Das Haus der Hebammen - Carolas Chance - Marie Adams - E-Book
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Das Haus der Hebammen - Carolas Chance E-Book

Marie Adams

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Beschreibung

Für sie ist der Beruf eine Berufung: die Hebammen aus dem Haus der guten Hoffnung!

Köln. Das Geburtshaus in der Cranachstraße 21 ist längst kein Geheimtipp mehr und inzwischen als »Haus der guten Hoffnung« bekannt. Die drei Gründerinnen, die Hebammen Carola, Susanne und Ella, sind beste Freundinnen und ein eingespieltes Team. Fürsorglich und kompetent kümmern sie sich um große und kleine Patienten und Patientinnen. Carolas Kinder sind mittlerweile aus dem Gröbsten raus, und ihr Mann Andreas feiert Erfolge als Drehbuchautor. Alles könnte perfekt sein, doch Carola fühlt sich mehr und mehr entfremdet von ihrem Partner, der sich beschwert, sie arbeite zu viel. Als sie ihre alte Jugendliebe Karsten wiedertrifft, fragt sie sich, wie ihr Leben wohl mit ihm verlaufen wäre …

Ein berührender Roman über die kleinen und großen Dramen, über Schmerz, Freude und den Glauben, dass am Ende alles gut wird.

Die Trilogie um das Geburtshaus in der Cranachstraße:
Band 1: Das Haus der guten Hoffnung – Susannes Sehnsucht
Band 2: Das Haus der guten Hoffnung – Carolas Chance
Band 3: Das Haus der guten Hoffnung – Ellas Entscheidung
Die Bücher erzählen eigenständige Geschichten und können unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 481

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Buch

Köln, 1994. Das Geburtshaus in der Cranachstraße 21 ist längst kein Geheimtipp mehr und inzwischen als »Haus der guten Hoffnung« bekannt. Die drei Gründerinnen, die Hebammen Carola, Susanne und Ella, sind beste Freundinnen und ein eingespieltes Team. Fürsorglich und kompetent kümmern sie sich um ihre Schützlinge. Doch ausgerechnet die pragmatische Carola fühlt sich zunehmend überlastet: Gerade hat das Geburtshaus eine weitere Etage angemietet. Carolas älteste Tochter Stefanie bereitet ihr Sorgen – sie will unbedingt Fotomodellwerden. Und ihr Mann Andreas, der endlich Erfolge als Autor feiert und mehr verdient, meint, jetzt könne Carola ja beruflich kürzertreten. Doch wo bleibt sie selbst bei all den Anforderungen?

Autorin

Marie Adams ist das Pseudonym der Kölner Autorin Daniela Nagel. Unter beiden Namen hat sie bereits diverse Romane und Sachbücher verfasst. Zudem schreibt sie Artikel über das Autorendasein für Fachzeitschriften. In ihrer neuen Trilogie »Das Haus der Hebammen« behandelt sie ein echtes Herzensthema: die Geburt und das Glück werdender Mütter. Die Autorin ist selbst Mutter von fünf Kindern, von denen einige in eben jenem Geburtshaus zur Welt kamen, das als Vorbild für die Romantrilogie diente.

Von Marie Adams bereits erschienen

Das Café der guten Wünsche · Glück schmeckt nach Popcorn · Der kleine Buchladen der guten Wünsche · Das Haus der Hebammen – Susannes Sehnsucht

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MARIE ADAMS

Das Haus der

Hebammen

Carolas Chance

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2022 by Marie Adams

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur

erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).

© 2022 by Blanvalet in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com

(engel.ac, contrastwerkstatt, kulniz, vladteodor, ajr_images,

hedgehog94) und Katong/Shutterstock.com

JA · Herstellung: sam

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-27433-7V001

www.blanvalet.de

Für meine Familie

Kapitel Eins

Köln, Januar 1994

Carola

Carola blieb einen Moment vor dem Eckhaus in der Cranachstraße stehen, bevor sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel suchte. Auch nach fünf Jahren zauberte ihr der schmale Altbau ein Lächeln aufs Gesicht. Gemeinsam mit ihren mittlerweile engsten Freundinnen hatte sie sich einen Traum erfüllt, den anfangs viele für verrückt hielten. Sie hatten 1989 das erste Geburtshaus in ihrer Stadt eröffnet, immer noch eins der wenigen in Deutschland.

Zwischen Kulis, einem Notizbuch, drei Packungen Taschentüchern, Wollmütze, Kaugummis, Elternbriefen und einer Banane, die auf dem Weg schon ein paar braune Flecken mehr bekommen hatte, fand sie den Schlüssel.

In dem Flur schlug ihr der Geruch von Lavendel und Kaffee entgegen. Eine bessere Mischung gab es kaum. Die Tafel im Eingang verriet, dass heute Nacht ein Baby geboren worden war: Pascal mit 3450 Gramm und 53 Zentimetern. Der Januar war nicht mal zur Hälfte rum, und doch standen neben Pascal bereits fünf weitere Kinder auf der Tafel im Flur, nämlich Vanessa, Sarah, Malte, Nico und Marie. Alle waren gesund auf die Welt gebracht worden und hatten genau den Start bekommen, den Carola allen werdenden Eltern wünschte. In aller Ruhe geboren und dabei die ganze Zeit von derselben Hebamme betreut.

Susanne kam ihr mit einer Kanne Kaffee entgegen. Kein Wunder, dass sie davon eine doppelte Portion brauchte, wenn sie heute Nacht erst ein Baby ins Leben begleitet hatte.

»Carola, wie schön, dass du schon da bist. Es gibt fantastische Neuigkeiten! Und wenn wir die besprochen haben, lege ich mich wieder ins Bett.«

Susanne war Carola so fest ans Herz gewachsen, als wären sie Schwestern. Schwestern, die sich verbunden fühlten. Bei ihrer eigenen Schwester war das leider nicht so einfach, dachte Carola wehmütig. Sie betrachtete ihre Freundin, die mit ihren bald vierzig Jahren noch fast mädchenhaft wirkte angesichts der roten langen Locken und der schlanken Figur. Wenn Susanne mit ihrer Enkelin spazieren fuhr, hielten sie alle für eine späte Mutter, aber niemals für die Oma! Susanne trug es mit Humor, den brauchte sie auch, nachdem ihr Leben vor fünf Jahren ganz schön aus den Fugen geraten war. Dass sie in der Zeit das Geburtshaus gegründet hatten, hatte Susanne wahrscheinlich gerettet.

»Dann sag schon, gute Neuigkeiten kann ich immer gebrauchen!«

Carola hängte ihre Jeansjacke an die Garderobe im Flur und stopfte ihr Karohemd in die Jeans. Die roten Converse-Turnschuhe hatte sie ihrem Sohn Thomas abgeluchst. Seine Füße waren im zwölften Lebensjahr förmlich explodiert, und er war ziemlich sauer darüber, dass das Geschenk seines Patenonkels von einer Dienstreise in die USA nur ein paar Monate gepasst hatte. Ihre älteste Tochter Stefanie fand ja, dass Carola sich zu jugendlich anziehen würde. Aber was sollte sie denn bitte schön anziehen? Faltenröcke und Seidenblusen?

Jeans und Hemden konnte ja wohl jede tragen. Und Carola fühlte sich darin wohl, vor allem weil sie es auch zehn Jahre nach der Geburt von Maike noch nicht geschafft hatte, ihren Schwangerschaftsspeck ganz loszuwerden.

»Lass uns auf Annett warten, sie holt noch ein paar Teilchen vom Bäcker.« Susanne machte es spannend. Wie immer. Carola schmunzelte und setzte sich an den Tisch in ihrer Besprechungsecke, die ebenfalls in dem großen Vorraum untergebracht war. Der Tisch war bereits gedeckt. Herrlich! Vor allem nachdem Carola heute Morgen auf den letzten Drücker schon drei Brotdosen bestückt und Kakao als Frühstück verteilt hatte. Andreas hatte die halbe Nacht geschrieben und lag noch im Bett, als sie nach den drei Kindern das Haus verlassen hatte.

»Halloooo, frische Puddingteilchen und Plunder«, rief Annett fröhlich und schwenkte eine Tüte von Merzenich. Annett war wirklich ein Goldstück, auch wenn sie Ella, ihre Mitgründerin, nicht ersetzen konnte.

Als sie gemeinsam am Tisch saßen, die Teilchen genossen, Kaffee schlürften und ihre Arbeit besprachen, fühlte es sich kein bisschen nach Arbeit an.

»Susanne, jetzt aber raus mit den guten Nachrichten«, erinnerte Carola Susanne an deren Ankündigung. Auch wenn am Ende alle drei den Mietvertrag für das Erdgeschoss in der Cranachstraße 21 unterschrieben hatten, war Susanne so etwas wie die Chefin des Geburtshauses.

»Also die erste gute Nachricht: Wir bekommen die Etage über uns!«

Carola lächelte. Perfekt! Zwei Geburtszimmer mehr und ein Raum in Reserve!

»Super! Wann können wir die Wohnung einrichten?«

»Die Mieter haben ein Haus weiter draußen gefunden. Sie sind schon am Ausräumen. Sobald die letzte Umzugskiste draußen ist, können wir anfangen.«

Herrlich, dachte Carola. Auch wenn sie einigermaßen bedient war von Renovierungsarbeiten, nachdem sie und Andreas sich ebenfalls ein Haus weiter draußen gekauft hatten. Jahrelang hatten sie davon geträumt, endlich nicht mehr Bobbycars, Kinderwagen und Räder durchs Treppenhaus hieven zu müssen. Oder von den Nachbarn angeraunzt zu werden, wenn sie am Wochenende Wäsche im Garten aufhängten. Und dann waren sie doch erst umgezogen, als sie Bobbycars und Kinderwagen längst auf dem Flohmarkt verkauft hatten.

»Prima, ick freu mir«, verfiel Annett wieder in ihren Berliner Dialekt, in den sich in den letzten Jahren immer stärker ein kölnischer Singsang eingeschlichen hatte.

»Wir können mehr Geburten betreuen.« Susanne sah Carola und Annett euphorisch an. Sie hatten in den letzten Jahren öfter erlebt, dass Geburten auch mal im Kursraum stattfanden oder kein Platz mehr für eine Vorsorgeuntersuchung war.

»Aber das können wir nur, wenn wir mindestens noch eine Hebamme mehr haben.«

Warum strahlt Susanne bei dieser Feststellung so?, fragte sich Carola.

»Und damit kommen wir zur zweiten guten Neuigkeit! Ella kommt wieder! Im März schon! Und sie fängt direkt wieder bei uns an.«

Ach, das waren wirklich wunderbare Nachrichten. Ella, die Jüngste im Bunde, die anfangs noch recht unsicher war, dann aber allen Mut zusammengenommen und fernab der Familie und Freunde vor zwei Jahren in Uganda in einer Geburtsstation angefangen hatte. Carola, die selten weinte, hatte Rotz und Wasser geheult, als Ella ihren letzten Tag im Geburtshaus gearbeitet hatte. Aber nicht nur weil sie Ella vermissen würde, sondern auch weil ihr Mutterherz für Ellas Eltern mit heulte. Und für ihr eigenes Herz. Was, wenn ihre Kinder einst auch auf so eine Idee kämen? Bei anderen Kindern fand man Mut und Abenteuerlust ja immer bewundernswert, aber die eigenen durften gern in sicherer Nähe bleiben.

Stefanie machte nächstes Jahr Abitur. Und wusste nicht, was sie nach dreizehn Jahren Schule machen sollte. Hauptsache, sie kam nicht auf so eine Schnapsidee.

»Wie schön, dann ist ja fast alles wie früher, nur noch besser!« Carola trank darauf einen Schluck Kaffee. Ja, so war es doch, alles in ihrem Leben wurde besser. Die drei Kinder waren langsam aus dem Gröbsten raus, ihr Beruf war eine echte Berufung, und die Rahmenbedingungen nach Jahren als Hebamme im Krankenhaus ideal; ihr Mann Andreas stand immer noch an ihrer Seite und war die letzten Jahre als Schriftsteller richtig erfolgreich geworden. Genauso wie viele sie mit der Geburtshausidee für verrückt gehalten hatten, hatten viele Andreas für einen Spinner gehalten. Doch sie hatten sich gegenseitig in ihren Träumen unterstützt. Und waren am Ziel! Was sollte jetzt noch schiefgehen?

Bevor ihr dazu etwas einfallen konnte, meldete sich ihr Pieper, den sie immer in der Hosentasche trug. Eine ihrer Schwangeren kündigte – wenn es kein Fehlalarm war – die bevorstehende Geburt an.

Carola wählte die Telefonnummer mit Kölner Vorwahl, die ihr das Display des Piepers anzeigte, der an eine Sportuhr erinnerte, mit der die Zeiten bei den Bundesjugendspielen gemessen wurde. Diese schrecklichen Spiele standen im Juni auch wieder an, und Maike hatte darauf bestanden, dass Carola mit am Rand stehen würde, um zu messen, wie weit sie gesprungen oder wie schnell sie gelaufen war. Alle Mütter kämen dahin, hatte Maike gesagt und noch mal betont, dass das ja ihr allerletztes Jahr in der Grundschule wäre und sie das einzige Kind, dessen Mutter sich noch nie beim Sportfest hätte blicken lassen. Und Andreas weigerte sich, dort hinzugehen. Das würde ihn nur an seine eigene traumatische Sportkarriere in der Schule erinnern, in der er nicht einmal eine Siegerurkunde ergattern konnte.

Es war noch lange hin bis zum Sommer. Vielleicht würde Maike ihren Wunsch bis dahin vergessen haben. Endlich nahm jemand ab. Eine Männerstimme.

»Hallo? Riemschneider am Apparat?«

Falls die Nummer vom Geburtshaus angezeigt wurde, konnte es sein, dass der werdende Vater sie eben nicht auswendig kannte. Hartmut hieß der Vater doch. Carola bot mittlerweile fast allen das Du an.

»Hartmut? Ich bin’s, Carola, eure Hebamme. Ihr habt den Pieper alarmiert. Wie geht es Gaby?«

Meist riefen die Eltern schon bei den ersten Wehen an. Hektik war selten angebracht.

»Ich glaube, du musst sofort kommen. Sie hat gerade den Kleinen in den Kinderstuhl gesetzt und auf einmal, na, du weißt schon, wie im Film …«

Hartmut wollte bei der Geburt des zweiten Kindes unbedingt dabei sein, aber es war ihm jedes Mal peinlich, über ganz normale körperliche Vorgänge zu sprechen.

»Ich bin in einer Viertelstunde bei euch. Am besten legt Gaby sich hin.«

Sechzehn Minuten später hielt Carola mit quietschenden Reifen vor dem Wohnhaus der Familie. Ein Altbau in Nippes. Zum Glück hatte sie einen Freiparkschein. Solange sie keine Feuerwehreinfahrt blockierte, durfte sie im Notfall überall stehen.

Sie klingelte, und zwei Sekunden später öffnete jemand die Tür. Allerdings weder Hartmut noch Gaby, sondern eine Frau in Kittelschürze, die den Flur wischte. »Danke fürs Öffnen, ich bin die Hebamme der Familie Riemschneider und gehe mal hoch.« Carola nickte der Frau freundlich zu und lief vorsichtig die Treppe hoch, um auf dem nassen Boden nicht auszurutschen. Da müsste sie gleich auch mit Gaby aufpassen.

»Na, dann transportieren Sie die Gute mal schnell ab ins Krankenhaus. Das Geschrei ist ja kaum auszuhalten!«

Geschrei? Carola hörte nichts. Doch als sie auf dem nächsten Treppenabsatz war, konnte sie einen markerschütternden Schrei hören. Die Klingel hätten die Riemschneiders definitiv nicht gehört.

Die Tür war nur angelehnt. Sie hatten mitgedacht. Dennoch klopfte Carola noch einmal laut, bevor sie in die Wohnung eintrat. Gemütlich war es hier. Hohe Decken mit Stuck und dennoch bunte Wände, Kinderbilder an der Wand und Duplosteine schon im Flur verteilt, der direkt in eine offene Küche überging.

»Hallo? Ich bin’s! Carola!«

Sie kannte die Wohnung ja schon und nahm den Weg ins Schlafzimmer. Sie klopfte erneut an. Diesmal hörte sie ein »Herein«.

Auf dem Bett saß Gaby, die einen viel zu großen Pyjama trug, der wahrscheinlich ihrem Mann gehörte. Dennoch spannte das Oberteil um den Bauch herum.

Normalerweise holte Carola die werdenden Eltern ab, um gemeinsam ins Geburtshaus zu fahren.

»Guuut, dass du da bist. Ich glaube, wir müssen sofort los.« Gabys Stimme klang gepresst.

Bevor Carola antworten konnte, stieß Gaby noch einen Schrei aus. Hartmut hielt seine Hand auf ihre Stirn, was sie gar nicht zu bemerken schien.

»Können wir noch einen Umweg machen und Fabian zu den Großeltern bringen? Die wohnen gleich um die Ecke.«

Stimmt. Das erste Kind war keine drei.

»Wo steckt er denn gerade? Kannst du die Großeltern nicht anrufen, dass sie sofort hierherkommen?«

»Der guckt Tom und Jerry. Haben eine Videokassette angeworfen.«

Hartmut sah schuldbewusst aus. So als müsste die Glotze jetzt öfter als Babysitter herhalten. Allein konnten sie das Kleinkind jetzt keine fünf Minuten lassen. Auch nicht vor der Glotze.

»Gaby, dürfte ich mal schauen, wie weit dein Muttermund geöffnet ist?«

Gaby nickte. Und begann zu pressen. Carola brauchte die Weite des Muttermundes gar nicht zu kontrollieren. Und sie würden Fabian auch nicht mehr zu den Großeltern bringen.

»Darf ich dir helfen, die Hose auszuziehen?«, fragte Carola. Im Krankenhaus hatten sie die Dinge oft getan, ohne um das Einverständnis zu bitten. Wie oft war einer der Ärzte sogar mit der Epischere gekommen, um den Geburtskanal mal eben mit einem Dammschnitt zu erweitern? Wie oft wurde Schwangeren kurz vor dem Wochenende ein Wehentropf gesetzt? Die wenigsten hatten solche Maßnahmen infrage gestellt. Schließlich waren das die Profis, die wussten doch am besten Bescheid.

Gaby nickte. Zwischen ihren Beinen war schon das Köpfchen zu sehen. Wenn alles glattlief, wäre Fabian ein großer Bruder, bevor die Videokassette durchgelaufen war.

Susanne

Hand in Hand mit Antonius stand Susanne vor dem schmucken Einfamilienhaus in einer Wohnsiedlung im Bergischen Land. Sie holte tief Luft, als sie das Tonschild an der Tür sah. Hier lachen, streiten und lieben sich Angela, Gerd und Julia. Dabei wohnte Julia doch schon lange nicht mehr hier.

Mit Sicherheit war dies eines dieser Grundschulweihnachtsgeschenke, die Julia für ihre Eltern hatte basteln müssen. Für ihre Adoptiveltern, dachte Susanne bitter. Sie umklammerte den Blumenstrauß in ihrer Hand. Als könnte ihr Mann ihre Gedanken lesen, küsste er sie zärtlich auf die Wange.

»Hey, wir schaffen das schon. Und denk dran, vor fünf Jahren wäre das eine Traumvorstellung für dich gewesen.«

»Du hast recht.« Eine Welle der Liebe für ihren wunderbaren Mann, den sie auch erst vor gut fünf Jahren kennengelernt hatte, durchflutete sie. Als Antwort küsste sie ihn auf den Mund. Für einen Moment vergaß sie die Welt um sich herum, aber auch die Tatsache, dass sie gerade an der Haustür geklingelt hatten.

Die Tür wurde geöffnet. Angela stand adrett und mit Schürze umgebunden in der Tür und schaute auf Susanne, als wäre sie ein liederliches Geschöpf. Allerdings hatte es Angela nur Susannes jugendlicher »Liederlichkeit« zu verdanken, dass sie nun so etwas wie Familienglück besaß, dachte Susanne, die sich von Julias Adoptivmutter bis heute nicht akzeptiert fühlte.

»Ach, da seid ihr ja endlich. Susy hat schon zehnmal gefragt, wo ihr bleibt.«

Und da kam Susy angeflitzt. Ihre roten Locken wippten im Laufschritt mit.

»Oma Susanne! Opa Antonius!«

Sie umarmte beide gleichzeitig. Antonius war nicht ihr leiblicher Opa, der war immer noch unbekannt und wusste nichts von seinem Glück, das einer kurzen Romanze während Susannes Klassenfahrt nach England gefolgt war.

Angela seufzte und lächelte. »Na, dann kommt mal rein in die gute Stube.«

»Danke, Angela. Und die Blumen hier sind für dich.« Susanne hielt ihr die rosafarbenen Rosen hin, und Angela freute sich aufrichtig.

»Die sind aber hübsch, ich hole direkt eine Vase.«

Susy nahm Susanne an die Hand und zog sie mit in das große Wohnzimmer, das eine riesige Fensterfront zum Garten hin hatte. Vom Garten sah man jedoch nur einen Teil, weil von oben bis zur Mitte eine Gardine hing und auf der Fensterbank jede Menge Kakteen und Orchideen standen, sodass Susanne verborgen blieb, wer draußen im Schnee stand.

In der Mitte des Wohnzimmers war eine große Kaffeetafel aufgebaut. Ein Sauerkirschananasboden, daneben eine Schüssel Schlagsahne, eine Eierlikörtorte für die Erwachsenen, die bei diesem Kindergeburtstag in der Überzahl waren, und ein trockener Kuchen mit drei Kerzen darauf. Antonius stellte den Kalten Hund dazu, den Susy sich ebenfalls gewünscht hatte. Viel Platz war nicht mehr.

Angela kam mit einer Vase und den Blumen wieder rein, stellte sie auf die Anrichte, auf der Familienfotos und das Telefon standen, und öffnete die Terrassentür, um die anderen Gäste hereinzuholen. Ausnahmsweise durften alle ihre Schuhe im Wohnzimmer ausziehen und auf den waschbaren Läufer stellen.

Nach der Begrüßungsrunde saßen sie an der Kaffeetafel. Susanne und ihre Familie: ihre Tochter Julia, die sie erst vor fünf Jahren kennengelernt hatte, ihr Freund Lukas, mit dem sie Medizin studierte, Susy, ihre Enkelin, ihre eigenen Eltern, die nun schon Urgroßeltern waren, obwohl sie damals auf keinen Fall Großeltern hatten sein wollen – sowie Angela und Gerd, Julias Adoptiveltern. Und die hatten ihre Aufgabe gut gemacht. Das musste Susanne zugeben.

Alle miteinander stimmten ein Lied an: »Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst …«

Susanne wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, als sie ihre Tochter und Enkelin beobachtete. Susy war so willkommen und hatte so viele erwachsene Bezugspersonen wie kaum ein Kind. Susanne drückte Antonius’ Hand unter dem Tisch. Manchmal hatte sie Angst, aus einem Traum zu erwachen. So viel Liebe war da in ihrem Leben. So viel Glück. Und doch auch Schmerz über das, was passiert war, und Schmerz über etwas, das einfach nicht passieren wollte.

»Susy-Schatz, kannst du nicht endlich die Kerzen auspusten, ich habe einen Bärenhunger.« Lukas nahm Susy von seinem Schoß und platzierte sie vor den Kuchen, an dem die Kerzen schon fast runtergebrannt waren.

»Okay, Papa, aber ich muss mir noch überlegen, was ich mir wünsche.« Susy konnte extrem gut sprechen für ihr Alter. Wahrscheinlich auch, weil so viele Erwachsene um Gesprächszeit mit ihr buhlten.

»Was du willst, mein Schatz«, ermunterte nun auch Julia ihre Tochter, während das Wachs schon auf den Zuckerguss tropfte. Susanne, Julia und die kleine Susy sahen sich mit ihren roten Locken wirklich ähnlich. Kein Wunder, dass sich Angela manchmal außen vor fühlte.

»Mmmh, also ich wünsche mir …«, sie hatte das Zeug einer Theaterschauspielerin. Das Mädchen machte es spannend und ließ seinen Blick erst einmal über alle ihre Gäste schweifen.

»Also ich wünsche mir, dass Oma Susanne und Opa Antonius noch ein Baby bekommen. Ich weiß nämlich, dass das noch geht, weil unsere Nachbarin hat mit zweiundvierzig noch ein Baby bekommen.«

Susanne bekam einen knallroten Kopf, während alle anderen schwiegen. Antonius drückte ihre Hand und unterdrückte ein Grinsen. Susy schaute unsicher und pustete dann drauflos, dass das Wachs über den Kuchen spritzte.

»Ihr anderen Omas und Opas seid leider schon zu alt dafür, und Oma Susanne wünscht sich das doch so doll.«

Susanne senkte ihren Blick.

»Danke, Susy, wer weiß, welche Wünsche noch alles in Erfüllung gehen. Aber jetzt muss ich echt ein Stück Kuchen essen, sonst habe ich gleich keine Kraft, im Garten einen Schneemann mit dir zu bauen. Für mich bitte ein dickes Stück von der Eierlikörtorte«, wechselte Antonius das Thema elegant, und Angela griff vor lauter Dankbarkeit darüber direkt zur Tortenschaufel. Susannes Eltern schauten verlegen auf die Tischplatte, als ob sie sich noch heute für ihre Tochter schämten.

Susanne hielt ihren Teller auch hin, als Angela die Eierlikörtorte verteilte, wobei sie jetzt gerne nicht nur den Guss, sondern am liebsten gleich ein Gläschen heruntergekippt hätte. Aber auch nach vier Jahren vergeblichen Versuchens, schwanger zu werden, verzichtete sie möglichst auf Alkohol. Doch Eierlikörtorte mochte sie wirklich gerne, und soweit sie sich erinnern konnte, war zwischen ihr und Antonius in der »gefährlichen« Zeit eh nichts gelaufen.

Susy plapperte munter von der Kindergarteneingewöhnungszeit, als wollte sie von dem Wunsch ablenken, der anscheinend bei den Erwachsenen doch nicht so gut ankam.

»Also manche Themen sind wirklich nichts für Kinder«, griff Angela das Thema wieder auf, als Susy gerade herausgelaufen war, um neue Limo aus der Küche zu holen.

»Mama, meine Mutter ist Hebamme, und ich werde Frauenärztin. Natürlich interessiert sich Susy für solche Themen«, erwiderte Julia und nahm sich das zweite Stück Sauerkirschananasboden.

»Ich würde das Thema auch lieber wechseln«, sagte Susanne nur.

»Und ich finde, das Thema ist in eurem Alter nun wirklich nicht mehr angemessen«, widersetzte sich Angela Susannes Wunsch.

Susanne seufzte. Sie schrieben das Jahr 1994. Die Zeiten, in denen über alles rund um das Kinderkriegen nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde, waren längst vorbei. Aber an deutschen Kaffeetafeln war es eben immer noch ein Tabuthema.

»Angela, die Torte ist fantastisch«, ging Susanne gar nicht auf ihre spitze Bemerkung ein. Sich auf das Gute in dieser verrückten Konstellation zu konzentrieren war Susannes Ziel. Ihrer Tochter zuliebe. Und letztendlich auch sich selbst zuliebe.

Vor bald fünf Jahren hatten sie schon einmal mit Farbtöpfen und Pinseln in der Cranachstraße 21 gestanden und aus der unteren Etage, die davor eine Kneipe beherbergt hatte, Kölns erstes Geburtshaus gezaubert. Susanne hatte es Spaß gemacht, als sie damals alle drei mit Schwämmen Akzente auf den Wänden gesetzt hatten. Das war genau wie die hellen Holzmöbel und die Bordüren aus Tapete, die die Räume unterteilten, der letzte Schrei gewesen. Gemütlich war es immer noch, so viel gemütlicher als in den meisten Krankenhäusern, wobei mittlerweile immer mehr Kreißsäle wohnlicher gestaltet wurden.

Und jetzt hatten sie die obere Etage dazugemietet. Statt Orange hatten sie diesmal zu einem rostroten Farbton gegriffen, der nicht nur auf den Wänden, sondern auch auf der Folie klebte, die sie ausgelegt hatten.

Carola, Annett und Susanne hatten Musik aufgedreht. Mr. Vain wurde von Sing Hallelujah! abgelöst. Der Bass dröhnte in den Wänden des Altbaus. Carola hatte ein paar CDs ihrer Tochter ausgeliehen. Discomusik. Vor fünf Jahren hatten sie sich vorgestellt, wie sie in der Eingangshalle eine Tanzparty veranstalteten, aber mittlerweile war der Gedanke, dass sie drei in einer Disco tanzen würden, viel absurder, als mit fast vierzig schwanger zu werden.

Die Einzige, die der Türsteher nicht fragen würde, ob sie sich im Club vertan hätte, wäre Ella, aber die verbrachte noch ihre letzten Tage in Uganda.

Carola begann mit Dr. Alban laut mitzusingen. Der Zahnarzt machte lieber gute Laune mit seiner Musik, als Löcher zu bohren.

»Sing Hallelujah, sing it …«, sie tunkte den Pinsel ein. Fehlte nur noch, dass sie ihn gleich als Mikro benutzte.

Annett toppte das Ganze, indem sie nicht nur sang, sondern auch noch tanzte. Sie schwang ihre rundlichen Hüften und wackelte mit dem Kopf. Ihre Dauerwelle sah noch etwas nach den Achtzigern aus, aber so lange waren die ja auch nicht her.

Susanne schmunzelte. Und summte mit. Sing Hallelujah … sie war die Ruhigste von ihnen. Lauthals singen und tanzen fiel ihr sogar vor ihren liebsten Freundinnen schwer. Dabei spürte sie wirklich allen Grund, lauthals Hallelujah zu singen. Das Leben war gut. Trotz allem Schmerz aus der Vergangenheit. Trotz eines Traums, dessen Erfüllung immer unwahrscheinlicher wurde. Das Jahr 1989 war für sie der größte und erstaunlichste Wendepunkt in ihrem Leben geworden. Nicht ganz so einschneidend wie für Annett, der in dem Jahr eine ganz neue Freiheit geschenkt worden war. Die Hebamme, die erst vor drei Jahren zu ihnen gestoßen war, hatte vorher in der Charité in Berlin gearbeitet. Für Carola hatte sich am wenigsten geändert. Aber sie wurde auch immer unabhängiger, je älter ihre Kinder wurden. Die Jüngste war zehn und kam bald auf das Gymnasium. Carola meinte immer zu Susanne, dass sie doch verrückt wäre, jetzt unbedingt noch ein Baby zu wollen. Mit vierzig! Viel einfacher wäre es doch, sich um die Enkeltochter zu kümmern, die könnte sie auch immer wieder getrost abgeben. Susanne nahm das Carola nicht übel. So war sie eben. Pragmatisch. Und redete immer, wie ihr der Schnabel gewachsen war.

Susanne summte etwas lauter und wischte mit der Farbrolle über die Raufasertapete.

»Leute, habt ihr ein Klingeln gehört, oder ist das schon mein Tinnitus?«, rief Carola.

»Also ich habe nichts gehört!«, rief Annett. Carola drückte auf die Pausetaste des CD-Players. Es klingelte tatsächlich. Susanne griff als Erstes nach ihrem Pieper in der Hosentasche. Die anderen beiden ebenso. Wenn sie das Klingeln überhört hatten, hätten sie auch den Pieper überhören können.

Keine Nachricht. Erst die Treppe herunter würde zu lange dauern. Keine hatte einen Termin, wahrscheinlich war es der Postbote. Susanne lief zum Fenster zur Straße hin und öffnete es. Das Haus war so schmal und lief von der Vorderseite aus zu einer Art Dreieck auseinander, dass es etwas von einem Turm hatte.

»Augenblick«, rief Susanne nach unten und sah in ein geliebtes Gesicht. Antonius schaute zu ihr hoch. Mit einem Tablett in der Hand. Waren das belegte Brötchen? Das war ja auch wie vor fünf Jahren, nur damals hatte sie den netten Buchhändler von gegenüber noch gesiezt. Und obwohl sie in seiner Gegenwart schon Schmetterlinge im Bauch gehabt hatte, hatte sie auch Angst gehabt, sich ihm zu offenbaren. Zu unwahrscheinlich war es ihr vorgekommen, dass er sie lieben könnte, wenn er alles über sie wusste. Aber das Gegenteil war der Fall gewesen.

»Ich komme sofort«, rief sie und hüpfte fast vor Freude die Treppe herunter, die zu dem Seiteneingang führte. Einen Durchbruch zu schaffen wäre viel zu aufwendig und würde zu viel Raum wegnehmen.

Und immer noch kribbelte es, wenn sie ihn sah. Ihr Mann, der sie damals an Jeremy Irons erinnert hatte. Nur dass Antonius schon ein paar graue Haare mehr zwischen dem dunklen Haar hatte.

Ihr Mann, der so fürsorglich und klar war. Der sie auf Händen trug und dabei immer auf Augenhöhe mit ihr war. Ob das anders käme, wenn sie ein gemeinsames Kind hatten? Bei wie vielen Paaren verrutschte das gleichberechtigte Verhalten automatisch noch in die Geschlechterrollen der Fünfzigerjahre? Nein, sie wären wunderbare Eltern. Und Susanne hatte diesen Wunsch noch nicht aufgegeben. Aber die Zeit lief ihr davon. Heute Abend, wenn sie wieder zu Hause wäre, musste sie mit ihm darüber reden. Er musste endlich einlenken. Es lag nicht an ihr, dass ihr Wunsch nicht erfüllt wurde.

Sie saßen im Schneidersitz auf dem Boden des frisch gestrichenen Raumes, der einmal ein Geburtszimmer werden sollte. Ihre Jeans und T-Shirts waren mit Farbe bekleckert, die Fenster waren aufgerissen, die Sonne schien herein. Carola öffnete den Brief, der an das Geburtshaus adressiert worden war und eine lange Reise hinter sich hatte. Er war vor zwei Wochen in Kampala, der Hauptstadt von Uganda, abgestempelt worden. Carola hätte sich am liebsten noch ein Röggelchen mit Gouda von dem Tablett genommen, aber sie fühlte sich unwohl mit ihrem Babyspeck um den Bauch. Ja, sie hatte sich sogar ganz verschämt die neueste Brigitte mit der jährlichen Brigitte-Diät kurz vor der Bikinisaison gekauft und vermied es tunlichst, sie zu Hause offen liegen zu lassen. Genauso wie ihre älteren beiden Kinder die Bravo oder Mädchen auch nur heimlich lasen. Sie schmunzelte. Stefanie war auffallend dünn geworden. Sie sah fantastisch aus, aber Carola ging es langsam auf den Zeiger, dass sie nur Salat essen wollte, hatte sie früher den Makkaroni-Auflauf oder Nutella-Pfannkuchen immer so geliebt. Und vor Stefanie behauptete Carola immer, dass jede Frau sich so akzeptieren sollte, wie sie war, aber bei sich selbst schaffte sie es auch nicht. Neben ihrer gerade erwachsenen Tochter kam sie sich einfach alt und abgehalftert vor, auch wenn sie gerade erst vierzig war.

Passend dazu wurde ihr Liebesleben auch immer weniger, wobei das nach bald zwanzig Jahren Ehe wohl normal war. Konnte sich ja nicht jede in Susannes Alter frisch verlieben, wobei Susanne und Antonius jetzt schon jahrelang rumturtelten. Na ja, sie brauchten sich ja auch nur umeinander kümmern.

»Jetzt mach es nicht so spannend«, forderte Susanne sie auf, den Brief endlich zu öffnen. »Ich kann es kaum erwarten, mal wieder was von Ella zu hören! Wird Zeit, dass sie wiederkommt.«

Annett schaute skeptischer. Kein Wunder, sie war gewissermaßen der Ersatz für Ella gewesen. »Aber ihr braucht mich dann noch, oder?«, fragte sie.

»Na klar. Für drei Hebammen bräuchten wir das neue Geburtszimmer nicht.« Carola faltete den Brief auseinander. Ellas schön geschwungene Handschrift breitete sich auf dem Papier aus. So mutig wie Ella wäre sie nie gewesen. Zwei Jahre in Uganda. Weit weg von der Familie. In einem Land, das nicht so sicher war wie Deutschland. Und auch wenn Carola wie alle Hebammen des Geburtshauses glaubte, dass eine Geburt in der Regel keine medizinische Betreuung brauchte, war sie doch froh, dass der nächste Kreißsaal immer nur ein paar Minuten entfernt war.

Hallo ihr Lieben,

es dauert nicht mehr lange, bis wir uns endlich wiedersehen. Bis ich wieder im Geburtshaus arbeiten kann. Und ganz ehrlich, wärt ihr nicht, dann hätte ich überhaupt keine Lust, nach Hause zu kommen. Aber meine Zeit läuft hier nun mal ab, und ich bin froh, dass ihr meinen Platz freigehalten habt.

Carola sah kurz auf. Ella hatte wohl genauso Angst, dass es hier zu eng werden würde. Sie wusste ja noch gar nichts von der räumlichen Erweiterung. Telefonieren war teuer und die Verbindung oft schlecht. Briefe dauerten ewig. Ein Faxgerät gab es in dem Dorf, in dem Ella arbeitete, nicht, und auch ein Telefon oder einen Briefkasten erreichte sie meist nur während der Ausflüge in die nächste größere Stadt.

Wie läuft es denn bei euch? Wird Annett bleiben?

»Natürlich bleibst du«, antwortete Carola auf Ellas Frage, auch wenn Ella das nicht hören würde, aber Annett dafür umso mehr. Ella hatte Annett schließlich auch noch mit ausgesucht.

»Danke.« Annett löste sich aus dem Schneidersitz und umklammerte ihre Beine. Manchmal wirkte sie immer noch so, als könnte sie ihrem Glück nicht trauen. Als mache jemand gleich schnips und die Mauer würde wieder stehen und, schlimmer noch, als würde sie ihren Traumarbeitsplatz verlieren.

Ich bin auf jeden Fall wieder voll dabei. Ach, ihr Lieben, ich könnte euch so viel erzählen, aber das mache ich, wenn ich zu Hause bin. Ich habe auch eine ganze Kiste Fotodosen dabei, und wenn die fertig entwickelt sind, zeige ich euch alles.

Plant mich gerne direkt nach meiner Ankunft wieder ein. Ich lande am 15. März um 23.45 Uhr und komme, so schnell es geht, ins Geburtshaus.

»Sollen wir sie nicht zusammen abholen?«, fragte Susanne.

»Ich weiß nicht. Sie hat ihre Eltern zwei Jahre nicht gesehen. Am besten überlassen wir der Familie das erste Wiedersehen.«

»Ob sie sich verändert hat? Bestimmt ist sie jetzt auch ganz braun gebrannt«, mutmaßte Annett lachend.

Carola seufzte. Was wussten sie schon, was das Leben in einem afrikanischen Land mit einem machte? Sie musste automatisch immer an hungernde Kinder und Dritte Welt denken. Hatte sie nicht selbst mal den blöden Spruch gebracht, die Kinder in der Dritten Welt wären froh, wenn sie was auf dem Teller hätten, wenn ihre Kinder am Essen mäkelten?

Und was waren sie? Erste Welt? Fühlte sich auch nicht immer so an, oder war sie nur undankbar?

Carola las weiter vor. Ella schrieb von der letzten wunderschönen Geburt, bei der sie der Mutter zur Seite stehen durfte. Sie schrieb davon, dass sie sich verändert habe. Dass ihr Vertrauen in sich noch weiter gewachsen sei. Und das Vertrauen in die werdenden Mütter. Jemand wie Christoph könne sie nicht mehr verunsichern.

»Wer ist Christoph?«, fragte Annett.

»Dr. Hofert. Der Kinderarzt aus dem St.-Laurentius-Krankenhaus«, erklärte Carola.

»Aber der ist doch eigentlich ganz nett?«

Klar, dachte Carola, den attraktiven, jungen Kinderarzt fanden fast alle Frauen nett, aber er war auch ein aufgeblasener Gockel. Und er hatte Ella immer ein wenig klein gehalten. Ella und er waren tatsächlich ein Paar geworden, obwohl er sie bei einer Geburt bloßgestellt hatte. Ella hatte es ihm verziehen, weil sie verstanden hatte, dass er sich nur Sorgen um die werdende Mutter gemacht hatte. Doch genau das war Ellas Problem, dass sie immer viel zu viel Verständnis zeigte.

»Na ja, nett schon, aber er denkt immer noch, mit dem Doktortitel bekäme er auch eine Spur Gottgleichheit eingehaucht. Während er uns am liebsten auf dem Scheiterhaufen verbrannt sähe«, regte sich Carola auf.

»Du übertreibst. Er hat sich gebessert«, verteidigte ausgerechnet Susanne ihn. Dabei hatte sie doch an vorderster Front gegen ihn gekämpft, als er dafür gesorgt hatte, dass im EXPRESS ein Artikel erschienen war, der werdende Mütter davor warnte, im Geburtshaus ihr Leben zu riskieren.

»Wer’s glaubt … Viel wichtiger ist doch, dass Ella wiederkommt. Und sie sucht eine Wohnung. Also wenn eine was hört, dann bitte weitergeben. Sie zieht erst mal wieder bei ihren Eltern ein, aber das kann ja nur eine Übergangslösung sein.«

Carola faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in den Umschlag. Das war ja schlimmer, als wenn sie den Kindern früher abends eine Geschichte vorgelesen hatte. Da hatte auch alle drei Sätze einer kommentiert. Ach Mensch, sie hatte es aber so gern getan. Die Geschichten brachten auch immer die Kinder zum Erzählen. Heute war sie froh, dass sie im Gegensatz zu so vielen anderen mehr als nur ein Wort herausbekamen, wenn sie fragte, wie es in der Schule gewesen war.

»Es kann ja jeder den Brief in Ruhe selbst lesen. Jetzt lasst uns weiter an die Arbeit gehen. Ich habe heute versprochen, zum Abendessen zu Hause zu sein.«

Und das Abendessen vorher auch noch zu kochen, ergänzte sie in Gedanken. Wenn sie schon den ganzen Tag weg war, wollte sie wenigstens am Abend für Ausgleich sorgen. Schließlich musste ihre Familie oft genug darunter leiden, dass sie auch mal am Wochenende oder die ganze Nacht außer Haus war, wenn eine Geburt anstand.

Am Abend hatten sie alle drei Zimmer der Wohnung fertig, die nun ebenfalls Teil ihres Geburtshauses war. Auch wenn es hier keine Geburtsbadewanne gab, so war der große Geburtsraum mit dem anliegenden Badezimmer doch wunderschön. Die Möbel waren schon bestellt, und vielleicht würden sie mit einer aufblasbaren Wanne arbeiten? In der Küche konnten sie ein zweites Sortiment an Ausrüstung lagern, ein Raum eignete sich perfekt für Vorsorgeuntersuchungen, und der dritte Raum war noch frei. Ein schmales Zimmer von gerade mal zwölf Quadratmetern. Hier hatten die Vormieter das Kinderzimmer untergebracht. Das große Fenster ließ genug Licht rein, dass das Zimmer großzügig wirkte. Brauchten sie wirklich noch einen Vorsorgeraum? Für ein Geburtszimmer war der Raum definitiv zu klein. Und das Büro unten war zwar noch kleiner, aber deutlich praktischer im Erdgeschoss.

»Na, dann kann ich hier ja übernachten, wenn ich Stress mit Andreas habe«, hatte Carola noch scherzhaft gesagt. Streit hatte sie mit ihrem Mann selten, aber manchmal wäre es schön, einfach hier zu schlafen, eine Pizza zu bestellen und mal für nichts und niemanden verantwortlich zu sein, statt zu Hause zu kochen.

»Genau, wir vermieten das Zimmer stundenweise an gestresste Mütter. Damit können wir die Kasse füllen, falls wir nicht genug Geburten haben.«

In manchen Monaten sah es so aus, als würden sie nicht ganz ausgelastet, aber meist wandten sich noch Frauen auf den letzten Drücker für eine Geburt an sie. Im Krankenhaus meldeten sich die meisten schließlich auch erst sechs Wochen vor der Geburt an. Dabei fanden sie es schöner, wenn sie die Frauen von Anfang an begleiten konnten, damit sie sie besser kennenlernten.

Aber wer dachte kurz nach dem positiven Schwangerschaftstest schon daran, sich um die Hebamme zu kümmern? Dafür war doch noch Zeit genug …

»Die gestressten Mütter sollen vor allem in meinen Kurs kommen, dann geht es ihnen auch schnell besser«, grinste Carola, deren Kurs mittlerweile ein echter Geheimtipp war.

Den von der Krankenkasse finanzierten Kurs »Seelische und körperliche Gesundheit nach der Geburt – damit sie wieder ganz Frau sein können« boten zwar einige Hebammenpraxen an, aber Carola füllte die Kursvorgaben immer noch mit eigenen Ideen.

Ella

Ella nahm den letzten Schluck aus der Zweiliterflasche, die sie sich noch in einem Supermarkt in Entebbe gekauft hatte. Und so schmerzlich sie Uganda jetzt schon vermisste, ihr Herz machte einen Sprung, als sie im Sinkflug den Rhein erkannte. Und den Kölner Dom. Zwei Jahre lang hatte sie ihre Familie nicht gesehen. Nur einmal Fotos geschickt bekommen. Per Post von Carla, ihrer jüngsten Schwester.

Die sechzehn Stunden Flugzeit mit Aufenthalt in Kairo kamen ihr schon unendlich lang vor. Wie musste es erst gewesen sein, als Reisen dieser Art nur über den Landweg und mit dem Schiff möglich waren? Als es kein Telefon gab und man gar nicht wusste, ob die Familie daheim überhaupt noch lebte?

»Bitte legen Sie die Sicherheitsgurte an. Wir beginnen mit dem Landeanflug.«

Die Stewardess in dem blauen Kostüm mit dem gelben Logo draufgestickt stand in der Mitte des Ganges. Ella konnte nicht verstehen, warum diese Tätigkeit für so viele ein Traumjob war. Eingesperrt in eine Maschine. Theoretisch permanent in Lebensgefahr.

Sie lächelte der jungen Frau freundlich zu, ließ den Gurt einschnappen und sammelte alles an Müll an ihrem Platz ein und entsorgte es in dem kleinen Müllschlucker am Platz.

»Eine gute Heimkehr Ihnen«, sprach ihr Sitznachbar, ein Geschäftsreisender aus Kampala, sie noch einmal an. Sie hatten geplaudert, bevor er eingeschlafen war.

»Danke. Und Ihnen viel Erfolg in Köln.«

Er hatte ihr erzählt, dass er die Messe dort besuche.

»Vielen Dank. Und worauf freuen Sie sich am meisten zu Hause?«

»Hmmh, auf meine Familie. Und auf meine Arbeit.«

Ja, es waren die Menschen, die ihr etwas bedeuteten, die sie zurückkehren ließen. Sie mochte ihre Heimatstadt. Aber sie wäre in Uganda genauso glücklich geworden, wenn ihre Familie und vor allem auch ihre Kolleginnen dort gewesen wären.

»Ich glaube, Sie sind eine glückliche Frau, wenn Sie sich auf beides freuen können.«

Ja, das war sie, wobei sie ihren Platz in der Welt immer noch nicht ganz gefunden hatte. Ob es die eigene Familie war, die noch fehlte? War es die biologische Uhr, die mit siebenundzwanzig langsam zu ticken begann? Oder war es der fehlende Partner? War es nicht immer so, dass eine alleinstehende Frau von außen wie etwas Unvollständiges gesehen wurde?

Ach was! Erst einmal ankommen, dachte sie sich, während es ordentlich ruckelte, als das Fahrwerk auf dem Boden aufsetzte.

Sie fühlte sich eingerostet, als sie nach der Landung zur Gepäckabgabe lief, schulterte ihren Rucksack und schaute sich um, ob sie ein bekanntes Gesicht sah. Eins? Nein, es waren viel mehr! Sie entdeckte ihre Eltern und Carla. Und Susanne und Carola. Hach, es war schön, wieder nach Hause zu kommen! Wem sollte sie als Erstes in die Arme fliegen?

Die Zeit raste nur so dahin. Nach einigen Wochen war Uganda schon wieder so weit fort, und Ella hatte schon einige Mütter, die sich sehr kurzfristig für das Geburtshaus entschieden hatten, bei ihrer Niederkunft begleitet. Alle Geburten waren unkompliziert gewesen bis auf die letzte, die Ella betreut hatte. Ella war froh, dass ihre Wöchnerin Tanja nach der unvollständigen Plazentaablösung nicht verblutet war. Nur die rasche Notoperation hatte ihr Leben retten können. Sie war dankbar, dass diese Möglichkeit hier immer zur Verfügung stand. Dass das nicht selbstverständlich war, hatte sie in Uganda erlebt. Noch etwas hatte sie dort für sich neu entdeckt. Das tiefe Vertrauen in Gott. Was nicht bedeutete, dass immer alles gut gehen würde. Aber dass sie mit allem klarkommen würde. War das nicht grotesk? Sie lebte in einem der sichersten und reichsten Länder der Welt, und dennoch hatten alle hier Angst, dass etwas passieren könnte. In Afrika hatte sie das Gegenteil erlebt.

Ella nahm es nicht mehr selbstverständlich, wenn etwas gut ging. Ihre Zeit in der Geburtsstation hatte sie Demut gelehrt.

Sie war zu Fuß auf dem Weg in das St.-Laurentius-Krankenhaus, um nach Tanja und dem Kleinen zu sehen. Als sie an der Pfarrkirche St. Agnes vorbeikam, zögerte sie einen Moment und öffnete dann das Portal. Wie kühl es hier war, fast fröstelte es sie in der leichten Bluse, zu der sie nach dem Wetterbericht aus dem Radio am Morgen gegriffen hatte.

An dem Marienaltar gleich neben dem Eingang flackerten ein paar Kerzen. Ella kramte dreißig Pfennig aus ihrer Tasche, nahm eine Kerze und entzündete den Docht an einer anderen Flamme. Welches Anliegen der Mensch wohl hatte, der diese Kerze gesteckt hatte?

Sie bat um nichts, sondern dankte einfach nur. Dafür, dass Tanja wieder ganz gesund werden würde und ihr Kind aufwachsen sehen konnte, dafür, dass sie im Geburtshaus arbeiten konnte, ja auch dafür, dass sie wieder zu Hause war, auch wenn sie Uganda vermisste.

Als sie wieder ins Freie trat, blendete sie die Mittagssonne. Sie lächelte. Sie hatte das Gefühl, dass heute ein ganz besonderer Tag werden würde. Und auf dem Weg in das nahe gelegene Krankenhaus wurde ihr Lächeln immer wieder erwidert. Und Tanja strahlte sie an, als Ella ins Zimmer kam. Auch die Wöchnerin in dem Bett neben ihr grüßte freundlich.

Neben Tanjas Bett stand das Babybett auf Rollen. Tanjas linke Hand lag auf dem Bauch ihres Babys.

»Ella, wie schön, dass du kommst. Tobias darf ein paar Stunden bei mir sein. Ich kann ihn zwar noch nicht alleine rausheben, aber wenn ich klingle, kommt die Schwester und legt ihn mir auf den Bauch.«

Das St.-Laurentius-Krankenhaus gehörte zu den wenigen Kliniken, in denen es nebeneinander eine Frauen- und Kinderstation gab. Ohne Kinderstation hätte der kleine Tobias nicht mit aufgenommen werden können. Mutter und Kind wären dann getrennt gewesen.

Tanja sah blass aus, aber glücklich. Auf ihrem Nachttisch stand ein Strauß Flieder und eine Flasche Rotbäckchensaft. Der süße Blumenduft erfüllte den ganzen Raum. Sie hatte also schon Besuch gehabt. Wahrscheinlich ihr Mann, der sich extra eine Woche freigenommen hatte.

Ella betrachtete den zierlichen Knaben mit dem Bändchen um das Handgelenk. Etwas, was sie im Geburtshaus nie brauchten, aber im Krankenhaus war das unverzichtbar, um kein Kind zu verwechseln.

»Er ist wunderschön. Schau mal, er lächelt.«

Angeblich war dieses Engelslächeln nur ein Reflex, aber Ella berührte es dennoch immer.

»Er träumt bestimmt was Schönes.«

Tanjas Blick quoll vor Liebe über. Und auch Ella wurde von diesem Gefühl durchflutet, obwohl es nicht einmal ihr Kind war. Aber sie hatte Tanja mehrere Wochen begleitet. Ach, das war nicht der Grund, es war einfach ihr Herz, das voller Liebe war. Für die ganze Welt. Es klopfte an der Tür, doch bevor eine der drei Frauen im Raum »Herein!« bitten konnte, wurde die Tür geöffnet. Ella dreht sich um. Ihr stockte der Atem.

»Ella! Was für eine Überraschung!«

Christoph. Es war ein paar Jahre her, dass sie ihn gesehen hatte. Er sah immer noch so fantastisch aus, dass selbst die beiden Wöchnerinnen ihn anhimmelten. Ein paar Falten mehr um die Augen. Aber ansonsten das gleiche dunkle, volle Haar, das klassische Gesicht, als entspränge er einem Katalog für Herrenmode. Und so trug er auch den Arztkittel.

»Hallo, Christoph«, sagte sie nur. Die Liebe, die sie gerade noch für die ganze Welt gespürt hatte, schloss Christoph anscheinend nicht mit ein. Und dennoch. Sie war aufgeregt.

»Deine Haare sind wieder so schön lang.« Er strahlte sie an, als wäre es das Wichtigste, ob er sie attraktiv finden würde. Ach, sei nicht ungerecht, schalt sie sich, er hatte sich damals eine gemeinsame Zukunft mit ihr vorstellen können. Sie grinste. Selbst dann, als sie ihn mit raspelkurzen Haaren auf dem Silvesterball der Mediziner überrascht hatte.

»Danke, ich möchte dich aber nicht von der Arbeit abhalten«, sie ging einen Schritt zur Seite und nickte Tanja zu. Am liebsten würde sie den Raum verlassen und erst nach Christophs Visite wieder reinkommen. Aber damit würde sie der Situation eine Bedeutung verleihen, die sie nicht hatte. Christoph und sie waren vor ein paar Jahren zusammen gewesen, und es hatte sich schnell herausgestellt, dass ihre Vorstellungen von einer Beziehung und dem Leben nicht zusammenpassten. Nicht nur das, Christoph hatte sie nicht ernst genommen. Er hatte ihre Arbeit als freie Hebamme, die Geburten außerhalb des Krankenhauses betreute, als fahrlässig bezeichnet. Für ihn war es reines Glück, dass bisher keine Frau und kein Kind im Geburtshaus zu Schaden gekommen waren. Ob er immer noch so dachte? Interessierte sie das überhaupt?

Ella beobachtete, wie Christoph mit den beiden Müttern ein paar Worte wechselte und sich die Kinder anschaute. Tobias ließ er schlafen.

»Er sieht fidel aus, der kleine Kerl, wenn wir ihn jetzt wecken, wird er uns wohl mit Geschrei begrüßen. Die Kinderschwestern schauen ihn sich nachher beim Baden sowieso noch einmal an, dann lasse ich ihn jetzt lieber in Ruhe. Alles Gute Ihnen.«

Er nickte Tanja herzlich zu, und sie strahlte zurück. Hatte Christophs Einstellung sich geändert? Glaubte er nicht länger, nur die Götter in Weiß könnten beurteilen, wie es einem Kind oder einer Frau gehe?

Christoph lächelte ihr kurz zu und verließ den Raum, als wäre nichts gewesen. Und war es ja eigentlich auch nicht. Trotzdem war das Gefühl des Friedens, das sie heute gespürt hatte, auf einmal empfindlich gestört.

»Ihr kennt euch persönlich?«, fragte Tanja.

»Ja, noch aus der Zeit, in der ich hier im Krankenhaus gearbeitet habe.«

Die Tür öffnete sich erneut, diesmal ohne Klopfen. Christoph lugte herein. Was hatte er vergessen?

»Ella, kann ich dich eine Minute sprechen?«

Ella sah zu Tanja, die besorgt aussah. Als fürchte sie, das hätte was mit ihrem Kind zu tun, dass der Kinderarzt ihre Hebamme sprechen wollte.

»Augenblick.« Ella beugte sich zu Tanja. »Alles in Ordnung, geht um was zwischen uns.«

»Ach, wer weiß, wozu es dann gut war, dass ich ins Krankenhaus musste. Wenn ihr euch dann zufällig wiedergesehen habt!«

Das sagte sie so laut, dass Christoph es hörte. Er grinste. Ella ging mit ihm auf den Flur.

»Ella, ich habe gleich Mittagspause. Darf ich dich einladen? Um der alten Zeiten willen?«

Warum nur klopfte ihr Herz so wild? Warum nur zog er sie an? Es war damals genau die richtige Entscheidung gewesen, die Beziehung zu beenden.

»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«

Er lachte. Herzlich. Und fasste ihr an die Schulter.

»Keine Angst. Ich möchte einfach nur etwas mit dir plaudern. Hören, wie es dir die letzten Jahre ergangen ist. Weißt du, ich habe deine Entscheidung, nach Afrika zu gehen, wirklich bewundert. Fast schon beneidet.«

Erneut musste sie grinsen. Das war doch mal was. Er gab mal nicht den Besserwisser. War es nicht vielleicht sogar ein Zeichen? Hatte sie nicht beim Verlassen der Kirche gedacht, dass heute ein besonders guter Tag würde? Vielleicht war es ja wirklich so, dass die übrigen Vorbehalte gegen Christoph, die sie doch immer wieder einholten, sich in Luft auflösen würden, wenn sie noch einmal miteinander sprechen würden.

»Also gut. Um der alten Zeiten willen. Aber ich möchte nicht, dass du mich einlädst.«

»Noch besser. In zehn Minuten am Haupteingang? Ich kenne ein nettes Café um die Ecke.«

Was sollte es schaden? Die nächste Vorsorge im Geburtshaus hatte sie erst um drei. Hunger hatte sie auch und im Gegensatz zu damals bei ihrem ersten gemeinsamen Essen auch genug Geld dabei, um sich notfalls das teuerste Gericht auf der Karte zu bestellen.

Ella fragte sich, warum sie sich so viele Gedanken gemacht hatte, ob es richtig wäre, sich mit ihm zu treffen. Sie saßen in einem Eiscafé auf der Außenterrasse unter einem großen Schirm, der vor der Sonne, aber auch vor zu vielen Blicken schützte.

Christoph hörte interessiert zu, die Hände hatte er auf seinem Schoß liegen, nur ab und zu nippte er durch den blauen Plastikstrohhalm an dem riesigen Becher Eiscafé, in dem Vanilleeiskugeln in schwarzem Kaffee schwammen, garniert mit einer Sahnerosette. Sie hatten sich kurzerhand doch für das Eiscafé statt eines Restaurants entschieden. Da Ella Hunger hatte, hatte sie sich Waffeln mit heißen Kirschen und Sahne bestellt. Die Sahne war längst geschmolzen. Ella kam kaum zum Essen, weil sie die ganze Zeit erzählte.

Und es fühlte sich gut an, hier mit Christoph zu sitzen. Und ja, es kribbelte auch ein wenig – aber mit Sicherheit nur der alten Zeiten wegen.

»Du bist echt eine Powerfrau.«

»Findest du?«

Ella mochte dieses Kompliment überhaupt nicht. Fast alle Frauen, die sie kannte, waren sehr stark. Und mit Powerfrau waren meist einzelne Frauen gemeint, die im Grunde so lebten wie die meisten Männer.

»Ja, ich meine, du ziehst alle deine Träume so konsequent durch.« Er lächelte sie an.

»Du nicht?«

Ella konnte sich noch gut daran erinnern, wie er seine Karriere zielstrebig ausgebaut hatte. Er war ein guter Kinderarzt, keine Frage, aber von Anfang an war für ihn klar, dass er es bis in die Chefetage schaffen wollte.

»Einen meiner größten Träume durfte ich mir nicht erfüllen.«

Ella schaute ihn fragend an.

»Ich habe von einer gemeinsamen Zukunft mit dir geträumt, Ella.«

Ella zuckte zusammen. War sie naiv gewesen, als sie dachte, sie wollten nur davon plaudern, was sie beruflich die letzten Jahre gemacht hatten? Hatte sie damals vielleicht sogar einen Fehler gemacht?

»Ich wollte dich nicht verletzen, aber es hat einfach nicht gepasst.«

Ella rührte in der Soße aus Kirschen und Sahne. Über Unterschiede hätte sie gut hinwegsehen können, aber nicht darüber, dass er immer wieder auf sie herabsah. Sie nicht ernst nahm. Oder war sie es selbst gewesen, die noch nicht selbstbewusst genug gewesen war?

Er legte seine rechte Hand auf ihre Hand. Sie ließ den Löffel auf den Teller fallen. An seinem Ringfinger blitzte ein goldener Ring.

»Du bist verheiratet? Das freut mich ehrlich!«

Als hätte sie sonst ein schlechtes Gewissen haben müssen, weil sein Traum von einer gemeinsamen Zukunft mit ihr geplatzt war. Sie lachte erleichtert, zog ihre Hand unter seiner weg und griff wieder zu dem Löffel, um sich Waffeln mit Kirschsahne-Matsche in den Mund zu schieben.

»Erzähl mal, wer ist sie? Woher kennt ihr euch?«

Und trotz ihrer Erleichterung darüber, dass Christoph auch ohne sie sein Glück gefunden hatte, gab ihr diese Information einen winzigen Stich. Was hatte sie erwartet? Dass er gramgebeugt hinter ihr hertrauern würde? Das hatte sie keine Sekunde gewollt!

»Sie heißt Nicole und hat vor zwei Jahren auch am St. Laurentius angefangen, als Krankenschwester.«

Ella nickte. Es wunderte sie nicht, dass es nicht eine der Ärztinnen war.

»Schön, dann arbeitet ihr jetzt auch zusammen?«

»Nein, sie ist gerade in den Mutterschutz gegangen. In fünf Wochen werde ich Vater«, verkündete er strahlend.

»Herzlichen Glückwunsch. Und ich gehe mal davon aus, das Geburtshaus habt ihr euch nicht ausgesucht«, sie zwinkerte ihm zu.

»Bist du wahnsinnig! Nachdem meine Schwester da fast gestorben wäre, wusste ich, dass ich mit meinen Vorbehalten recht hatte!«

Seine Schwester Monika Hofert hatte vor einigen Jahren als Ellas Patientin eine plötzliche Querlage unter der Geburt entwickelt. Nur ein schneller Kaiserschnitt hatte sie retten können.

»Ach Christoph, im Krankenhaus, in dem sich gerade drei Gebärende eine Hebamme teilen müssen, hätte es noch eher schiefgehen können.«

»Lass uns nicht streiten.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Nein, das hatte ich auch nicht vor. Hast du ein Foto von deiner Frau? Wie ist sie denn so?«

Christoph holte sein Portemonnaie hervor und zog ein Foto heraus. Ein Foto, das sie beide zusammen zeigte. Die Ecken waren schon abgegriffen, er holte es wohl öfter raus. Die blonde Frau an Christophs Seite strahlte herzlich. Sie war sehr hübsch und hatte gütige Augen. Eine Frau, der sich die Patienten gerne anvertrauten.

»Sie sieht sehr nett aus.«

»Ist sie auch. Wie ist es eigentlich mit dir? Gibt es da einen Mann in deinem Leben?«

»Hey, ich bin doch gerade erst wiedergekommen! Nein, es gibt keinen Mann! Und ich bin aktuell auch nicht auf der Suche. Erst einmal genieße ich es, endlich in eine eigene Wohnung zu ziehen. Und mich wieder voll auf die Arbeit im Geburtshaus zu konzentrieren.«

Vielleicht war diese Begegnung ein guter Abschluss für sie beide. Der letzte Schritt, um die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen.

»Schade um dich, Ella, du bist so eine wunderschöne Frau, du könntest jeden haben.«

Und zum Abschluss gehörte ein Spruch, der ihr bestätigte, dass es gut war, dass sie nicht bei ihm geblieben war. Sie grinste.

»Könnte ich, will ich aber gar nicht. Ich spare mich für den perfekten Mann auf.«

Und da selbst Ella in all ihrer Naivität wusste, dass es den perfekten Mann nicht gab, konnte sie sich ganz entspannt zurücklehnen. Als sie zuhörte, wie Christoph davon schwärmte, dass Nicole schon jetzt komplett in ihrer Rolle als Hausfrau und werdende Mutter aufging und dass sie vereinbart hatten, dass sie die nächsten Jahre auf keinen Fall arbeiten brauchte, während er immer weiter Karriere machte, war sie nicht nur heilfroh, dass sie noch völlig frei war, sondern auch um ihre damalige Entscheidung, ihm den Laufpass zu geben.

Carola schloss die Tür zu ihrem Haus auf. Es war immer noch ein tolles Gefühl, das eigene Haus zu betreten. Die Wand aus ziegelsteingroßen Glasbausteinen am Eingang ließ buntes Licht in den Flur fallen. Innen war es herrlich großzügig. Ein großes Esszimmer, in dem die ganze Familie Platz fand, selbst wenn sie Gäste hatten. Eine riesige Fensterfront, die sie alle paar Monate wie alle Fenster im Haus von einer Putzfirma reinigen ließen. Ein Garten, in dem zwar allerhöchstens noch Maike spielte und Thomas mal mit dem Ball kickte, aber in dem sie keinen Sandkasten mehr aufgebaut hatten. Dafür saßen Andreas und sie gerne unter der Laube mit wildem Wein. Ja, Andreas’ Erfolg als Autor und das gut laufende Geburtshaus hatten ihnen wirklich etwas Luxus beschert.

Im Hausflur lag die Post, die der Postbote immer durch den Türschlitz schob. Werbung. Post vom Finanzamt, darum würde sie sich mit Andreas später kümmern. Er bestand immer darauf, die Steuer selbst zu machen, statt sie an einen Steuerberater abzugeben.

Und ein Brief an Frau Hardgenbusch mit handgeschriebener Adresse. Frau Hardgenbusch war sie, obwohl sie sich wunderte, dass sie Post von einer Agentur Estelle bekam. Sie nahm den Stapel Post mit in die Küche. Dort stapelten sich Geschirr und benutzte Töpfe. Immerhin ein Post-it von Andreas.

Treffe mich mit Thorsten, Buchbesprechung. Thomas ist Fußball spielen, Maike bei einer Freundin.

Stefanie war ja schon erwachsen, machte bald Abitur und passte eher mal auf ihre Geschwister auf, als dass einer auf sie aufpassen musste. Carola lächelte, als sie an ihre große, verantwortungsbewusste Tochter dachte. Und auch als sie an Andreas dachte, der durch seinen beruflichen Erfolg aufgeblüht war. Auch für einen Mann war es eben nicht einfach, den ganzen Tag zu Hause zu sein und von niemandem Anerkennung zu bekommen. Und komischerweise reichte ihm die Anerkennung nicht, die er einst von ihr bekommen hatte.

Carola öffnete die Töpfe auf dem Herd. Da konnte sie sich noch einen Teller voll zusammenkratzen. Nudeln mit Tomatensoße. Und etwas Buttergemüse. Ihr Mittagessen hatte aus einem Schokocroissant bestanden, im Geburtshaus hatte ein Termin den anderen gejagt.

Während sich der Teller in der Mikrowelle drehte, lehnte sie sich an die Küchenzeile und öffnete den Brief. Ihre Küche war so klein, wie es bei einem Bau aus den Fünfzigerjahren üblich war. Es war gewissermaßen gar nicht vorgesehen, dass sich mehrere Familienmitglieder dort die Arbeit teilten. Es reichte, wenn einer oder besser eine Platz zum Kochen fand und alle anderen dann das Ergebnis genießen durften. Sie faltete das Blatt auseinander.

Sehr geehrte Frau Hardgenbusch,

wir danken Ihnen für Ihre Bewerbung. Ihre Fotos erscheinen durchaus vielversprechend, aber leider reichen sie für eine professionelle Beurteilung nicht aus.

Bitte reichen Sie uns folgende Fotos in ausreichender Qualität ein:

– ein Porträtfoto von vorne und eins im Profil

– mindestens drei Ganzkörperfotos in verschiedenen Outfits

– ein Aktfoto oder ein Foto im Bikini

Anbei Adressen von Fotografen, die mit uns zusammenarbeiten und Ihnen einen Rabatt von 10 Prozent gewähren.

Wir freuen uns, von Ihnen zu hören,

mit freundlichen Grüßen

A. Bauer von der Modelagentur Estelle

Carola schüttelte den Kopf. Hatte sie bei irgendeinem Preisausschreiben ihre Adresse verraten und wurde nun veräppelt, indem jemand ihr teure Fotos andrehen wollte? Sie und ein Model! Für Ulla Popken vielleicht, obwohl …Dafür reichten ihre Kurven dann auch wieder nicht. Doch dann dämmerte es ihr, dass sie ja nicht die einzige Frau Hardgenbusch im Hause war.

Sie ignorierte das Piepen der Mikrowelle und stürmte zu Stefanies Zimmer. Als sie nicht auf ihr Klopfen reagierte, öffnete sie die Tür. Niemand drin, aber Cindy Crawford im weißen Badeanzug und mit Schweißperlen auf dem braun gebrannten Körper lächelte sie von einem Poster herab an.

Hatte Carola sich schon gewundert, warum ihre Tochter keine männlichen Stars an die Wand gepinnt hatte, dämmerte es ihr, dass das Supermodel mit dem Muttermal ihr ein Vorbild sein sollte.

Mit dem Brief in der Hand lief sie durchs Haus und rief nach ihrer Tochter.

»Ja, Mama?«, kam es schließlich aus dem Garten.

Carola lief nach draußen und entdeckte Stefanie auf dem Liegestuhl. Im Bikini rekelte sie sich in der Sonne, eine Elle und eine Flasche Cola light neben sich.

Den Sonnenschutz hatte sie wohl vergessen, auf ihrem Dekolleté breitete sich schon ein leichter Sonnenbrand aus.

»Stefanie, normalerweise würde ich deine Post nicht öffnen, aber ich dachte, sie wäre für mich.«

Stefanie griff nach dem Brief. Als sie den Absender sah, schob sie das Kuvert unter ihre Zeitschrift.

»Danke, Mama. Ich lese ihn später.«

»Stefanie, ich habe ihn bereits gelesen. Du hast dich bei einer Modelagentur beworben?«

Und wenn Carola ihre Tochter so betrachtete, fürchtete sie, dass sie auch noch sehr gute Chancen hatte. Sie war schlank, eigentlich fast dünn, sehr groß, lange, blonde Haare, ein ganz besonderes Gesicht mit hohen Wangenknochen. Hätte sie doch nur meine Dackelbeine geerbt, dann hätte ich jetzt ein Problem weniger, dachte Carola.

»Ja, habe ich.«

»Und warum hast du uns vorher nicht gefragt?«

»Mama, entspanne dich. Ich bin achtzehn. Ihr könntet eh nichts dagegen machen. Das ist ein Job wie jeder andere auch.«

Carola stellte sich vor den Liegestuhl und stemmte die Hände in die Hüften.

»Nein, es ist ganz sicher kein Job wie jeder andere! Du wirst ein gutes Abi haben, du wolltest doch etwas im sozialen Bereich studieren! Deine Ideale leben! Und jetzt willst du so einen oberflächlichen, frauenverachtenden Job machen? Indem du zum Objekt degradiert wirst?«

Meine Güte! Was hatte sie denn falsch gemacht, dass ihre Tochter auf einmal alle Werte verriet?