Das Haus der Bücher - Michael Paul - E-Book

Das Haus der Bücher E-Book

Michael Paul

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Beschreibung

"Ich wollte nie wieder an das Geschehene erinnert werden und das Buch verbrennen. Doch Bücher kann man nicht mit Feuer vernichten! Sie überdauern das!" Konrad Gallinat, Buchhandelsgehilfe im Roman Königsberg 1933 – Wilhelm Kirchner, der Inhaber der größten Buchhandlung Europas, wird von der geplanten Bücherverbrennung der Nazis herausgefordert. Gemeinsam mit seiner Nichte Emma und den beiden Mitarbeitern Konrad und Otto versucht er, so viele indizierte Bücher wie möglich zu retten. Aber auch ein geheimer literarischer Schatz soll vor dem Zugriff der Häscher versteckt werden. Doch schon bald sind die Buchhandlung, er selbst und seine Kollegen in größter Gefahr. Es beginnt ein Kampf auf Leben und Tod. Michael Paul nimmt seine Leser nach dem erfolgreichen Debütroman "Wimmerholz" diesmal mit in das alte Königsberg und das einzigartige "Haus der Bücher" am Paradeplatz. "Ein spannender Roman voller historischer Realität. Handlung und Personen sind frei erfunden, die Geschichte hinter den dramatischen Geschehnissen aber ist erschreckend wahr und kann jederzeit wieder aktuell werden." Jan Wiesemann, Verlag Gräfe und Unzer, München Mit alten Fotografien der damaligen Buchhandlung, Informationen zum historischen Hintergrund und einem Vorwort von Arno Surminski.

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Michael Paul

Das Haus der Bücher

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

-

 

 

 

 

 

 

Das Haus der Bücher

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2017 Michael Paul/Bunte Hunde

 

Lektorat: Evelyn Paul, Bettina Wohlert

Korrektorat: Barbara Schlegge

Continuity: Evelyn Paul

Umschlaggestaltung: Melanie Basler

Titelfoto: Thomas Hansmann

Illustration: Ev Tschentschel

 

Verlag: Bunte Hunde

ISBN: 978-3-947081-00-4

 

Website des Verlags: www.bunte-hunde.de

Website des Autors: www.michael-paul.eu

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Bibliografie und ist im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

„Das war ein Vorspiel nur,

 

dort wo man Bücher verbrennt,

 

verbrennt man auch am Ende Menschen.“

 

 

 

Heinrich Heine

(1797 - 1856)

»Almansor«, 1823

 

 

 

Vorwort

 

Arno Surminski, Schriftsteller

 

Normalerweise sind es Menschen mit ihren guten und schlechten Eigenschaften, die in Romanen die Hauptrolle spielen. Hier nun treten Bücher und eine Buchhandlung an ihre Stelle, die ertragen müssen, was Menschen sich in ihrem Wahn ausgedacht haben. Es geht um das Haus der Bücher, die Buchhandlung Gräfe und Unzer in Königsberg in Ostpreußen, einer der größten Buchhandlungen Europas vor dem Zweiten Weltkrieg. Und um die Bücher von Thomas Mann, Erich Maria Remarque, Stefan Zweig und vielen anderen Autoren, die die neuen Machthaber Deutschlands 1933 für undeutsch oder jüdisch erklärten. Sie sollen am 10. Mai 1933, dem Tag der Bücherverbrennung, den Flammen übergeben werden.

 

Das Buch schildert das Bemühen des Buchhändlers und der ihm ergebenen Mitarbeiter, zu retten, was zu retten bleibt. Auf der anderen Seite erscheint der Furor der Braunen, die alle auf dem Index stehenden Bücher ausrotten wollen. Der 10. Mai 1933, als nicht nur in Königsberg, sondern in vielen anderen Städten Bücher brannten, ist der Kulminationspunkt des Geschehens. »Bücher ins Feuer werfen musste für ihn sein, als würde er sie töten. Niemand würde ihn abhalten können, für die Bücher zu kämpfen«, so ein Mitarbeiter der Buchhandlung. Bücher sind eine gefährliche Waffe. Deshalb ließen die Braunen sie vernichten.

 

Die alten Ostpreußen stoßen in diesem Buch auf vertraute Namen, Straßen und Gebäude ihrer Stadt, die durch ein noch größeres Feuer im Sommer 1944 völlig ausgelöscht wurde. Die jetzigen Bewohner (Kaliningrader) erfahren, dass neben Immanuel Kant noch weitere Kulturleistungen aus Königsberg gekommen sind, zum Beispiel Bücher.

 

Hamburg, im Dezember 2016

 

 

 

 

 

Königsberg - 1933

 

1 Das Haus der Bücher 2 Albertus-Universität

3 Stadttheater (Oper) 4 Schloss

5 »Braune Haus« 6 Palaestra Albertina

7 Regierungsgebäude 8 Trommelplatz

9 Ostmesse 10 Rundrestaurant der Messe

11 Polizeipräsidium 12 Wrangelturm

13 Dohnaturm 14 Villa in Maraunenhof

15 Königstor 16 Synagoge

17 Dom 18 Börse

 

1

 

 

»Remarque, Ringelnatz oder Brecht? Für wen brennt euer Herz mehr? Übergeben wir lieber Mann oder Tucholsky dem Feuer? Oder hier, den hier, den Heine, nur weil er Jude war? Oder lieber diesen hier?« Otto Perlmann schlug mit der Faust auf ein anderes vor ihm liegendes Buch. »Ab damit ins Feuer!« Seine traurige Stimmung wandelte sich langsam in Wut. »Hier, schaut! Wollen wir, dass unsere Kinder das nicht mehr lesen können?« Er hob ›Pünktchen und Anton‹ hoch. »Kästner! Kästner!« Er betrachtete das Buch, als hielte er einen Schatz in Händen und strich sanft darüber. Er liebte die Geschichte von Luise Pogge, der Berliner Göre, und Anton Gast, ihrem Freund. »Und jetzt? Die Kinder! Tot, verbrannt, verboten!«

Otto starrte die Bücher vor sich an. Emma Sittler, die junge anmutige Buchhändlerin überlegte, was sie sagen oder wie sie Otto helfen konnte. Sie mussten es ja tun, egal wie. Und es war ja sogar ihr eigener Plan gewesen. Es gab keinen Ausweg und nun fühlte sie sich schuldig. Hilflos sah sie Konrad an, ihren Freund, den Buchhändler aus der ›Wissenschaft‹ im ersten Obergeschoss. Doch der zuckte auch nur mit den Schultern.

»Eure Kinder werden diese Geschichte nie zu hören bekommen. Weder Mutter noch Vater werden ihnen dieses Buch abends vorlesen. Und später? ›die Buddenbrooks‹, schau hier, was für ein Roman! Das sollen sie dann nicht mehr lesen dürfen? Was wird das für eine Welt sein?«, fragte Otto und schaute Emma an, aber diese wusste nichts zu erwidern. Er hatte auch gar keine Antwort erwartet, eigentlich führte er einen Monolog, dem Emma und Konrad eher zufällig beiwohnten.

»Schaut!«, begann er nach einer Pause wieder. Theatralisch zeigte er mit beiden Händen auf sich. »Ich sitze hier wie der Richter an seinem Richtertisch. Ich soll das Urteil fällen. Ich muss entscheiden. Aber wie? Nach welchen Kriterien? Wie soll das gehen, Emma? Wie?«, schrie er verzweifelt durch den Keller.

Die Kundschaft im Erdgeschoss drehte erschrocken ihre Köpfe zur Kellertreppe. Helene Joswig, die Hauptkassiererin an Kasse fünf, beruhigte die Kunden mit einem verständnisvollen, freundlichen Nicken.

»Alles in Ordnung! Bitte entschuldigen Sie!«

Emma und Konrad schreckten hoch und zischten: »Schhhhht!«

»Entschuldigt. Aber sagt mir, wie soll ich es machen? Wir könnten Punkte vergeben! Wonach? Vielleicht nach Verkaufszahlen? Retten wir die, die sich am besten verkauft haben? Sehr kommerziell, nicht?«

Otto fragte das in zynischem Ton und mit weit aufgerissenen Augen, ohne natürlich Emma und Konrad zu meinen oder gar jetzt eine Antwort zu erwarten. Die beiden sah er gar nicht mehr, nahm sie kaum noch wahr. Es war, als redete Otto mit all den Büchern um sich herum, den Schriftstellern und den unzähligen Figuren zwischen den Buchdeckeln. Als fordere er im Voraus die Generalabsolution für seine Entscheidung, wie immer sie ausfallen würde. Er stand auf und tigerte hinter seinem Richtertisch hin und her. Die Delinquenten zitterten vor ihm und erwarteten ängstlich sein Urteil. Der Ankläger war nicht anwesend und einen Verteidiger schien es nicht zu geben. Otto spürte förmlich, wie der ganze Tisch bebte.

»Oder lieber nach Qualität, literarischem Wert, der gewählten Sprache, ihrem Ausdruck? Nur, wer beurteilt das? Die Kritiker oder die Neunmalklugen im Feuilleton? Die Gelehrten? Oder einfach die Leser? Ich etwa? Ihr? Wir sollten eine Umfrage oben bei unserer Kundschaft machen. Die Bücher mit den meisten Stimmen überleben, der Rest ... tut mir leid, ihr seid es nicht wert. Immerhin geben sie ein schönes Feuer und brennen lange!«, lachte er verzweifelt, zog die Schultern hoch und breitete seine Arme vor den Büchern aus.

Emma sah Otto besorgt an. Doch eine Antwort hatte sie auch nicht. Es war absurd, die Situation war absurd. Würde Emmas Plan daran scheitern? Otto ahnte ihre Gedanken.

»Dann müssen wir doch wie befohlen alle Bücher verbrennen! Nicht aus Gehorsam gegenüber denen da.« Er deutete einen Hitlergruß an. »Sondern aus Solidarität der Bücher untereinander. Und wir können nichts tun. Wir können Unrecht nicht mit Unrecht verbessern, oder?« Er sah Emma und Konrad fragend an. So hatten sie ihn noch nie erlebt. Zwei, drei Minuten saßen sie stumm und ratlos da, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Oder was hältst du davon, Emma?«, unterbrach Otto die Stille, »wenn wir den Zufall entscheiden lassen? Glück haben die in der linken Kiste. Wollen wir würfeln oder Streichhölzer ziehen? Immer zehn, eins gewinnt.« Otto tastete mit beiden Händen seine Taschen ab, fast so, als würde er nach Streichhölzern suchen.

»Wir könnten es auch nach der Seitenzahl entscheiden. Dicke und große Bücher zuerst! Wie Frauen und Kinder auf dem Schiff. Dann retten wir mehr Text.« Wieder lachte er und den beiden jungen Buchhändlern schauerte es.

»Oder wir nehmen ein beliebiges Kriterium. Vielleicht, die

 

Bücher mit den kürzesten ersten Sätzen oder den längsten oder die mit den meisten Vokalen im Titel.« Otto liefen Tränen über die Wangen. Die ihnen gestellte Aufgabe war methodisch nicht zu lösen. Gerechtigkeit konnte scheinbar kein Maßstab sein. Emma musste allmählich wieder nach oben und rutschte nervös auf der Bank hin und her. Gleichzeitig konnte sie Otto nicht alleine zurücklassen.

»Es ist wie auf einem Schiff, das absäuft. Wie bei der Titanic damals. Die große Menge weiß, dass sie untergehen wird, keine Chance hat. Neun zu eins, Konrad, was für eine lausige Quote. Da wäre ich lieber Passagier auf dem Dampfer gewesen als ein Buch hier bei Otto Perlmann!«

Bei Konrad drehte sich alles im Kopf. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er sagen sollte. Otto tat ihm unendlich leid.

»Wollen wir nur grau und schwarz retten? Oder lieber die fröhlichen Farben? Braune gar?« Er nahm einen Roman mit braunem Einband in die Hand, betrachtete ihn theatralisch von allen Seiten. „Durch und durch braun, Konrad! Was sagst du, wollen wir etwas Braunes retten?« Wieder lachte er, wobei das Lachen immer mehr einen wahnsinnigen Unterton annahm. »Das würde ihnen sicher am Ende noch gefallen! Und uns mildernde Umstände bringen. Dann werden wir vielleicht nur erschossen statt erhängt!«

Jetzt erschauderten die beiden jungen Buchhändler endgültig und standen auf.

Otto nahm das Buch mit dem braunen Einband und warf es in die rechte Kiste.

»So, ein Anfang ist gemacht. Hiermit verurteile ich alle braunen Bücher zum Tode!« Er äffte dabei die Stimme Wegners nach, des ihm so verhassten SA-Mannes.

Emma kam die Situation immer aussichtsloser vor und sie überlegte, ob sie nicht ihren Onkel holen sollte. Sollte er doch einfach bestimmen. Doch noch im gleichen Moment wurde ihr klar, dass es ihrem Onkel nicht besser gehen würde als Otto. So verwarf sie den Gedanken gleich wieder.

»Tod durch das Feuer! Verbrennen auf dem Scheiterhaufen!«, sprang Otto mit aufgerissenen Augen auf und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf eines der Bücher und sein Kopf zitterte dabei ganz leicht. »Seht ihr, die anderen Bücher werden ruhiger. Hörst du etwas? Die Quote hat sich gerade verbessert, nur noch acht zu eins!« Otto atmete schwer, sank langsam von seinem Stuhl auf den Boden und lehnte mit glasigem, leerem Blick an der Kellerwand.

Otto schien dem Wahnsinn nahe oder zumindest einem Nervenzusammenbruch. Hörte er wirklich Stimmen, redeten die Bücher mit ihm? Emma sprang auf ihn zu und packte Otto an den Schultern, hielt ihn fest, schüttelte ihn.

»Otto! Hör auf!«

Otto verstummte und schaute die junge Frau an. Emma zog ihn an sich und nahm ihn fest in ihre Arme. Sie ließ ihn nicht los, bis sie spürte, dass Otto wieder ruhiger wurde. Bald hörte sein Körper auf zu zittern und sein Atem neben ihrem Ohr wurde wieder langsam und gleichmäßig. Lange blieben sie wortlos bei ihm.

Dann mussten Emma und Konrad wieder nach oben.

»Die Kundschaft wartet sicher schon«, entschuldigte sich Emma und fühlte sich dabei, als würde sie Otto im Stich lassen. Otto schaute nur kurz auf.

Als sie die Treppe erreichten, ergriff Emma kurz Konrads Hand. Otto sah es und ein kurzes Lächeln erhellte sein Gesicht. Er freute sich für Konrad, denn er mochte diesen ruhigen, schüchternen Kerl und Emma sowieso. Die Leidenschaft für Bücher verband die drei miteinander wie niemand anderen im ›Haus der Bücher‹.

 

Als er wieder alleine war, blieb Otto Perlmann eine Weile weiter stumm und bewegungslos vor den Büchern sitzen und starrte sie einfach nur an. Eigentlich stand er um diese Tageszeit an der Makulaturpresse, an der er das Papier der Verpackungen zu großen Papierballen presste. Dies konnte anschließend als Brennstoff genutzt werden. ›Berta‹ nannte er die wuchtige Papierpresse liebevoll. Alles würde er in dem Moment dafür geben, einfach wie jeden Tag jetzt unbeschwert an seiner ›Berta‹ stehen zu können und an den großen gusseisernen Hebeln zu ziehen. Diese Aufgabe hatte er nur übernommen, weil er sowieso im Keller arbeitete. Denn in erster Line war er für das große, beeindruckende Buchlager gleich nebenan verantwortlich, zweifelsfrei eine elementare Abteilung in dem großen Haus. Jedes Buch, das am Paradeplatz ankam, ging durch seine Hände, wenn es im Wareneingang geprüft worden war. Dort wurde danach getrennt, welche Bücher bestellt waren, welche in die Sortierräume der Stockwerke weitergegeben wurden und wie viele ins Buchlager zu Otto kamen. Diese fanden erst später ihren Platz in einem der Verkaufsregale und blieben so zunächst in der Obhut Ottos.

Es liefen mit den Jahren unendlich viele Bücher durch seine Hände und er hütete jedes einzelne wie seinen Augapfel. Er kannte sie alle. Er konnte auswendig sagen, ob es den Titel oder den Autor schon einmal im Verkauf gegeben hatte. Oder in welchem Monat es geliefert worden war. Er war ein wandelndes Archiv. Da machte ihm niemand etwas vor. Und was niemand wusste: Er lagerte die Bücher nicht nur ein! Er sprach mit ihnen, den ganzen Tag. Er liebte sie. Und fast täglich nahm er heimlich ein Buch mit nach Hause. Das las er dann in kürzester Zeit durch und behandelte es dabei wie ein rohes Ei. Er trug sogar weiße Handschuhe, wenn er las, damit die Seiten des Buchs keine Flecken bekommen konnten. Er klappte sie nur so weit wie unbedingt notwendig auf. So sah später niemand, dass sie schon einmal aufgeschlagen worden waren. Auf dem kleinen Tisch, der nur für diesen Zweck neben seinem Bett stand, lag ein weißes Laken. Seine Frau Hannah durfte nicht einmal in die Nähe des Tisches kommen, wenn ein Buch darauf lag. Sie bezeichnete den Tisch deshalb spöttisch immer als ›Ottos Altar‹. Am darauf folgenden Tag legte er es in den Bücheraufzug und schickte es in die entsprechende Abteilung. Oder er sortierte es in seinem Buchlager wieder an passender Stelle ein. Auf der Karteikarte des Buches, auf der der Lagerort eingetragen war, machte er hinter dem Buchtitel einen kleinen Punkt mit seinem Bleistift, kaum erkennbar. So wusste er, und nur er ganz genau, welches Buch er gelesen hatte. Und es war schwierig, Karteikarten ohne Punkt zu finden.

Vermutlich hatte niemand in diesem angesehenen Haus in Königsberg so viele Bücher gelesen wie Otto Perlmann. Er konnte so viel darüber erzählen. Er kannte all die Helden und die Mörder, die Feen, Zauberer, die Könige, die glücklichen und die tragischen Lieben. Bisweilen las er auch Sachbücher, über Geschichte, Geografie, Politik, die Tier- und Pflanzenwelt. Er verschlang alles, was ihm in die Hände fiel und interessant erschien. Er hatte nur die einfache Volksschule besucht. Doch mittlerweile war er ein stiller, aber sehr kluger Mann. Er arbeitete in dem einsamen Keller, seinem persönlichen Bunker, in der aus den Fugen geratenen Welt.

Oft kamen die jungen Lehrlinge, aber auch gestandene Verkäufer in den Keller hinab, um Otto nach Rat zu fragen, welches Buch der Kunde suchte, wenn dieser nur etwas von einem blauen Segel und einem Hund gesagt hatte, aber den Titel oder Autor nicht wusste. Otto kannte den Titel bestimmt und schon huschten sie mit einem »Danke Otto!« wieder die Treppe hinauf. Nach draußen ging er nur in seinen Pausen, die er im Hinterhof verbrachte. Dort rauchte er eine oder zwei Juno und aß zuvor das Brot, das ihm Hannah morgens liebevoll geschmiert hatte. Aber von all dem bekam die Kundschaft nichts mit. Sie wusste nichts von dem Mann mit den traurigen Augen und dem großen Herzen im Keller unter ihnen.

 

Irgendwann begann er wie in Trance, die Bücher vor sich zu sortieren, nach rechts, nach links, nach rechts, nach rechts, ab und zu nach links. Links Rettung, rechts Tod. In jedes Buch für den linken Stapel trug er auf den Schmutztitel unten rechts eine fortlaufende Nummer ein. Dahinter setzte er sein Kürzel ›O.P.‹. Dann trug er die gleiche Nummer, den Buchtitel und den Autor in ein in Leder eingeschlagenes Notizbuch ein. Es war ein altes Notizbuch, das er einmal von seinem Vater zu Weihnachten bekommen hatte. Mit einem Lederriemen ließ es sich zubinden. Otto hatte es immer in Ehren gehalten, aber nie benutzt. Sein Vater war damals zwei Wochen nach dem Weihnachtstag überraschend gestorben. Er hatte es sich die ganze Zeit aufgehoben, um etwas ganz Besonderes hineinzuschreiben. Jetzt war es soweit. Otto würde dieses Buch und sein Geheimnis, das es nun tragen sollte, mit seinem Leben beschützen. Nachdem der Anfang gemacht war, wurde die Liste erschreckend schnell länger.

 

2

Wenige Tage zuvor hatte ein Dokument die Welt im ›Haus der Bücher‹ aus den Fugen geraten lassen. Doch nicht nur das. Es war der erste Versuch, es zum Einsturz zu bringen.

»Dieses verdammte braune Pack!«, schallte es von unten.

»Onkel?«, rief Emma erschrocken, als sie in den Keller kam. Sie schaute in drei kreidebleiche Gesichter.

Onkel nannte Emma Sittler den Direktor normalerweise nur, wenn sie alleine waren. Ansonsten war er für sie - wie für jeden anderen der einhundertdreißig Angestellten ›Herr Direktor‹. Schließlich war ihr Onkel ein angesehener Verleger, Sortimenter und Inhaber Europas größter Buchhandlung. Und fast so etwas wie ihr zweiter Vater, nachdem ihre Eltern seit einer Forschungsreise nach Indonesien vor zwölf Jahren verschollen waren. Ihr Vater war Biologe gewesen und hatte die Affenarten in Südostasien erforscht. Ausgerechnet diese Expedition auf Java war damals die erste Reise gewesen, bei der ihn Emmas Mutter, Wilhelm Kirchners Schwester, begleitet hatte.

Ihr Onkel hatte seine junge Nichte damals nach Königsberg geholt und sich um sie gekümmert. Bis vor drei Jahren hatte sie noch bei ihm gewohnt. Dann war sie ausgezogen und hatte ein Zimmer bei einer älteren Dame bezogen.

Als Sortimenterin in der ›Abteilung für schöne Literatur‹ hatte Emma es für ihre dreiundzwanzig Jahre schon sehr weit gebracht. Kein Zweifel, dass ihr Onkel sie protegierte, was ihr auch bei mancher Kollegin Neid einbrachte. Aber sie konnte mit hervorragendem Wissen und viel Geschick überzeugen. Insbesondere bei der weiblichen Kundschaft war sie sehr geschätzt. Viele Mitarbeiter bewunderten sie für dieses besondere Geschick im Umgang mit Kunden. Sie war wie geschaffen für diesen Beruf.

Und es schien eine erfreuliche Laune des Schicksals gewesen zu sein, dass ihr Onkel Inhaber der größten Buchhandlung Europas war. Regelmäßig überraschte Emma schwierige oder unschlüssige Kunden mit einem literarischen Geheimtipp und spätestens mit einem Klassiker konnte sie auch die letzte unentschlossene Kundin glücklich machen und zur Kasse begleiten. Sie war stolz, dass ihr Onkel in ihr seine mögliche Nachfolgerin sah. Die erste Frau in Europa, die eine der bedeutendsten Sortimentsbuchhandlungen führen sollte! Das war Wilhelm Kirchners Vision und Emmas großes Ziel. Bücher waren, solange sie denken konnte, ihre große Leidenschaft. Schon als kleines Mädchen war sie durch die Gänge, die vielen herrlichen Räume und Treppen der Buchhandlung geschlendert. Dann hatte sie sich ein stilles Eckchen gesucht, um in einem Buch zu versinken. Mit ihren blonden, schulterlangen Naturlocken war sie eine attraktive Erscheinung, was im Geschäft durchaus von Vorteil war. Mit einer schönen, klugen Frau an der Spitze des Unternehmens würde das ›Haus der Bücher‹ wieder einmal in der Branche für Aufsehen sorgen.

Am Tisch rechts neben ihrem Onkel saß Konrad Gallinat, der junge Buchhändler aus der ›Wissenschaft‹, der wissenschaftlichen Abteilung. Seit zehn Monaten waren er und Emma ein Paar. Er war eher zufällig in dem Moment im Keller gewesen, als der Direktor herunter gekommen war. Konrad wollte sich von Otto Perlmann einige Bücher aus dem Buchlager geben lassen. Das Anatomieregal musste nach einer Auslieferung an die Universität wieder aufgefüllt werden. In der wissenschaftlichen Abteilung war Konrad perfekt eingesetzt. Emotionen und Dinge, die man nicht genau berechnen oder messen konnte, verunsicherten ihn. Wenn er aufgeregt war, setzte sein Stottern ein, das ihn seit der Kindheit plagte, auch wenn es mittlerweile besser geworden war. Deshalb mied er Situationen, die ihn in Stress versetzten oder große Emotionen auslösten. Nur auf die Liebe zu Emma hatte er sich eingelassen. Er hatte lange gar nicht glauben wollen, dass die schöne Nichte des Inhabers sich ausgerechnet in ihn verliebt hatte, den stotternden Buchhändler aus dem ersten Stock. Auf der anderen Seite des Tischs saß Otto Perlmann, einer der dienstältesten Mitarbeiter. Die Ellenbogen hatte er auf den Tisch gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben.

»Onkel! Um Gottes willen, was ist denn geschehen?«, fragte Emma und ging auf Kirchner zu. Jeder, der den Kellerraum betreten hatte, spürte sofort, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. »Hat es etwas mit dem Besuch dieses SA-Manns und den Studenten eben bei dir zu tun?«

»Ja«, antwortete Wilhelm Kirchner. »Sie nennen es ›Aktion wider den undeutschen Geist‹, fauchte er. Hier, schaut euch das an!«

Emma sah, wie seine Hand zitterte, als er eine mehrseitige Liste auf den Tisch legte. Sie murmelte die Namen auf der Liste vor sich hin. »Marx, Kästner, Freud, Remarque, Tucholsky, Heine, Wedekind, Zuckmayer. Onkel, was ist das für eine Liste? Was soll das?« Dann entrollte Kirchner das gelbe Plakat auf dem Tisch und las es vor:

»Pflegt deutsche Kultur und zerstört minderwertiges und zersetzendes Schrifttum undeutscher Schriftsteller. Die Studentenschaft veranstaltet in diesen Tagen einen Feldzug gegen jedes undeutsche Schrifttum. Es ist die Pflicht jedes Deutschen, diesen Kampf zu unterstützen!«

Kirchner machte eine kurze Pause, als müsse er sich von den Worten erholen. Dann las er weiter:

»Reinigt eure Büchereien! - Schreiberlinge wie ...«, es folgte eine längere Liste bekannter Schriftsteller, deren Werke unter anderem als ›schändliches und unerwünschtes Schrifttum‹ bezeichnet wurden. Sie reichte von Alfred Döblin und Heinrich Mann über Erich Kästner und Kurt Tucholsky bis zu Stefan Zweig und endete mit dem Satz »...dürfen darin keinen Platz mehr finden. - Die Bücher werden in wenigen Tagen feierlich verbrannt! - Die Abgabestelle befindet sich im ›braunen Haus‹, Zweite Fließstraße 4.«

Er hielt kurz inne. »Das Plakat wird gerade überall in der Stadt aufgehängt. Die Studentenverbindungen verteilen überall Flugblätter, stecken sie in jeden Briefkasten. Unsere Studentenschaft macht sich gerade sehr verdient um das deutsche Volk. Morgen steht es in allen Zeitungen. Ausgerechnet unsere klügsten jungen Köpfe sind an vorderster Front!«, fluchte Kirchner. Der Verleger drohte die Fassung zu verlieren, riss Emma die Liste wieder aus der Hand und zerknüllte sie in der Faust.

»Hast du das gelesen? Thomas steht darauf! Und Heinrich!«, schrie er nun fast und sein Gesicht färbte sich rot. Thomas Mann war mit Kirchner befreundet und regelmäßig zu Gast in der Buchhandlung. Oft saßen sie in Manns Sommerhaus in Nidda mit Blick auf das weite Haff. Dann sinnierten sie bei Rotwein die ganze Nacht über politische, gesellschaftliche und kulturelle Fragen. Kirchner schleuderte die in der Zwischenzeit zu einer Papierkugel zerquetschte Liste gegen die Wand. Noch nie hatte Emma ihn so unbeherrscht erlebt.

Otto hob den Kopf und Emma sah die Tränen, die ihm über die Wangen liefen.

»Das ist eine schwarze Liste«, sagte er leise.

Otto Perlmann war seit fast 30 Jahren bei ›Gräfe und Unzer‹ in Königsberg beschäftigt, dem im ganzen Reich bekannten ›Haus der Bücher‹. Wilhelm Kirchner kam ab und zu in den Keller und sie unterhielten sich über ein neu geliefertes Buch oder eine im Feuilleton erschienene Rezension. Kirchner wusste Ottos Gespür für gute Bücher sehr zu schätzen. Öfter hatte er, nachdem er aus dem Keller in sein Kontor zurückkehrt war, die Bestellmenge erhöht. Ottos Instinkt für gute Bücher hatte noch nie daneben gelegen.

Nach seiner Lehre war Otto zunächst als Kutschenfahrer und Lagerist eingesetzt gewesen. Dann kam der schreckliche Unfall. An den Hafenspeichern der Lastadie war ein kleines Mädchen zwischen seine Pferde gelaufen und zu Tode gekommen. Seit diesem Tag weigerte er sich konsequent, wieder mit Pferden zu arbeiten oder einen Kutschbock zu besteigen. Obwohl ihn bei dem Unfall keine Schuld getroffen hatte, ging es einfach nicht mehr. Die Bilder sah er oft noch nachts, wenn ihn die Albträume schweißgebadet hochschrecken ließen. Dann lag das tote Mädchen in ihrem bunten Kleidchen plötzlich wieder vor ihm. Er hörte sie kreischen, sah sie voller Blut und mit zerschmetterten Armen und Beinen. Diesen Schicksalsschlag hatte er nie überwunden. Und das sah man ihm auch an. Trotz seiner 45 Jahre wirkte er alt und leidgeprüft. Er hatte traurige kleine Augen, unter denen tiefe Tränensäcke hingen. Nur wer genau hinsah, erkannte, dass seine Augen von unterschiedlicher Farbe waren: ein blaues und ein grünes Auge – denn diese Besonderheit ging in dem Bild des Jammers unter. Das Gesicht war von Falten und Furchen durchzogen, als wäre die Haut wie Leder gegerbt. Der immer etwas wild aussehende Schnauzer unter der breiten Nase war seit Jahren ergraut. Seit dem Unglück damals arbeitete Perlmann an der Makulaturpresse und verwaltete das Buchlager im Untergeschoss. So sah er tagsüber das Sonnenlicht nur durch kleine vergitterte Kellerfenster. ›Bei Otto‹ nannten alle Mitarbeiter liebevoll den Keller. Es hörte sich an, als würden sie von einer beliebten Kneipe sprechen. Er mochte es, alleine zu arbeiten und nicht ständig von vielen Menschen umgeben zu sein. Gleichzeitig freute er sich, wenn jemand ihn in seinem Reich besuchte, um nach neuen Bestellungen zu fragen. Und die Lehrlinge gingen gerne zu ihm hinunter, denn er war ein liebenswerter Mensch mit einem großen Herzen. Wenn die jungen Mädchen Liebeskummer oder die Lehrjungs etwas angestellt hatten, saßen sie bei ihm auf den Papierballen und erzählten Otto von ihren Sorgen. Er hatte immer ein offenes Ohr für sie, einen guten Rat oder konnte sie trösten. Nur über sein eigenes Leid sprach er nie.

»Alle Bücher dieser Schriftsteller sind jetzt verboten. Wir dürfen sie nicht mehr verkaufen«, sagte Kirchner. Er ging auf Emma zu und packte sie an beiden Armen.

»Emma, verstehst du, sie wollen unsere Schriftsteller vernichten und die Literatur gleichschalten. Sie bestimmen, was das Volk lesen darf und was nicht. Das ist Zensur der schlimmsten Art!« Er sah in Emmas schockiertes Gesicht. »Diese Liste bedeutet für diese Autoren ein Berufsverbot, der Entzug ihrer Existenzgrundlage. Und noch schlimmer: Alle ihre Bücher sollen verbrannt werden! Sie wollen ein Fest daraus machen, eine Demonstration ihrer neuen, verdammten Macht.« Kirchner holte kurz tief Luft.

»Sie zwingen mich zum Verrat. Jeder in Königsberg, ach, im ganzen Reich soll sehen, dass ich der Partei folge. Ich soll die eigenen Bücher verbrennen und deren Politik über unsere Kultur stellen! Sie werden denken, ich unterstütze sie. Das ist genau das, was dieser von Wehlau erreichen will. Er will mich demontieren, meine Reputation vernichten. Eine Katastrophe! Ich kann doch meinen Beruf nicht verraten, die Schriftsteller, die davon leben, meine Überzeugung! Verbrannte Bücher, verfemte Dichter: Sie machen mich zum Mittäter, zum Verräter!« Kirchner klang verzweifelt.

»Aber das können die doch nicht ma-ma-machen!«, mischte sich nun erstmals Konrad ein. Alle im Raum waren sein Stottern gewohnt und ignorierten es. Das half ihm in diesen Situationen, nicht noch nervöser zu werden.

»Doch, Konrad, das können sie«, erwiderte Otto niedergeschlagen.

»Aber das lassen wir doch nicht zu, oder?«, fragte Emma entrüstet. Sie wusste nicht, ob sie sich gerade mehr über die Liste aufregte oder das, was diese Leute ihrem Onkel damit antaten. Und sie konnte Otto nicht leiden sehen. Emma liebte Bücher, doch für Otto waren sie sein Leben. Seit er in der Schule lesen gelernt hatte, hatte er keinen Tag ohne Lesen verbracht. Er war schlecht im Rechnen gewesen, in Sport eine Niete. Aber beim Lesen hatte ihm niemand etwas vormachen können. Lesen war seine große Leidenschaft, seit er denken konnte. Die Vorstellung, dass seine Bücher ins Feuer geworfen werden sollten, musste er deshalb nun empfinden, als würden seine eigenen Kinder hingerichtet.

»Niemals! Da machen wir nicht mit!«, sagte Emma wütend. »Wir brauchen einen Plan!« Dann drehte sie sich energisch um und stampfte die ersten Stufen der Treppe hinauf. Konrad rannte ihr hinterher und fing sie am Ende der Treppe ab.

»Ab-ab-aber Emma.« Er sah sie ängstlich an. »Was willst du denn tun? Diese Leute sind gefährlich, hörst du! Wir können uns nicht mit denen anlegen.« Konrad schaute ihr direkt in die Augen und sah das Feuer, das in ihr entfacht war. Genau das war es, was ihm solche Angst machte.

»Konrad, überlege doch! Wir können das nicht einfach so hinnehmen. Niemand hat das Recht, diese wundervollen Bücher zu verbieten, zu verbrennen und unsere Schriftsteller umzubringen. Verstehst du, worum es geht?« Sie nahm ihn mit beiden Armen an den Schultern und schüttelte ihn leicht.

»Ja, natürlich,« gab Konrad nach. »Aber ich habe Angst um dich. Hörst du? Angst! Ich will nicht, dass du in Gefahr gerätst. Das alles hier gerät in Gefahr!« Konrad schaute sich um, als würde er in einer großen Kathedrale stehen und das hohe Kirchenschiff bewundern.

»Ach, Konrad, wir haben doch gar keine Wahl. Und du passt doch auf mich auf, versprochen?« Sie lachte. Konrad war ihrem positiven, einnehmenden Wesen einfach nicht gewachsen. Auch jetzt nicht, da er sich Sorgen um sie machte.

3

Wenige Monate zuvor war die Welt in der Buchhandlung noch in Ordnung gewesen.

»Was will der deutsche Arbeiter?, Mittwoch, den 22. Februar 1933«, hämmerte Hans Zach in seine schwarze Triumph Typ 10. Er schrieb an einem Artikel für die Königsberger Volkszeitung. Das sozialdemokratische Blatt saß mit einem kläglichen Rest von Redakteuren im Dachgeschoss des Otto-Braun-Hauses in der Zweiten Fließstraße. Es gab noch eine ebenso kurze Erste Fließstraße und eine lange Dritte. Doch an dem Tag sollte die Zweite Schauplatz des Tagesereignisses in Königsberg werden. In den unteren Etagen war die Parteizentrale der Sozialdemokraten angesiedelt.

Die Redaktion war in den Wochen seit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler Ende Januar personell stark ausgeblutet. Redakteure und ihre Familien waren bedroht, verprügelt und verschleppt worden. Die SA schreckte vor nichts zurück. Die Zeiten, seine Meinung offen sagen zu dürfen, waren vorbei. Familienväter verließen zuerst die Redaktion und arbeiteten lieber als Hafenarbeiter in der Werft oder der Zellstofffabrik am Pregel. So hofften sie, wenigstens sich und ihre Familien vor Repressalien oder Schlimmerem schützen zu können. Manche verließen die Stadt und zogen nach Masuren oder zu Verwandten auf die Nehrung und halfen bei der Fischerei.

Hans, der Chefredakteur, war geblieben. Er hatte keine Familie, aber eine Meinung. Und die war ihm wichtig. Er und seine verbliebenen Kollegen wollten schreiben, solange es möglich war. Er war überzeugter Sozialdemokrat, ein Kämpfer für den kleinen Mann. Die Männer brauchten Arbeit zu einem fairen Lohn, um ihre Frauen und Kinder ernähren zu können. Das war wichtiger als alles andere und die notwendige Grundlage für Frieden und Demokratie. Den markigen Versprechungen Hitlers, die sechs Millionen Arbeitslose zügig von der Straße zu holen, traute er nicht. Die Mittel und Wege, wie er das erreichen wollten, überzeugten ihn nicht. Er benutzte weder Knüppel noch Gewehr, um für seine Überzeugung einzutreten, sondern kämpfte mit Worten. Es schmerzte ihn, dass auch seine Partei das in den schweren Jahren zuvor nicht geschafft hatte.

Hans war nicht so leicht einzuschüchtern. Seine Größe, die breiten Schultern und das kantige Kinn zeugten von Stärke und der Leidenschaft, für seine Überzeugung einzutreten. Die mit grauen Strähnen durchzogenen Haare ließen ihn älter und reifer als 39 aussehen. Gleichzeitig verrieten seine schmalen Augen und sein warmer Blick eine innere Verletzlichkeit und Sensibilität. Doch die zeigte er nur selten, schon gar nicht in diesen Zeiten.

Als er seinen Artikel beendet hatte, drückte er zufrieden den Stummel der Zigarette im überquellenden Aschenbecher aus. Mit einem lauten »Ratsch« zog er die letzte Seite aus der Maschine. Plötzlich wurde es laut im Treppenhaus.

Hans und seine zwei Kollegen sprangen auf und stürzten zur Tür. Sie sahen im Treppenhaus nach unten und erblickten im Erdgeschoss eine Gruppe Braunhemden, die mit lautem Gebrüll in das Haus stürmten. Sie kamen die Treppe herauf und nahmen sich offenbar Stockwerk für Stockwerk vor. Aus den Räumen der Parteizentrale hörte man Schreie. In Kürze würden sie auch im Dachgeschoss angekommen sein, alles durchsuchen und sie mitnehmen, dachte Hans.

Er sah nach unten. Für einen winzigen Moment kreuzte sich sein Blick mit dem des NSDAP-Kreisleiters Horst von Wehlau. Sie kannten und hassten sich. Mit vielen Artikeln hatte Hans in den vergangenen Jahren die NSDAP und von Wehlau heftigst attackiert. Doch seit Januar hatte sich das Blatt zugunsten des Kreisleiters gewendet. Das Ende der Sozialdemokratie galt als beschlossene Sache.

»Dort, unter dem Dach!«, brüllte von Wehlau und zeigte nach oben. »Da sind Zach und seine Schmierfinken, holt sie runter!«

Hans wich zurück und schob die beiden Kollegen wieder in das kleine Büro.

»Was machen wir jetzt, Hans?«, fragte Peter Kugland, der junge Redakteur in Panik.

»Los, helft mir!«, rief Hans. Sie warfen die Tür zu und schoben mit größter Anstrengung den schweren Schrank davor. »Das hält sie nicht ab, aber zumindest etwas auf.« Hans riss das Fenster auf. »Los, raus, über die Dächer, in eines der anderen Häuser, so weit weg wie möglich. Jeder in eine andere Richtung.« Sie schauten sich kurz an.

»Viel Glück, meine Freunde! Wir sehen uns wieder!«, sagte Hans.

Schon im nächsten Moment waren die Eindringlinge vor der Tür angekommen. Sie schrien und schlugen mit den Knüppeln heftig gegen die Tür. Der Schrank begann bei jedem Schlag zu wanken. Hans stemmte sich dagegen.

»Los, los, schnell raus! Raus!«, rief er, während der nächste Schlag das Türblatt unter lautem Krachen zum Splittern brachte.

Peter kletterte durch das Fenster hinaus und hangelte sich nach rechts das Dach entlang. Doch er rutschte auf den leicht feuchten Ziegeln ab. Gerade noch konnte er sich mit den Füßen in der Regenrinne abfangen, um nicht abzustürzen. Langsam schob er sich, flach auf dem Dach liegend, weiter. Friedrich versuchte es links. Kaum war er durch das Fenster, krachte die Tür in Stücke und Hans konnte dem Druck nicht mehr standhalten. Mit dem nächsten Schlag würde auch der Schrank ihn nicht mehr schützen. Er ließ los, sprang zum Fenster und hangelte sich geschickt hindurch. Er ergriff die Kante unter dem First des kleinen Erkers und zog sich nach oben. So konnten sie ihn zumindest nicht gleich entdecken, wenn sie aus dem Fenster sahen. Dann zog er sich an den Firstziegeln hoch und robbte vorsichtig weiter. Er schaute sich um, denn nun hörte er die schreiende SA-Meute am Fenster.

Dann geschah etwas Entsetzliches. Einer der Verfolger nahm sein Messer und warf es nach Friedrich. Hilflos musste Hans mit ansehen, wie sich die Klinge in den Hals seines Kollegen bohrte. Das Blut aus der Schlagader ergoss sich sprudelnd auf das Dach. Es strömte die Ziegel hinab zur Regenrinne. Zitternd und mit weit aufgerissenen Augen rutschte der junge Reporter die Dachschräge nach unten, bis er über die Kante nach unten stürzte und mit einem dumpfen Krachen auf dem Kopfsteinpflaster aufschlug. Der andere Redakteur beobachtete die Szene geschockt und übersah die ihm drohende Gefahr. Das Fenster vor ihm wurde aufgerissen. Schon ergriffen ihn vier kräftige Arme und zogen ihn ins Haus zurück.

Hans hangelte sich weiter an den Firstziegeln entlang und drohte ebenfalls mehrfach abzurutschen. Dann erreichte er das Dach des nächsten Hauses. Noch hatte ihn keiner der Verfolger entdeckt. Er ließ sich auf der anderen Hausseite zum Innenhof hin vorsichtig herunter rutschen. Dann sprang er geschickt auf das Flachdach des Nachbarhauses. Er rannte quer darüber und legte sich, am anderen Ende angekommen, flach auf den Bauch. Vorsichtig schaute er über die Regenrinne nach unten. Er beobachtete, wie Männer in Handschellen von SA-Schergen auf die Pritsche eines Lastwagens verladen wurden. Neben dem Lkw lag der zerschmetterte Körper seines Kollegen. Niemand kümmerte sich darum. Hans schaute sich um und suchte nach einem Fluchtweg. An dieser Stelle kam er nicht weiter, ohne sofort entdeckt zu werden. Über die Metallstiegen an einem Schornstein konnte er in dessen Deckung nach unten klettern. Von dort gelang es ihm, auf einen drei Meter darunter liegenden Balkon zu springen. Doch bei der harten Landung knickte er mit dem Fuß um, versuchte verzweifelt Halt zu finden. Er griff erst ins Leere, dann erfasste er ein schmales Holzregal, das zusammenstürzte und ihn unter sich und den herabstürzenden Gläsern und Blumentöpfen begrub. Einer der Blumentöpfe daraus traf ihn hart am Kopf. Noch bevor er wahrnahm, dass er auf eine große Glasscherbe fiel, die sich in seinen Oberschenkel bohrte, verlor er das Bewusstsein.

Von Wehlau tobte, war außer sich und schlug dem nächstbesten SA-Mann seine Faust ins Gesicht.

»Ihr Idioten, ihr Versager! Findet diesen Hurensohn! Wagt es nicht, ihn entkommen zu lassen! Ausgerechnet Zach!« Er marschierte wütend in den Hof hinaus. Dann drehte er sich um und suchte die Fassaden und die Dächer ab. »Da oben muss er doch sein! Hier unten ist er schließlich nicht rausspaziert! Und fliegen kann er ja wohl nicht«, brüllte er Wegner zynisch an. Seine Augen funkelten diesen an, als würden sie im nächsten Moment tödliche Blitze schleudern.

Der SA-Sturmbannführer, der die Aktion ›Braunes Haus‹ leitete, bebte innerlich. Sein mondrundes Gesicht mit dem parteikonformen Kurzhaarschnitt und einem Bärtchen unter der Nase war feuerrot. Der Schmiss auf seiner rechten Wange zuckte. Hektisch schrie er seine Männer zusammen und brüllte Befehle nach oben.

»Auch die Nachbarhäuser! Er muss noch auf dem Dach sein. Durchsucht alles! Wir finden das Loch, in dem sich diese Ratte verkrochen hat!« Erneut rannten mehrere Männer ins Haus und die Treppen hinauf. Sie klingelten an den Türen der Nachbarhäuser und verlangten Zugang.

Horst von Wehlau war überzeugter Parteifunktionär. Schon der Putschversuch 1923 in München hatte ihn seinerzeit beeindruckt. Als Adolf Hitler im Dezember 1924 aus der Haft in Landsberg am Lech entlassen worden war und die Partei neu gegründet hatte, war von Wehlau unverzüglich in die NSDAP eingetreten. Er war der Sohn des Adelsgeschlechts von Wehlau, einer im Süden Ostpreußens sehr angesehenen Familie, die auf der Wehlauburg residierte. Ihre Ländereien und den Reichtum hatte die Familie in vier Jahrhunderten angehäuft.

Niemand in Königsberg wusste genau, warum Horst keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hatte. Zum Zerwürfnis mit dem Vater war es vor vielen Jahren gekommen. Einer der beiden jüngeren Brüder war, wenige Wochen nach seinem Dienstantritt, in der Offiziersschule erschossen in seiner Stube aufgefunden worden. Gerüchten zufolge soll es einen Unfall beim Hantieren mit einer Waffe gegeben haben. Und der ältere Bruder soll bei ihm gewesen sein. Kameraden hatten von einem Streit berichtet. Ob es ein Unfall war oder eine Auseinandersetzung, konnte nie abschließend geklärt werden. Doch der Patriarch der Familie machte seinen Sohn verantwortlich, enterbte ihn und verwies ihn der Burg.

Daraufhin tauchte Horst von Wehlau schwer gedemütigt einige Jahre in Berlin und Potsdam unter. Dann erschien er plötzlich wieder als Adlatus des Gauleiters in Königsberg. Von Wehlau hatte sich in dieser Zeit zu einer sehr zwiespältigen Persönlichkeit entwickelt. Einerseits war er ein äußerst charmanter, gut aussehender, einflussreicher Frauenheld aus Berlin. Er nutzte jede Gelegenheit bei schönen Frauen aus, tanzte großartig, wusste sich zu benehmen und einige Mütter hätten sich ihn als Schwiegersohn gewünscht. Bei einem Ball in Potsdam hatte er seine Frau Hedwig kennengelernt, die Tochter einer einflussreichen Parteigröße. Überraschend schnell hatte er sie geheiratet und mit ihr eine Tochter und einen Sohn gezeugt. Die Partei erwartete schließlich geordnete Verhältnisse, bevor sie ihn zum Kreisleiter beförderten. Doch die Familie war in Berlin geblieben, als er nach Königsberg ging.

Vordergründig ging es Horst von Wehlau prächtig und er konnte mit seinem Aufstieg mehr als zufrieden sein. Auf der anderen Seite war er der tief verletzte, gedemütigte Sohn geblieben. Eine Wunde in ihm, die nie heilen würde. Sie ließ ihn in seinem Amt hart und gnadenlos werden. Für seine Ziele ging er buchstäblich über Leichen. Er wollte Karriere machen, koste es, was es wolle. Königsberg sollte nur eine Etappe sein. Hier würde er Berlin beweisen, dass er für höhere Aufgaben berufen war. Ernst Röhm hatte ihm ein höheres Amt in Aussicht gestellt, wenn er in Ostpreußen ordentlich ›aufräumen‹ würde. Und so nahm er sich die Kommunisten, die Demokraten und die Juden vor.

Doch sein besonderer Hass wandte sich gegen erfolgreiche Kaufleute und Großgrundbesitzer, die hohes Ansehen und Privilegien in der Gesellschaft genossen. Er setzte sie mit seinem Vater gleich. Ein besonderes Augenmerk warf er auf Unternehmen, die er in den Händen der Partei für nützlich erachtete. Von Wehlau beschlagnahmte schon in den ersten beiden Monaten nach der Regierungsübernahme durch die NSDAP mehrere Betriebe. Die Inhaber wurden vertrieben oder verhaftet. So auch eine Druckerei in Vorderhufen, die nach der Beschlagnahme ausschließlich Plakate, Flugblätter und Formulare für die Partei druckte. Der jüdische Eigentümer war verschwunden und wurde nie wieder gesehen.

Von Wehlau dachte strategisch und kümmerte sich Schritt für Schritt um die Feinde des deutschen Volkes. Die Kommunisten hatte er sich schon vorgenommen, jetzt würden die Sozialdemokraten erledigt. Er ging dabei präzise und erfolgreich vor. Genau deshalb hielt man ihn in der Parteiführung für den besten Mann für diese Aufgabe. Er war zudem der Verbindungsmann zwischen der Gauleitung und der SA. Diese Schlägertruppe war der Partei dienlich und erledigte die Drecksarbeit mit paramilitärischer Gründlichkeit und absolutem Gehorsam. So wie die Räumung und Beschlagnahmung des Hauses der SPD. Ab diesem Tag gab es die Zeitung nicht mehr. An diesem Morgen war sie verboten worden. Den Beschluss hatte er von Oskar Wegner, dem SA-Anführer, an den Türrahmen der Eingangstür des Hauses nageln lassen.

Wegner war kriegserfahren. Nach monatelangen Stellungsschlachten war er 1917, zwei Tage nach seinem 26. Geburtstag, in der Nähe von Straßburg in französische Gefangenschaft geraten. Vier Jahre später kam er mit einem verkrüppelten Bein zurück. Niemals hatte er davon gesprochen, was ihm widerfahren war. Als Invalide hatte er keine Arbeit gefunden, hatte gesoffen und sich regelmäßig in Kneipen geprügelt. Mehr als einmal hatte ihn die Polizei abgeholt und verwarnt. Nächte in der Zelle waren damals für ihn keine Seltenheit gewesen.

Dann kam die Partei und brauchte Schutzkräfte für ihre Veranstaltungen. Wegner hatte seine Aufgabe gefunden und diente sich hoch. Das Hinken konnte er nie verbergen. Das machte den kleinen, dicken Mann verletzlich und damit gefährlich und unberechenbar wie ein angeschossenes Raubtier.

Er konnte mit seinem steifen Bein nie bei Paraden mitmarschieren und lief deshalb alleine voraus. Die Buben auf der Straße verspotteten ihn als ›Sturmhinkeführer‹ und äfften ihn nach, indem sie ihr rechtes Bein steifhielten und kichernd humpelten. Wo und wann immer es ging, fuhr Wegner mit dem Wagen.

»Von wegen ›Otto-Braun-Haus‹! Das ist jetzt das ›braune Haus‹«, lachte Wegner hämisch und trollte sich, als er von Wehlaus Blick sah. Solange Hans Zach noch frei herumlief, ging er dem NSDAP-Mann lieber aus dem Weg. Doch das gelang ihm nicht.

»Weeeeeeeeegner!«, brüllte dieser über den Hof. »Wenn Sie diesen Zach nicht finden, sind Sie erledigt, ist das klar? Dann sorge ich dafür, dass Sie wieder in dem Loch verschwinden, aus dem die Partei Sie geholt hat«, zischte er ihn an.

4

Konrad kam am darauffolgenden Vormittag von seiner Auslieferung an die Universität zurück. Regelmäßig überquerte der junge Mann mit einem Handwagen voller Bücher und Lehrmaterial den Paradeplatz. Auf dem Weg kam er an den Denkmälern von Immanuel Kant und Friedrich Wilhelm III. auf seinem Pferd vorbei. Dann hielt er meist noch ein kurzes Schwätzchen mit dem Pförtner und nahm eine Liste neuer Bestellungen mit. Die Professoren schätzten den schüchternen Bücherwurm wegen seiner Verlässlichkeit sehr. Vor Kasse fünf im Erdgeschoss stand eine Dame im eleganten grauen Kostüm und einem gefiederten Etwas in ihrem feuerroten Haar. Die Dame lamentierte mit der sichtlich angestrengt lächelnden Kassiererin.

»Die Missu«, dachte Konrad, »natürlich!« Niemand in der Stadt hatte so feuerrote Haare wie die Operndiva Rosemarie Missuweit. Konrad sprang der Kollegin zur Seite, obwohl er ja eigentlich hier unten nicht zuständig war.

»Frau Missuweit! Wie schön, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Gi-gi-gibt es ein Problem? Wie kann ich Ihnen helfen?«

›Jetzt nicht aufregen, bleib ruhig, nicht stottern‹, dachte Konrad. Die Diva drehte sich zu ihm um. Konrad sah in ihr wunderschönes Gesicht, ihre großen Augen, den aufreizenden, feuerrot geschminkten Mund.

»Hören Sie, junger Mann!«, begann die Dame mit aufdringlichem Ton, »seit einer Woche warte ich auf meine Bücher. Soll ich etwa die Bibel lesen aus Verzweiflung?« Sie lachte laut. Es machte ihr nichts aus, dass alle Leute im Raum sie empört ansahen. Sie war ›die Missu‹, immer auf der Bühne, immer spielend und sich selbst inszenierend. Schon im nächsten Satz säuselte sie verführerisch:

»Junger Mann, Sie kümmern sich doch darum, dass ich meine Bücher schnellstens bekomme, ja?« Sie kraulte Konrad unter dem Kinn wie einen kleinen Jungen. Konrad war einen Moment sprachlos. Aber das fand er in dem Moment auch besser, denn er würde sicher nicht viel rausbekommen.

»Ja, ja, natürlich«, sagte er.

»Gut, dann bringen Sie mir persönlich die Bücher hinüber in die Oper, sobald sie da sind. Ich verlasse mich auf Sie!« Konrad wurde rot. Sie lächelte ihn an, bedachte die Kassiererin mit einem verächtlichen Blick und stolzierte zur Tür hinaus.

Zur gleichen Zeit führte Emma eine Gruppe Besucher durch das Haus. Der prunkvolle Eingang der Buchhandlung am Paradeplatz war vermutlich der einzige Laden der Stadt ohne Glöckchen über der Tür. Es war einfach unvorstellbar, dass hier etwas über dem Kopf klingelte, wenn man in diese einzigartige Welt eintrat. Das wäre geradezu würdelos und albern gewesen. Die edle Einrichtung aus dunklen Hölzern, die verkleideten Wände und Bücherregale gaben den Räumen die Anmutung einer vornehmen Bibliothek, nicht einer Buchhandlung. Dazu trugen neben den Lesetischen auch die vielen geschmackvollen Bilder und Skulpturen bei. So wie der weiße Engel in der Eingangshalle oder die große Madonna an der Treppe zum Zwischengeschoss, über deren Geschichte Emma genau zu berichten wusste. Trotz der Größe hatte die Kundschaft nie das Gefühl, in einem Kaufhaus zu sein, obwohl es genau dies letztlich war. Die Einrichtung und die Mitarbeiter strahlten auch bei dem oft lebhaften Betrieb stets eine außergewöhnliche Ruhe aus, die die Bücher auf besondere Weise in den Mittelpunkt stellte. Trotzdem war es eine Buchhandlung für alle. Hier kauften sich die Jungen und Mädchen für ein paar Dittchen ein Heft, die Herren das eine oder andere Fachbuch und die Damen neue Liebesromane. Die feinen Herren und die, die sich dafür hielten, ließen sich Zeitungen aus Berlin kommen. Was natürlich, ausgebreitet im Café an der Schlossteichpromenade oder unter dem Kant-Denkmal auf dem Paradeplatz, sehr gut aussah. Eine stilvolle Treppe führte hinauf auf die Galerie in der Eingangshalle. Dort wurde das komplette Programm der Heftchen von Reclam und der Sammlung Göschen präsentiert. Oft standen Kunden mit zur Seite geneigtem Kopf vor den Regalen. Dann fuhren sie mit dem Finger an den Heftchen entlang, um den gesuchten Titel zu finden. Emma meinte einmal, so würden sie wie bei einem Daumenkino in wenigen Minuten einen Streifzug durch die Literatur unternehmen. Der große Aufzug war ausschließlich der Kundschaft vorbehalten. Er brachte sie auch zum kleinen hauseigenen Firmenmuseum. Die Ausstellung zeugte von der beeindruckenden Firmengeschichte. Durch die vielen spannenden Ausstellungsstücke war das Museum natürlich auch Ziel unzähliger Schulklassen.

»Unser Haus wurde 1722 gegründet und ist heute die größte Buchhandlung Europas«, erklärte Emma den interessiert zuhörenden Besuchern. »Zugleich sind wir der älteste Verlag Deutschlands. Auf den sechs Etagen arbeiten derzeit rund einhundertdreißig Mitarbeiter.« Schon viele Male hatte Emma den Vortrag gehalten und trotzdem liebte sie es immer wieder.

»Ja, und die Jungs auf der Straße nennen Gräfe und Unzer frech ›Der Grunzer‹«, sagte einer der Besucher und die Gruppe kicherte.

»Bitte folgen Sie mir in das erste Obergeschoss«. Über die große Treppe folgte die Gruppe Emma. Auf halber Höhe kam ihnen Horst von Wehlau und drei Gefolgsleute in Uniform entgegen. Das »Heil Hitler« quittierten die Besucher mit einem eher unverständlichen Gemurmel. Für eine ordentliche Grußerwiderung war die Zeit aber auch zu kurz, so schnell eilten die vier Männer die Treppe hinunter. Emma war kurz irritiert. Dieser von Wehlau musste bei ihrem Onkel gewesen sein.

»Unser Haus verfügt über 4.500 laufende Meter Bücherregal, in denen rund 300.000 Exemplare Platz finden. Da ist unser Buchlager im Untergeschoss noch nicht einmal eingerechnet. Würde man die Bände übereinanderstapeln, hat ein schlauer Lehrjunge mal ausgerechnet, wäre der Bücherturm 85 mal so hoch wie der Turm unseres Schlosses.«

Wie gewohnt ging ein kurzes anerkennendes Raunen durch den Raum. In der wissenschaftlichen Abteilung zwinkerte sie Konrad unauffällig zu und erklärte ihren Zuhörern die enge Zusammenarbeit mit der Universität schon seit der Zeit Immanuel Kants. Schließlich lag die alte Albertina in unmittelbarer Nähe zur damaligen Buchhandlung im Kneiphof an der Schmiedebrücke. Die Abteilung ›wissenschaftliche Bücher‹ versorgte Lehrende wie Lernende der Albertina mit der notwendigen Fachliteratur, während die ›Lehrmittelabteilung‹ für die Ausstattung der Hörsäle und Laboratorien sorgte. Hier reichte das Angebot vom Globus bis zum puzzleartig nach Organen zerlegbaren Torso, vom Glaskolben bis zur Zentrifuge und vielem mehr.

Bevor sie ins nächste Geschoss weitergingen, sah Emma ihren Onkel mit finsterem Gesicht aus seinem Kontor kommen. ›Von Wehlau‹, dachte sie, ›er muss bei ihm gewesen sein. Das kann nichts Gutes bedeuten.‹ Sie beschloss, nach der Führung sofort bei ihrem Onkel vorbeizuschauen. Dann führte sie die Gruppe routiniert und mit Charme durch die Abteilung für Jugendschriften und Bilderbücher mit den kleinen Tischen und Stühlen. Es waren die ersten Leseecken für Kinder in deutschen Buchhandlungen.

»Unser Unternehmen ist sehr fortschrittlich!«, erklärte Emma stolz. »Wir waren die Ersten, die Bücher mit dem Titel frontal sichtbar präsentierten, nicht nur mit dem Buchrücken im Regal. Auf den schräg gestellten Bücherbrettern an den Wänden finden unsere Kunden die letzten Neuerscheinungen. Da gibt es laufend Neues zu entdecken.«

»Sehr hübsch«, murmelte eine Dame mit großem schwarzem Hut und strich im Vorbeigehen über die Bücher. Dann wedelte sie mit der Hand vor dem Gesicht. »Riechen Sie das?«, fragte sie ihren Nachbarn, der sie verdattert ansah. »Na, riechen Sie doch mal! Dieser Geruch hier, Holz, Papier, Bücher, Druckerschwärze, das ist der Duft der Literatur«.

»Also, ick riech nur Bohnerwachs«, entgegnete der Mann mit Berliner Dialekt und ließ sie stehen. Sie hob beleidigt den Kopf, hauchte ihm ein »Crétin« hinterher und drängelte sich durch die Gruppe wieder in die Nähe von Emma, um deren Ausführungen besser folgen zu können.

5

Zur gleichen Zeit, als Emma die Gruppe durch das Haus führte, grübelte Kirchner, wie er auf die Schwarze Liste reagieren sollte. Außer ihm, Emma und den beiden Mitarbeitern wusste bisher noch niemand etwas davon. Niemals würde er ›seine‹ Autoren verraten. Doch so einfach würden es ihm die Nazis nicht machen, das war ihm sehr wohl bewusst. Das Risiko war groß, sich ihnen entgegenzustellen. Das enorme Tempo, mit dem die Nazis seit dem 30. Januar das Land umgestalteten und die Macht an sich rissen, wurde von einem Großteil der Bevölkerung mitgetragen. Das war für ihn fast das Unerträglichste daran. Kirchner stand in Gedanken versunken am Fenster und paffte eine Zigarre. Er schaute über den Paradeplatz hinüber zum Stadttheater und der Universität. So sah er eher zufällig nach unten auf die Straße und von Wehlau mit drei Männern auf die Buchhandlung zugehen. Die Eingangstür der Buchhandlung wurde schwungvoll aufgestoßen. Von Wehlau marschierte in den prachtvollen Verkaufsraum im Erdgeschoss. Nach einigen Schritten blieb er in der Mitte des Raumes breitbeinig stehen. Mitarbeiter und Kunden wichen angesichts des beeindruckenden Auftritts irritiert zur Seite.

Es war plötzlich still im ganzen Raum. Drei Braunhemden folgten ihm. Die Uniformen wirkten wie Fremdkörper in diesen Räumen. Von Wehlau rief eine junge Angestellte zu sich und herrschte sie an, umgehend zu Herrn Kirchner gebracht zu werden. Sie ging eingeschüchtert zum Personenaufzug und drückte, nachdem die vier Uniformierten eingestiegen waren, den Knopf des ersten Obergeschosses. Mit einem Surren setzte sich der Aufzug in Bewegung.

Langsam begann wieder das die Buchhandlung stets einnehmende, wohltuende Gemurmel, nur etwas aufgeregter. Die junge Angestellte schaute verängstigt zu Boden, als die Aufzugtür sich öffnete. Ohne sie weiter zu beachten, marschierte von Wehlau vorbei am Ausgabeschalter für bestellte Bücher und den Gang entlang. Dann riss er, ohne anzuklopfen, die Tür des Eckbüros des Verlegers auf. Kirchner saß zurückgelehnt in seinem Schreibtischstuhl und hielt die Hartungsche Zeitung vor sich. Nach dem Verbot der Volkszeitung war er auf das liberale Blatt umgestiegen. Als er aufsah und den Eindringling über den Zeitungsrand erblickte, legte er das Blatt langsam auf den Schreibtisch vor sich. Noch bevor von Wehlau etwas sagen konnte, ergriff der Verleger hinter dem großen, reichlich verzierten Eichenschreibtisch das Wort.

»Herr von Wehlau«, begrüßte er ihn betont freundlich. Damit nahm er seinem ungebetenen Gast zumindest für den ersten Moment den Wind aus den Segeln. Von Wehlau hasste diese unfassbare Souveränität, sie provozierte ihn. Doch er behielt die Fassung.

»Heil Hitler«, begann von Wehlau und hob den Arm. Seine drei Schatten taten es ihm nach wie Pawlowsche Hunde. Kirchner ignorierte den Gruß, für ihn ein lächerliches Gehabe.

»Was kann ich für Sie tun, Herr Kreisleiter?«, begann Kirchner das Gespräch gelassen. Er wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Vielleicht können die drei Herren draußen warten?« Er würdigte die drei Begleiter dabei keines Blickes.

Grimmig winkte von Wehlau mit der Hand und setzte sich. Die drei SA-Männer verließen den Raum und bauten sich im Gang vor der Tür auf.

»Kaffee oder eine Zigarre?«

Von Wehlaus Augen begannen zu funkeln.

»Lassen wir diese Spielchen. Sie wissen genau, warum ich hier bin«, grinste von Wehlau und lehnte sich demonstrativ entspannt zurück.

»Aber ja, ich habe Sie schon erwartet«, antwortete Kirchner, nahm betont gelassen die Zigarre aus dem Ascher und paffte eine dicke blaue Wolke über den Tisch. »Ich habe diese Liste bekommen. Aber was soll das, von Wehlau? Was hat dieser Goebbels vor? Was wollen Sie damit erreichen?«

»In Deutschland weht ein neuer Wind, mein verehrter Kirchner! Es ist Schluss mit der Demütigung von Versailles! Die Leute brauchen Arbeit und Adolf Hitler ist der Mann, der Deutschland wieder dahin aufsteigen lassen wird, wo es hingehört.«

Kirchner runzelte die Stirn und brummelte ein ungläubiges »So, so.«

»Für Kommunisten und diese nutzlosen Demokraten ist kein Platz mehr in diesem Land! Und natürlich hat das Einfluss auf die Literatur und das, was Sie hier anbieten. Diese Schundliteratur, Entartung und Hetze können wir nicht weiter dulden. Das verstehen Sie doch, oder?«, fragte von Wehlau süffisant. Er war sicher, dass dies ein Stich ins Herz des Verlegers war. Kirchner gab keine Antwort, erhob sich und ging zum Fenster. Er wusste nicht, was er diesem Nazi entgegnen konnte. Im Moment hatte sein Gegenüber die Macht und er konnte gefährlich werden.

»Ich habe gehört, Sie haben die Druckerei Hirsch in Vorderhufen beschlagnahmt. Hat der gute Mann etwas mit der falschen Farbe gedruckt?«, spottete Kirchner, obwohl ihn die Nachricht damals schwer getroffen hatte. Er kannte Isaak Hirsch gut, einen aufrechten, fleißigen Mann mit Frau und vier Kindern. Er hatte für den Verlag auch schon öfter bei ihm drucken lassen.

»Nein,« lachte von Wehlau, »Der Mann hatte eher die falsche Rasse. Juden sollten nun wirklich nichts in Deutschland zu Papier bringen, finden Sie nicht auch?«, fragte er süffisant.

Kirchner drehte sich um, sah den Nazi an und antwortete nicht.

»Aber lassen wir das, mein lieber Kirchner. Reden wir über das hier!« Von Wehlau breitete seine Arme weit auseinander und schwang sie durch den Raum. »Diese Buchhandlung würde mir in der Partei gut gefallen. Jetzt, da wir sowieso das Sortiment bestimmen. Und das ›Haus der Bücher‹ als Vorzeigebetrieb in Deutschland, was sage ich, in ganz Europa! Das wäre doch ein Zeichen.«

Kirchner stürzte zum Tisch, stützte sich mit beiden Armen auf und beugte sich zu seinem Gegenüber.

»Niemals! Unser Haus ist seit 1722 unabhängig und eine Heimstätte geistigen Lebens, nur der Literatur und dem Schrifttum verpflichtet. So wird es auch bleiben! Was auch immer ihr euch ausdenkt!«, fauchte er.

Von Wehlau stand auf und lachte. »Aber Kirchner, um Gottes Willen. Das liegt doch gar nicht in Ihrer Macht.« Er ging um den Tisch herum auf den Verleger zu. Ihre Gesichter kamen sich nah. »Ich weiß doch, dass Sie und das Haus unter besonderem Schutz stehen. Ihre Freunde in Berlin werden Sie aber nicht ewig schützen können. Nur ein kleiner Fehler von Ihnen und ich bekomme, was ich will!«, lachte er. »Und,« er machte eine genüssliche Pause, »ich werde Ihnen Gelegenheiten geben, Fehler zu machen.«

Kirchner drehte sich weg. Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Es ging nicht nur um die Bücher und gegen ihn. Es ging um die Existenz des Hauses. Von Wehlau nahm seinen Hut und ging zur Tür.

»Heil Hitler!«, rief von Wehlau. Kirchner atmete auf. Doch bereits in der Tür stehend drehte sich der NSDAP-Mann noch einmal um:

»Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Die Verbrennung dieses Schunds findet am 10. Mai auf dem Trommelplatz statt. Überall in der Stadt sammeln unsere treuen deutschen Studenten die Bücher bereits ein. Sie hier dürfen das aber selbst machen. Sortieren Sie alles aus und packen Sie es in Kisten.« Er zeigte mit dem Finger auf Kirchner. »Und verlassen Sie sich drauf, dass ich das kontrollieren werde. Finde ich dann nur ein einziges Buch von der Liste«, wieder ließ er eine Pause dazwischen und genoss es sichtlich, »in den Regalen, unter den Tischen oder im Keller, sind Sie dran wegen Verrats.«

Kirchner sah in die bösartig funkelnden Augen des adligen Parteimanns. Der spürte die Überlegenheit, die er dank seines Amtes jetzt ausspielen konnte und legte nach. Jetzt erst griff er den Verleger richtig an:

»Und Sie bringen die Bücher persönlich zum Trommelplatz und werfen sie selbst ins Feuer!« Von Wehlau lachte triumphierend und wandte sich ab. Im Hinausgehen sprach er weiter, so, als spräche er zu sich selbst. »Das wird wunderbare Bilder auf den Titelseiten geben. Der Inhaber von Europas größter Buchhandlung übergibt seine Bücher den Flammen! Herrlich!«.

6

Vorsichtig drückte Emma ihr Ohr an die Tür. Von drinnen hörte sie Musik. Das Grammofon ihres Onkels kratzte ein melancholisches Stück der Comedian Harmonists aus dem Schellack. Kein gutes Zeichen. Ihr Onkel hörte normalerweise nur spät abends Musik, wenn er sich alleine im Haus wusste. Oder aber, wenn es etwas sehr Ernstes gab, über das er nachdachte. Dann waren alle Mitarbeiter gewarnt, und »Der Chef hört Musik!« verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Haus.

Emma klopfte vorsichtig. Als das gewohnte »Herein!« nicht ertönte, klopfte sie besorgt ein zweites Mal, diesmal energischer. Als wieder keine Reaktion erfolgte, drückte sie die Klinke nieder und öffnete die Tür. Wilhelm Kirchner stand vor dem Grammophon, drehte sich langsam zu ihr um. Emma blickte in ein ernstes und nachdenkliches Gesicht.

»Emma! Komm rein, bitte schließe die Tür. Setz dich«.

»Onkel Wilhelm, was ist denn los? Was wollte dieser von Wehlau von dir?«

»Weißt du, dass man letzte Woche zwei Konzerte der Herren verboten hat?«, begann Wilhelm Kirchner und zeigte auf das Grammofon. »Goebbels hat sie wohl im Visier, weil drei von ihnen Juden sind. Wer weiß, wie lange er sie noch singen lässt.«