Glück schmeckt nach Popcorn - Marie Adams - E-Book

Glück schmeckt nach Popcorn E-Book

Marie Adams

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Beschreibung

Vorhang auf für einen wunderbaren Roman über Glück, zweite Chancen und ganz viel Kino!

Martha führt ein kleines, aber renommiertes Programmkino – in dem sich allerlei Intellektuelle, Filmkritiker und Cineasten tummeln. Wie die meisten ihrer Gäste glaubt sie nicht an Happy Ends. Die gibt es im echten Leben schließlich auch nicht. Als ihre Mitarbeiterin und beste Freundin Susanna schwanger wird und der Liebe wegen wegzieht, gibt sie dem jungen Filmstudenten Erik eine Chance. Doch schon bald treibt er sie mit seinem Optimismus in den Wahnsinn. Er arbeitet nicht nur hinter den Kulissen an seinem Gute-Laune-Debüt, sondern möchte Martha auch noch davon überzeugen, dass das große Glück auch jenseits der Leinwand möglich ist …

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Seitenzahl: 361

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Buch

Martha glaubt nicht an Happy Ends, weder im echten Leben noch im Film. Das spiegelt sich auch im Programm des kleinen, aber renommieren Kinos, das die junge Frau betreibt, wider. Dass sich Marthas Leben eigentlich nur noch im Kino oder in ihrer Wohnung abspielt, stört sie selbst nicht. Ihr einziger echter Kontakt ist ihre Freundin und Mitarbeiterin Susanna. Als diese ihr eines Tages mitteilt, dass sie schwanger ist und der Liebe wegen die Stadt verlassen wird, ist Martha sehr getroffen, was sie sich aber nicht anmerken lässt. Sie überlegt, ob sie das Kino auch allein betreiben kann, schminkt sich das aber bald ab. Als sich der junge Filmstudent Erik bei ihr vorstellt, entschließt sie sich, ihm eine Chance zu geben. Was sie allerdings kurz darauf bereut, treibt der optimistische junge Mann sie doch schon nach kurzer Zeit schier in den Wahnsinn. Denn er arbeitet nicht nur hinter den Kulissen an seinem Gute-Laune-Debüt, sondern möchte Martha auch noch davon überzeugen, dass das große Glück auch jenseits der Leinwand möglich ist …

Autorin

Marie Adams veröffentlichte unter anderem Namen bereits Romane – in denen es darum geht, die Liebe nach Jahren durch den Alltag zu retten und das Familienchaos zu meistern. Umso mehr Freude hat sie nun daran, ein Liebespaar auf fast märchenhafte Weise erst einmal zusammenzubringen – schließlich weiß sie aus eigener Erfahrung, wie irrational das Glück manchmal arbeitet.

Von Marie Adams bereits erschienen:

Das Café der guten Wünsche

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MARIE ADAMS

ROMAN

Impressum

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Copyright © 2017 by Blanvalet Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt von der

Literaturagentur erzähl:perspektive, München

(www.erzaehlperspektive.de).

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © StockFood/PhotoCuisine/Swalens, Tom

LH · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-20997-1V001

www.blanvalet.de

Widmung

Für Michael

Auch nach drei Jahren war es für Martha Mink jedes Mal, als öffne sie den Deckel einer Schatztruhe, wenn sie die Glastür zu ihrem Kino aufschloss. Sie stand vor der Fensterfront des Kinos, das sich wunderbar in das Wirrwarr aus Altbauten, Kiosken, Klamottenläden und Cafés in einem der lebendigsten Viertel Kölns einfügte. Allen Gebäuden, Fahrradständern und Blumenkübeln der Straße war heute gemeinsam, dass sie von einer Schneeschicht geschmückt wurden. Auch den Schriftzug Das Lichtspielhaus aus Leuchtröhren zierte das weiße Pulver. Ihr »Lichtspielhaus«, das in den Fünfzigerjahren eröffnet worden war, in einer Zeit also, in der die Leute in die Kinos hineinströmten, als gäbe es keinen besseren Ort für Zerstreuung und Alltagsflucht. Bis heute war der trotzige Stolz dieses Sehnsuchtsortes zu spüren. Sandfarbener Granit im Foyer, der Urzeittieren eine Bühne für die Ewigkeit bot, darauf eine Theke, die an einen lang gezogenen Nierentisch erinnerte, und jede Menge poliertes Messing. Das Kino befand sich in einem Altbau, der zu Kriegszeiten schwer beschädigt und später wieder aufgebaut worden war. Die Sanierung und Umgestaltung des Erdgeschosses zum Kino passte so gut zu der Stimmung des Neuanfangs nach Krieg und Zerstörung. Martha mochte den eleganten, aber schnörkellosen Stil der Fünfzigerjahre, der sich genauso gut in das Gesamtkunstwerk dieses Hauses einfügte wie die Filmplakate im Schaukasten und die Vorführtechnik der Gegenwart.

Gerade als Martha den Schlüssel umdrehen wollte, riss eine Stimme sie aus ihren Gedanken.

»Deine Katze hat sie umgebracht, also musst du dich um ihr Kind kümmern!«

Max, der Junge aus dem Nachbarhaus, streckte ihr vorsichtig seine Faust entgegen. Vor seinen Füßen spielte Marthas Kater Filou mit einer Maus. Die roten Spuren im weißen Schnee hatten nichts Märchenhaftes, im Gegenteil. Sie zeigten nur allzu deutlich, dass eine Partei mehr Spaß an dem Spiel hatte als die andere.

Bevor Martha etwas sagen konnte, öffnete Max die Hand. Ein Mäusejunges. Ein Flaum nur auf der Haut, die Augen geschlossen, der Körper rund. So klein war ihr Baby auch einmal gewesen. Und in einigen Jahren hätte es aussehen können wie Max heute.

»Es ist nicht mal meine Katze.«

»Aber du fütterst sie!«

Er schloss seine Hand wieder, um die Maus vor der Kälte zu schützen.

»Wenn ich das nicht tun würde, würde sie noch mehr Mäuse fressen.«

Als hätte der Kater plötzlich Angst, dass sie ihm gleich morgen Futter und den Sessel im Foyer streichen würde, ließ Filou die Maus aus dem Maul fallen und strich um Marthas Beine. Sie hatte es einfach nicht übers Herz bringen können, Filou zu ignorieren – traurig genug, dass niemand das Tier vermisste. Nun gehörte es zum Inventar des Lichtspielhauses.

Martha schob Filou beiseite und beugte sich zu Max herunter. »Max, so ist das Leben nun einmal. Katzen fressen Mäuse. Am besten, du lässt sie gehen. Vielleicht gibt es einen Mäusehimmel, in dem sie ihre Mama wiedersieht. Wenn du möchtest, können wir sie auch zusammen beerdigen.«

Max streckte sich und funkelte Martha böse an: »Man kann keinen beerdigen, der noch lebt. Und ich darf kein Haustier haben. Ich komme auch jeden Tag vorbei und helfe dir. Bitte!«

Und dann kullerten so viele Tränen über seine Wangen, dass Martha selbst kurz davor war zu heulen. Sie musste Max helfen, auch wenn sie die Mäuserettung für aussichtslos hielt. Aber sie konnte Max glücklich machen – wenigstens für einen Moment.

»Okay, ich kümmere mich um die Maus!«

Mit der freien Hand umarmte Max Martha. »Danke! Du bist echt die beste Frau der Welt!«

Am liebsten hätte Martha Max gewarnt, sich nicht zu früh zu freuen. Wer konnte schließlich wissen, ob die Maus den Nachmittag überleben würde! Max nahm ihre Hand und legte das kleine, warme Tierchen hinein.

Hundertneunzehn Minuten habe ich den Menschen ein anderes Leben geschenkt, habe sie herausgeführt aus der Enge des Alltags, dachte Martha, während sich der petrolblaue, schwere Samtvorhang vor der Leinwand auf ihren Knopfdruck hin schloss. Das Dutzend ernst dreinblickender Menschen, das an ihr vorbei ins Foyer schritt, glich zwar eher dem Trauerzug einer Beerdigung. Aber Betroffenheit war wenigstens ein aufrichtiges Gefühl. Und wer war nicht betroffen, wenn er in der Schlussszene von Zeiten des Aufruhrs Leonardo di Caprio trübsinnig mit seinen Kindern auf dem Spielplatz sitzen sah? Wer zu viel wollte, erntete eben den Tod.

Während Susanna an der Theke Rotwein oder eine der neumodischen Limonadensorten ausschenkte, schritt Martha im leeren Kinosaal die Reihen ab und kontrollierte den Boden. Nirgends Pappbecher oder Reste von Popcorn wie bei der Konkurrenz. Letzteres lag nicht nur an dem zivilisierten Publikum, sondern auch daran, dass ihr Ex die Popcornmaschine mitgenommen hatte. Das gehörte noch zu den geringsten Verlusten in jenem schrecklichen Sommer. Um die inneren Stimmen zu übertönen, schloss Martha die schalldichte Flügeltür, holte den Staubsauger aus der Kammer und begann den Teppich so gründlich zu saugen, dass der letzte Gast gegangen war, als sie das Foyer wieder betrat.

Ein Foyer, das so ganz anders war als in den großen Filmpalästen oder Multiplexkinos. Auf der altmodischen und langsam wieder in Mode kommenden Theke thronte stets eine große Blumenvase, die heute mit weißen Rosen gefüllt war. Kleine Cordsessel in Pastellfarben standen um Nierentische herum. Filou saß auf einem der Sessel und hob kurz den Kopf, als Martha hereinkam. Ob er die Maus in der Tasche ihrer Strickjacke roch?

Marthas Kollegin und mittlerweile auch beste Freundin Susanna spülte Weingläser und räumte sie anschließend in das Regal an der Wand, die mit gerahmten Filmplakaten geschmückt war. Martha selbst passte mit ihrer blassen Haut und den ernsten, dunklen Augen perfekt zu den Filmtiteln Interview mit einem Vampir und Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens, einem Stummfilmklassiker, der mit einfachen dramaturgischen Mitteln für eine Gänsehaut sorgte. Die Plakate hatte sie aufgehängt, als Tom sie sitzengelassen hatte. Sie erinnerten sie ständig daran, dass er letztendlich ein elender Blutsauger war. Und wie es aussah, hatte ihr Ex seine Arbeit gut gemacht, denn Marthas Äußeres glich einer Vampirdame: blass, dunkle Haare, sehr schlank, aber zu groß, um zerbrechlich zu wirken. Oder lag es daran, dass sie die meiste Zeit entweder im Kino oder in ihrer Wohnung verbrachte und die Sonne kaum sah? Neben den Plakaten gab es noch weitere Bilder, die an vergangene Zeiten erinnerten – an Zeiten, in denen Martha noch nicht einmal gelebt hatte. Gerahmte Autogramme von Marlene Dietrich und Romy Schneider sowie das Filmplakat zu Charlies Karriere aus dem Jahr 1929.

»Susanna, kannst du mir bitte helfen, die Getränkekisten aus dem Keller zu holen?«

»Martha, wir müssen reden.«

»Das können wir auch bei der Arbeit machen.«

»Bitte. Es geht auch ganz schnell«, behauptete Susanna, füllte aber zwei Gläser mit Limonade und setzte sich auf einen der Sessel. Martha setzte sich ebenfalls. Seit sie das Kino vor drei Jahren übernommen hatte, war Susanna ihre Stütze gewesen und sorgte durch ihre Warmherzigkeit, aber auch durch ihre Kekskreationen dafür, dass das »Lichtspielhaus« für viele Menschen ein wohliger Rückzugsort war, selbst wenn die Filmauswahl immer weniger die Flucht in eine bessere Welt versprach. Martha neigte immer mehr dazu, Filme auszuwählen, die ihre eigene Resignation angesichts einer mehr als unperfekten Welt widerspiegelten. Auch wenn täglich zahlreiche Gäste das Kino betraten und wieder verließen, war Susanna Marthas einziger wirklicher sozialer Kontakt. Susanna war einfach da, Martha musste sie nicht erst anrufen und erklären, warum sie sich so lange nicht gemeldet hatte. Susanna lebte mit in dem Kokon, in den sie sich seit der Trennung von Tom immer mehr zurückgezogen hatte. Filme waren ihre gemeinsame Leidenschaft, und wenn es im Kino nichts zu tun gab, holte Susanna ihr Notizbuch unter der Theke hervor und schrieb an ihrem Drehbuch. Sich selbst an einem Script zu versuchen oder gar einen Film zu drehen, hatte Martha dagegen nie in Erwägung gezogen. Die größte Herausforderung war es, all die guten Filme, die bereits existierten, überhaupt einmal gesehen zu haben, sie in lebendiger Erinnerung zu halten und anderen Menschen zu zeigen. Martha, das Medium, hatte Tom sie früher oft genannt und ihr zum Abschied gesagt, dass es ihn immer gestört habe, wie wenig sie selbst an ihrer Lebensgeschichte schrieb. Filme vorzuführen sei doch kein Job für jemanden, der einen Master in Film- und Fernsehwissenschaften vorweisen konnte, hatte er ihre Aufgabe als Betreiberin eines Programmkinos immer klein gemacht.

»Ich hätte es dir lieber anders gesagt, aber ich darf keine Kisten mehr schleppen.«

Die rosige Haut, das Strahlen, die Tatsache, dass sie seit Wochen keinen Wein mehr zusammen getrunken hatten … Martha hätte es ahnen müssen. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Kein Problem, ich kann die Kisten auch alleine schleppen. Herzlichen Glückwunsch, wenn es das ist, was ich glaube.«

Susanna legte die Hände auf ihren Bauch. »Ich hoffe, das ist okay für dich.«

»Ja, natürlich. Wie weit bist du denn?«

»Dreizehnte Woche.«

Die Nachricht von der Schwangerschaft hatte ihr einen Stich versetzt, aber die Tatsache, dass Susanna ihr nicht gleich beim positiven Test Bescheid gegeben hatte, war ein Schlag in die Magengrube.

»Okay. Wir bekommen das schon hin. Am Anfang schlafen sie eh nur, dann stellst du einfach den Kinderwagen neben die Theke.«

»Martha, es gibt auch eine Welt außerhalb dieses Kinos.«

»Entschuldige.«

Die Welt außerhalb sah nicht verlockend aus. Schneeregen peitschte gegen die Glasscheibe.

»Da ist noch was.«

Martha sah ihre Freundin an.

»Ich werde zu Alex ziehen.«

»Alex wohnt in Hamburg! Das ist viel zu weit weg!«

»Martha, ich wünschte auch, er würde hier wohnen, aber er kann seine Firma nicht einfach umsiedeln. Und wir bekommen ein Kind!«

Martha verschüttete etwas Limonade bei dem Versuch, sie in das Glas zu gießen. »Du kannst doch nicht alles stehen lassen und dich blind auf deinen Freund verlassen! Was ist, wenn er dich sitzenlässt? In einer Stadt, in der du niemanden kennst? Ohne Job?«

Nur die Tatsache, dass Martha so etwas Ähnliches durchgemacht hatte, ließ Susanna ruhig bleiben. Die Worte, die ihr in den Kopf kamen, behielt sie schön für sich: Dieser Job hier im Kino macht mich auch nicht mehr glücklich. Vor allem, weil du es nicht mehr bist. Deine Liebe zu diesem Kino ist fast so wie deine Liebe zu Tom. Sie saugt dich aus, nimmt dir den Raum zum Leben. Das hier ist kein Lichtspielhaus mehr, sondern eine Dunkelkammer. Ich bin froh, dass es in meinem Leben einen neuen Plot Point gibt. In meinem Leben und nicht nur auf der Leinwand. »Ach, Martha, warte nur ab«, antwortete sie stattdessen, »irgendwann gibt es auch für dich ein Happy End.«

»Ich brauche kein Happy End. Ich möchte einfach nur, dass alles so bleibt, wie es ist.«

Das Lichtspielhaus war eines der ältesten Kinos in der Stadt. Martha hatte Bertol Pimont, den letzten Eigentümer, der ihr stolz erzählt hatte, dass er Truffaut noch persönlich kennen gelernt hatte, tagelang gelöchert, um ihre Abschlussarbeit über die Geschichte dieses Kinos zu schreiben. Der alte Pimont hatte ihre Begeisterung gespürt und meinte bei einem Literatenfrühstück auf der Bank vor dem Kino, dass es ja einem Hollywoodmärchen gleichkäme, wenn jemand wie sie das Kino weiterführen würde, wenn er nicht mehr konnte.

»Sind Sie nicht traurig, dass Sie nie selbst Geschichten erzählen, sondern nur die von anderen Leuten zeigen?«, hatte sie ihn gefragt.

»Das war ich vielleicht mal, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich dann Tausende wunderbare Geschichten verpassen würde,« Herr Pimont, der an den alternden Picasso erinnerte, strich sich durch das graue Haar, »wenn ich mich auch nur ganz in eine einzige eigene vertiefen würde. Lieber zeige ich hundert wunderbare Filme in meinem Kino, als selbst vielleicht einen nur mittelmäßigen zu machen. Im Grunde ist es doch egal, wer eine gute Geschichte inszeniert hat, Hauptsache, sie wird gesehen. Und dazu trage ich bei. Jeder von uns wird irgendwann sterben, aber ein guter Film kann ewig leben.«

»Na ja, wenn die Filmkunst noch ein paar Jahrzehnte älter ist, wird wieder kräftig aussortiert«, hatte Martha erwidert, obwohl sie den Gedanken an die Unsterblichkeit einer guten Story sehr reizvoll fand.

»Dann bleiben nur noch die Besten übrig.«

Bertol Pimont war bald nach dieser Unterhaltung an einem Herzinfarkt gestorben, nicht ohne Martha eine Mappe mit allen wichtigen Unterlagen für das Lichtspielhaus zu hinterlassen – falls sie, wovon Pimont in seinem Brief an Martha ausging, das Kino weiterführen wollte. Dazu vermachte er ihr ein ordentliches Startkapital und das komplette Inventar.

Obwohl keiner von seinen Kollegen und Freunden etwas von Familienangehörigen wusste, war der Friedhof so gut besucht, wie es das kleine Kino nie gewesen war. Martha hatte sich inmitten der Trauergemeinde geschworen, den Menschen weiterhin einen Rückzugsort zu schaffen. Sie polierte die jahrzehntealte Einrichtung auf Hochglanz, ließ die zerschlissenen Sessel neu beziehen und gestaltete den Raum durch neue Lampen und Blumenschmuck noch anheimelnder, sodass jedes Multiplexkino noch herzloser dagegen aussah. Dass mancher Kinogänger das Lichtspielhaus nach Marthas Generalüberholung und der Neuausrichtung der Filmauswahl als »Mädchenkino« abqualifizierte, störte sie nicht im Geringsten, da sie hinter ihrem Konzept stand. Wenn sie mit ihrem Programm eher eine weibliche Sicht auf die Welt bevorzugte, war das in ihren Augen nur gut so.

Nun befand sie sich an dem Ort auf der Welt, an dem sie sich am zweithäufigsten aufhielt, wenn man die Schlafenszeiten mitrechnete: in ihrer winzigen Altbauwohnung. Martha kochte sich einen Tee und setzte sich auf das Sofa, das sie gleich zur Schlafcouch ausklappen würde. Auf dem Tisch daneben stand der Käfig, den sie für die Maus besorgt hatte. Entgegen Marthas Prognose hatte sich der kleine Nager als äußerst zäh erwiesen. Das Tier streckte sein Näschen heraus, als Martha ihre Finger an das Gitter hielt. Dass die Maus überlebt hatte, glich an ein Wunder – oder war ihrer fürsorglichen Pflege geschuldet. Egal ob das Füttern mit Pipette oder die Bauchmassage danach – Martha hatte das alles nur gemacht, um Max nicht zu enttäuschen.

Sie wohnte nur eine Straße vom Lichtspielhaus entfernt in einem schlecht sanierten Jugendstilbau, der gegenüber einer Kirche lag und sich direkt neben einem Supermarkt befand, der bis Mitternacht geöffnet hatte. Vom Sofa aus beobachtete sie ein Pärchen, das Hand in Hand mit einer Tüte aus dem Geschäft kam und sich vor Ladenschluss wohl noch ein paar leckere Dinge für ein gemeinsames Wochenende gekauft hatte. Das hatte sie mit Tom auch oft gemacht. Und so albern es für jemanden klang, der auf großes Kino spezialisiert war, mit Tom Gemüse zu schnippeln oder auf dem Balkon einen Tee zu trinken hatte zu den schönsten Momenten gehört. Und wenn es nach ihr gegangen wäre, würde sie auch diesen Abend mit ihm verbringen.

Plötzlich verstand sie Susanna, sie durfte ihr nicht im Weg stehen. Ihre Freundin hatte sie jahrelang unterstützt, und nun war es einmal an der Zeit, ihr zu helfen. Und wenn es bedeutete, sie gehen zu lassen, dachte Martha, während die Maus neugierig ihre Fingerspitzen beschnupperte.

Als würde Susannas Baby sich seit dem Geständnis ihrer Mutter endlich trauen, die Schwangerschaft sichtbar zu machen, wölbte sich ein paar Tage später schon ein Bäuchlein hervor. Das Wetter konnte sich nicht zwischen Schnee und Regen entscheiden, der Boden war voller Matsch und Susannas extraheißer Milchkaffee begehrter denn je. Heute gab es wieder eine Pressevorführung, in der Journalisten einen Film vorab sehen durften, um im Anschluss eine Rezension zu schreiben. Oder, wie es Stefan – ein Filmkritiker, der George Clooney verblüffend ähnlich sah – meist tat, darüber herzufallen und ihn zu zerreißen. Wenn er einen Film niedermachte, traute sich kein anderer Filmkritiker der Stadt mehr, lobenswerte Worte zu finden. Und weil er Marthas Filmauswahl stets positiv bedachte, verstummte der Teil der Kritiker, die üblicherweise von Frauen präsentierte Kunst weniger ernst nahmen.

Wie immer betrat Stefan das Kino mit Hut und trug dabei eine Miene zur Schau, als hätten alle anderen Männer eben erst jetzt kapiert, wie vorteilhaft dieses Accessoire aussah.

»Martha, Susanna!« Er umarmte beide. »Dann wollen wir mal sehen, womit uns heute der Tag wieder schwergemacht wird.«

Pressevorführungen sicherten Marthas Miete. Es waren die einzigen Filme, die sie nicht nach qualitativen Maßstäben auswählte. Im Prinzip stellte Martha nur die Räume und die Bewirtung. Kaum jemand erfuhr, dass heute Vormittag, wenn der reguläre Kinobesucher arbeiten musste, ein unsäglich kitschiger Film lief, der über den Filmverleih niemals die Chance hätte, im »Lichtspielhaus« zu laufen. Er war nicht nur mittelmäßig, sondern versprühte auch zu viel Optimismus. Mit der Popcornmaschine waren nach und nach auch die glücklichen Enden in Marthas Filmen verschwunden. Dass der heutige Film den Glauben an die große, glückliche Liebe propagierte, behauptete zumindest das Presseheft. Filme sollten nicht verklären, sondern die Wahrheit offenbaren, dachte Martha. Wenn sie dieses Pärchen auf dem Titelblatt schon sah!

»Du musst ja nicht kommen, wenn dich der Film nicht interessiert«, konterte Martha und ließ sich dennoch links und rechts ein Küsschen von Stefan geben. Stefans Kollegen Jenny und Piet reichten Susanna die Hand und vertieften sich dann wieder in ihr Gespräch.

»Charmant wie eh und je! Vielleicht komme ich ja gar nicht wegen des Films so gerne hierher?«, lächelte er, als habe er gerade die Karte zu einem geheimnisvollen Schatz gefunden. Seit Martha unter Liebeskummer und Alkoholeinfluss einmal mit Stefan herumgeknutscht hatte, versuchte er immer wieder, eine Fortsetzung im nüchternen Zustand zu arrangieren. Vielleicht pries er auch deshalb ihr Kino in allen Feuilletons, für die er schreiben durfte, als Kultstätte an. Das hatte ihr in der letzten Verhandlungsrunde mit dem Kulturamt der Stadt, das mit der Streichung der Fördergelder drohte, den Rücken gestärkt. Mit einem Programmkino ließ sich nun mal keine große Kasse machen. Martha brauchte nicht viel zum Leben, aber allein die Miete in einem der begehrten Viertel der Stadt verschlang eine Menge Geld. Sie hatte Stefan also durchaus etwas zu verdanken.

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte sie, während Susanna schon seine beiden Kollegen vor der Theke bediente.

»Sehr gerne.« Stefan beobachtete ihre Bewegungen. Sie hatte was von Keira Knightley, die er vergötterte, auch wenn er ihre Filme meist belächelte. »Ich würde dich auch sehr gerne mal auf einen Kaffee einladen«, antwortete er, als er die Tasse entgegennahm.

»Keine Ursache, die zahlt der Verleih«, antwortete Martha unsicher mit einem Lachen.

»Oder vielleicht zu einem Essen?«

»Stefan, eigentlich vermische ich Arbeit und Privatleben nicht mehr so gerne. Immer wenn ich das getan habe, wurde es kompliziert. Und im Moment muss ich mich auf die Arbeit konzentrieren, weil einige Umbrüche anstehen. Ich hoffe, du verstehst mich.« Dazu lächelte sie wieder so unsicher, dass er sich ermutigt fühlen musste, später weiter nachzubohren.

»Natürlich verstehe ich das, kein Problem«, dann nahm er seinen Kaffee und suchte sich einen Platz im Kinosaal. Martha sah ihm hinterher und fragte sich, ob sie zu unfreundlich gewesen war.

Ich würde auch Geld sparen«, Martha versuchte, die Glasnudeln mit Messer und Löffel zu bändigen, während Susanna sie geschickt mit den Stäbchen aß.

»Du würdest wahnsinnig werden. Du brauchst doch jemanden.«

Die vietnamesische Familie hinter dem Tresen der Imbissbude hatte alles zurückgelassen, um sich hier etwas Neues aufzubauen. Und Martha traute sich nicht mal, innerhalb ihrer Homezone – so bezeichnete ihr Mobilfunkanbieter einen kleinen Bereich im Umkreis ihrer Wohnung, auf dem sie auch über Festnetz erreichbar war – aus der Komfortzone. Sie gab sich einen Ruck, nicht ohne ihren Blick auf ihr Essen gerichtet zu lassen: »Susanna, du bist nicht so einfach zu ersetzen. Du wirst mir fehlen.«

Gerührt über das, was für Martha schon einem Gefühlsausbruch gleichkam, lächelte Susanna. »Ach komm, du wirst mir auch fehlen, aber mach es mir bitte nicht so schwer!«

Sie holte ihr Notizbuch aus der Tasche und riss eine leere Seite heraus. Als müsste ihre Vertretung noch heute gefunden werden, flog ihr Kuli über das Blatt.

Renommiertes Kino sucht filmbegeisterte Mitarbeiterin …

Darunter schrieb Susanna Marthas Telefonnummer zehn Mal senkrecht zum Abreißen auf, bevor sie Zwischenräume mit dem unbenutzten Messer einschnitt.

»Was macht dich denn so sicher, dass ich eine Frau suche?«

»Ich kenn dich doch«, antwortete Susanna, stand auf und heftete den Zettel an die Pinnwand, die neben der Halterung für die beliebten Gratispostkarten hing. Da hing er nun zwischen Putzangeboten, Nachhilfegesuchen und Fotos von Meerschweinchen, die ein neues Zuhause suchten.

»Meinst du nicht, ich sollte in aller Ruhe eine ganzseitige Stellenanzeige für die Zeit oder FAZ formulieren?«, fand Martha immerhin zu ihrer Art von Humor zurück.

»Das kannst du ja parallel machen, aber wenn ich nächsten Monat weg bin, dann möchte ich meine Nachfolgerin wenigstens kennen gelernt haben!«

»Dann lass es hängen.« Martha seufzte. »Ich wünschte, ich wäre ein bisschen mehr wie du.«

»Das wäre langweilig. Ich mag dich so, wie du bist.« Sie sah auf die Uhr an der Wand. »Mist, ich muss sofort los, ich habe gleich einen Termin bei der Frauenärztin.« Sie holte fünf Euro aus der Tasche, legte sie auf den Tisch, umarmte Martha und hängte sich ihre Tasche über. »Ist es okay, wenn ich dich hier sitzen lasse?«

Martha nickte und verbrachte den Rest ihrer Mittagspause alleine. Das würde demnächst immer so sein. Vielleicht musste sie doch mal mit Stefan essen gehen? Aus den Augenwinkeln sah sie, wie zwei kichernde Freundinnen, die aussahen, als kämen sie von der nahegelegenen Uni, gleich zwei von den Streifen mit den Telefonnummern abrissen.

Als Martha den Imbiss verließ, betrat ihn jemand, der es liebte, allein zu essen, so wie es vielen Menschen aus einer großen Familie ergeht, solange diese jederzeit wieder einen großen gedeckten Tisch bereithält. Erik wechselte einen Blick mit der hübschen, aber blassen Frau mit den dunklen Haaren, die ihn an seine große Schwester Dorothea erinnerte. Sie hatte so einen Blick drauf, als glaubte sie genau zu wissen, was gut für ihn ist. So wie am Sonntag, als die ganze Familie, das heißt seine drei Schwestern mitsamt zwei Lebensgefährten und ihren insgesamt vier Kindern bei seinen Eltern zusammensaßen. Mit dem Hund waren sie dreizehn Leute am Tisch gewesen, da brauchte man noch nicht mal abergläubisch zu sein, um zu verstehen, dass diese Anzahl Chaos mit sich brachte. Aber immer noch besser, als wenn einer ausgeladen werden würde wie bei Dornröschen. Obwohl sie nicht in einem Schloss wohnten, war die Wohnküche in dem alten Bauernhaus riesig, auch wenn es rund um den gigantischen Holztisch, den sein Vater selbst gezimmert hatte, nur noch Platz für einen Laufgraben gab. Das Gedränge wurde noch erschwert durch den ausladenden Weihnachtsbaum, der immer noch in einer Ecke des Raumes stand und bei jeder Berührung grünbraune Nadeln herunterrieseln ließ. Eriks Eltern hatten ihre vier Kinder nach dem Motto »Alles ist möglich« erzogen und es dennoch nie geschafft, den Weihnachtsbaum vor Karneval abzuräumen. Dafür war der Wildschweinbraten auf dem Tisch selbst erlegt, wie Eriks Vater Hans auch den Vegetariern in der Familie ausführlich schilderte, auch wenn die Hälfte seiner Erzählung im Hundegebell, Kindergeschrei und Erwachsenengelächter unterging. Sosehr er seine Familie liebte, Erik würde eine Freundin erst hierhin mitbringen, wenn sie ihn so liebte, dass sie diese Art von Reizüberflutung verkraften würde. Wenn er denn mal eine Freundin hätte.

»Was machst du eigentlich, wenn dein Film floppt?«, hatte Dorothea gefragt, während sie einen Semmelknödel durchteilte und die Hälfte auf den Teller ihres Mannes Bert legte, der die Lautstärke der Familie Sonntag noch nicht verdaut hatte. Da konnte ruhig noch ein halber Knödel mit in den Magen, um seiner Gattin den Kohlenhydratschock zu ersparen.

»Das wird er nicht. Der Film wird genial werden!«

»Das wird er, mein Schatz«, sagte seine Mutter Anna zu ihrem Nesthäkchen und wandte sich dann an ihre älteste Tochter, »und selbst wenn er kein kommerzieller Erfolg werden sollte, wird er bestimmt fantastisch!«

»Eben, und die größten Künstler wurden ohnehin erst nach ihrem Tod berühmt«, ergänzte Eriks Vater.

»Das trifft vielleicht auf Maler zu, aber doch nicht auf Regisseure«, widersprach Dorothea und machte ein Anführungszeichen in der Luft.

»Na ja, auf Designerinnen«, jetzt machte auch Erik diese alberne Geste, »trifft es aber noch weniger zu. Vor allem, wenn sie Klobrillen entwerfen.«

»Davon kann ich wenigstens meine Miete bestreiten und muss nicht meinen Eltern auf der Tasche liegen!«

Mietfrei in der umgebauten Scheune zu wohnen, sich im Gegenzug ständig um Garten und Tiere zu kümmern, wenn seine Eltern mal wieder mit ihrem VW-Bus durch die Welt tourten, konnte man ja wohl kaum so bezeichnen, dachte Erik. Obwohl Geld schon ein Thema war. Das Stipendium für seinen Abschlussfilm ging komplett für den Film drauf, und langsam brauchte er dringend einen Nebenjob, damit er sich überhaupt das Benzin leisten konnte, um zu den Drehorten fahren zu können. Seine Eltern anpumpen würde er nur im Notfall.

»Kinder, ich möchte nicht, dass ihr euch streitet. Erfolg hängt doch nicht nur vom Geld ab«, beschwichtigte seine Mutter wieder, die es schon gehasst hatte, wenn sie sich als Kinder um Playmobilfiguren gestritten hatten. »Ihr seid alle wunderbar und talentiert. Freut euch lieber darüber, als euch gegenseitig zu ärgern.«

Dorothea verdrehte die Augen, und Erik schmunzelte.

Lilli, Dorotheas achtjährige Tochter, zerschnitt das Fleisch vornehmer als jeder andere am Tisch und bemerkte altklug, dass sie später etwas Vernünftiges arbeiten würde. »So etwas wie Ärztin oder Steuerberaterin.«

»Wenn dich das erfüllt, dann mach das, mein Schätzchen«, sagte Anna ganz ohne Ironie zu ihrer Enkelin. Es hätte nicht viel gefehlt, und Erik und Dorothea hätten sich unter dem Tisch vors Schienbein getreten. So wie früher, heimlich, während ihre Mutter das Hohelied auf die Geschwisterliebe sang. Mittlerweile war die ganze Familie selten zusammen, Dorothea und ihr Mann Bert kamen nur einmal im Monat zum Essen. Valentina war drei Jahre älter als Erik und hatte zwar noch ihr altes Zimmer, jettete aber als Model ohne festen Wohnsitz um die Welt und war deshalb nur selten zu Hause. Nur Laetitia, die sich zweimal von verschiedenen Männern schwängern ließ, die sich beide als Nieten entpuppten, und trotzdem optimistisch genug war, noch an die große Liebe zu glauben, bewohnte mit ihren Kindern die komplette obere Etage. Sie arbeitete als Kinderbuchillustratorin und war dankbar, dass ihre Zwillinge Fred und Tilda auf dem umgebauten Bauernhof immer jemanden hatten, mit dem sie sich beschäftigen konnten: egal ob es die Hühner, die Katzen, der Hund, die Großeltern oder Onkel Erik war. Und ihr Baby Antonia lag entweder auf dem Schaffell neben ihrem Schreibtischstuhl oder schlummerte bei den Großeltern oder Erik auf dem Arm, wenn Laetitia an einem Kinderbuch arbeitete.

Und all das ging Dorothea auf den Wecker. Sie hatte das Gefühl, die Vernünftigste in diesem Hühnerstall zu sein. Sie sortierte nicht nur spätestens einen Tag nach Heilige Drei Könige den Weihnachtsschmuck der Farbe nach in dafür vorgesehene Kisten, sondern sorgte auch dafür, dass ihre Tochter von Anfang an verstand, dass ein erfolgreiches Leben planbar war. Lieber mit Klobrillen den Urlaub auf Mallorca finanzieren als mit einem potenziellen Oscar höchstens im Garten zelten können, war ihr Motto, das sie Erik gerne unter die Nase rieb. Und all das führte dazu, dass es für Erik nach einem Wochenende mit der ganzen Familie ein Stückchen Himmel war, ganz allein vor einer Schüssel Reis mit Gemüse zu sitzen, niemandem antworten, keiner Schwester Kontra geben zu müssen, all die Stimmen um ihn herum einfach ignorieren zu können. Und das konnte er nur so genießen, weil er sich insgeheim doch auf das nächste Familientreffen freute. Schließlich hatte sich bisher alles in seinem Leben immer zum Besten gewandt und kein Problem länger vorgehalten wie eine Schlechtwetterfront im April. Als er nun den Zettel an der Pinnwand des Imbisses entdeckte, glaubte er an ein Zeichen des Himmels. Dass dort nur Mitarbeiterin stand, war sicher ein Flüchtigkeitsfehler von jemandem, der keine/n vor den Kopf stoßen wollte und nur vergessen hatte, das I groß zu schreiben. Ein Job im Kino wäre doch der passende Nebenjob für einen jungen Nachwuchsregisseur. Und wenn das ein geeignetes Kino war, konnte er vielleicht schon mal die Premierenfeier für seinen Film klarmachen. Und wenn sein Film dann erst mal in allen Kinos lief, dann würde er sich gleich ein Loft in der Stadt kaufen! Dann könnte er sich sogar leisten, das Bad dort mit Badmöbeln auszustatten, die seine Schwester entworfen hatte. Von wegen er wäre ein Taugenichts oder Tagträumer! Schon als er die Imbisstür hinter sich zugezogen hatte, wählte er die Nummer. Fast hätte er sein Handy fallen lassen, als ihm die junge Frau wieder entgegenkam, die vor ihm in dem Restaurant gegessen hatte. Wäre das hier ein Film, wäre diese Begegnung mit Sicherheit kein Zufall. Er versuchte, ihren Blick aufzufangen, doch sie war abgelenkt, weil sie in ihrer Tasche nach ihrem klingelnden Handy wühlte.

Haben Sie etwas vergessen?«

Martha schüttelte den Kopf. Sie hatte das Handy zwischen einem Buch und zwei DVDs gefunden, doch der Anrufer hatte bereits aufgegeben. Sie schritt auf die Pinnwand zu, nahm den Zettel, den Susanna befestigt hatte, und zerknüllte ihn. Das war doch nicht professionell. Sie würde eine Anzeige in einer Studenten-Jobbörse schalten und dann die beste aussuchen. Einen Susanna-Klon: Abschluss in Filmwissenschaften, aber sich nicht zu schade, hinter der Theke Kaffee zu kochen und Snacks zuzubereiten. Irgendwann würde Susannas Durchbruch als Drehbuchautorin kommen, falls ihre neue Rolle als Mutter noch genug Zeit dafür ließ, dachte Martha etwas bitter. Spätestens, wenn sie ihr erstes Script verkauft hätte, hätte sie sowieso gekündigt. Das Handy klingelte erneut, dieses Mal fand Martha es sofort.

»Hallo?« Genervt hörte sie sich an, dass da jemand genau der Richtige für den Job wäre, einer von den Typen mit einem übersteigerten Selbstbewusstsein, die ihr grundsätzlich auf die Nerven gingen.

»Vielen Dank für Ihr Interesse. Wie Sie sich vorstellen können, gibt es einen großen Pool an Bewerbern. Sollte sich wider Erwarten niemand finden, melde ich mich bei Ihnen. Ihre Nummer habe ich ja, die wird auf meinem Handy angezeigt.«

Sie legte auf und verließ den Laden, ohne sich zu verabschieden. Martha brauchte dringend etwas Tröstendes. Sie würde sich ein Eis gönnen und es gleich auf ihrem Bettsofa vor dem DVD-Player verspeisen. Sie hatte den ganzen Nachmittag nichts vor und musste zu allem Überfluss heute Abend allein im Kino arbeiten, da Susanna eine Einladung hatte. Der Kioskbesitzer ein Ladenlokal weiter nickte ihr schon freundlich zu, während er den Mann vor ihr bediente.

»Sonst noch was?«

Der junge Mann legte zwei Stadtmagazine auf den Tresen. So sah er auch aus – wie einer, der jeden Abend Party machte, aber davor noch ins Fitnessstudio ging. Neuerdings liefen die Typen um die zwanzig alle mit breiten Schultern und starken Armen rum. Intellektuell war definitiv nicht das neue Sexy unter den Männern. Leider.

»Nein danke. Ich habe alles, was ich brauche.«

Martha zuckte zusammen. Das war die Stimme des Anrufers.

»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Der Mann drehte sich um und zuckte ebenfalls zusammen, als er sie erblickte. Sie zwang sich, den Mund nicht aufzumachen, damit er sie nicht auch an der Stimme erkannte, während sie ein Grinsen unterdrücken musste, was ihr nicht gerade einen vorteilhaften Gesichtsausdruck verlieh. Und dann lächelte er sie auch noch an! Nicht nur Muskeln wie ein Disneyheld, sondern auch noch chronisch gutgelaunt wie einer dieser Disneyprinzen! Der konnte sich gerne im Filmpalast als Kartenabreißer bewerben, aber nicht bei ihr!

»Ihnen auch einen schönen Tag!«, sagte er zu ihr und schaute sie an. Auch noch ein Frauenheld! Wer sie am helllichten Tage ohne direkte Aufforderung ansprach, machte das bestimmt bei jeder Zweiten. Dennoch nickte Martha und zwang sich zu einem Lächeln, flüchtete dann aber schnell zur Eistruhe, um sich ein Himbeer-Minze-Pistazien-Sahne-Eis im Becher herauszufischen.

»Na, der hat Ihnen aber die Sprache verschlagen!« Der Kioskbesitzer grinste seine Stammkundin an.

»Ich muss doch nicht mit jedem reden, oder?«

»Ne, müssen Sie nicht, aber manchmal verpassen Sie vielleicht was.«

Martha überlegte, das nächste Mal zum Kiosk auf der anderen Straßenseite zu gehen. Sie brauchte schließlich nur was zu essen und keine Lebensberatung.

Drei Leute waren im Kino gewesen! Drei Leute, von denen sich zwei eine Limonade mit zwei Strohhalmen geteilt hatten. Hoffentlich lag es an der Straßenglätte und nicht an dem Film, der heute bei ihr angelaufen war. Der Babadook, einer der besten Horrorfilme, die Martha kannte. Die alleinerziehende Amelia wird durch das Verhalten ihres Sohnes und durch einen mysteriösen Geist fast zur Mörderin ihres Kindes – bis sie erkennt, dass das Böse nicht von außen kommt. Aber was hieß in diesem Falle schon das Böse? Der Film zeigte vor allem, dass selbst der sanftmütigste Mensch durch Überforderung und Traumata durchdrehen konnte.

Die drei Zuschauer hinterließen immerhin keinen Müll und kaum Dreck, sodass Martha nicht mehr durchsaugen musste. Die Kasse machen war auch eine Sache von drei Minuten gewesen. Einen Moment überlegte sie, ob sie die Barschaft überhaupt mitnehmen sollte, steckte sie aber dann doch in ihre Tasche und nahm sich zum hundertsten Male vor, endlich ein modernes Kassensystem anzuschaffen.

Jetzt brauchte sie nur noch abzuschließen. Nachdem sie Mantel, Schal und Mütze angezogen hatte, griff sie sich ihre Tasche und den Schlüssel. Sie sah, wie jemand von außen vor dem Filmplakat für diese Woche stand. Helle Jeans und Turnschuhe waren durch die Fensterfront zu erkennen. Die Beine in den Jeans trippelten vor Kälte auf der Stelle. Er klopfte an die Tür. Ob der Mann Hilfe brauchte? Sie drückte die Türklinke herunter, während er gleichzeitig von außen gegen die Tür drückte und ins Foyer stolperte. Als er sich wieder gefangen hatte, schaute Martha in ein verzerrtes, gealtertes Gesicht. Rote Augen starrten sie an. Scheiße, dachte Martha, wenn Trainspotting nur halbwegs realistisch gezeichnet war, wollte sie mit dieser Situation hier nichts zu tun haben. Was sollte sie machen? Die Polizei rufen? Das würde er nicht zulassen. Kämpfen? Das Messer, das er aus seiner dreckigen Jeansjacke zog, war Antwort genug. Ihr Puls raste, und sie schwitzte unter dem Wintermantel. Abwarten. Abwarten, was er will.

»Hey, Kleine, ich tu dir nichts, ich will nur dein Geld.«

Er kam näher und hielt ihr das Messer vor das Kinn. Warum hatte sie nie eine dieser Kampfarten gelernt? So was, was sie in Tiger & Dragon bewundert hatte? Dann könnte sie ihm jetzt das Messer aus der Hand schlagen. So blieb ihr nichts, als Zeit zu gewinnen. Vielleicht gab er sich zufrieden mit den dreißig Euro in der Kasse und würde verschwinden? Vielleicht wäre er dann aber so wütend, dass er erst recht randalieren würde? Gab es nicht einen Typen unter Chrystal-Meth-Einfluss, der einem Mann ein Stück Fleisch aus der Wange gebissen hatte? Sie roch den faulen Atem des Mannes. Irgendwie musste sie ihn loswerden.

»Ich gebe Ihnen Geld. Augenblick.«

Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie den Reißverschluss ihrer Tasche kaum aufbekam. Sie griff nach der schweren Geldkassette.

»Und der Schlüssel?«

»Geheimzahl. 5656.«

»Wenn du mich verarschst, bringe ich dich um!«

Sie konnte nur hoffen, dass seine Gier größer war als seine Wut. Oder dass die Wut in dem vernebelten Gehirn etwas später ankam. Sie riss ihren Arm nach hinten und schleuderte die Kasse durch das Fenster. Das Glas splitterte, und die Kasse schlitterte über den vereisten Bürgersteig auf die Straße.

Der Junkie sprang hinterher, drehte sich noch mal um und warf ihr noch einen drohenden Blick zu. Er schnappte sich die Geldkassette, während Martha von innen abschloss. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie alle Zahlen auf ihrem Handydisplay trafen, nur nicht die 110. Beim dritten Versuch hörte sie ein lautes Quietschen. Der Räuber hatte noch auf der Straße versucht, die Schatulle zu öffnen und dabei ein herannahendes Auto nicht bemerkt. Martha beobachtete, wie der Autofahrer ausstieg, während der Junkie versuchte sich aufzurappeln. Bei der Vollbremsung war er halb unter dem Auto gelandet. Anscheinend hatte jemand den Überfall beobachtet und den Notruf gewählt. Ein zweites Mal quietschten Autoreifen, dieses Mal begleitet von Blaulicht. Zwei Polizisten stiegen aus dem Streifenwagen, zogen den brüllenden Junkie unter dem Auto hervor und legten ihm Handschellen an. Der ältere von den beiden führte den Räuber zum Polizeifahrzeug ab, während der jüngere auf Martha zulief, die in der Tür des Kinos stand.

»Schöne Scheiße. Ich hoffe, Sie sind unverletzt«, brummte er, wobei er mit den behandschuhten Fingern an das kaputte Glas tippte, als suche er nach Spuren. In der anderen Hand hielt er die Kasse. »Sie können froh sein, dass nicht mehr passiert ist.« Er überreichte ihr die Schatulle, die nur ein paar Dellen aufwies. Dann folgte er Martha ins Foyer, wo er sich den Tathergang schildern ließ.

»An Ihrer Stelle würde ich um diese Uhrzeit nicht mehr hier allein sitzen«, sagte er am Ende und gab ihr den Personalausweis zurück. »Sie wohnen ja gleich um die Ecke. Soll ich Sie nach Hause bringen?«

Martha nickte. Sie blieb immer einen Schritt hinter dem Polizisten zurück, weil sie keine Lust auf ein Gespräch hatte. Aber als sie seine breiten Schultern vor sich sah, fühlte sie sich nicht nur sicherer, sondern dachte, dass ein Mann als Mitarbeiter doch mehr Vorteile mit sich bringen könnte, als nicht schwanger werden zu können. Vor allem, wenn er so gebaut war wie der Anrufer von heute Mittag.

Auch wenn Martha jetzt immer kontrollierte, ob der Riegel an der Innenseite der Tür geschlossen war, sobald der letzte Gast das Kino verlassen hatte, und bei jedem Junkie, der auf der Straße herumlungerte, Herzrasen bekam, war zwei Tage später nichts mehr von dem Überfall zu sehen. Susanna gegenüber verschwieg sie die Details des Vorfalls. Sie erzählte nur, dass sie einen Räuber in die Flucht geschlagen hätte, damit Susanna sich keine Vorwürfe machte.

Nun saßen die beiden Freundinnen mit Erik im Foyer des Kinos und hielten ihr erstes Vorstellungsgespräch ab. Erik war der festen Überzeugung, dass er sich bei dem Telefonat mit Martha gut verkauft hatte – schließlich hatte er nicht einmal eine Bewerbung schreiben müssen. Im Grunde war sie bestimmt glücklich, mit dem künftigen Stern am Kinohimmel zusammenarbeiten zu dürfen.

»Ich habe in diesem Kino schon immer etwas Besonderes gesehen! Es scheint mir wirklich Schicksal zu sein, dass ich Ihren Zettel entdeckt habe!«

Wie ein kleines Kind im Spielwarenladen schaute Erik sich mit großen Augen um. In diesem Kino hatte schon Romy Schneider eine Premiere gefeiert, und er würde es vielleicht auch eines Tages tun! Zumindest im kleinen Kreise. Für die große Premiere wäre das Kino doch etwas bescheiden.

Martha verkniff sich zu sagen, dass sie dieses Kino auch schon immer geliebt hatte. Bloß nicht zu viel Gemeinsamkeit schaffen!

»Wie viel Zeit steht Ihnen denn zur Verfügung?«, fragte sie kurz angebunden.

»Ich bin flexibel. So, wie Sie mich halt brauchen!«, antwortete er strahlend. Als er hereingekommen war und die junge Frau aus dem Kiosk und dem Imbiss wiedererkannt hatte, wurde ihm einmal mehr bewusst, dass das echte Leben noch viel erstaunlicher war als jedes noch so absurde Drehbuch. Diese Frau sollte eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen – am liebsten erst mal als Chefin.

»Ich suche vor allem jemanden für die Abendstunden.«

»Wunderbar! Im Grunde muss ich mir nur im Frühling ein paar Wochen für den Dreh freinehmen, aber das kriegen wir schon hin.«

»Und was genau qualifiziert Sie für diesen Job?«

Einen Moment war er verunsichert. Das hatte er ihr doch am Telefon erklärt. »Ich bin ein großer Filmliebhaber!«

»Das sind meine Gäste in der Regel auch.«

»Umso besser, dann wird unser Kinoprogramm wenigstens gewürdigt.«

»Mein Kinoprogramm wird in der Tat gewürdigt. Mitarbeit suche ich in anderen Bereichen.«

Erik wechselte seinen Blick von Martha zu ihrer Kollegin, die die ganze Zeit ein Grinsen unterdrücken musste. Wer mit drei Schwestern aufgewachsen war, dem konnte man nichts vormachen. Erik wusste, wann Mädchen einen verarschten. Obwohl die Chefin ihre Rolle so gut spielte, dass er sie glatt in seinem nächsten Film gebrauchen konnte.

»Und zwar in welchen?«

Martha schaute ihn mit ihrem Große-Schwester-Blick an, bevor sie ihn zurück auf den Teppich holte. Zu seinem Leidwesen nicht auf den roten. »Getränke servieren, Karten abreißen …«

Er würde sich schon hocharbeiten und selbst wenn nicht, er brauchte einen Nebenjob. So schnell es ging. Wenn sein Film erst mal draußen wäre, sähe alles anders aus, aber bis dahin musste er anders Geld verdienen. Und so umgab er sich wenigstens mit der Aura eines alteingesessenen Kinos, selbst wenn er hier nur Kaffee kochte und Karten verkaufte.

»Kein Problem. Ich habe auch Gastronomieerfahrung«, sagte er schnell, und das war nicht gelogen, schließlich hatte er bei seinen ersten beiden Kurzfilmen das Catering selbst organisiert. Dass es so gut war, hatte bestimmt auch dazu beigetragen, dass ein Teil der Crew jetzt wieder fast unentgeltlich mitarbeitete – neben dem überzeugenden Drehbuch natürlich.

»Gut, wenn Sie möchten, beginnt nächste Woche Ihre Probezeit als Schwangerschaftsvertretung für meine Kollegin Susanna.«

Erik strahlte, als wäre er gerade für den Oscar nominiert worden. Und selbst die Sonne ließ sich von seiner Freude anstecken. Das erste Mal seit Tagen guckte sie hinter den Wolken hervor. Erik hatte heute Morgen sogar das erste Schneeglöckchen inmitten des Schneematsches entdeckt, und diese Martha würde er irgendwann auch zum Schmelzen bringen.

»Danke, ich wusste, dass es kein Zufall war, dass wir uns begegnet sind!«

Dieser Satz ließ Marthas Miene wieder einfrieren. »Natürlich war es kein Zufall. Sie haben einfach auf meine Anzeige geantwortet.«

Erik ersparte sich weitere Ausführungen. Die Frau war eine harte Nuss oder dem Wetter entsprechend eher ein Eisblock, so viel stand fest.

Ein bisschen verstrahlt ist der schon, aber ganz süß. War das etwa der Grund, warum du dir sonst keine mehr angeschaut hast?« Susanna war erleichtert, dass ihr Ersatz gefunden war. Um das zu feiern, hatte sie Martha in ihr gemeinsames Lieblingscafé eingeladen.

»Spinnst du? Er ist absolut nicht mein Typ.« Martha schob ihren Walnusskuchen zur Seite, als würde das irgendwas beweisen.

»Und warum hast du ihn dann eingestellt?«

»Weil ich nach dem Überfall jemanden haben möchte, der mich im Notfall verteidigen kann. Und guck ihn dir an, der nimmt fünf Getränkekisten unter den Arm.«

»Hm, ich dachte, du hättest den Typ selbst in die Flucht geschlagen?«