Die Trostbriefschreiberin - Michael Paul - E-Book

Die Trostbriefschreiberin E-Book

Michael Paul

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Beschreibung

Als die Freiburger Reporterin Mel Burger den Auftrag erhält, in ein aufgelöstes Kloster in der Eifel zu fahren, ahnt sie nicht, was sie damit auslöst. Die 99-jährige, sehr angesehene und beliebte ehemalige Priorin weigert sich, als Letzte das Kloster zu verlassen. Niemand weiß, warum. Als der Investor eine Millionenspende für die klamme Stadt auslobt, überschlagen sich die Ereignisse. Während die Bürger vor dem Kloster demonstrieren, erzählt die Nonne Mel Burger ihr Leben. Aber es gibt ein schreckliches, dunkles Geheimnis im Lebenslauf der Nonne. Was hat sie 1940 gemacht, über das sie nicht sprechen will?   Nach dem Erfolg von "Versteckt im Schwarzwald" greift Michael Paul in diesem packenden Roman das Thema Schuld aus verschiedenen Perspektiven auf, auch wenn diese mehr als 80 Jahre zurückliegt.   Mit einem Vorwort von Kurt Schrimm, ehem. Ltd. Oberstaatsanwalt der Zentralstelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen und einem Hintergrundartikel von Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte Grafeneck e.V.

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Michael Paul

Die Trostbriefschreiberin

Die Trostbriefschreiberin

 

 

 

Die Ehrfurcht vor der Vergangenheit

und die Verantwortung gegenüber der Zukunft

geben für das Leben die richtige Haltung.

 

 

 

 

 

Dietrich Bonhoeffer

Theologe, 1906–1945

hingerichtet im April 1945

im KZ Flossenbürg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

© 2023 Michael Paul / BUNTE HUNDE Verlag

 

Lektorat: Susanne Hülsenbeck

Korrektorat und Textsatz: Katrin Scheiding

Umschlaggestaltung: Birte Lämmle

Titelfoto (Fenster: Kloster Calvarienberg): Evelyn Paul

 

Website des Verlags: www.bunte-hunde.de

Website des Autors: www.michael-paul.eu

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und des Autors unzulässig. Dies

gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Bibliografie

und ist im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

Ein Auszug aus dem Nachwort …

 

Kurt Schrimm – Leitender Oberstaatsanwalt a. D., von 2000 bis 2015 Leiter der zentralen »Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« in Ludwigsburg.

 

Dieses Buch handelt von Schuld. Nach nahezu vierzig Jahren Tätigkeit als Strafjurist und Verfasser eines Buches, in welchem ebenfalls die Schuld im Mittelpunkt steht, glaubte ich, alle Aspekte dieses Phänomens zu kennen. Je länger ich in diesem Buch las, umso klarer wurde mir, dass das Werk aber keinesfalls eine Erörterung des strafrechtlichen Schuldbegriffs in Romanform darstellen soll, auch wenn sie bei der Gesamtbetrachtung durchaus Beachtung findet. Es geht auch um Aspekte der Schuld, auf die sich mein strafrechtlich orientiertes Denken bisher nicht erstreckte.

Hauptperson der vorliegenden Geschichte ist eine hochbetagte und seit Jahrzehnten hochgeschätzte Frau. Sie war jedoch in die kriminellen Machenschaften der Nationalsozialisten verstrickt, ohne dass dies jemand gewusst hatte.

Weite Teile der Bevölkerung fordern seit Langem, die Verjährung auch für Verbrechen des Mordes wieder einzuführen. Ein alter Mensch, so die Argumentation, verdiene es, über siebzig Jahre nach der Tat seinen letzten Lebensabschnitt ohne Furcht vor einer Bestrafung verbringen zu dürfen. Und was hat es für einen Sinn, einen beinahe Hundertjährigen noch vor ein Gericht zu stellen, wenn ein Arzt ihn dann später für haftunfähig erklärt? Argumente, die man nicht nur kurzerhand vom Tisch wischen sollte. Aber lassen wir auch hier noch einmal einen Handelnden zu Wort kommen: »Sie haben Mütter mit ihren Babys im Arm in die Gaskammern geführt. Viele sind vorher während des Transports gestorben. Mütter haben ihre toten Babys aus dem Waggon getragen. Haben dort die Täter Rücksicht aufs Alter genommen? Wollen Sie den Angehörigen der Opfer erklären, dass man sie davonkommen lässt?«

Der Autor gibt auf diese und noch andere Fragen keine eindeutige Antwort. Sein großer Verdienst ist es, die Leserschaft an diese Fragen heranzuführen und ihr Argumente für die eigene Entscheidung zu liefern. Dies jedoch nicht auf trockene wissenschaftliche Art, sondern in Form eines Romans, der von der ersten Seite an fesselt.

Prolog

 

Der Bus kam mit laut quietschenden Bremsen vor dem »Haus Neckar« zum Stehen. Noch trug der 3750er von Mercedes sein Dunkelrot, wie es in früheren Zeiten bei der Post benutzt worden war, und die Scheiben ein blickdichtes Dunkelblau. Die graue Farbe für die komplette Neulackierung war vor zwei Wochen schon geliefert worden. Doch wann er und seine Leute die neue Lackierung vornehmen würden, wusste Hermann Schwenninger noch nicht. Der Befehl zur neuen einheitlichen Farbe war von ganz oben gekommen, aber wann sollte er denn alle seine Busse, für die er als Transportleiter verantwortlich war, streichen, wenn sie dauernd neue Fahrten hatten? Das hatte ihm niemand sagen können. Sie kamen ja so schon kaum mit der Arbeit hinterher.

 

Rund vier Stunden hatten sie mit dem Bus bis Mosbach gebraucht. Unterwegs waren er, die zwei kräftigen Begleiter Max und Herbert und die junge Schreibkraft, die kurzfristig an diesem Morgen im September 1940 für die erkrankte Kollegin hatte einspringen müssen, in Heilbronn zum Essen eingekehrt. Das war eher unüblich, und wahrscheinlich gab es auch eine Vorschrift, die einen solchen Zwischenhalt untersagte, schon gar den Genuss eines Biers, aber Hermann Schwenninger widersprach man nicht. Er war für die Fahrt verantwortlich, also sagte er, was gemacht wurde und was nicht. Die anderen hatten sich danach zu richten. Zumal sie alle Hunger hatten. Vier Kässpätzleteller und ein Bier für die Männer später waren sie wieder aufgebrochen.

 

Mit einem Ächzen öffnete sich die Tür des Busses. Die drei Männer stiegen aus und gingen festen Schrittes auf den Heimleiter zu, der sie schon vor dem Treppenaufgang erwartet hatte. Zuletzt verließ die junge Schreibkraft den Bus. Sie trug wie die anderen einen weißen Kittel. Sie blieb mit einer Liste auf einem Klemmbrett und einem Bleistift in der Hand an der Tür des Busses stehen und nickte dem Direktor der Anstalt schüchtern aus der Ferne zu. Nach einem kurzen Gespräch verschwanden die Männer im Haus, um nach einigen Minuten zurückzukommen. Mehrere Schwestern der Diakonie begleiteten eine Gruppe Menschen, auffällig außergewöhnliche Menschen. Die junge Frau erschrak, als sie sie sah. Einige hatten regelrecht verbogene Körper und humpelten so sehr, dass sie bei jedem ihrer Schritte befürchtete, dass sie umfallen würden. Andere schleuderten wild ihren Kopf hin und her und gaben merkwürdige Laute von sich. Dazwischen gingen manche ruhig und mit gesenktem Blick auf sie zu. Nun sah sie zum ersten Mal selbst, was Schwenninger auf der Herfahrt mit »Idioten, Blöde, Schwachsinnige, Krüppel und Sieche« bezeichnet hatte. Es waren Kinder, Jugendliche, junge und ältere Erwachsene.

»Heute fahren wir zum Heiland«, sang ein junges Mädchen mit verdrehtem Blick ins Nichts immer wieder monoton wiederholend vor sich hin, ein anderer Junge in blauer Latzhose und kariertem Hemd rief: »Nach Ewigland bitte, nach Ewigland!« So, als würde er in einen Bus einsteigen, um einen Ausflug zu machen. Zwei, drei andere um ihn herum lachten. Nur die Gesichter des Personals verrieten der Sekretärin, dass diese wussten, was mit Ewigland wirklich gemeint war. Das ahnten wohl auch einige der Heimbewohner, denn es war nicht der erste Transport von diesem Heim, und nie kamen die »Ausflügler« zurück.

Die Frau am Bus versuchte, den Blicken der meist jungen Patienten auszuweichen, Abstand zu wahren, wenn ihre verkrüppelten oder von Lähmungen verformten Hände nach ihr griffen. An der Treppe vor dem Ausgang diskutierte der Direktor des Heims wild gestikulierend und offensichtlich protestierend mit Schwenninger. Doch routiniert und pflichtbewusst ließ der sich, ruhig und breitbeinig vor ihm stehend, nicht davon beeindrucken.

 

Nachdem die Kreaturen in Reihe angetreten waren, führten Max und Herbert einen nach dem anderen in den Bus, die Stufen hinauf. Die meisten stiegen ohne Gegenwehr oder wie in Trance in den Bus, doch ein junger Kerl sperrte sich, begann, panisch zu schreien und wild um sich zu schlagen. Eine der Krankenschwestern des Heims bekam einen Hieb ins Gesicht und taumelte zu Boden. Mit geübten Griffen nahmen sich Max und Herbert des Mannes an, brachten ihn am Boden liegend mit dem Knie im Rücken zur Räson und schoben ihn dann, nachdem er sich beruhigt hatte, mit festem Griff durch die Bustür. Und so erging es auch zwei weiteren »Passagieren«, die, egal, wie panisch und krampfend sie sich wehrten, am Ende im Bus saßen. Ein Blatt Papier hatte jemand vor langer Zeit wie ein Banner auf die Innenseite der Scheibe der Tür geklebt. Darauf stand in Großbuchstaben: »DER BEFEHL IST UNSERE PFLICHT!«

 

An der Bustür hatten die Heimbewohner ihren Namen zu nennen. Sofern der- oder diejenige es auf die Frage hin nicht selbst sagen konnte oder wollte, half eine der Schwestern des Heims aus, und die Sekretärin machte dankbar ein Kreuz hinter einem der vierundzwanzig Namen auf ihrer Liste.

»Eugen wie?«, fragte sie und sah auf.

»Eugen Neubauer«, sagte die Diakonisse, die mit Tränen in den Augen jedem ihrer Schützlingen noch einmal die Hand gab oder ihnen mit der Hand über die Schulter strich. Mit »Alles Gute!«, »Es wird alles gut!« oder einem geschluchzten »Wir sehen uns ja schon bald wieder!« tröstete und beruhigte sie ihre Schützlinge, als diese den Bus bestiegen.

 

»Stopp!« Ein lauter Schrei ließ alle aufblicken und innehalten. Der Direktor kam mit schnellen Schritten herbeigeeilt. »Nicht Eugen! Sind Sie verrückt? Nicht Eugen Neubauer! Er ist eine wichtige und gute Arbeitskraft in meiner Gärtnerei. Ich brauche ihn!«

Max und die junge Frau sahen Schwenninger an, der dem Direktor überrascht gefolgt war. Er riss der Schreibkraft das Klemmbrett aus der Hand und sah auf die Liste.

»Hier steht Neubauer, Eugen! Ist das Eugen Neubauer?« Schwenninger deutete auf den jungen Mann vor sich, der eingeschüchtert und nervös mit den Fingern an den Knöpfen seines Hemds nestelte.

»Ja, das ist er«, antwortete der Direktor.

»Wo ist dann das Problem?«, zischte Schwenninger ihn an und zeigte auf den Eintrag auf der Liste in seiner Hand. Er musterte den jungen Mann vor sich. Tatsächlich machte dieser junge, große, schlaksige Kerl kaum den Eindruck einer auf den ersten Blick erkennbaren körperlichen oder geistigen Behinderung. Und er hatte kräftige Hände, die sicher gut anpacken konnten.

»Weitermachen!«, befahl er nach einem kurzen Moment barsch und drückte der Sekretärin das Klemmbrett wieder in die Hand.

 

»Eine Verwechslung«, rief plötzlich eine Frauenstimme aus dem Hintergrund und schob ein junges Mädchen, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, durch die Menge nach vorne zum Bus.

»Emilia muss das heißen, sicher eine Verwechslung auf der Liste! Seine Schwester.«

Vor der Bustür stand ein eingeschüchtertes Mädchen mit starkem Silberblick in einem merkwürdig verschobenen Gesicht. Ihr Kopf wirkte unnatürlich kastig unter ihrem zerzausten braunen Haar. Die Augen standen nicht auf einer Höhe, und dazwischen begann eine krumme, fast bogenförmige Nase, die über einem schiefen, sabbernden Mund endete. Ihren Kopf hielt sie unnatürlich schräg. Und doch blitzte in ihren Augen etwas Besonderes. Nur für einen Moment sah sie auf, und ihr Blick traf den der Sekretärin, für ein paar Sekunden nur. Das Mädchen war anders als die anderen vierundzwanzig. Und sie stand nicht auf der Liste. Einen Moment trat Stille ein. Dann ergriff Schwenninger das Wort.

»Also gut, dann behalten sie meinetwegen den Kerl und wir nehmen das Mädchen mit. Ist am Ende auch egal!« Er drehte sich weg und sah so nicht, mit welch entsetztem Blick der Heimleiter seine Mitarbeiterin anstarrte.

 

Kurze Zeit später quittierte Schwenninger die Transportliste, verabschiedete sich grinsend mit einem »Bis bald wieder, Herr Direktor!« und stieg in den Bus. Es ließ den alten Dieselmotor an und hinterließ eine schwarze Rußwolke, als er losfuhr und kurz darauf Mosbach wieder verließ. Im Bus war es mittlerweile gespenstisch still. Nur noch vier Stunden Fahrt bis »Ewigheim«.

 

1

Mel sah in Gedanken versunken hinunter auf den Asbergplatz. Diese kleine, rechteckige, grüne städtische Oase mit dem Kinderspielplatz, der Wiese, den Rosen, den Fliederbüschen und dem hässlichen grauen Trafohäuschen bot allen Anwohnern der den Platz rundum einfassenden Häusern Luft und Raum. Besser, als auf einen Bau auf der anderen Straßenseite zu schauen. Die Lage in Klettenberg, dem Stadtteil im Südwesten Kölns, war ein kleiner Geheimtipp, und sie war froh gewesen, durch Zufall hier diese kleine Zweizimmerwohnung im Eckhaus unterm Dach bekommen zu haben.

Es erschien ihr wieder wie gestern, dass ihr Leben noch ganz anders ausgesehen hatte, die Welt noch in Ordnung gewesen war. Sie hatte in Freiburg gelebt, zusammen mit Adrian, ihrem Mann. Sie war als freischaffende Journalistin nach ihren ersten Jahren bei der Badischen Zeitung zur Sprecherin des RND, dem »Recherchenetzwerk Deutschland«, aufgestiegen. Adrian und sie konzentrierten sich auf ihre Karrieren und auf sich, ihre Liebe. Mit zweiunddreißig dachte Melanie langsam auch über Kinder nach. Zwei oder drei? Adrian wollte noch viel mehr. Der Gedanke hatte ihr gefallen. Wobei sie keinen Plan hatte, wie sie das mit ihrem Job in Einklang würde bringen können, den sie auf keinen Fall aufgeben wollte und für den sie oft tagelang investigativ irgendwo im Land, manchmal auch im Ausland unterwegs war. Vielleicht noch zwei, drei Jahre, hatten sie sich damals gesagt.

Und dann war es plötzlich vorbei gewesen, vor zwei Jahren. Adrian war nach einem Streit weggefahren. Mel konnte sich kaum erinnern, um was für eine Lappalie es gegangen war. Vermutlich hatten sie beide einen stressigen Tag gehabt und es dann einfach nur gegenseitig aneinander ausgelassen. Adrian hatte »Mach doch, was du willst!« geschrien, die Wohnungstür zugeknallt und war mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen davongerast. Mel hatte ihm mit Tränen in den Augen vom Fenster aus hinterhergeschaut. »Geht nie im Streit auseinander!«, hatte ihre Mutter immer gesagt. »Ihr wisst nicht, ob es nicht das letzte Mal ist!«

An dem Tag war es das letzte Mal gewesen. Zweieinhalb Stunden später hatten zwei Polizisten vor ihrer Tür gestanden. Das war die Situation, in der die Beamten sich jedes Wort sparen konnten, der Moment, vor dem alle Liebenden Angst hatten, solange sie lebten. Und genau in dem Moment wussten, was das bedeutete. Auch Mel hatte es sofort gewusst. Die Beamten hatten ihr die traurige Mitteilung überbracht, dass ihr Mann oberhalb des Höllentals von einer geraden Straße abgekommen und frontal mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum geprallt war. Er war sofort tot gewesen, der Wagen ein kaum noch erkennbarer Schrotthaufen. »Vielleicht war er vom Handy abgelenkt«, hatte einer der Polizisten gemutmaßt, da kein anderes Fahrzeug in der Nähe gewesen war. Als sie dann wieder allein gewesen war und ihr Handy in die Hand genommen hatte, um ihre Mutter anzurufen, hatte sie die Meldung aufleuchten sehen: »Adrian, 3 verpasste Anrufe«. Bevor sie noch jemanden hatte anrufen können, war sie mit einem Schreikrampf zusammengebrochen. Eine Nachbarin hatte es rumpeln und sie schreien gehört und den Notarzt angerufen. Melanie kam in eine Klinik, landete in einer tiefen Trauer und Depression. Sie hatte ihren Posten beim RND aufgegeben, war in eine kleinere Wohnung gezogen und igelte sich ein, schottete sich von der Außenwelt ab. Sporadisch konnte sie für die Badische Zeitung noch Artikel schreiben, doch das Zeilengeld reichte kaum zum Leben.

So war sie am Ende dankbar, dass Joe Hengstler, der Chefredakteur der BAZ, der »Bonner Allgemeinen Zeitung«, der sie von früher sehr gut kannte, sie ins Rheinland zurückgeholt hatte. Sie hatte wegmüssen aus Freiburg, der schönen Stadt, in der sie alles an Adrian erinnerte. Und daran, dass sie ihn hatte im Streit gehen lassen. Wegen nichts von Bedeutung! Ganz sicher würde er noch leben, wenn sie nicht mit ihm gestritten hätte. Dieses Schuldgefühl plagte sie seither jeden Tag, jede Nacht, jede Stunde, seit er tot war.

Unten auf der Straße spielten zwei Kinder mit einem Ball. Neben der ruhigen Lage war es zum Beethovenpark nicht weit, durch den sie, wann immer sie es morgens schaffte, eine Runde joggen ging, bevor sie nach Bonn in die Redaktion fuhr.

Doch nicht heute, an diesem Montag im August 2022. Im Radio in der Küche liefen Nachrichten über den Ukraine-Krieg.

»Verdammt«, sagte sie, »was ist nur mit dieser Welt los?« Ihr Schädel brummte noch von der Geburtstagsparty bei Caro, ihrer besten, eigentlich ihrer einzigen Freundin. Und das Aspirin entwickelte noch nicht die gewünschte Wirkung. Wie kann man Sonntagabend nur Geburtstag feiern?, fragte sie sich.

Caro, mit vollem Namen Dr. Carolina Martens, war ihr an einem ihrer ersten Tage in Köln zufällig beim Bummel in der Schildergasse begegnet. Sie hatten am gleichen Tisch gesessen, einen Kaffee getrunken und waren ins Gespräch gekommen. So wurde daraus mit der Zeit eine enge Freundschaft. Besser als mit einem Mann. Nur zum Reden, zum Verstehen, zum Helfen, zum Zuhören.

So kannte längst niemand Mel Burger besser und verstand sie so gut wie ihre Freundin Caro.

> verfluche dich!!!!!!!! ;-)

> megaparty

Sie tippte es in ihr Handy, während sie im Vorbeigehen auf den roten Startknopf ihrer Kaffeemaschine drückte. Am Radio drehte sie das unerträgliche Hämmern von »Another one bites the dust« ab. Im selben Moment klingelte ihr Smartphone.

»Ich verfluche dich!«, brummte sie ins Handy.

»Was? Mel? Ist alles okay?«, fragte eine irritierte männliche Stimme.

»Oh, Joe! Sorry, ich dachte … ach egal. Was ist los?«

»Was machst du gerade?«

»Kaffee einlaufen lassen und einer Aspirin eine Chance geben. Na ja, so was in der Art.«

»Okay, verstehe. Lutsch das Aspirin, eklig, aber hilft, trink den Kaffee aus, schwing dich in deinen Oldtimer und komm in die Redaktion. Es gibt Arbeit für dich.«

»Okay, ich versuche es!« Mel bemühte sich, dabei motiviert zu klingen, was ihr aber nur mäßig gelang. Denn eigentlich rief Joachim Hengstler, ihr Chefredakteur bei der BAZ, nur an, wenn er wirklich etwas Dringendes hatte.

Zwanzig Minuten später saß sie in ihrem vierzig Jahre alten weißen Volvo Kombi und bog vom Militärring auf die A555. Sie liebte den rostigen, etwas verbeulten, aber unverwüstlichen Wagen, den sie von ihrem Vater geerbt hatte und daher, auch wenn sie ihn wenig pflegte, in Ehren hielt. Vorbei an Rodenkirchen und den so hässlichen wie imposanten Raffinerieanlagen in Wesseling fuhr sie ihren täglichen Weg in Richtung Bonn. Gut, dass die Redaktion am Rande der Altstadt eine eigene Tiefgarage hatte und sie darin einen festen Platz. Das sparte Zeit, Nerven und Geld. Sie dachte noch einmal an den Anruf ihres Chefs. Was sollte es bei ihr als kleiner Lokalredakteurin schon Dringendes geben? War die Hauptversammlung des Kaninchenzüchtervereins »Lange Löffel 09« verschoben worden? Gab es einen Spendenskandal im Gesangverein »Goldene Kehlen« in Bad Godesberg? Oder hatte der Stürmer von Victoria Porz den Verein gewechselt? Schwul könnte er sein, ein Outing vor der Presse gemacht haben. Schwul im Männerfußball, offen und frei! So wie es bei den Frauen längst normal ist, ja, das wäre mal was! Diese Weicheier, dachte Mel. Okay, Joe, wenn es das ist, ist es in Ordnung, dass du mich heute Morgen in die Redaktion holst. Aber nur dann. Sonst gnade dir Gott!

Der Hörer krachte auf die Gabel, sodass sogar die Sekretärin im Vorzimmer zusammenzuckte. Dabei hatte das Amtszimmer des Erzabtes eine doppelflügelige, sehr dicke, alte Holztür. Normalerweise drang kein Laut hindurch. Allerdings gab es im Amtssitz des Erzabtes Christian, mit bürgerlichen Namen Jan Schwertfeger, auch nie Krach, einen Schrei schon gar nicht. Das erschien bis dahin vollkommen ausgeschlossen in diesen heiligen Hallen, die jeden zur Ehrfurcht ermahnten, der sie betrat. Bis eben zu diesem Moment.

Verschüchtert klopfte die Sekretärin an die Tür, öffnete sie einen Spalt und steckte den Kopf hinein.

»Alles in Ordnung, Herr Abt?«

»Ja, ja, schon gut. Verzeihen Sie! Lassen Sie nach dem Cellerar rufen bitte. Ich muss ihn umgehend sprechen. Es ist wichtig!« Sein Gesichtsausdruck ließ keine Zweifel zu, dass dies ein Auftrag oberster Priorität war. Sie schloss leise die Tür, eilte zu ihrem Schreibtisch und wählte die Nummer des Finanz- und Personalchefs des Ordens. Pater Johannes Brandstätter bekleidete das hohe Amt erst seit einem Jahr und hatte in den Ordenskassen und der Buchhaltung ein einziges Desaster vorgefunden. Mit harter Hand und konsequenten Maßnahmen hatte er die akute Existenzkrise des Ordens innerhalb kürzester Zeit zunächst abgewendet. Neben rückläufigen Einnahmen waren die Überalterung und oft nur noch wenige alte Nonnen in den drei angeschlossenen Klöstern ein Grund für die Krise. Das war die offizielle Begründung, auf die der Abt bestanden hatte. Dass der vorherige Cellerar massiv Finanzrücklagen und Liquidität in riskanten Spekulationen und beim Online-Glücksspiel veruntreut und verloren hatte, versuchte der Abt lange Zeit unter der Decke zu halten. Doch mit der angekündigten Schließung von zwei der vier Klöster wurde die Presse auf den Orden aufmerksam, recherchierte und die illegalen Spekulationen und die Spielsucht flogen auf. Der Abt hatte sein Amt behalten können, weil er schnell genug seinen Cellerar des Amtes enthoben, des Hauses verwiesen und nach Rom geschickt hatte. Sogar Rom hatte innerhalb weniger Tage seine Zustimmung zum Verweis aus dem Orden gegeben, was einer mehr oder weniger fristlosen Kündigung gleichkam und so bisher im Orden ein einzigartiges Vorgehen war. Normalerweise wurden schwarze Schafe, die sich etwas zuschulden hatten kommen lassen, an eine andere Stelle versetzt, wo sie hoffentlich keinen weiteren Schaden anrichten konnten. Bei einem Orden mit vier Klöstern, davon drei Nonnenklöster, war dies unmöglich, und einem anderen Orden wollte nicht einmal der Erzabt seinen auf den falschen Weg geratenen Vertrauensmann zumuten. Dazu kam dessen Spielsucht, die ihm, als Krankheit anerkannt, den Weg in ein Sanatorium vor den Toren Roms ermöglichte. Über seine spätere Verwendung wollte der Apostolische Stuhl dann entscheiden. Abt Christian war das recht gewesen, er war das personelle Problem losgeworden und hatte schließlich seither genug mit den Folgen des Skandals zu tun. Immerhin war auch er schweren Vorwürfen ausgesetzt, wie er das so lange habe nicht bemerken können. Rom hatte zwei Visitatoren geschickt, die drei Wochen lang das Kloster und seine Buchhaltung auf den Kopf gestellt hatten. Neben Francesco Montevialli war es Pater Johannes Brandstätter gewesen, der zu der Zeit in Vorbereitung auf eine neue Aufgabe in Rom geweilt hatte. Und so war er als Finanz- und Verwaltungschef, gewissermaßen als Geschäftsführer, im Kloster geblieben.

Es klopfte an der Tür des Erzabtes. Der Cellerar trat nach einem missmutigen »Herein« ein und setzte sich auf einen der beiden Besucherstühle gegenüber dem Schreibtisch.

»Wissen Sie, was hier heute los ist? Das ist ja nicht auszuhalten. Nimmt das denn nie ein Ende?« Der Abt, Mitte sechzig und an sich ein absolut gütiger und liebenswerter Mensch, hatte einen hochroten Kopf und tigerte aufgebracht hinter seinem großen Eichenschreibtisch hin und her. So hatte ihn der Cellerar noch nie erlebt, trotz der ganzen schwierigen Situationen und Entscheidungen im vergangenen Jahr. Er sah ihn ratlos an und zuckte mit den Schultern.

»Zuerst hat mich Bruder Montevialli aus Rom angerufen und wollte einen Bericht zum Stand der Maßnahmen haben. Natürlich habe ich ihm gesagt, dass wir unser bayrisches Kloster Kreuzweg«, er stockte, blieb stehen und sah sein Gegenüber über seine Brille hinweg anerkennend an, »durch die personelle Verstärkung aus der Zusammenlegung mit Kloster Burghagen wieder auf der Spur haben. Die Belastung von Burghagen ist weg und der Verkauf des Hauses an die Stadt abgewickelt. Dass die Stadt mitten im Sauerland daraus ein Museum machen möchte, hat Montevialli zudem gefallen.«

»Aber das war ja auch verhältnismäßig leicht und der kleine Kaufpreis leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Dafür war der alte Kasten viel zu klein und marode. Da konnten wir noch froh sein, dass die Stadt wenigstens diesen Kaufpreis akzeptiert hat.«

»Ja, das weiß Montevialli auch. Der sitzt uns im Genick, lieber Bruder. Wenn der Kaufpreis für Domthal nicht bald fließt, ist der Orden bankrott. Wir benötigen die Millionen auf den Konten. Sie wissen besser als ich, wie es da aussieht. Was soll ich denn Montevialli sagen? Die Wahrheit etwa? Das ist ja lächerlich.«

»Ich arbeite daran«, erwiderte der Cellerar, sich fast entschuldigend, dass er in der Sache noch nicht weitergekommen war.

»Dann hat mich auch noch drei Minuten später diese Anwältin von Konradi Invest angerufen. Die erlaubt sich doch, mich zu belehren, dass der Vertrag zwar unterschrieben sei, aber die Zahlung unter der aufschiebenden Wirkung stünde, dass das Kloster leer und unbewohnt übergeben werden muss. Diese impertinente Person erdreistet sich, mir zu drohen, dass man erwäge, vom Kauf zurückzutreten oder den Kaufpreis ratierlich zu mindern, wenn man nicht bald mit der Projektierung beginnen könne.«

»Anwälte, lieber Abt. Beruhigen Sie sich!«, sagte der Cellerar. Im Grunde berichtete ihm der Abt keine Neuigkeiten, die verfahrene Situation um Kloster Domthal konnte jeder in den Tageszeitungen der letzten Tage nachlesen. Der Abt ließ sich erschöpft in seinen hohen Stuhl fallen.

»Und dann rief mich zu guter Letzt noch dieser Wittkamp an, der Bürgermeister von Domthal, und fragt mich, ob ich ihm sagen könne, wann es nun mit dem Umbau des Klosters losginge. Die Konradi AG würde ihm keine Auskunft dazu geben und hätte an mich verwiesen. Er sieht in dem geplanten Luxushotel und dem Golfplatz wohl die wirtschaftliche und touristische Rettung seiner kleinen Stadt und kann es gar nicht abwarten.«

»Na ja, das ist ja verständlich.«

»Lieber Bruder Johannes, fahren Sie in die Eifel. Lösen Sie dieses Problem! Sie haben doch bisher alles so gut hinbekommen. Aber ohne dass der Kaufpreis für das Kloster Domthal endlich bezahlt wird, sind wir verloren!« Er faltete die Hände und blickte zur Decke, als ob der Herr über ihm schwebte oder von oben ein Geldregen zu erwarten sei.

»Ja, ich mache mich gleich morgen auf den Weg.« Der Cellerar stand auf, verbeugte sich kurz und verließ schnellen Schrittes den Raum.

»Bringen Sie dem Abt einen Tee, irgendwas Beruhigendes«, sagte er draußen im Vorbeigehen zu der Sekretärin.

Kurz hinter Wesseling klingelte Mels Handy in der nachträglich eingebauten Freisprecheinrichtung.

»Hey, wie geht es dir? Schon wieder unterwegs?« Caros Stimme klang auch noch etwas angeschlagen.

»Ja, muss in die Redaktion. Arbeit, angeblich was Dringendes!«

»Schatz, ich dachte, die Zeiten beim RND seien für dich vorbei. Du wolltest doch den Stress nicht mehr!«

Mel antwortete nicht. Sie hatte nach Adrians Tod den Job aufgegeben, ihren Traumjob. Dachte sie damals. Das, was sie beim Recherchenetzwerk Deutschland getan hatte, war ihre berufliche Erfüllung gewesen, einfach perfekt. Nicht umsonst war sie in dem Kreis der besten investigativen Journalisten innerhalb von nur drei Jahren zum Star und zur Sprecherin der Gruppe aufgestiegen. Doch es hatte seinen Preis gehabt. Vermutlich würde Adrian noch leben, wenn sie sich nicht nur auf ihren Job konzentriert hätte, sondern sie stattdessen schon ein erstes Kind gehabt hätten.

»Ja, die Zeiten beim RND sind vorbei. Mach dir keine Gedanken. Joe übertreibt nur wieder. Sicher dachte er, dass ich sonst nicht komme und lieber meinen Kater ausschlafe.«

»Du glaubst, das denkt er von dir? Hey, er mag dich.«

»Jaaaaa, weiß ich. Wahrscheinlich hat beim Skatklub jemand die Piksieben geklaut!« Mel lachte. Doch in dem Lachen klang unterschwellig und von Mel selbst nicht wahrgenommen etwas Verbitterung mit.

Bald darauf stellte sie ihren Wagen in der Tiefgarage des Verlags ab und fuhr mit dem Aufzug in den sechsten Stock. Oberste Etage, Chefetage. Als sie aus dem Aufzug trat, sah sie Joe durch die Glaswände schon im Konferenzraum sitzen, zurückgelehnt, die Füße übereinandergeschlagen auf der Tischecke abgelegt und an seinem Kaffee in seiner in der Redaktion längst legendären weißen Kaffeetasse mit der großen Aufschrift »BOSS« nippend. Doch offensichtlich war der Kaffee zu heiß, denn beim ersten Schluck schoss er hoch, fiel dabei fast hintenüber, verschüttete den heißen Kaffee zur Hälfte auf dem Tisch und die Unterlagen und den Rest auf seinem blütenweißen italienischen Zweihundertfünfzig-Euro-Hemd.

»Scheiße!«, brüllte er und sprang auf, schüttelte sich die Hände, zog sich dann das nasse Hemd vom Körper, weil auch das noch heiß war. Eine Volontärin eilte herbei und begann hektisch, mit Tüchern den Tisch abzuwischen.

»Ach, geben Sie her!«, herrschte er sie an, riss ihr die Tücher aus der Hand und tupfte sich das Hemd ab.

Die verschüchterte Volontärin schlüpfte an Mel vorbei durch die Tür hinaus.

»Schau dir diese Sauerei an«, sagte er und deutete auf sich.

»Ich dachte schon, du meinst die Unterlagen«, lachte Mel. »Guten Morgen, Joe.« Sie setzte sich auf einen Stuhl in sicherem Abstand zu ihrem Chef.

»Kein guter Morgen, siehst du ja. Das Hemd kann ich wegschmeißen!«, knurrte der Chefredakteur und setzte sich auf einen anderen Stuhl ihr gegenüber.

»Was hast du für mich?« Sie überging sein Kaffee-Desaster und wusste, wie sehr er jetzt ihr Bedauern hören wollte. »Das schöne Hemd!« Oder besser noch: »Oje, der teure Kaffee!« Mel wusste, dass Joe jeden Morgen einen Kopi Luwak trank. Niemand außer ihm konnte sich hier diesen Kaffee leisten. Sie hatte nie verstanden, warum er sich mit diesen Schickimicki-Sachen umgeben musste. Eigentlich war er ein ganz lieber Kerl. Und ohne den etwas zu runden Bauch auch noch attraktiv. Wie er damit hinter das Lenkrad seines neuen 911er passte, war ihr ein Rätsel. Doch es amüsierte sie, wie er offensichtlich damit versuchte, seine Midlife-Crisis zu überstehen.

»Hast du von dem Kloster in der Eifel gelesen?«

Mel überlegte kurz. »Du meinst diese Geschichte mit der störrischen Nonne?«

»Ja, genau.«

»Das soll diese dringende Sache sein, weswegen ich mit dickem Schädel hierhereilen musste?« Sie presste sich beide Hände gegen die Schläfen.

»Hör mir zu, Schatz.« Er nannte alle weiblichen Wesen in der Redaktion »Schatz« und längst hatten alle aufgegeben, es ihm abzugewöhnen oder im Rahmen von #metoo und Gendergerechtigkeit gar zu verbieten. Sie hörten es einfach nicht mehr.

»Diese Geschichte hat was. Und ich will, dass du darüber einen Artikel schreibst. Bekommst eine ganze Seite von mir. Fahr dahin, mach ein paar schöne Fotos, rede mit der alten Dame und liefere mir etwas Gutes! Okay?«

Besser als der befürchtete Skatklub-Skandal, dachte Mel.

»Okay. Wo ist denn das Kloster? Hast du mir noch ein paar Infos vorab?«

»Das Kloster ist im Domtal. Das Tal läuft parallel zum Ahrtal, nur zehn, fünfzehn Kilometer südlicher und durch einen Bergrücken, na ja, sagen wir eine ›Anhöhe‹ getrennt. Aber genauso schön, und es hat keine verdammte Flut letztes Jahr erlebt.« Er verzog das Gesicht. »Ein nettes Kaff, was fürs Wochenende und mit gutem Rotwein. Ich habe dir dort in einem Hotel ›Am Markt‹ ein Zimmer buchen lassen für zwei Nächte.«

»Zwei Nächte?«, fragte Mel überrascht. »Für ein paar Fotos und ein Gespräch?«

»Vielleicht brauchst du die Zeit. Die Dame ist ja schon fast hundert Jahre alt und, wie man hört, nicht ganz einfach.«

»Das heißt, sie weiß nicht, dass ich komme? Und wir wissen auch nicht, ob sie mit der Presse überhaupt redet?«

»Nun, bisher hat sie es nicht getan«, gab Joe etwas kleinlaut zu.

»Deshalb ich!«

»Schatz, du bist die Beste! Mein Bauchgefühl sagt mir, dass da eine echt gute Story dahintersteckt. Du weißt: Mein Bauch irrt sich nie! Mach was draus. Und wenn doch nicht, genieße die zwei Tage und verwöhne deinen hübschen Hintern im Whirlpool und in der Sauna. Ruf mich an!«

Mel überhörte seine Anspielung. Sie wusste, dass Joe auf sie scharf war. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Er wollte jedes weibliche Wesen in der Redaktion mindestens einmal im Bett gehabt haben, und alle wussten: Sie wären nur eine Trophäe. Mel war sich sicher, dass er es bei erschreckend vielen auch schon geschafft hatte. Nicht umsonst warnte die Personalchefin jede neue Volontärin ausdrücklich vor Joe.

»Okay, ich melde mich. Aber keine große Sache, klar?«

»Klar, Mel, weiß ich doch.«

Mel setzte sich an einen der freien Schreibtische im neuen »Sharing-Office«, seit Corona Joes neues Konzept in der Redaktion. Niemand außer dem Chef hatte nun noch ein eigenes Büro, einen festen eigenen Schreibtisch. Man setzte sich an einen der freien Schreibtische oder buchte sich im Zweifel vorher online einen Platz, damit niemand anderes da saß. Für alle Mitarbeiter war da längst kein Platz mehr und zwei Stockwerke hatten sie so vermieten können. Auch Tageszeitungen standen massiv unter wirtschaftlichem Druck, und nach wie vor hatte Joe den Ehrgeiz, den General-Anzeiger in Bonn von Platz eins zu vertreiben. Wie das gelingen sollte, wusste wohl nur er. Aber er konnte motivieren, anstacheln, interessante Ziele setzen. Dafür liebten ihn seine Mitarbeiter und konnten sich keinen besseren Chef vorstellen.

Mel klappte ihren Laptop auf und googelte alles, was sie über Domtal und das Kloster Domthal, das sich abweichend zu Tal und Ort mit »h« schrieb, finden konnte. Das Tal lag zwölf Kilometer südlich des Ahrtals und verlief fast parallel zu ihm, wie Joe es beschrieben hatte. Der kleine Fluss Dom mündete südlich von Sinzig in den Rhein. Er war von der Quelle, dessen Wasser am Ende des Tals über einen bemerkenswerten Wasserfall zunächst ins kleine mäandernde Flussbett stürzte, bis zur Mündung rund dreißig Kilometer lang. Domtal war mit seinen dreiundzwanzigtausend Einwohnern offensichtlich ein beschauliches Städtchen und der erste Ort nach zehn Kilometern, wenn man ins Tal hineinfuhr. Talaufwärts folgten die kleinen Orte Schlott, Kapellen und Weiler. Von dort waren es noch drei Kilometer bis zu den Wasserfällen. Mel studierte die Daten in Wikipedia und auf der Website von Domtal. Das Tal kam ihr vor wie eine Kopie des Ahrtals, links und rechts stiegen Weinberge an. Tourismus, eine kleine Lokalbrauerei, die seit über einhundert Jahren das helle »Domthaler« braute, sowie einige Metallbetriebe stellten die wirtschaftliche Basis des Tals dar. Der SC Domtal schmückte in der Rheinlandliga den vorletzten Tabellenplatz und hatte das letzte Spiel gegen den Ahrweiler BC mit 6:1 verloren. Der Gesangverein hatte 125-jähriges Jubiläum gefeiert und der Bürgermeister hatte in einer im Frühjahr gehaltenen Rede, die sich Mel auf YouTube ansah, große Sorgen um die vielen leer stehenden Ladengeschäfte, immer weniger Gastronomiebetriebe und die klamme Stadtkasse geäußert. Die dringende Renovierung der Grundschule, der notwendige Anbau des Feuerwehrhauses und weitere soziale Projekte müssten auf Jahre verschoben werden, wenn, ja, wenn nicht – jetzt wurde Mel hellhörig – wenn nicht bald der Umbau des Klosters beginnen könne. Mit dem Grandhotel und Deutschlands modernstem Golf-Resort würden Domtal wieder goldene Zeiten bevorstehen, das würde zahlungskräftige Besucher aus aller Welt in die Stadt locken. Mel schloss das Video und hörte sich den Rest nicht an. »Schwätzer! Als ob die reichen Pinkel mit ihren feinen Klamotten und ihren Jaguar- und Porsche-SUVs dann das Fünfsterneresort verlassen und in die Billigpizzeria in der Fußgängerzone zum Essen gehen oder beim Bäcker jeden Morgen Brötchen holen«, sagte sie laut. Aber ihr war klar, dass der Bürgermeister auf die enorme Gewerbesteuer spekulierte, die seinen maroden Haushalt sanieren würde. Das würde ihm zudem sicher auch die Wiederwahl im nächsten Jahr retten.

Dann sah sie sich Bilder des Klosters an: mächtig, aus hellbraunem Gestein und mit einem Turm auf der Rückseite. Mehr an ein Schloss als eine Kirche erinnernd, stand das große Gebäude auf der Anhöhe oberhalb Domtals. Wie ein weit aufgerissenes Maul war in der Mitte der Gebäude ein hohes, mit einem Bogen abgeschlossenes Portal zu erkennen. Links davon musste, den hohen Fenstern nach, die Kirche sein, auch wenn sie keinen typischen Kirchturm hatte. Rechts des Portals stand das Klostergebäude, zur Talseite beeindruckende sieben Stockwerke hoch. Die vielen Sprossenfenster ließen auf eine Unmenge Räume schließen. Doch erst eine Luftbildaufnahme zeigte das ganze Areal. Weitere verschieden hohe Gebäude waren bergseitig angebaut und umfassten auf vier Seiten einen großen Innenhof. An das Kloster schlossen sich mehrere moderne Schulgebäude auf der talabgewandten Seite an: die Sankt-Georg-Gesamtschule, wie Google ausspuckte. Zu seiner Blütezeit hatten in dem Kloster über einhundertvierzig Nonnen gelebt. Doch das war schon rund zweihundert Jahre her. Zuletzt waren es noch zwölf Nonnen gewesen, alle über siebzig Jahre alt. Das Kloster Domthal war das Hauptkloster der Schwestern der Heiligen Scholastika, der Schwester des Heiligen Benedikt. In den 1980er-Jahren hatten sich die drei Klöster des kleinen Ordens aus wirtschaftlichen Gründen bereits dem Benediktinerkloster in Steinwede organisatorisch anschließen müssen, waren aber in Leben und Glauben weiter unabhängig geblieben. Keiner der Scholastikerinnen war dieser Anschluss damals leichtgefallen. Aber es hatte Sinn ergeben und so hatte man sich daran gewöhnt, dass die Priorin nun mit dem Erzabt in Steinwede einen Vorgesetzten hatte, der Benediktiner war.

Was damals noch dazu gedacht war, den schrumpfenden Frauenorden zu retten, erwies sich schnell als Last. Mittel des vermögenden Scholastikerinnen-Ordens wurden abgezogen und subventionierten offensichtlich das Erzkloster in Steinwede. Mit Überalterung und fehlendem Nachwuchs, aber insbesondere dem Skandal war im letzten Jahr das Aus des Ordens für seine Klöster gekommen.

Mel fand einen Presseartikel: »Orden verkauft Tafelsilber für Spielschulden!« Jetzt wurde es spannend! Aufgeregt kaute sie auf ihrem Kuli herum, während sie den Artikel las. Er endete damit, dass zwei der drei Scholastikerinnen-Klöster an einen Investor verkauft werden mussten, die »Dr. Fritz Konradi Immobilien AG« aus Düsseldorf, um die Schulden und Liquiditätsnot des Ordens in Steinwede aufzufangen. »Klar, Düsseldorf!«, raunzte Mel und googelte die Firma. »So weit, so gut«, murmelte sie. »Und was ist jetzt mit dieser Nonne?« Sie scrollte die Suchmaschine durch und fand einen Artikel der Domtaler Nachrichten. Die Entwidmung der Klosterkirche war im Juni erfolgt, der Auszug der Nonnen im Laufe des Julis. Die Nonnen waren in das verbleibende Kloster in Bayern umgezogen. Aber eben nicht alle Nonnen! Der Artikel zeigte ein etwas älteres Bild der ehemaligen Priorin des Klosters, der heute neunundneunzigjährigen Schwester Scholastika. Zu Ehren der Ordenspatronin hatte sie beim Eintritt in den Orden den gleichen Namen angenommen.

»Neunundneunzig, das ist doch unglaublich«, murmelte Mel. Sie konnte sich nicht erinnern, schon einmal Kontakt zu jemandem in so hohem Alter gehabt zu haben. Als hell und sehr wach im Kopf wurde sie geschildert und ihre großen Verdienste ihres langen Lebens für das Kloster, die Schule und die Stadt aufgezählt. Ein beeindruckender Lebenslauf! Mel speicherte sich die ganzen Artikel auf ihrem Laptop. Der letzte Artikel endete mit dem Satz, dass die Nonne sich weigere, aus dem Kloster auszuziehen, und der Investor bereits rechtlich dagegen vorgehe. Gründe zu ihrer Besetzung des Klosters hatte die alte Nonne bisher nicht öffentlich erklärt.

»Eine verrückte, senile, alte Nonne besetzt ein Kloster! Na toll, Joe! Eine Spitzenstory! Dankeschön.«

Joe kam in dem Moment zufällig vorbei, lachte und meinte: »Warte es ab. Vielleicht ist es ja eine Spitzenstory. Und sonst: Mach eine draus.«

»Die redet doch nicht mal mit mir.«

»Lass dir etwas einfallen.«

»Hm …« Mel hatte noch keine Idee, schnappte ihren Laptop und verließ die Redaktion.

Sie beschloss, noch am Nachmittag nach Domtal zu fahren, sich dort erst etwas umzuhören und am nächsten Morgen zu versuchen, mit der Nonne zu sprechen.

Wie immer war rund um den Platz vor ihrem Haus kein Parkplatz mehr zu finden, und so parkte sie in zweiter Reihe. Schließlich musste sie ja nur ihre Sachen packen und würde gleich wieder wegfahren.

Eine weitere Dreiviertelstunde später packte Mel den Koffer, ihre Laptoptasche und die kleine Fotoausrüstung in den Kofferraum, riss fluchend das Knöllchen vom Scheibenwischer und schleuderte es zerknüllt in den Fußraum des Beifahrerplatzes, zu anderen, die da schon länger lagen.

Dann schickte sie Caro noch eine Nachricht:

> fahre nach domtal

> hotel am markt

> 2 tage

> melde mich

Anschließend tippte sie die Adresse des Hotels in die Navi-App ihres Smartphones, drückte es in die wackelige Plastikhalterung unter dem Rückspiegel und fuhr los.

2

Neunzig Minuten und einen Baustellenstau auf der A61, vor dem ihre App sie nicht gewarnt hatte, später erreichte Mel die Altstadt von Domtal. Sie stellte ihren Wagen auf einem der Parkplätze im Innenhof des etwas in die Jahre gekommenen Hotels ab und betrat durch den Hintereingang die Hotellobby.

Freundlich klärte sie die ältere Dame am Empfang über alles Notwendige auf und übergab ihr die Schlüsselkarte.

»Zimmer 218, zweiter Stock, vom Aufzug rechts, ein ruhiges Zimmer zum Innenhof hin mit Abendsonne.«

Danke, Jenny, dachte Mel an ihre Kollegin, die die Buchung in Joes Auftrag vorgenommen hatte. »Ach, sagen Sie, ich habe heute noch gar nichts gegessen.«

»Kein Problem, Frau Burger, unser Restaurant ist noch offen. Suchen Sie sich einfach einen Platz draußen.«

»Sehr gut, das mache ich, danke!«

Mel brachte ihren Trolley und die Laptoptasche in ihr Zimmer. Nach einer kurzen Auffrischung im Bad ging sie hinunter und suchte sich einen schattigen Platz unter einem Sonnenschirm mit Blick über den Marktplatz. Bis die Bedienung die Karte brachte, ließ sie den Blick über den Platz und die Leute schweifen, wie sie es gerne tat, wenn sie irgendwo saß. Der große rechteckige gepflasterte Platz wurde von einer Kirche, dem Rathaus, der Sparkasse und einigen schönen alten Fachwerkhäusern mit Ladengeschäften im Erdgeschoss begrenzt. Ein Wasserspiel und mit blühenden Blumen geschmückte Grünflächen nutzten Kinder zum Fangenspielen. Einige Frauen mit Kinderwagen und ein Rentnerpaar saßen auf Bänken zum Ausruhen oder Schwätzen. Im Außenbereich des Hotelrestaurants war etwa die Hälfte der Plätze besetzt. Die Bedienung brachte die Karte und Mel bestellte eine große Rhabarberschorle. An einem anderen Tisch, etwas entfernt von Mel, saßen drei Frauen, alle um die geschätzt fünfzig, eher praktisch als elegant gekleidet, eine mit Pants und Spaghettiträger-Top, die zweite mit Dreivierteljeans und T-Shirt, auf dem ein politischer Slogan stand, den Mel nicht lesen konnte. Die dritte saß halb mit dem Rücken zu ihr, war kräftig, blond und trug eine Latzhose über einem grünen T-Shirt.

Wer um alles in der Welt außer Handwerkern oder Schwangeren trägt heute noch eine Latzhose? Und das in dem Alter, so was von Achtziger, dachte Mel amüsiert. Die hat sicher auch noch einen Bundeswehrparka mit »Atomkraft – Nein danke!«-Sticker daran im Kleiderschrank. Mel schmunzelte bei dem Gedanken. Die Bedienung brachte die Schorle und Mel nahm einen erfrischenden ersten Schluck. Dann bestellte sie einen großen Salat, etwas Brot dazu und beobachtete die drei engagiert miteinander diskutierenden Frauen. Zügig bekam Mel ihren Salat, las die Nachricht von Caro auf dem Handy und genoss den kurzen Moment, der sich wie Urlaub anfühlte. Irgendwann wurde es am Nachbartisch lauter, die Diskussion erregter und eine Frau sprang auf und lief laut schimpfend davon. Die zwei verbliebenen Frauen beruhigten sich wieder und tranken ihren Kaffee aus. Die mit dem labbrigen T-Shirt hieß Jana, die mit der Latzhose Kathrin. So viel hatte Mel schon herausgefunden. Verstehen konnte sie nur immer wieder einzelne Wortfetzen, aber als das Wort »Kloster« fiel, spitzte Mel die Ohren. »Ich übernehme das!« und »… lassen wir nicht zu« schnappte sie noch auf. Dann bezahlten die Frauen, verabschiedeten sich mit herzlicher Umarmung und gingen in unterschiedliche Richtungen davon.

Als die Bedienung kam, nahm Mel ihren Schlüssel aus der Tasche. »Entschuldigen Sie. Diese Frau hier eben am Tisch, die mit der Latzhose, hat ihren Schlüssel verloren. Ich glaube, sie heißt Kathrin.«

»Ach, die Kathrin. Na, da wird sie sich freuen. Sie können ihn mir geben, dann gebe ich ihn ihr«, antwortete die Bedienung.

»Nein, das ist nett, aber ich gebe ihn ihr lieber persönlich. Ich habe nur ihren Nachnamen nicht ganz verstanden.«

»Scholten, Kathrin Scholten. Die kennt hier jeder! Sie sind nicht von hier, oder?«, lachte die Bedienung.

»Nein.«

»Finden Sie leicht. Die haben in Schlott oben am Hang einen kleinen Betrieb: Weinhandel und Kunsthandwerk Scholten, einfach googeln.«

»Wunderbar, danke«, lächelte Mel und ließ den Schlüssel wieder in ihre Hosentasche gleiten. »Schreiben Sie bitte das Essen und die Schorle aufs Zimmer 218.«

Mel ging durch die Lobby in den Innenhof, holte die kleine Fototasche aus dem Kofferraum, nahm im Hotelempfang einen Faltstadtplan aus einem Wandständer und orientierte sich kurz. Dann ging sie rechts vom Hotel die Einkaufsstraße entlang. Wie gut, dass die Flut 2021 dieses Tal verschont hatte. Sie sah vor ihren Augen wieder die schrecklichen Bilder der Flut im Ahrtal, das Wasser, den Müll, die zerstörten Häuser und Brücken. Oft hatte sie darüber berichtet, irgendwann aber nur noch die positiven Geschichten über die unglaublich tollen vielen Helfer, die Spenden und die große Solidarität. Das hatte Hoffnung gegeben, dass die Menschen im Ernstfall doch noch zusammenhalten. Aber hier in Domtal war gar nichts passiert. Ein normaler, vielleicht etwas stärkerer Regen damals an diesem 14. Juli. Domtal hatte einfach nur Glück gehabt. Und niemand wusste so richtig, warum eigentlich. Sie erreichte das mittelalterliche kleine Stadttor am Ende der Fußgängerzone und wandte sich nach rechts. Und da sah sie es das erste Mal nicht nur auf Bildern: Kloster Domthal, wie es zwischen den Weinbergen über der Stadt thronte. Hat ein wenig was von Hogwarts, dachte Mel und wunderte sich, dass sie noch nie was von dem Kloster gehört hatte.

Sie ging ein paar Straßen mit kleinen Einfamilienhäusern und gepflegten Vorgärten entlang. Am Ende der Straße erreichte sie dann schon bald den Ortsrand mit den letzten Häusern. Auf der der Stadt abgewandten Straßenseite der Ringstraße, die um die Altstadt herumführte, verlief zu beiden Seiten eine weitläufige, gut drei Meter hohe Mauer, die den gesamten vor ihr liegenden Hügel einfasste, auf dem obendrauf das Kloster stand. Durch ein großes schmiedeeisernes Tor führte ein geteerter einspuriger Weg zwischen mittlerweile verwahrlosten Gewächshäusern der damaligen Kräutergärten des Klosters mit zwei Kehrtwendungen am Hang hinauf zum Kloster. Mel ging zu dem Tor und rüttelte daran, doch es war verschlossen. Zusätzlich war eine dicke Eisenkette durch beide Torflügel gezogen und mit einem großen Vorhängeschloss gesichert. In einen der reichlich verzierten gemauerten Torpfosten waren eine Klingel und eine Gegensprechanlage eingelassen. Ohne große Hoffnung, dass am anderen Ende im Kloster wirklich etwas klingelte, drückte sie mehrfach den Messingknopf.

Nachdem sich wie erwartet niemand gemeldet hatte, holte sie ihre Kamera heraus, setzte das Teleobjektiv auf und schoss ein paar Bilder vom Kloster durch die Gitterstäbe des Tores hindurch. Als sie die Kamera herunternahm, fiel ihr die kleine Videokamera auf, die rund zehn Meter hinter dem Tor an einem offensichtlich neu aufgestellten Holzmast befestigt war und die Toreinfahrt überwachte. Mel winkte und versuchte, stimmlos mit deutlich gestikulierendem Mund zu sagen, dass sie von der Presse sei und gerne mit der Nonne sprechen würde. Aber auch hier wartete sie vergebens auf eine Reaktion.

So entschied sie sich, entlang der Klostermauer einmal das Gelände zu umrunden, was sie auf der unebenen Wiese und dem teilweise steil ansteigenden Hang schnell ins Schwitzen brachte und ihr die Luft nahm. Ich muss mal wieder Sport machen, fluchte sie in Gedanken. Doch ihre Hoffnung, einen anderen, offenen Eingang zu finden, wurde enttäuscht. Die gesamte Mauer den Berg hinauf hatte nur zwei kleine geschlossene Tore. Oben angekommen, schoss sie weitere Bilder, so gut das über die hohe Mauer mit etwas Abstand ging, und sah dann erst die modernen Schulgebäude, die man vom Tal aus nicht hatte sehen können, da sie weiter auf der talabgewandten Seite standen als das Kloster. Die weißen Zweckbauten machten Mel Hoffnung, einen Zugang über die Rückseite zu finden. Im Netz hatte sie gelesen, dass eine Stiftung die Schule übernommen hatte und weiterführte, seit das Kloster leer stand. Also fast leer.

Doch sie wurde enttäuscht. Die Klostermauer verlief auf der Rückseite zwischen Schule und Klosteranlage und das aus zwei großen Flügeln bestehende Lieferantentor war ebenfalls fest verschlossen. Auch hier wachte eine neu installierte Videokamera über den Platz vor dem Tor. Erneut versuchte Mel, mit Winken und Rufen auf sich aufmerksam zu machen, und kam sich so, wie sie vor der Kamera herumhampelte, ziemlich lächerlich vor.

»Das wäre auch zu einfach gewesen«, schimpfte sie, als sie auf der anderen Seite des Klosters die Straße, die auch zur Schule führte, wieder zurücklief. So tot und verlassen, wie das Kloster aussah, konnte Mel sich gar nicht vorstellen, dass da wirklich noch jemand wohnte. Als sie wieder zurück ins Tal zum großen Haupttor kam, sah sie gerade noch, wie ein Taxi davonfuhr, das offensichtlich vom Kloster gekommen war. Auf der Rücksitzbank hatte Mel einen älteren Herrn in einem schwarzen Anzug erkannt. Sie rannte zum Tor, aber dieses war schon wieder verschlossen. Doch auf dem Weg hinauf zum Kloster ging ein Mann, der offensichtlich das Tor für das Taxi geöffnet und geschlossen hatte.

»Hallo! Hallo, Sie!«, rief Mel und rüttelte am Tor, sodass die schwere Eisenkette rasselte.

Der Mann blieb zu Mels Freude stehen und drehte sich um.

»Was wollen Sie?«, rief er ihr zu.

»Ich bin von der Presse, von der BAZ aus Bonn. Ich möchte gerne mit der alten Dame sprechen!«

»Presse? Verschwinden Sie, sonst rufe ich die Polizei!«, bekam sie unwirsch und unmissverständlich zur Antwort, während der Mann sich umdrehte und zum Kloster hinauflief. Weitere Rufe Mels ignorierte er. Sie gab auf und drehte ab.

Alte Dame, dachte sie. Das war wohl kaum die richtige Anrede. Wie spricht man überhaupt eine Nonne an? »Schwester« erschien ihr am sinnvollsten. Mit Vor- oder Nachnamen? Diese Nonne war ja Priorin gewesen. Behielt sie den Titel in der Anrede, so wie der Bundespräsident? Mel beschloss, das im Hotel noch einmal zu recherchieren, nur zur Sicherheit, falls sie doch noch an die alte Nonne herankäme. Und wenn es morgen früh auch nicht klappen sollte, würde sie Joe anrufen, ihm sagen, dass sie recht gehabt hatte und es eine blöde Idee gewesen war und es hier keine Spitzenstory zu holen gab. Sie würde den Rest des Tages im Spa des Hotels und die zweite Nacht in dem bequemen breiten Boxspringbett verbringen. Joe hatte ja bereits bezahlt. Dann eben doch wieder Kaninchenzüchter und Skatklub.

Das Taxi hielt vor dem kleinen Bahnhof in Domtal. Der Cellerar gab dem Fahrer den Betrag, den er auf der Taxiuhr sah, und rundete ihn auf, ließ sich einen Beleg geben, nahm seine schmale braune Aktentasche und stieg aus. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er mit dem eben stattgefundenen Gespräch und dessen Ergebnis alles andere als zufrieden war. Mit seinem schwarzen Anzug war er nur denjenigen als Kirchenmann zu erkennen, die das kleine silberne Kreuz an seinem Revers sahen. Wenn er seinen Geschäften außerhalb des Klosters nachging, trug er, obwohl auch Mönch des Klosters, keinen Habit, während der Erzabt und die anderen Mönche ausnahmslos die Ordenstracht trugen.

Er musste nicht lange auf die S-Bahn warten, die ihn direkt bis zum Kölner Hauptbahnhof bringen würde. Von dort konnte er, und er liebte diesen Moment, durch die modernen geschwungenen Glasvordächer hinauf zu den Türmen des Kölner Doms schauen. Immer wieder ein großartiger Eindruck, und er bedauerte, dass sechs Minuten Umsteigezeit ihm nicht ermöglichten, schnell noch hinüber in den Dom zu gehen.

Als der ICE über die Hohenzollernbrücke den Rhein überquerte, hatte Johannes Brandstätter seinen Platz in der ersten Klasse und einem Konferenzabteil gefunden, in dem er allein saß und ungestört war. Er beschloss, nun einige Anrufe zu tätigen und erst zuletzt den Abt zu informieren, der sicher schon sehnsüchtig auf seinen Anruf wartete.

Zuerst wählte er eine Nummer in Düsseldorf.

»Herrn Dr. Konradi bitte!«

»Konradi hier. Herr Brandstätter, grüß Sie Gott!« Dr. Konradi war wie immer extrem freundlich und fast etwas euphorisch gestimmt. Doch der Cellerar hatte auch die andere Seite in ihm schon kennenlernen müssen, wenn der knallharte Geschäftsmann herauskam, der es gewohnt war, mit Millionen zu jonglieren, präzise Entscheidungen innerhalb von einer Minute zu treffen und dabei noch so unangenehme Folgen in Kauf zu nehmen, wenn es seinem Erfolg diente. »Ich hoffe, Sie bringen mir eine gute Nachricht.«

»Nun ja«, antwortete der Cellerar, und anhand seines Untertons wusste Konradi sofort, dass es nicht gut gelaufen war. »Das Gespräch war offen gesagt sinnlos. Die Schwester weigert sich hartnäckig, das Kloster zu verlassen.«

»Aber wie kann sie das? Es gibt doch einen Verkaufsvertrag, noch dazu ist sie doch, wenn ich das richtig weiß, dem Gehorsam gegenüber dem Abt verpflichtet. Wie kann sie sich dem einfach so widersetzen?«

»Es ist kompliziert«, stotterte der sonst so selbstsichere Cellerar.

»Da ist gar nichts kompliziert. Wissen Sie, was mich jeder Tag Verzögerung bei diesem großen Projekt kostet? Soll ich das vom Kaufpreis abziehen, Herr Brandstätter?«

Da war sie, die unfreundliche Seite des Investors.