Der Kampf um den Nordpol - Michael Paul - E-Book

Der Kampf um den Nordpol E-Book

Michael Paul

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Beschreibung

Das »ewige Eis« am Nordpol schmilzt und arktische Räume werden immer leichter und länger zugänglich. Auf dem Land können die reichen Bodenschätze einfacher abgebaut werden und der Schiffsverkehr im Nordpolarmeer nimmt zu. Die Arktis verliert dabei zunehmend ihren Ausnahmecharakter als Ort der friedlichen Kooperation. Der Klima­wandel macht sie zum Objekt widerstreitender Interessen und Machtkonflikte. Es ist dünnes Eis, auf dem sich die Großmächte USA, China und Russland bewegen und um die Vorherrschaft in der Arktis streiten. Sind wir schon in einem neuen Kalten Krieg? Dieses Buch will den vielfältigen Wandel in der Arktis erklären, Konflikte problematisieren und Wege zu Dialog und Kooperation aufzeigen.

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Michael Paul

Der Kampf um den Nordpol

Michael Paul

DER KAMPFUM DEN NORDPOL

Die Arktis, der Klimawandelund die Rivalität der Großmächte

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © mauritius images / Samantha Crimmin / AlamY

Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82702-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82728-0

ISBN Print 978-3-451-39052-4

Inhalt

EINFÜHRUNG

DIE ARKTIS

Was ist die Arktis? Definitionen und Ordnungsrahmen

Was macht die Arktis so wichtig?

Der Klimawandel und seine Folgen

Ressourcen: Ambivalente Entwicklungen

Gebietsansprüche vom Atlantik bis zum Pazifik

Seewege: Mehr Schiffsverkehr unter schwierigen Bedingungen

Und was interessiert Deutschland an der Arktis?

AKTEURE UND AMBITIONEN

Die Vorgeschichte des Arktischen Rats

Der Arktische Rat: Gründung, Zusammensetzung und Arbeitsweise

Arbeitsgruppen und Arktischer Wirtschaftsrat

Erfolge und Perspektiven

Reykjavik und der russische Vorsitz 2021 bis 2023

Kooperation und Konkurrenz der Arktisstaaten

Russische Föderation

Vereinigte Staaten von Amerika

Kanada

Europas Arktisstaaten

Exkurs: Grönlands Projekt Unabhängigkeit

Indigene Völker als permanente Mitglieder im Arktischen Rat

Beobachterstaaten im Arktischen Rat

Der „Nahe Arktisstaat“ China

Asiatische Beobachterstaaten

Europäische Beobachterstaaten

Sonderfall EU

AUSSICHTEN:EIN NEUER KALTER KRIEG?

Das arktische Sicherheitsdilemma

Konfliktprävention durch Dialog und Kooperation

Die neue Arktis

ABKÜRZUNGEN

ARKTIS ONLINE

AUSWAHLBIBLIOGRAFIE

ENDNOTEN

ÜBER DEN AUTOR

EINFÜHRUNG

Die Arktis ist legendär. Das Land „jenseits des Nördlichen“, wofür das griechische Wort Ὑπερβορέα (Hyperboréa) steht, galt in der antiken Mythologie als paradiesischer Ort mit einer besonderen Nähe zu den Göttern. Hinter den schroffen Eisbergen wurden warme Gefilde vermutet, und ihre Bewohner – die Hyperboreer – galten als weise, glücklich und unsterblich. Erstmals scheint der griechische Seefahrer Pytheas die Länder nahe der Frostzone erreicht zu haben, darunter die Insel Thule als das am weitesten entfernte Reiseziel – wobei es sich wohl um eine Insel vor Grönland handelte. Daher wird die nördlichste Landfläche der Erde auch Ultima Thule genannt.1

Der „Mythos Nordpol“ wurde von europäischen Gelehrten und Handelsreisenden geschaffen, die von einem warmen Meer hinter den Eisbarrieren träumten, in dessen Mitte ein polares Arkadien liegt. Nach Passieren des Nordpols sollte das Klima der dortigen Seen und Länder ebenso gemäßigt sein wie in hiesigen Gegenden.2 Doch für Seefahrer wie Willem Barents (1550–97), der als Entdecker Spitzbergens gilt, blieben die Eismassen im Nordpolarmeer undurchdringlich. Im 18. Jahrhundert lebte die Vorstellung vom eisfreien Nordpol unter anderem durch den Universalgelehrten Michail Lomonossow (1711–65) wieder auf. Eine Entdeckungsreise zum Nordpol, wo es „weder Kälte noch Schnee“ gebe, stand 1818 auch im Mittelpunkt des Frankenstein-Romans von Mary Shelley.3 Noch 1865 vertrat der Kartograf August Petermann auf der ersten Versammlung Deutscher Meister und Freunde der Erdkunde die Theorie von dem zu allen Jahreszeiten eisfreien Nordpolarmeer und initiierte damit die deutsche Arktisforschung.4 Entgegen seinen Erwartungen musste Kapitän George Strong Nares bei seiner Expedition 1875–76 jedoch die Theorie widerlegen, denn er fand einen zugefrorenen Ozean vor. Zwar erreichte seine Mannschaft mit 83 Grad nördlicher Breite den nördlichsten Ort, der bis dato jemals von Menschen betreten worden war, Skorbut und mangelhafte Ausrüstung zwangen Nares jedoch zur Umkehr. Nach der Rückkehr aus dem Nördlichen Eismeer sandte er ein Telegramm mit den Worten „Pol unerreichbar!“ an die britische Admiralität.5 Heute droht die zunehmende Erderwärmung die Vorstellung von der eisfreien Arktis wahr werden zu lassen, und Grönland könnte in Zukunft das von den Wikingern erhoffte Grünland werden – vielleicht sogar mittels „grüner“ umweltverträglicher Technologie?

Das „ewige Eis“ schmilzt. Immer schneller und für längere Zeiträume verschwindet das Meereis am Nordpol, tauen die Permafrostböden und weicht die klirrende Kälte als Symbole einer menschenfeindlichen Eiswelt. Trotz der widrigen Lebensbedingungen ist die Arktis aber das Ziel großer Ambitionen geblieben. Die Briten unternahmen 1773 den ersten von vielen erfolglosen Versuchen, den Nordpol zu erreichen. Später wurde der Kampf um den Nordpol inneramerikanisch ausgetragen – mit dem bis heute strittigen Patt zwischen Robert Peary und Frederick Cook. Nach seiner eigenen Aussage hat Peary am 6. April 1909 die US-Flagge an der Stelle gehisst, die nach seinen Beobachtungen die nordpolare Achse der Welt sei, und „im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika förmlich von der ganzen Gegend und Umgebung für diese Besitz genommen“.6 Der Nordpol und dessen Besitz hatten schon damals und haben noch heute einen hohen symbolischen Wert. Während Washington die Arktis lange vernachlässigt hat, fordert Moskau mit dem Anspruch auf große Gebiete im Nordpolarmeer auch Respekt für Russland als Großmacht ein. Und auch China hat als selbsternannter „Naher Arktisstaat“ strategische Interessen und macht damit die Rivalität der Großmächte im Eismeer deutlich.

Die Arktis ist das Ziel geopolitischer Ambitionen. Der Begriff Geopolitik ist ein Synonym für raumbezogene internationale Politik. Er bezieht sich auf den Einfluss grundlegender geografischer Merkmale auf die internationalen Beziehungen. Zu den Merkmalen, die in die geopolitische Analyse einfließen, gehören etwa die relative Größe und Lage von Ländern, die Standorte wichtiger Ressourcen wie Öl oder Gas, geografische Barrieren wie Ozeane, Eiswüsten und Gebirge sowie die Zugänge zum Meer und die Verfügbarkeit von Transportverbindungen wie Land- und Wasserwege. In der Politikwissenschaft besteht „zunehmend Einigkeit“ darüber, dass der Raumdimension in der Analyse internationaler Beziehungen eine wichtige Rolle zukommen sollte.7 In Deutschland sollte idealiter die „Raumblindheit“ ebenso ihr Ende finden wie im maritimen Kontext die „Seeblindheit“. Die Geopolitik als Analysemethode findet ihre Ergänzung in der Geostrategie als raumbezogenes, außenpolitisches Agieren – so in Bezug auf Grönland. Eine Geostrategie legt konkret fest, an welchen Orten ein Staat seine diplomatischen Aktivitäten und die Projektion militärischer Macht konzentriert. In diesem Sinne sollten neben „Werten“ und „Recht“ auch „Raum“ und „Macht“ als handlungsleitende normative Kategorien deutscher und europäischer Sicherheitspolitik gelten.

Erst seit wenigen Jahren ist die Arktis wieder ein sicherheitspolitisches Thema, gleichwohl waren strategische und militärische Erwägungen seit dem Kalten Krieg nie ganz verschwunden. Allein schon aufgrund ihrer Lage bleibt sie von hoher Bedeutung für die USA und Russland, die in der Beringstraße nur 85 Kilometer voneinander entfernt sind. Noch heute würden Raketen bei einem nuklearen Schlagabtausch ihren Kurs über das Nordpolarmeer nehmen. In den 1990er Jahren gab es Hoffnung auf eine andauernde Ära der Kooperation, und das 21. Jahrhundert hätte die „Ära der Arktis“8 werden können. Stattdessen sind die 2020er Jahre wieder von einer Rivalität großer Mächte geprägt; der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt die damit verbundene latente Gefahr.

Das schmelzende Eis eröffnet neue Einflussmöglichkeiten, die ebenso Investitionen und Kooperation wie Konkurrenz und Konfrontation fördern können. Die Arktis hat ihren Ausnahmecharakter als Ort der Zusammenarbeit, des Friedens und der Stabilität verloren. Die Zeit des arktischen Exzeptionalismus ist zu Ende. Die Arktis ist keine einsam entrückte Region fernab von Konflikten mehr, sondern der Klimawandel macht sie zunehmend selbst zum Ort widerstreitender Interessen und Machtkonflikte. Gibt es trotz alledem Aussichten für eine neue, friedliche Arktis?

Die Arktis ändert sich rapide. Die Temperaturerhöhungen sind in der Arktis bis zu dreimal so hoch wie im weltweiten Durchschnitt. Hier ist der Klimawandel bereits Realität. Die Arktis ist nicht nur von extremen Umweltbedingungen geprägt, sie erfährt durch den Klimawandel auch höchst widersprüchliche Entwicklungen. Einerseits nehmen Umwelt und Bevölkerung in der Arktis durch die Folgen der Erderwärmung großen Schaden. Andererseits eröffnen sich blendende Aussichten für ambitionierte Förderprojekte, reiche Ressourcen, kostensparende Seewege und lukrative Tourismusziele. Ein Beispiel bietet wiederum Grönland: Je schneller die Gletscher schmelzen, desto mehr Aufmerksamkeit findet die Insel. Der Klimawandel hat hier eine Art Werbeeffekt, der es erleichtert, Kapital zur Entwicklung neuer eigener Wirtschaftszweige anzuziehen und damit die Abhängigkeit vom Königreich Dänemark zu verringern.

Die vielfältigen Entwicklungsprozesse in der Arktis haben gravierende Auswirkungen auf internationale Politik, Wirtschaft, Umwelt und Sicherheit. Deshalb ist es wichtig, sich eingehend mit Akteuren, deren Ambitionen und den Aussichten für diesen Raum zu befassen. Bislang war die Arktis von friedlicher Zusammenarbeit geprägt, und noch heute überwiegen kooperative Ansätze. Politische Konflikte und Spannungen der letzten Jahre liegen zu einem kleinen Teil in der Arktis selbst, größtenteils kommen sie von außen als geopolitischer „Spillover“ der Konkurrenz zwischen den USA, China und Russland. Denn die Arktis ist aus verschiedenen Gründen bedeutsam, um den eigenen Status zu erhalten oder zu vergrößern: Die USA haben sie als „Arena“ im Kampf um Macht und Einfluss identifiziert und wollen den Status quo erhalten. Russland will sie nutzen, um seine Rolle als Großmacht auszubauen, und China will sie für den Aufstieg zur Weltmacht nutzen. Typisch dafür ist der jeweilige Umgang mit Schifffahrtswegen: Die USA wollen freie Schifffahrtswege, während Russland ihren Zugang begrenzen will.

Gerade im Falle arktischer Seewege fehlt jedoch moderne Infrastruktur, und weil die nationalen Einsatzmittel nicht ausreichen, bedarf es internationaler Zusammenarbeit für Seenotrettung und Katastrophenfälle. Die arktischen Umweltbedingungen bleiben eine extreme Herausforderung für Schiffe und Besatzungen, zumal die Erwärmung die Lage verschärft und noch stärkere Winde, höhere Wellen und mehr Eisdrift schafft. Das erfordert mehr statt weniger Kooperation der Arktisstaaten und ihrer Küstenwachen; angesichts begrenzter Mittel erscheint hier (Macht-) Konkurrenz kontraproduktiv.

Es lohnt sich auch hier der Blick zurück in die Geschichte: Die Arktis war schon früh in Konflikte der Großmächte verwickelt. Der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763 gilt als globaler Konflikt, weil alle damaligen Großmächte involviert waren und die Auseinandersetzung auf allen Kontinenten – mit Ausnahme der Antarktis – geführt wurde. Die Arktis war damals direkt beteiligt, was bis heute andauernde Folgen hat. Denn am Ende des Krieges musste Frankreich sein nordamerikanisches Territorium Nouvelle-France an Großbritannien abgeben – was Kanada nachhaltig politisch, sozial und kulturell geprägt hat.9 Heute wächst abermals die Konkurrenz der Großmächte, und dies wirkt sich zunehmend auch auf die Arktis aus. Im Folgenden werden daher die Arktisstaaten und die im Arktischen Rat vertretenen Beobachterstaaten auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Kontext der Großmachtrivalität zwischen den USA, Russland und China untersucht. Welche Schwerpunkte setzen arktische Akteure in ihrer unterschiedlichen Arktispolitik und inwiefern weichen Pläne und Praxis voneinander ab und bilden Potenzial für Kooperation oder Konkurrenz? Welche Aussichten bietet eine zunehmend eisfreie Arktis alten und neuen Akteuren in der Arktis?

Offiziell werden weiterhin Frieden und Kooperation in der Arktis beschworen. Allerdings erwähnte der russische Außenminister im Mai 2021 in Reykjavik nicht die Rede von Michail Gorbatschow in Murmansk, in der dieser 1987 vorgeschlagen hatte, die Arktis in eine Zone des Friedens zu verwandeln. Die Übernahme des Vorsitzes im Arktischen Rat wäre dazu der geeignete Anlass gewesen, aber zu sehr verbindet der russische Präsident Wladimir Putin mit dem Namen Gorbatschow das von ihm beklagte Ende der Sowjetunion. Putin sieht die Arktis nicht als Zone des Friedens, sondern als Ressourcenbasis und Bastion zur Verteidigung Russlands als Großmacht. Der Nordpolarraum hat für Russland eine hohe, oft mystisch überhöhte Bedeutung. Ein Symbol dafür war die spektakuläre Aktion, bei der 2007 eine russische Flagge in über 4000 Metern Tiefe auf den Meeresboden am Nordpol gesetzt wurde. Die Arktis sei russisch, wurde erklärt. Droht ein internationaler Kampf um den Nordpol?

Moskau tritt immer aggressiver auf. Damit wird auch die Rolle von Deutschland als Partner und Verbündeter nördlicher NATO-Staaten im arktisch-nordatlantischen Raum wichtiger. Die Zeit „europäischer Ausreden“ ist zu Ende, in der Berlin und Brüssel einen „kollektiven Urlaub von strategischem Denken“10 nehmen konnten. Alles, was nun außenpolitisch zu tun ist, sollte strategisch angelegt sein – also langfristig und ein breites Spektrum abdeckend. Das heißt, in der Außen- und Sicherheitspolitik in Bezug auf die Arktis nicht nur den sicherheitspolitischen Aspekt zu betrachten, sondern verschiedene Politikgebiete – wie Klima- und Ressourcenpolitik – zu berücksichtigen.

Dieses Buch soll mehr Verständnis für die komplexen Veränderungsprozesse in der Arktis wecken und Orientierung geben, selbst wenn aufgrund der Fülle des Materials oft nur anekdotische Evidenz geboten werden kann. Wer sich darüber hinaus über die arktischen Lebensumstände informieren möchte, dem empfehle ich die neu aufgelegten Erinnerungen von Christiane Ritter, Eine Frau erlebt die Polarnacht, und das aktuelle Buch von Line Nagell Ylvisaker, Meine Welt schmilzt.11 Beide beschreiben – in einem Abstand von über 80 Jahren – das Leben auf Spitzbergen und illustrieren die tiefgreifenden Veränderungen, die mit dem Klimawandel in der Arktis verbunden sind.

Im Entstehungsprozess dieses Buches12 waren neben vielen Gesprächen diesseits und jenseits des nördlichen Polarkreises wieder Kolleginnen und Kollegen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) eine wertvolle Hilfe, wofür ich herzlich danke. Etwaige Fehler sind allein dem Autor zuzurechnen [email protected]

DIE ARKTIS

Wesentlich ist die Arktis ein Meer, das Kontinentalstaaten umgeben, während es sich bei der Antarktis um einen Kontinent handelt, der von Meer umschlossen ist. Die Arktis umfasst so viele unterschiedliche Klimazonen und Lebenswelten, dass es „nichts intuitiv Offensichtliches“13 gibt, was sie als Region kennzeichnet. Allein Eisbären existieren nur in der Arktis und sind ihre bekanntesten Symbole. Seit 1989 ist der Eisbär das Wappentier Grönlands. Eisbären sind wegen des Klimawandels gefährdet, da ihre Zukunft vom Fortbestand des Meereises abhängt.

Geografisch wird die Arktis durch den nördlichen Polarkreis begrenzt. Fünf arktische Küstenstaaten (Arctic 5, A5) umgeben das Nordpolarmeer mit dem ihnen zugehörigen Territorium: die Vereinigten Staaten von Amerika (mit dem Bundesstaat Alaska), das Königreich Dänemark (mit Grönland), Kanada, die Russische Föderation und Norwegen. Weitere territoriale Anteile an der Arktis haben Finnland, Island und Schweden. Diese acht Staaten (A8) bilden den Arktischen Rat, in dem überdies indigene Volksgruppen vertreten sind.

Was ist die Arktis? Definitionenund Ordnungsrahmen

Die älteste Definition folgt dem System der mathematisch-astronomischen Zonen: Die Arktis befindet sich unter dem Sternbild des Großen Bären. Das dafür verwendete griechische Wort ἀρκτικός (arktikós) ist der Ursprung für die Bezeichnung dieses Raumes. Er wird durch den Polarkreis in 66° 33’ nördlicher Breite begrenzt. Diese am häufigsten verwendete Definition schließt jedoch der polaren Kernzone ähnliche Subregionen wie das Beringmeer, den südlichen Teil Grönlands und die Hudson Bay aus. Alternativ lässt sich die Arktis nach Kriterien bemessen, die typisch für die Region sind. Im System der Klima- und Landschaftszonen wird die Arktis durch die 10-Grad-Celsius-Juli-Isotherme bestimmt. Das ist eine gedachte Linie, nördlich derer die Mitteltemperatur im mehrjährigen Durchschnitt selbst im wärmsten Monat nicht über 10° C steigt. Sie stimmt weitgehend mit der polaren Baumgrenze überein. Nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Erwärmung ist diese Definition problematisch.

Eine umfassende Festlegung wählte eine der sechs Arbeitsgruppen des Arktischen Rates im Arctic Monitoring Assessment Program (AMAP). Demnach bilden auch die Hudson Bay und das südlich der Barentssee gelegene Weiße Meer integrale Bestandteile der Arktis, außerdem Teile des Landterritoriums der acht Arktisstaaten.14 Eine noch weitreichendere Definition enthält der Arctic Human Development Report (AHDR). Demgemäß erstreckt sich die Arktis auf 40 Millionen Quadratkilometer und hat eine Bevölkerung von etwa vier Millionen Menschen – davon lebt fast die Hälfte in der russischen Arktis.15

Arktis. Lage und Definitionen16

Das Nordpolarmeer ist mit rund 14 Millionen Quadratkilometern der kleinste Ozean der Erde und hat eine durchschnittliche Wassertiefe von 1200 Metern; seine größte Tiefe beträgt – westlich von Spitzbergen – über 5600 Meter. Es ist damit der Ozean mit der durchschnittlich geringsten Wassertiefe, was den Großteil des Meeresbodens nutzbar macht.17 Das Europäische Nordmeer zwischen Grönland und Nordeuropa verbindet den Arktischen Ozean mit dem Atlantik, die Beringstraße bildet als Meerenge zwischen Asien und Amerika die Verbindung der Arktis mit dem Pazifik.

Naturgemäß ändert sich mit der geografischen Lage eines Landes in der Arktis auch dessen politische Bedeutung. Der Blick aus Washington auf seine Exklave Alaska unterscheidet sich grundlegend von der aus Moskau auf seine arktischen Gebiete und deren Umfeld.18 Beide Betrachtungsweisen unterscheiden sich wiederum erheblich von der bipolaren, sinozentrischen Sicht Pekings, in der die Arktis am Rand der Welt liegt.19 Im sicherheitspolitischen Kontext ist außerdem ein arktisch-nordatlantischer Raum relevant,20 der für Brüssel und die NATO-Allianz an Bedeutung gewinnt.

Die allgemein übliche, alle acht Arktisstaaten berücksichtigende Definition ergibt nicht nur eine große Vielfalt von Landschaften, sondern auch eine Bandbreite an Zuständen arktischer und subarktischer Gewässer: warm, kalt, eisfrei, eisbedeckt, salzig, weniger salzig etc. Entsprechend unterschiedlich sind die Umweltbedingungen und die Anforderungen an die Schifffahrt. Ein restriktives Kriterium legte 2002 die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (International Maritime Organization, IMO) fest: Arktische Gewässer sind demnach solche, die eine Meereis-Konzentration von einem Zehntel oder mehr aufweisen und daher ein strukturelles Risiko für Schiffe bilden.21 Gemeint sind hier zahlreiche, sehr unterschiedliche Schiffstypen: Fähren, Fischerboote, Tanker, Fracht- und Containerschiffe, Kreuzfahrtschiffe, Eisbrecher sowie Schiffe von Küstenwache und Marine. Dabei handelt es sich jeweils um Schiffe mit oder ohne Eisklasse.22 Diese stuft die Eisfestigkeit von Schiffen ein, die für eisbedeckte Gewässer konzipiert sind und über eine Eisverstärkung verfügen (wie Frachteisbrecher).

Der grundlegende Ordnungsrahmen für Meere und Ozeane ist das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982 (SRÜ).23 Es soll den internationalen Verkehr erleichtern sowie die ausgewogene Nutzung ihrer Ressourcen zu friedlichen Zwecken fördern. Die überwiegende Mehrheit der Staaten ist diesem Abkommen beigetreten. Viele seiner Vorschriften entsprechen dem Völkergewohnheitsrecht und werden daher auch von den USA befolgt, die nicht zu den Vertragsparteien zählen.24 Das SRÜ regelt Seegebiets- und Festlandsockelabgrenzungen, Fischerei, Schifffahrt und andere Nutzungen sowie den Schutz der arktischen Gewässer. Küstenstaaten können ein nationales Küstenmeer von bis zu zwölf Seemeilen und eine Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) von 200 Seemeilen beanspruchen. In der AWZ haben die Küstenstaaten souveräne Rechte bei der Ausbeutung der Ressourcen des Meeres, seines Bodens und dessen Untergrundes. In der Arktis sind als „kompliziertes Mosaik“ weitere nationale Gesetze und internationale Regime zu berücksichtigen.25

In der Ilulissat-Erklärung vom Mai 2008 lehnten es die fünf arktischen Küstenstaaten ab, ein ähnliches Rechtsregime zu entwickeln, wie es der Antarktis-Vertrag von 1959 begründet hatte. Stattdessen bekräftigten sie, ihre souveränen Rechte und Pflichten gemäß dem Seerecht zu klären,26 womit die USA eingeschlossen sind.

Was macht die Arktis so wichtig?

Das schmelzende Eis des Nordpolarmeers wirkt als Frühwarnsystem des Weltklimas, denn das Arktiseis ist eine der wichtigsten Klimavariablen. Es beeinflusst den Wärme- und Feuchtigkeitsaustausch an der Meeresoberfläche sowie Meeresströmungen, die für das Klima – und damit auch die Wolkenbildung und die Luftfeuchtigkeit – weltweit bedeutend sind. Die Autorinnen und Autoren des „Arctic Climate Impact Assessment“ benutzten 2004 das Bild vom Kanarienvogel: Ähnlich wie Bergleute unter Tage früher durch einen Kanarienvogel vor der steigenden Konzentration giftiger Gase gewarnt wurden, signalisiert Forschenden das Meereis die Veränderungen des Weltklimas.27

Die Veränderungen des Klimas treiben die Entwicklung der Arktis in vielfacher Hinsicht voran. Wärmere Temperaturen lassen das Eis schmelzen, ermöglichen eine zunehmende Nutzung arktischer Seewege und gestatten die Ausbeutung bislang unzugänglicher Ressourcen. In der Arktis macht sich aber auch der Wandel in den internationalen Beziehungen bemerkbar. Die globale Erwärmung ist der Treiber einer dynamischen Entwicklung, welche bislang praktizierte Formen der Zusammenarbeit verändert. Je weniger arktisches Eis es gibt und je besser sich die Seewege nutzen lassen, desto stärker machen etablierte Arktisstaaten wie Russland und die USA sowie die aufstrebende Großmacht China ihre jeweiligen Ansprüche geltend und desto mehr geraten sie in Konkurrenz zueinander. Daraus resultierenden Interessenkonflikten und potenziellen Krisen gilt es vorzubeugen.

Der Klimawandel und seine Folgen

Der Begriff des Klimawandels bezieht sich primär auf die vom Menschen verursachte Veränderung des globalen und regionalen Klimas. Diese anthropogene Klimaänderung ist hauptsächlich auf die großen Mengen an fossilen Energieträgern wie Braun- und Steinkohle, Erdöl sowie Erdgas zurückzuführen, welche die Industriegesellschaften seit Mitte des 18. Jahrhunderts verfeuern. Die erwärmende Wirkung von Kohlendioxid (CO2) auf das Klima ist seit mehr als hundert Jahren ein in der einschlägigen Wissenschaft akzeptiertes Faktum.28 Das Ausmaß klimaschädlicher Emissionen wie CO2 steigt weiter und hat 2019 erstmals seit Beginn der Industrialisierung im Jahr 1750 den Wert von 410 ppm (Teilchen pro Million Teilchen) überschritten. Im März 2021 wurde mit 417 ppm ein neuer Höchstwert erreicht (1958 lag dieser Wert noch bei 316 ppm). Dies ist der höchste Stand seit mindestens 800 000 Jahren. Gemäß dem Bericht der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina zum Klimawandel stammten 86 Prozent (34,4 Gigatonnen) der von Menschen freigesetzten CO2-Emissionen im Analysezeitraum 2009 bis 2018 aus der Verbrennung fossiler Stoffe und 14 Prozent aus Landnutzungsänderungen wie Entwaldung oder Trockenlegung von Feuchtgebieten.29

Der Anstieg der Treibhausgase (vor allem CO2 und Methan) hat seit dem 19. Jahrhundert die Erdoberfläche im Mittel um 1,2 Grad erwärmt. Der Jahresdurchschnitt der Lufttemperatur ist im Flächenmittel von Deutschland in den Jahren 1881 bis 2019 um 2 Grad angestiegen.30 Eine grundlegende Besserung ist mittelfristig nicht absehbar: Gemäß dem Statusbericht des globalen Ökostrom-Netzwerks REN21 haben zwar die erneuerbaren Energien in den vergangenen zehn Jahren zugelegt. Aber gleichzeitig wuchs der Energiebedarf. Als Folge stagniert der Anteil fossiler Energieträger auf hohem Niveau: Im Jahr 2009 lag dem Bericht zufolge der Anteil fossiler Energie bei 80,3 Prozent und zehn Jahre später bei 80,2 Prozent.31

Extreme Wetterereignisse sind weltweit die unmittelbar spürbaren Auswirkungen des Klimawandels. Die Häufigkeit von Hitzeextremen, Dürren, Extremniederschlägen und starken Stürmen nimmt zu. Dem Bericht der Nationalen Akademie der Wissenschaften zufolge gefährden extreme Wetterereignisse wie Dürren mittelfristig auch in Deutschland die Versorgung mit Wasser und landwirtschaftlichen Produkten.32 Die Folgen des Klimawandels für die Meere charakterisierte der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) schon 2006 in einem Bericht: Das Meer werde „zu warm, zu hoch, zu sauer“. Die Erwärmung und Versauerung der Meere sowie ein Anstieg des Meeresspiegels seien bereits messbar.33

In der Arktis sind die Ökosysteme und der Lebenszyklus vieler Tiere betroffen, weil das Eis immer stärker schmilzt und oftmals Regen statt Schnee fällt. Der Bestand an Eisbären und Walrossen sowie Seehundarten und Seevögeln geht zurück, und Rentiere finden auf dem vereisten Boden keine Nahrung. Mit dem Meereis geht in der Arktis ein ganzes Ökosystem verloren. Inuit verlieren ihre Jahrtausende alte Lebensweise.

Der Klimawandel ist daher seit vielen Jahren programmatischer Schwerpunkt des jeweiligen Vorsitzes im Arktischen Rat: Nach Finnland stand der Vorsitz Islands (2019–2021) unter dem Einfluss der rapiden Umweltveränderungen.34 Russland will sich ebenfalls mit den Folgen der Klimaänderung auseinandersetzen. Moskau wird aber wenig dazu beitragen, diesen Entwicklungen durch eine Dekarbonisierung – und damit einer Verringerung fossiler Brennstoffe als Energieträger – zu begegnen; schließlich stammt ein wichtiger Teil des Staatshaushalts aus der Förderung fossiler Ressourcen in der russischen Arktis. Russland hat im Energiemix der G20-Staaten den geringsten Anteil an erneuerbaren Energien – was der Skepsis des russischen Präsidenten gegenüber dem Klimawandel und einer Lösung durch erneuerbare Energien entspricht.35

Klimabedingte Probleme sind auch für die Außen- und Sicherheitspolitik eine neue Herausforderung. Die Auswirkungen sind global unterschiedlich verteilt und können die Spannungen zwischen Staaten erhöhen.36 Dies erfordert kooperative Politikansätze, um den Bedarf an sicherheitspolitischen oder militärischen Eingriffen gering zu halten und die in der Arktis bereits deutlich werdende Relevanz klimainduzierter Probleme für die internationale Sicherheit nicht zu verstärken. Die klassische Verteidigungspolitik mit einem engen Sicherheitsbegriff ist also ebenso von den Klimaveränderungen betroffen wie die präventive Sicherheits- und Entwicklungspolitik und deren Verhältnis zum Klimaregime unter der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen.

Die Bedeutung der Arktis im Klimasystem

Aus den Szenarien der Klimaforscher ist eine fühlbare Realität geworden. Der Arktis kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sie maßgeblich die globale Erwärmung und somit auch die Schmelzrate der Antarktis bestimmt.37 In der Klimaforschung wird davon ausgegangen, dass das Schmelzen des Meereises und des grönländischen Festlandeises ab einem bestimmten Ausmaß irreversible Kipppunkte (tipping points) im globalen Klimasystem bilden. Schon geringe Änderungen im Klimasystem können bewirken, dass solche Schwellenwerte erreicht werden, bei deren Überschreiten es zu starken und teils unaufhaltsamen und unumkehrbaren Veränderungen kommt. Abrupte, drastische Klimaänderungen können die Anpassungsmöglichkeiten der menschlichen Gesellschaft fordern oder übersteigen.38 Allerdings bezeichnet die in Oxford forschende Klimamodelliererin und Philosophin Friederike Otto den Begriff der Kipppunkte als „leider irreführend“: Selbst wenn solch eine Schwelle überschritten werde, sei das nicht unmittelbar zu merken. „Die ganze Klimadiskussion wird immer so geführt, als gäbe es bei 1,5 Grad oder 2 Grad eine Klippe, von der an etwas passiert, dass wir plötzlich herunterfallen. Das ist aber Unsinn. Das Zeitalter der klimabedingten Verluste und Schäden hat längst begonnen. Und wenn wir weiter Kohlendioxid emittieren, wird auch die globale Mitteltemperatur steigen, und desto dramatischer werden die Veränderungen, was Extremwetter und was Meeresspiegelanstieg angeht.“39

Ein Beispiel ist die Abschwächung der Atlantischen Umwälzströmung.40 Ein internationales Wissenschaftsteam, darunter Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, hat diese untersucht und Ergebnisse im Februar 2021 veröffentlicht.41 Die Umwälzströmung lenkt warme Salzwassermassen aus den Tropen in den Nordatlantik, wo sie in die Tiefe sinken, während kaltes, salzarmes Wasser von dort zurück in den Süden fließt. Weil aber die Eismassen Grönlands abschmelzen und es in der Region mehr regnet, dringt nun massenhaft Süßwasser in das System, das leichter ist als Salzwasser und deshalb schlechter herabsinken kann. Dadurch wird die große Umwälzströmung abgeschwächt. Diese Strömung ist ein wichtiger Motor für die zirkulierenden Wassermassen der Weltmeere und trägt entscheidend zur Wärmeverteilung zwischen kalten und warmen Regionen der Erde bei. Die aktuell geschätzte 15-prozentige Abschwächung hat laut Rahmstorf bereits Folgen auf beiden Seiten des Atlantiks: „Schon heute sehen wir einen stärkeren Meeresspiegelanstieg an der amerikanischen Küste und verstärkte Hitzewellen in Westeuropa.“42 In Europa kann eine Verlangsamung des Golfstroms zu mehr extremen Witterungsereignissen führen, bedingt durch veränderte Zugbahnen von Wettersystemen und eine Verstärkung von Winterstürmen über dem Atlantik. Sollte die Meeresströmung ganz zum Erliegen kommen, müsste in Mitteleuropa mit sehr strengem kontinentalem Winterwetter gerechnet werden, da die Warmluftzufuhr vom Atlantik weitgehend ausbleiben würde. Das befürchtete Abreißen der Strömung ist einer der oben genannten Kipppunkte, auch wenn er als Prozess zu verstehen ist, der sich über mehrere Jahrzehnte hinziehen würde. Zwar besteht bislang kein Konsens, ob sich die Strömung schon verlangsamt hat oder allmählich zu verlangsamen beginnt. Aber Wissenschaftler sind einig, dass, wenn sich die Atmosphäre weiter erwärmt, die Strömung sich verlangsamen wird.

Russland registrierte im Februar 2020 den wärmsten Winter seit Beginn der regulären meteorologischen Aufzeichnungen vor 140 Jahren.43 Am 17. Juni 2020 wurde im ostsibirischen Werchojansk eine Temperatur von 38° C gemessen. Werchojansk ist als Kältepol der bewohnten Welt bekannt, seitdem ein Verbannter des Zarenreiches 1885 hier minus 76,8° C gemessen hat. Im Oktober bis Dezember 2020 wurde panarktisch die höchste Temperatur an der Oberfläche festgestellt, und erstmals war die Laptewsee im Oktober eisfrei. Die Temperaturen in der Arktis steigen zwei- bis dreimal so stark wie im globalen Durchschnitt; sie haben in den letzten Jahren alle Rekorde seit dem Jahr 1900 übertroffen, und der Trend hält an: Im Juni 2021 wurden in Werchojansk 48° C gemessen und im Westen Kanadas sogar 49,5° C. Im August regnete es erstmals auf dem Gipfel des Grönländischen Eisschildes auf 3216 Metern Höhe.44 Die Folgen sind dramatisch für Mensch und Umwelt: Indigene Völker wie die Inuit (grönländisch: Menschen) verlieren ihre Heimat, Eisbären verhungern und Permafrostböden tauen.

Grönlands schmelzende Eisschilde tragen darüber hinaus dazu bei, dass der Meeresspiegel immer schneller steigt. Beim Anstieg des globalen mittleren Meeresspiegels handelt es sich um eine direkte Folge des Klimawandels, denn die Erwärmung der Ozeane sorgt dafür, dass sich das Meerwasser ausdehnt. Zugleich nimmt das Wasservolumen durch das Abschmelzen von Gletschern sowie von Eisschilden in der Arktis und der Antarktis beträchtlich zu. In einem Bericht über den Einfluss der Erderwärmung auf Ozeane und Eisgebiete geht der Weltklimarat (IPCC) davon aus, dass sich der globale mittlere Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um bis zu 1,10 Meter (in Vergleich zum Stand zwischen 1986 und 2005) erhöhen könnte.45 Daraus erwachsen für die Küstenzonen der Erde verschiedene Gefahren: häufigere und intensivere Überschwemmungen, ein erschwertes Abfließen von Wasser, die Versalzung von Böden, Grundwasser und Oberflächengewässern, die Veränderung und Zerstörung von Ökosystemen, eine verstärkte Erosion an den Küsten und die dauerhafte Überflutung von Land.46 Hiervon wären hunderte Millionen Menschen betroffen.

Als paradoxen Nebeneffekt des schmelzenden Meereises in der Barentssee kann Europa künftig sogar stärkere Schneefälle erleben, konstatierte ein internationales Forscherteam unter Leitung von Hannah Bailey von der finnischen Universität Oulu: „Das Meereis bildet quasi einen Deckel auf dem Ozean. Und mit seinem langfristigen Rückgang in der Arktis gelangen im Winter immer größere Mengen an Feuchtigkeit in die Atmosphäre, was sich direkt auf unser Wetter weiter südlich auswirkt und extreme Schneefälle verursacht. Es mag kontraintuitiv erscheinen, aber die Natur ist komplex und was in der Arktis passiert, bleibt nicht in der Arktis.“ Mittels einer Isotopenanalyse fand das Forschungsteam heraus, dass der Schnee, der bei dem europaweiten Kälteeinbruch 2018 in Nordeuropa gefallen war, zu etwa 90 Prozent aus der Barentssee stammte.47

Eisfreie Arktis?

Die heutige globale Erwärmung geschieht extrem rasch im Vergleich zu dem, was die Klimaforschung über natürliche globale Temperaturzunahmen in der Erdgeschichte bislang herausgefunden hat.48 Die Erderwärmung schreitet insbesondere an Nord- und Südpol überdurchschnittlich schnell voran. Als Folge davon hat die Erde 28 Billionen Tonnen (t) Eis im Zeitraum 1997 bis 2017 verloren, davon 7,6 Billionen t Meereis der Arktis und 3,8 Billionen t grönländisches Eis, erklärte ein britisches Polarforschungsteam.49 Ein Volumen von 28 Billionen t reicht aus, um fast zwei Drittel Deutschlands hundert Meter hoch mit gefrorenem Wasser zu bedecken. Zwar sind die Satellitenaufnahmen und die zur Berechnung der Eisveränderungen verwendeten Kryosphärenmodelle50 des britischen Teams nur Annäherungen, keine exakten Zahlen, und die regionalen und jährlichen Schwankungen sind beträchtlich. Entscheidender jedoch als absolute Zahlen in der globalen Eisbilanz sind die Veränderungen auf der Zeitschiene: Die weltweiten Gesamtverluste haben sich im Untersuchungszeitraum auf 1,2 Billionen t jährlich erhöht – ein Anstieg der Schmelzrate um 57 Prozent. Dabei erhöht nicht alles Eis, das schmilzt, den Meeresspiegel. Vieles von dem gefrorenen Wasser schwimmt schon im Meer.51

Im Winter ist fast das ganze Nordpolarmeer von Eis bedeckt, während im Sommer die Eisbedeckung zurückgeht; die geringste Eisfläche besteht im September. In den letzten vier Jahrzehnten nahm die eisbedeckte Fläche in diesem Monat stetig ab. Zugleich nimmt die sommerliche Eisbedeckung nicht kontinuierlich ab, sondern ist von starken Schwankungen überlagert. Anfang der 1980er Jahre waren im Monat September noch 7,5 Millionen Quadratkilometer (qkm) des Ozeans eisbedeckt, 1999 verringerte sie sich auf 6,1 Millionen qkm, 2009 auf 5,3 Millionen qkm und 2021 auf 4,8 Millionen qkm. Aktuelle Messergebnisse vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) für Polar- und Meeresforschung liegen 1,5 Millionen qkm über dem bisherigen Negativrekord 2012, als Forschungssatelliten eine Restfläche von nur 3,27 Millionen qkm erfasst haben. Von einer Erholung des arktischen Meereises könne trotz des vergleichsweise moderaten Eisrückgangs 2021 aber keine Rede sein, erklärte Christian Haas vom AWI. Ähnliche Sprünge in der verbleibenden Gesamteisfläche hat es im Zeitraum 2012 bis 2013 sowie 1995 bis 1996 gegeben. In einem veränderten Beobachtungszeitraum zwischen 1979 und 2020 habe das arktische Meereis eine Fläche verloren, die etwa der sechsfachen Größe Deutschlands entspricht.52 Auch regionale Schwankungen sind zu beobachten: Besonders weit hat sich das Eis vor Sibiriens Küste zeitweilig zurückgezogen; Mitte Juli 2020 öffnete sich die Nordostpassage erstmals vollständig. Ein Grund dafür war, dass sich Anfang Juli die klimatischen Bedingungen verändert hatten: Eine Hochdruckzelle über der Ostsibirischen- und Tschuktschensee verursachte überdurchschnittlich warme Temperaturen von bis zu 1,6° C über dem Mittelwert.53

Immer mehr Eis schmilzt. Dabei nimmt nicht nur die Eisfläche ab, sondern auch die Eisdicke. Fällt die Eisdicke jedoch unter einen kritischen Wert, so gehen Experten wie Rüdiger Gerdes davon aus, dass die thermodynamischen Effekte dann ausreichen, um große Teile des Arktischen Ozeans eisfrei zu machen.54 Um diesen kritischen Wert festlegen zu können, bedarf es weiterer Forschung. Aber die Teilnehmenden der MOSAiC-Expedition, die mit dem Eisbrecher Polarstern im September 2019 von Tromsø aufgebrochen waren, konnten vor Ort beobachten, wie dünn das Meereis geworden ist: Als sie den Nordpol erreicht hatten, sahen sie „weite Bereiche offenen Wassers fast bis zum Pol, umgeben von Eis, welches durch massives Schmelzen völlig durchlöchert war“, sagte Expeditionsleiter Markus Rex. Nach der Rückkehr im Oktober 2020 in Bremerhaven resümierte er: „Wenn wir die Klimaerwärmung nicht sofort und massiv bekämpfen, werden wir in einigen Jahren im Sommer eine eisfreie Arktis haben, mit unabsehbaren Folgen auch bei uns.“55 Vielleicht lässt sich aus den ausgewerteten Daten der MOSAiC-Expedition (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate) der kritische Wert erschließen.

Das Schwinden der polaren Meereisdecke hat allein schon gravierende Auswirkungen. Noch verheerender können die Folgen sein, die sich aus den Veränderungen an dem über drei Kilometer dicken Eispanzer Grönlands ergeben, der 85 Prozent der Insel überzieht. Sein Abschmelzen gewann 2020 eine neue Dynamik.56 Die Eismassen Grönlands könnten nach Einschätzung der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina bei 1,6 °C Erwärmung komplett schmelzen. Da der Eisschild auf Land liegt, hätte das Abschmelzen drastische Auswirkungen auf den Meeresspiegel, das Leben in den Küstenregionen und auch für das Klima in Europa.57

Zusätzlich erwärmend wirken Feuerbrände, die jährlich zwischen Juli und August wiederkehren, denn die Torfböden sind leicht entzündlich. Anders als früher brannten im Juli 2019 die Feuer jedoch schon seit sechs Wochen. Dabei standen große Flächen in Brand, und zwar viel früher als üblich und deutlich weiter nördlich. Im Juni und Juli 2019 gab es in Alaska, Grönland und Sibirien mehr als 100 Brände. Auslöser war, dass sich der Torf entzündet hatte, der den Permafrostboden und damit große Mengen gefrorener organischer Materie bedeckt.58 Diese arktischen Feuer lassen sich mit dem Klimawandel erklären und wirken ihrerseits auf ihn zurück. Allein von Juni bis August 2019 haben die Brände mit mehr als 180 Megatonnen CO2 so viel Klimagas abgegeben wie ganz Schweden in dreieinhalb Jahren.59 Im Jahr 2020 haben sich die durch Brände bewirkten Emissionen auf 395 Megatonnen gesteigert.60 Im Folgejahr 2021 begannen die borealen Feuerbrände in Kanada und Sibirien schon im April und fanden im Juni am weitesten nördlich statt, nämlich am 72. Breitengrad. Im August hatten die Rauchwolken den Nordpol erreicht, und am Ende brannten 170 000 qkm.61 Das war ein Negativrekord in der Ausbreitung der Feuer und dem Ausmaß der Emissionen.

Das Abtauen des Permafrosts lässt außerdem große Mengen an Methan in die Atmosphäre gelangen, und Methan ist ein vielfach stärkeres Treibhausgas als CO2. Methan-Emissionen lassen die Erderwärmung weiter steigen.62 Die Arktis kann so vom Speicher zur Quelle von Klimagasen werden und den Klimawandel beschleunigen. Ähnliche Rückkopplungseffekte erzeugt die industrielle Fischerei durch Schleppnetze, die zu einer jährlichen Freisetzung von 1,5 Gigatonnen CO2 führen. Meeresböden binden große Mengen an Kohlenstoff. Schleppnetze stören jedoch die Kohlenstoffspeicher in den Meeresböden, wodurch der gespeicherte Kohlenstoff wieder zum klimaschädlichen Kohlendioxid reagiert. Um den Meeresboden als Kohlenstoffsenke zu erhalten, müssten einer Studie des Meeresbiologen Enric Sala zufolge vier Prozent der Ozeane vor Schleppnetzen bewahrt und als Schutzgebiete ausgewiesen werden.63

Als Folge dieser Entwicklungen hat sich die Temperatur des Meerwassers in der Arktis besonders stark erhöht.64 „Bei ungebremster Erwärmung“, konstatierte der WBGU-Bericht 2006, werde der Arktische Ozean gegen Ende dieses Jahrhunderts im Sommer „praktisch eisfrei“ sein. Allerdings könne dies auch schon früher eintreten.65 Denn schrumpft die Meereisfläche, verringert sich das Rückstrahlvermögen der Erde, was die Wärmeaufnahme im Nordpolarmeer erhöht. Die sogenannte polare Amplifikation hat eine Kettenreaktion zur Folge: Im Frühjahr beginnt die Eisschmelze immer früher, und im Herbst friert das Wasser immer später zu. In dieser polaren Verstärkung spielen je nach Jahreszeit unterschiedliche physikalische Prozesse eine Rolle. Als wichtigster Vorgang gilt die Eis-Albedo-Rückkopplung: Schnee- und Eisflächen reflektieren bis zu 90 Prozent der eingestrahlten Sonnenenergie ins Weltall. Das Abschmelzen der Schnee- und Eisflächen bringt die darunter liegenden Land- und Wasseroberflächen zum Vorschein, die einen größeren Teil der Sonnenenergie absorbieren (deshalb ihre dunklere Farbe). Die absorbierte Energie erwärmt die Oberfläche zusätzlich. Trotz ihres geringen globalen Effekts ist die Rückkopplung in der Arktis enorm wirkungsvoll, weil sie die einzige Region der Erde ist, wo eine große Meeresfläche während des Sommers von einem kurzlebigen schwimmenden Meereis bedeckt ist. Die Antarktis dagegen ist ein Festlandkontinent mit mehrere Kilometer starkem Eis. Aus diesen und weiteren Gründen ist die Erwärmung in der Arktis stärker wirksam als in der Antarktis; sie galt lange ähnlich wie Grönland mit ihren kilometerhohen Eispanzern geradezu als Festung gegen den Klimawandel. Aber inzwischen schrumpft selbst das Eis der extrem kalten Ostantarktis immer schneller.66

Früher war die Arktis weiträumig von mehrjährigem, dickem Meereis bedeckt. Laut dem Bericht des Weltklimarates ist es sehr wahrscheinlich, dass die arktische Eisfläche in allen Monaten des Jahres weiter zurückgehen wird. Dabei hat sich die durchschnittliche Dicke des Meereises in den letzten 30 Jahren von über drei Metern auf unter zwei Meter verringert. Altes Eis, also einige Jahre ältere Schichten, die vom Schnee aus zurückliegenden Wintern bedeckt sind, verschwindet. Im Zeitraum 1979 bis 2018 sind etwa 70 Prozent des Eisvolumens in den Sommermonaten geschmolzen.67 Der US-Klimaforscher Mark Serreze, Direktor des National Snow and Ice Data Center, hat diese Entwicklung als „arktische Todesspirale“ bezeichnet.68 Das Meereis nimmt immer mehr ab; in kanadischen Gewässern – der Hudson Bay, Hudson Strait und um die Baffin-Inseln – war es 2021 durchschnittlich etwa 20 Zentimeter dünner.69

Eine „eisfreie Arktis“, in der weniger als 15 Prozent des Ozeans von Meereis bedeckt sind, erscheint mittlerweile schon in einem Sommermonat um das Jahr 2035 und nicht mehr erst gegen Ende des Jahrhunderts möglich.70 Im Winter wird sich weiter Eis bilden, weil die Temperaturen nach wie vor deutlich unter den Gefrierpunkt fallen. Und im Sommer werden Eisschollen durch die Gewässer treiben und die Schifffahrt behindern. Das nimmt dem Rückgang des Sommereises nichts von seiner Dramatik, relativiert aber die Annahme, in der Arktis werde dann die Nutzung von Ressourcen einfacher und die Schifffahrt leichter. Vielmehr können die Erwärmungseffekte sogar die Bedingungen erschweren – durch stärkere Winde, höhere Wellen und mehr Eisdrift. Im Übrigen wird diese Entwicklung unabhängig davon erwartet, ob die globale Erhöhung der Durchschnittstemperatur gemäß dem Pariser Klimaschutzabkommen unter 2° C gehalten werden kann. Manche Folgen des Klimawandels sind bereits wirksam und können nur noch begrenzt, aber nicht mehr aufgehalten werden.

Ressourcen: Ambivalente Entwicklungen

Das schmelzende Polareis macht die Arktis zwar zu Land und zu See zugänglicher, und fossile Lagerstätten, Mineralien und Fischbestände können mittels neuer technischer Mittel besser gefördert, verarbeitet und effizienter transportiert werden. Andererseits bleibt die Nutzung fossiler Lagerstätten unter den extremen Klimabedingungen der Arktis nur unter hohem Kostenaufwand möglich. Dabei ist die Bereitschaft zu Investitionen von vielen Variablen abhängig, zu denen auch die globale Erwärmung gehört. Sie hat hier ebenfalls zwiespältige Folgen: Höhere Temperaturen und schmelzendes Meereis eröffnen einerseits seeseitige Zugänge zu den an der Küste gelegenen Siedlungen sowie zu Rohstofflagerstätten und Industrieanlagen. Andererseits erschwert der auftauende Permafrostboden landseitige Zugänge; Brücken, temporäre Eisstraßen, Eisenbahntrassen, Häfen, Tankanlagen und Pipelines müssen unter schwierigeren Bedingungen erhalten oder neu gebaut werden – was Alaska, Kanada und besonders Russland betrifft. 20 Prozent der russischen Infrastruktur für Industrie und Verkehr sowie 50 Prozent der Wohngebäude werden einer Studie zufolge bis 2050 davon betroffen sein, zu geschätzten Kosten von bis zu 250 Milliarden US-Dollar.71

Bislang stehen die Energieträger Kohle, Öl und Gas im Vordergrund der Ressourcenwirtschaft in der Arktis und weniger Seltene Erden, die als Rohstoff für neue Technologien der Dekarbonisierung notwendig sind (deren weltweit zweitgrößte Lagerstätte befindet sich in Grönland, worauf später noch einzugehen ist). Etwa zehn Prozent der globalen Ölproduktion und 25 Prozent der Erdgasförderung finden bislang größtenteils zu Land in Alaska und in Sibirien statt.72

Als Öl im Juli 2008 noch einen Rekordpreis von 144 US-Dollar per Barrel erzielte, stellte eine von US-Geologen betriebene Untersuchung (U.S. Geological Survey, USGS) fest, dass sich in der Arktis schätzungsweise 13 Prozent der weltweit vorhandenen noch unerschlossenen Öllagerstätten und 30 Prozent der Gasreserven befinden. Der Großteil der Vorkommen in der Arktis, geschätzte 75 Prozent, wird auf See (offshore) vermutet. Die Schätzungen des USGS zeigen, dass die potenziellen Öl- und Gasreserven nicht gleichmäßig über die gesamte Arktis verteilt sind, sondern sich vor allem in der Beaufortsee (Kanada, USA) und Tschuktschensee (USA, Russland) sowie in der Barentssee (Norwegen, Russland) und der Karasee (Russland) befinden. Etwas über die Hälfte der geschätzten Gesamtbestände liegen in Hoheitsgebiet und AWZ Russlands, 20 Prozent in den USA, zwölf Prozent in Norwegen, elf Prozent in Grönland und fünf Prozent in Kanada. Die USGS schätzt, dass die Arktis dreimal mehr Gas- als Ölvorkommen besitzt und dass 84 Prozent davon offshore liegen. Die Experten arbeiten jedoch mit Wahrscheinlichkeiten und Schätzungen der unentdeckten Kohlenwasserstoffressourcen, die auf geologischen Modellen und nicht auf tatsächlichen Explorationsbohrungen beruhen. Im Bericht selbst wird gewarnt, dass die Arktis ein Gebiet mit einem hohen Potenzial an Erdölressourcen sei, zugleich aber geringe Datendichte, hohe geologische Unsicherheit und sensible Umweltbedingungen herrschen.73 Wie das britische Unternehmen CairnEnergy und das norwegische Unternehmen Statoil vor der Küste Grönlands erlebten, führen Wahrscheinlichkeiten nicht automatisch zu kommerziell erfolgversprechenden Funden, und je mehr Bohrungen vor der Küste durchgeführt werden, desto finanziell riskanter und weniger interessant gestalten sie sich.74 Das gilt umso mehr in Zeiten, in denen sich Europa von fossilen Energieträgern trennt und eine Dekarbonisierung anstrebt, während sie in Asien weiter stark nachgefragt werden.

Dekarbonisierung vs. Nachfrage fossiler Energieträger

Einmal abgesehen vom notwendigen Übergang zu sauberen Energieträgern und den hohen Umweltrisiken sind Offshore-Exploration und -Förderung nur bei hohen Weltmarktpreisen attraktiv, zumal finanzielle Risiken und technische Komplexität mit der Wassertiefe und der Entfernung zur Küste steigen. Außerdem fallen Offshore-Projekte in der russischen Arktis unter die 2014 gegen Moskau verhängten Sanktionen. Die Zeiträume von der Fördergenehmigung bis zur Produktion sind in der Arktis außerdem sehr viel länger als in anderen Offshore-Regionen.75 Als früherer Spitzenreiter bei der Durchführung arktischer Vorhaben stellte Shell seine Aktivitäten weitgehend ein, nachdem im Herbst 2015 eine Exploration in Alaska enttäuschende Resultate gebracht hatte, sucht neuerdings aber wieder risikofreudige Investoren für eine Wiederaufnahme von Probebohrungen in der Beaufortsee.76 Aus einem Explorationsprojekt mit der russischen Rosneft in der Karasee zog sich der US-Konzern Exxon Mobil 2014 zurück; Rosneft treibt die Erforschung nun mit China Oilfield Services Limited voran und hat 2020 die Entdeckung eines neuen Gasfeldes bekanntgegeben, das 800 Milliarden Kubikmeter umfassen soll.77 Weitere Projekte wurden eingestellt oder auf einen Zeitraum nach 2030 verschoben.78 US-Präsident Trump begünstigte die nationale Öl- und Gasindustrie, konnte aber die negativen Trends nicht umkehren, zumal wegen des Klimawandels der öffentliche Druck auf Banken, Investmentfonds und Firmen wächst. Präsident Putin hofft auf eine Wiederbelebung der Nachfrage,79 die 2021 eingetreten ist, aber grundlegend wird der Trend zur Dekarbonisierung anhalten. Aufgrund der Transformation der EU in Fragen der Energiesicherheit und Nachhaltigkeit erwartet der Vorstandschef von Lukoil, Leonid Fedun, dass bis 2040 die russischen Exporte von Öl und Gas drastisch – mindestens um die Hälfte – zurückgehen werden. In den kommenden 30 Jahren werden voraussichtlich 70 Prozent des globalen Kohlendioxidausstoßes von zwei Ländern verursacht – China und Indien.80

Aufgrund seiner Ziele einer maximalen Nutzung der Energieressourcen müsste Moskau an einem hohen Maß an Stabilität und Kooperation in der Arktis interessiert sein. Denn zur langfristigen Nutzung bestehender Förderplattformen wie bei der notwendigen aufwändigen und teuren Erschließung und Förderung neuer Lagerstätten bedarf es großer Investitionen, die sich im Falle des Baus eisgängiger Tanker durch asiatische Staaten wie beim Kauf von Anteilen russischer Firmen nur langfristig rentieren. Die Zeiträume zwischen Entdeckung und Produktion von Öl und Gas auf See (offshore) sind in der russischen Arktis außerdem mit durchschnittlich 28,5 Jahren extrem lang (wohingegen sie in Norwegen nur etwa die Hälfte, nämlich 14 Jahre betragen).81

Konträre Trends zeigen sich speziell im Falle Chinas: Als größter Energiekonsument der Welt hat es einen „fast unbegrenzten Bedarf“ an verflüssigtem Erdgas (LNG), um den hohen Anteil von Kohle zu verringern. 58 Prozent des Primärenergieverbrauchs werden in China aus Kohle gewonnen, und in der ersten Jahreshälfte 2020 wurden mehr neue Kohlekraftwerke genehmigt als in den zwei Jahren zuvor. Im September 2020 hat Staats- und Parteichef Xi Jinping bei seiner Rede vor den Vereinten Nationen erklärt, die Menschheit brauche eine „grüne Revolution“. Sie müsse sich schneller bewegen, um eine „grüne Lebensweise“ zu schaffen. Dafür wolle China seine Klimaziele aufstocken. Nicht nur sollten die Emissionen noch „vor“ 2030 ihren Gipfel erreichen, sagte Xi. „Vor 2060“ wolle sein Land klimaneutral sein.82 Zwar ist China weltweit führend in Produktion und Verbrauch erneuerbarer Energien, zugleich bleibt es aber mittelfristig von Erdgas abhängig und hat weltweit den Bau von 240 Kohlekraftwerken gefördert (was es künftig nicht mehr finanziell unterstützen will).83

Selbst in Prognosen für einen raschen Energiewandel84 wird nicht erwartet, dass die Nachfrage nach Kohlenwasserstoffen bald versiegt. Ein Szenario zeigt, dass im Jahr 2040 die tägliche Nachfrage nach Rohöl 67 Millionen Barrel betragen wird und die jährliche Nachfrage nach Erdgas knapp vier Milliarden Kubikmeter. Ein kommerzieller Imperativ beeinflusst die Entwicklung hin zu sauberen und billigeren Produzenten. Exportorientierte Firmen werden dies tun müssen, um ihre Produkte an zunehmend umweltbewusste Verbraucher zu verkaufen.85 Importorientierte Firmen mit großen Inlandsmärkten werden nachziehen, um eine kontinuierliche Energiesicherheit zu gewährleisten, wenn ihre Regierungen versuchen, die Klimaziele zu erreichen.

Aus einer klimapolitischen Perspektive spricht alles gegen eine verstärkte – weil aufwändige und umweltbelastende – Nutzung arktischer Offshore-Lagerstätten. Sollten aber Öl- und Gaslieferanten die Chance haben, am Energiehandel weiter zu verdienen, wie Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, und SWP-Kollegin Kirsten Westphal, Mitglied im Nationalen Wasserstoffrat, argumentieren? Sie in eine klimaneutrale Welt mitzunehmen, sei geradezu „ein klimapolitischer Imperativ. Wenn den öl- und gasreichen Staaten die Einnahmen wegbrechen, droht die Destabilisierung dieser Länder.“86 Allerdings wird es noch lange Nachfrage nach Öl und Gas geben und Russland leidet eher unter der „holländischen Krankheit“ – produzierende Branchen können sich wegen der Dominanz des Rohstoffsektors nicht entwickeln – als unter mangelnder Nachfrage. Um die fossile Energiewirtschaft nicht künstlich zu erhalten und die notwendige Modernisierung nicht noch länger hinauszuzögern, sollten Energieunternehmen gemäß einer Studie der Boston Consulting Group ihre Emissionen reduzieren, eine kostengünstige Produktion priorisieren und neue Technologien entwickeln.87

Arktische Ressourcen und Seewege – wie Russlands Nördliche Seeroute – profitieren dann vom Trend zur Dekarbonisierung, solange Gas als Energieträger des Übergangs zu nichtfossilen Energieträgern relevant und politisch akzeptabel bleibt (z. B. zur Erzeugung von Wasserstoff) sowie Transportkosten und Rohstoffpreise korrelieren.88 Letztlich ist das Zusammenwirken von Klimaschutz, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit entscheidend für die Arktis als Standort fossiler Energieträger.

Kein neuer Goldrausch

Ähnliches gilt für die große Palette der Erze, Mineralien und Edelmetalle von Gold und Diamanten bis hin zu Seltenen Erden (SE). Aufgrund der widrigen Bedingungen wird das schmelzende Eis keinen neuen „Goldrausch“ wie 1848 in Alaska hervorrufen. Dabei ist der Abbau von Rohstoffen auf dem Land, das durch schmelzendes Eis zugänglicher wird, auf jeden Fall attraktiver als die riskante und teure Förderung auf See. Prinzipiell bieten Afrika und Lateinamerika auch Rohstoffe zu weit geringeren Kosten und Risiken als die Arktis – worauf chinesische Experten89 hinweisen.

Chinas Interesse, sich weltweit Zugang zu Rohstoffen zu sichern, ist einer der Treiber der Großmachtkonkurrenz. Die Rohstoffdiplomatie Pekings nutzt dafür die gesamte Bandbreite außen-, wirtschafts- und entwicklungspolitischer Instrumente, um Abnahmeverträge mit etablierten rohstoffproduzierenden Ländern wie in Afrika und prospektiven Rohstoffproduzenten wie in Grönland zu schließen. Als „extremes Beispiel westlicher Abhängigkeit“90 kontrolliert China fast die gesamte Liefer- und Wertschöpfungskette von Seltenen Erden und müssen die USA als einstiger Weltmarktführer den Großteil ihres SE-Bedarfs aus China einführen; sie werden so zu einem politischen Druckmittel.91 Weltweit steigt der Bedarf an SE-Metallen für Zukunftstechnologien wie elektrische Traktionsmotoren in Hybrid-, Elektro- und Brennstoffzellenfahrzeugen sowie für Hochleistungsmagnete und vernetzte industrielle 4.0-Anwendungen. Damit sind sie auch für die Funktionsfähigkeit moderner, vernetzter Armeen und Waffensysteme wichtig.92 Ein US-Unterseeboot der Virginia-Klasse benötigt etwa 400 Tonnen SE und ein F-35-Kampfflugzeug 400 Kilogramm; die Abhängigkeit der NATO-Staaten von SE-Importen aus China betrage fast 100 Prozent, schloss ein Bericht 2020.93

Im Alltag der Bewohner der Arktis haben fossile Energieträger und Minenwirtschaft häufig verheerende Auswirkungen, weil sie die Umwelt verschmutzen und mit einem Uranabbau eine gefährliche Kontamination einhergehen kann – was in Grönland bislang den SE-Abbau verhindert hat, wie noch aufzuzeigen ist. Das schmelzende Meereis zerstört darüber hinaus natürliche Transportwege und erschwert die bescheidene lokale Geschäftstätigkeit zusätzlich. Die Schifffahrt will für ihre Fracht und die Versorgung von Produktionsstätten offene Fahrrinnen durch die Seitenarme des Ozeans, die einheimische Bevölkerung braucht dagegen geschlossenes Meereis, um Bewegungsfreiheit für Jagd und Fischerei zu bewahren – ein Zielkonflikt, bei dem in der kanadischen Arktis meist die Inuit verlieren.

Als direkte Auswirkung der Erwärmung wandern Fischarten nordwärts, wovon sich Russland in Zukunft größere Erträge für die heimische Fischerei erhofft (derzeit stammt ein Drittel des russischen Fischfangs aus dem Arktischen Ozean). Der Atlantische Kabeljau ist im Zuge des Klimawandels so weit Richtung Norden gewandert, dass er inzwischen sogar in den Gewässern Spitzbergens in großen Mengen vorkommt.94 Jedoch sind mit der Erwärmung und dem zunehmenden Schiffsverkehr in der Arktis auch vielfältige Risiken für die Fischerei verbunden; das Spektrum reicht von gebietsfremden invasiven Fischarten, die den Artenschutz betreffen, bis zum Eindringen ausländischer Fischfangflotten, die schon heute eine Herausforderung für die Küstenwache vieler Staaten sind und ein großes Konfliktpotenzial95 in der Arktis bilden.

Gebietsansprüche vom Atlantik bis zum Pazifik

Je besser arktische Räume zu Land und zur See zugänglich sind, desto mehr Aufmerksamkeit finden Territorialfragen und umstrittene Wasserstraßen. Sogar neues Land kann durch das schmelzende Meereis sichtbar werden, wie im Sommer 2019, als die russische Marine die Entdeckung von fünf Inseln in Franz-Josef-Land bestätigte, die bisher von Gletschern verborgen waren. Die Inseln liegen eindeutig im russischen Hoheitsgebiet, sind also kein Grund für Konflikte. Ähnlich klar ist die Zuordnung der meisten Rohstoffvorkommen, die sich größtenteils in unstrittigen Landgebieten oder auf den Kontinentalschelfen bzw. dem Festlandsockel befinden.96 Aber Gebietsansprüche, die aus geopolitischen oder strategischen Gründen erhoben werden, können Konkurrenzverhalten herbeiführen oder verschärfen und die Relevanz der Arktis im Sinne einer „Versicherheitlichung“ erhöhen97 – wodurch die Arktis als Sicherheitsproblem erkannt wird. Ein Beispiel ist die spektakuläre Aktion, bei der 2007 eine russische Flagge auf dem Meeresboden am Nordpol platziert wurde und – angeblich völlig überraschend – heftige internationale Reaktionen auslöste.

Auch der Anstieg des Meeresspiegels kann potenzielle Konfliktherde schaffen. Denn dadurch verschieben sich die Basislinien, von denen aus die Breite (seewärtige Ausdehnung) der Meereszonen gemessen wird. Wenn sich damit die Referenz für die Abgrenzung gegenüberliegender oder aneinander angrenzender Küstenmeere verändert, könnten Staaten sie zum Anlass nehmen, Vereinbarungen über Grenzverläufe infrage zu stellen. Konflikte drohen weiter dort, wo Uneinigkeit über die genaue Grenzziehung von ausschließlichen Wirtschaftszonen oder Festlandsockeln herrscht.98

Manche argumentieren, dass der „Kampf um die Arktis“ als letzter großer Verteilungskampf auf der Erde begonnen habe (und aus russischer Sicht das eigene Land benachteiligt werde).99 Deshalb ist es wichtig zu wissen, welche Staaten welche Ansprüche erheben und ob diese einvernehmlich regelbar sind oder Konflikte herbeiführen können.

Exkurs Seerecht

Ein wichtiger Baustein der maritimen Ordnung besteht darin, dass Gewässer, die einer Küste vorgelagert sind oder eine Insel wie Grönland umgeben, in verschiedene Zonen eingeteilt sind. Der Küstenstaat hat souveräne Rechte im Küstenmeer, dem Luftraum darüber, dem Meeresboden sowie den Meeresuntergrund des Küstenmeers. Die Ausübung der Souveränität über das Küstenmeer unterliegt jedoch Einschränkungen. Insbesondere genießen Schiffe anderer Staaten das Recht der friedlichen Durchfahrt durch das Küstenmeer (Art. 17ff SRÜ). Das Seerecht beinhaltet einen Kompromiss zwischen dem Recht der Küstenstaaten auf unbegrenzte Nutzung ihrer Ressourcen und dem Recht der Schifffahrtsnationen auf freie Schifffahrt (Freedom of Navigation).

Das jenseits des Küstenmeers angrenzende Gebiet wird als ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) bezeichnet. In der AWZ hat der Küstenstaat das Recht zur Erforschung, Ausbeutung, Erhaltung und Bewirtschaftung der lebenden und nicht lebenden Ressourcen der Gewässer über dem Meeresboden sowie des Meeresbodens selbst und seines Untergrundes. Dies kann große wirtschaftliche Bedeutung haben, denn dort befinden sich häufig mineralische und andere Vorkommen von hohem Wert, etwa Öl, Gas, polymetallische Knollen oder Methanhydrat. Außerdem bilden die Fischerei und die Vergabe von Fischereilizenzen in ihren Gewässern häufig eine wichtige Einnahmequelle für die betreffenden Staaten. Der Küstenstaat hat in der AWZ ferner Hoheitsbefugnisse in Bezug auf Errichtung und Nutzung künstlicher Inseln, Anlagen und Bauwerke, die wissenschaftliche Meeresforschung und den Schutz sowie die Bewahrung der Meeresumwelt (Art. 56 SRÜ). Die AWZ erstreckt sich auf bis zu 200 Seemeilen von den Basislinien, von denen aus die Breite des Küstenmeers gemessen wird.

Das Interesse arktischer Küstenstaaten geht über die AWZ hinaus und richtet sich auf den Festlandsockel. Als natürliche Verlängerung des Landgebiets umfasst er den Meeresboden und den Meeresuntergrund jenseits des Küstenmeers. Zwar gehört der Festlandsockel nicht zum Staatsgebiet, jedoch hat der Küstenstaat weitreichende, exklusive Rechte. Sie beziehen sich auf dessen Erforschung und die Ausbeutung seiner natürlichen Ressourcen. Ähnlich der AWZ darf der Küstenstaat hier künstliche Inseln, Anlagen und Bauwerke errichten und deren Errichtung sowie Bohrarbeiten regeln und genehmigen (Art. 80f SRÜ).