insa.
»Er ruderte noch kurz und unkontrolliert mit den Armen. Dann sah er mich für eine Sekunde überrascht an. Diesen Blick werde ich nie vergessen. Und dann hörte er auf zu atmen.«
»Da hatten Sie aber Glück, ihn gleich tödlich getroffen zu haben«, sagte Insa emotionslos.
Mona zuckte bei ihren Worten zusammen. »Oh Gott, wie sich das anhört, dass ich Glück hatte. Ich bin kein kaltblütiger Mensch, bitte glauben Sie mir, ich bin nicht so.« Sie lehnte sich erschöpft zurück und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht.