Der kleine Buchladen der guten Wünsche - Marie Adams - E-Book

Der kleine Buchladen der guten Wünsche E-Book

Marie Adams

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Beschreibung

Von Büchern, Bienen, kleinen und großen Träumen und vielen guten Wünschen ...

Die Buchhändlerin und überzeugte Großstädterin Josefine liebt ihren Beruf – zum Glück, für Urlaub hat sie ohnehin keine Zeit. Und ihre schönsten Ferien bei ihrer Tante Hilde in der Rhön verblassen langsam zu nostalgischen Erinnerungen – genauso wie der Gedanke an die ganz besondere Mission, mit der ihre Tante ihre Buchhandlung führte. Doch dann hinterlässt ihre Tante Josefine ein Erbe, das sie zurück in diese wunderschöne ländliche Gegend katapultiert, in der sie jemanden wiedertrifft, der ihr Herz schon als Kind berührt hat. Es ist der junge Imker Johannes, mit dem sie über ihre Tante auf schicksalhafte Weise verbunden ist ...

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Buch

Die Buchhändlerin und überzeugte Großstädterin Josefine liebt ihren Beruf – zum Glück, für Urlaub hat sie ohnehin keine Zeit. Und ihre schönsten Ferien bei ihrer Tante Hilde in der Rhön verblassen langsam zu nostalgischen Erinnerungen – genauso wie der Gedanke an die ganz besondere Mission, mit der ihre Tante ihre Buchhandlung führte. Doch dann hinterlässt ihre Tante Josefine ein Erbe, das sie zurück in diese wunderschöne ländliche Gegend katapultiert, in der sie jemanden wiedertrifft, der ihr Herz schon als Kind berührt hat. Es ist der junge Imker Johannes, mit dem sie über ihre Tante auf schicksalhafte Weise verbunden ist …

Autorin

Marie Adams veröffentlichte unter anderem Namen bereits Romane – in denen es darum geht, die Liebe nach Jahren durch den Alltag zu retten und das Familienchaos zu meistern. Umso mehr Freude hat sie nun daran, ein Liebespaar auf fast märchenhafte Weise erst einmal zusammenzubringen – schließlich weiß sie aus eigener Erfahrung, wie irrational das Glück manchmal arbeitet.Von Marie Adams ebenfalls bei Blanvalet erschienen: Das Café der guten Wünsche ∙ Glück schmeckt nach Popcorn

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MARIE ADAMS

Der kleineBuchladender gutenWünsche

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2019 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de). Redaktion: René Stein Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotive: mauritius images (Torsten Krüger; Carlos Sánchez Pereyra; Neville Mountford-Hoare / Alamy); www.buerosued.de LH · Herstellung: sam Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-24406-4V002 www.blanvalet.de

Für Michael

Prolog

Josefine saß auf dem leicht abgewetzten Samtsessel in der Buchhandlung ihrer Großtante Hilde und klammerte sich an einer Tasse Kakao fest. Sie lauschte der warmen, freundlichen Stimme ihrer Tante, die vor einem deckenhohen Bücherregal stand und einem müde wirkenden Rentner mit traurigen Hundeaugen von einem Roman vorschwärmte. Was genau ihre Tante erzählte, konnte sie nicht verstehen, weil die beiden zu weit entfernt waren. Aber Josefine beobachtete, wie ihre Tante – aus Josefines Sicht einer Zwölfjährigen schon eine uralte Frau – ein dickes Buch aus dem Regal zog und es einen Moment wie einen Schatz an ihre Brust hielt, den sie nicht hergeben wollte.

Dabei lebte ihre Tante doch davon, Bücher zu verkaufen. Und dann sprach sie über das Buch, als wäre sie in die Geschichte verliebt. Zumindest sah ihr Gesicht genauso verzückt aus. Josefine dachte daran, was ihre Mutter einmal gesagt hatte: Tante Hilde habe keinen Mann, weil sie niemanden so Wunderbares gefunden hatte wie die Helden in einem Roman. Dabei sei das doch Mumpitz mit dem verklärten Blick auf die Liebe.

»Ach ja?«, hatte ihr Vater da lachend gesagt und ihre Mutter auf die Stirn geküsst.

Josefine trank einen Schluck, ohne den Blick von ihrer Tante abzuwenden. Mit ihren rotgrauen Locken, die sie hochgebunden hatte, sah Tante Hilde schon ein bisschen aus wie eine Oma. Das weinrote, knielange Wollkleid hielt ein dunkelbrauner Gürtel um die Taille, dazu trug sie dunkelbraune Wildlederpumps. Josefine fand das schick, obwohl ihre Mutter immer meinte, Tante Hilde kleide sich für ihr Alter zu exzentrisch.

Der alte Mann mit den traurigen Hundeaugen hörte Tante Hilde aufmerksam zu, und Josefine meinte, dass sein Blick ein klein wenig wacher wurde. Kauft er eins, oder kauft er keins? Die Frage gehörte zu ihren Lieblingsspielen, wenn sie wie jedes Jahr im Herbst eine Woche bei ihrer Tante verbrachte. Josefine wettete in Gedanken mit sich selbst, und wenn sie fünfmal gewonnen hatte, dann würde irgendwas Gutes passieren. Vielleicht würde Stefan aus der Parallelklasse aufhören, sie auf dem Schulweg zu ärgern. Oder sie würde in der Mathearbeit eine Zwei schreiben. Oder Konstantin aus der Klasse über ihr würde sich in sie verlieben. Obwohl Josefine ihn nur vom Sehen kannte, musste er einfach der netteste Junge der Welt sein.

Heute hatte Josefine schon viermal richtig getippt. Den kleinen Buchladen, der sich in dem malerischen Ort Heufeld in der Rhön befand, hatten heute schon viele Kunden aufgesucht, wahrscheinlich wegen des Markttags auf dem nahen Kirchplatz. Deshalb fuhr vorhin eine Frau, die sich einige Kochbücher ansehen wollte, wohl einen Kürbis unter dem Kinderwagen spazieren. Von ihrem Sessel aus konnte Josefine bis zu dem Elektroladen gegenüber schauen, vor dem ein paar Jugendliche standen und auf die fünf Bildschirme in verschiedenen Größen starrten, auf denen meistens Nachrichten oder Actionfilme flimmerten, je nachdem, wie der Ladenbesitzer gerade aufgelegt war.

Wenn der Mann das Buch kauft, werde ich selbst einmal so einen schönen Buchladen führen, sagte Josefine sich und starrte gebannt zu dem Mann hinüber. Jetzt nahm der Rentner das Buch aus den Händen ihrer Tante. Es kam Josefine so vor, als sacke er durch das Gewicht ein paar Millimeter in sich zusammen. Dafür hoben sich seine Mundwinkel, als er es aufschlug und die ersten Sätze las. Josefine stellte ihre Tasse ab und näherte sich den beiden.

»Ich glaube, das wird mir gefallen«, sagte er nun mit einem fast jungenhaften Lächeln und schritt zur Kasse. Josefine kannte diesen Gesichtsausdruck der Menschen, die einen schönen Roman gekauft hatten. Es war die Vorfreude darauf, bald in eine andere Welt eintauchen zu können. Und sie selbst freute sich, dass sie die Wette mit sich selbst heute schon zum fünften Mal gewonnen hatte. Ihr würde später selbst so ein Buchladen gehören!

Sie folgte Tante Hilde zur Kasse, die sie anlächelte, als sie das Buch abrechnen wollte. Tante Hilde tat sich immer noch schwer damit, dass die Leute ihre Bücher bald nur noch in Euro statt in D-Mark bezahlen würden, was Josefine nicht verstehen konnte. Sie fand es toll, weil alles nur noch die Hälfte kosten würde.

Bevor Tante Hilde den Betrag in die Kasse tippte, klingelte das Telefon. Ein durchdringender Ton, als tripple der Anrufer schon mit den Füßen. Tante Hilde ignorierte das Klingeln.

»Gehen Sie ruhig ran«, sagte der alte Mann.

»Nein, nein, eins nach dem anderen.« Tante Hilde lächelte ihn an.

»Nicht dass Ihnen ein Kunde entgeht«, zwinkerte ihr der Mann zu.

»Ich habe seit Neuestem eine Nummernspeicherung. Ich rufe einfach zurück«, entgegnete Tante Hilde stolz, und zeitgleich verstummte das Klingeln. Josefine schaute zu dem Elektroladen, vor dem sich mittlerweile immer mehr Leute versammelt hatten und nun auf die Bildschirme starrten, als hätten sie noch nie einen Fernseher gesehen. Und wieder klingelte das Telefon.

Der Mann nahm Tante Hilde das Buch aus der Hand.

»Ich habe Zeit. Gehen Sie ruhig ran«, sagte er in ritterlicher Manier.

»Die nächste Anschaffung wird ein Anrufbeantworter sein«, erwiderte Tante Hilde und griff zum Hörer.

»Buchhandlung Gronau. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Die Leitung blieb stumm. Tante Hilde nahm den Hörer, der an einer Schnur hing, vom Ohr und schaute auf die Ohrmuschel, die mit den kleinen Löchern an einen Duschkopf erinnerte. Statt Wasser spritzte Tante Hilde auf einmal eine aufgebrachte Stimme ins Gesicht, die so laut war, dass auch Josefine und der alte Mann sie hören konnten.

»Hilde, mach das Radio an! Mach sofort das Radio an!«

Keine zwanzig Jahre später

Josefine sah sich in ihrer Buchhandlung um und musste an ihre kindische Wette mit sich selbst denken. Der alte Mann hatte das Buch dann doch nicht mehr gekauft, nachdem Tante Hilde an ihrem Radio herumgedreht hatte, bis das Rauschen verschwunden war und der Moderator etwas Unglaubliches erzählt hatte. Josefine, Tante Hilde und der alte Mann waren aus dem Buchladen gelaufen und hatten versucht, einen Blick auf die Bildschirme im Schaufenster des Elektroladens zu erhaschen. Josefine kapierte damals erst nach einiger Zeit, dass die Bilder von der Hochhausexplosion zu keinem Actionfilm gehörten, sondern etwas mit dem Anruf zu tun hatten.

Josefine hatte die Wette im letzten Augenblick doch noch verloren und die Welt für Josefine die Unschuld, nachdem sie verstanden hatte, was am 11. September 2001 Schreckliches passiert war. Und dennoch war am Ende für sie alles gut ausgegangen oder zumindest einigermaßen. Die Welt hatte ihre Unschuld zwar nie wieder zurückgewonnen, und wie Josefine später feststellen musste, auch nie eine besessen, aber Josefine hatte ihren Traum von der eigenen Buchhandlung wahr gemacht. Und als wäre das nicht Glück genug, führte sie ihn sogar mit dem Mann, den sie liebte.

»Josefine, mein Schatz, wir müssen die Bestsellerwand neu bestücken.«

Mark öffnete eine der großen Kisten, die heute Morgen angeliefert worden waren. Ihre Buchhandlung lag mitten in Köln und lief nicht schlecht, seit Josefine und Mark gemeinsam den Laden übernommen hatten. Er war hell, modern und lag nur eine Straße von einer Schule entfernt, sodass sie sich nach den Sommerferien über hundert neu bestellte Diercke-Weltatlanten freuen konnten und mit Papeterie und Non-Books oft mehr verdienten als mit den literarischen Erzeugnissen selbst.

»Ach ja, mein Lieblingsjob jeden Montag«, antwortete Josefine und strich sich ihre langen roten Locken zurück. Und wirklich mochte sie es, die Spiegel-Bestsellerwand, in der es für die zwanzig Toptitel einen Regalabschnitt gab, neu zu sortieren. Einige Bücher rückten hoch, andere rutschten ab, manche flogen raus, neue kamen dazu.

Josefine erzählte den Kunden zwar viel lieber etwas über Bücher, die sie ganz unabhängig von dem Platz auf der Sonnenliste begeisterten, aber viele liefen wirklich zielstrebig auf diese Wand zu und griffen nach einem Buch, von dem sie schon etwas im Fernsehen gesehen oder in der Zeitung gelesen hatten. So würde es auch heute wieder sein, wenn sie gleich ihren Laden aufschlossen. Josefine verbrachte gern den ganzen Tag an der Seite ihres Freundes, der auch als Autor tätig war. So gerne, dass sie auch nichts dagegen hätte, nicht nur den Arbeitsalltag, sondern auch den Alltag in einer gemeinsamen Wohnung mit ihm zu verbringen.

Josefine war so groß, dass sie ohne den Tritt sogar an die Nummer eins der Bestsellerliste herankam, auch wenn sie sich so strecken musste, dass ihr weinrotes Wollkleid ziemlich weit hochrutschte. Doch jetzt verlor sie das Gleichgewicht und stolperte nach hinten. Zum Glück reagierte Mark blitzschnell und fing sie auf.

»Sag doch was, dann übernehme ich die Bücher oben. Da möchte ich schließlich mit meinem eigenen auch hin.« Mark drehte sie zu sich.

»Und das wirst du auch schaffen«, antwortete Josefine, gab ihm einen flüchtigen Kuss und befreite sich aus seiner Umarmung. »Das Wichtigste fehlt noch«, sagte sie und lief zu dem Bücherregal, in dem die Belletristikautoren nach Alphabet geordnet waren. Sie zog zielsicher ein dunkelblaues Hardcover heraus und beschaute stolz den Titel: Sterndeuter von Mark Mensching.

»Du musst das nicht tun«, sagte Mark und wirkte trotz seiner dreißig Jahre wie ein Schuljunge, als er seine Hände in die Jeanstaschen steckte und grinste. Josefine liebte dieses Grinsen aus seinen braunen Augen. Sie nahm das Buch, das er in einem kleinen Verlag veröffentlicht hatte, und legte es in der Bestsellerwand zwischen die Nummer neun und zehn.

»Voilà, Mark Mensching auf dem Platz neundreiviertel.« Sie machte einen Schritt zurück und lächelte. Harry Potter gelangte schließlich durch eine Ziegelwand auf Gleis neundreiviertel und kam so nach Hogwarts. Warum sollte Marks Buch es nicht irgendwann von Bestsellerregalplatz neundreiviertel auch auf die echte Bestsellerliste schaffen? Tatsächlich wurde das Buch spätestens nach zwei Tagen immer wieder aus dem Regal weggekauft.

»Oh, ja, es geht steil bergauf.« Mark entriegelte die Tür, sodass sie von außen aufgeschoben werden konnte. Der Supermarkt gegenüber hatte schon seit einer Stunde auf, die Bäckerei schon seit zwei Stunden. Seit der Bäcker Tageszeitungen anbot, kamen morgens viel weniger Leute in den Buchladen.

»Und wenn ich erst mal einen Bestseller gelandet habe, dann stellen wir Sonja in Vollzeit ein, damit wir auch mal in Urlaub fahren können«, träumte Mark weiter.

Josefine verstaute die leeren Bücherkartons schnell im Nebenzimmer, in dem sich auch ihr Büro befand. Die beiden Schreibtische quollen über, aber sie hatte die letzten Tage einfach keine Kraft mehr für die Buchhaltung gehabt. Und Mark schrieb jeden Abend an seinem neuen Buch, ihn wollte sie also auch nicht damit behelligen. Sein letztes Manuskript lag schon verschiedenen interessierten Verlagen vor, und Mark musste unbedingt ein neues Projekt starten, um nicht zu nervös zu werden. Außerdem gehörte der nüchterne Blick auf die Zahlen nicht zu den Dingen, die Josefine und Mark die beste Laune bereiteten. Der Laden lief nicht schlecht, aber die hohe Ladenmiete und die Konkurrenz durch den Internetbuchhandel machten ihnen zu schaffen. Tante Hilde, mit der sie mindestens einmal die Woche telefonierte, hatte gut reden! Ihr gehörte der Laden, und sie hatte genug ansparen können, als weder das Internet noch die Leseunlust den stationären Buchhändlern das Leben schwer machten.

Die Türglocke riss sie aus ihren Grübeleien, und sie lief wieder in den Laden, bevor Mark sich der Kundin widmen konnte.

Es war Frau Schmitz von gegenüber, die es schaffte, um kurz nach neun schon einen roten Kopf zu haben.

»Guten Morgen, gut, dass Sie schon geöffnet haben.« Damit stürmte die Frau mit den bunten Klamotten und der Kindergartentasche um die Schultern auf Josefine zu. Josefine lächelte. Sie mochte die Frau, auch wenn sie die Schulbücher ihrer Kinder immer auf den letzten Drücker bestellte, obwohl sie die ganzen Sommerferien dafür Zeit hatte.

»Guten Morgen, Frau Schmitz«, begrüßte Josefine sie und warf Mark einen bösen Blick zu, der hinter Frau Schmitz’ Rücken die Augen genervt verdrehte. Erst letzte Woche hatte sie mit ihren Kindern hier eine geschlagene Stunde gestöbert, nur um sich dann für ein Pixi-Buch zu entscheiden – im Wert von 99 Cent.

»Können Sie mir für morgen bitte folgendes Schulbuch bestellen?« Sie kramte in ihrer Handtasche nach einem Zettel und reichte ihn Josefine. »Finn hat in der letzten Deutschstunde schon Ärger bekommen, weil wir es vergessen haben. Wenn er es zur nächsten Deutschstunde nicht hat, reißt er mir den Kopf ab.«

»Klar, kein Problem. Und möchten Sie noch einen Kaffee trinken und etwas stöbern?«, fragte Josefine und zeigte auf die Sesselgruppe in der Mitte des Ladens, neben der eine Kaffeemaschine stand. Ihr war es wichtig, dass die Leute sich in ihrem Laden wohlfühlten, auch wenn die wenigsten Zeit für eine Kaffeepause hatten. Da bildete Frau Schmitz keine Ausnahme.

»Das würde ich zu gerne, aber ich muss gleich auf der Arbeit sein.« Sie sah auf ihre Schuhspitzen, wobei ihr Blick an der Kindergartentasche hängen blieb, die ihr über der Schulter hing.

»Mist, die habe ich ganz vergessen, Maja mitzugeben. Sorry, ich muss jetzt schnell noch mal am Kindergarten vorbei«, entschuldigte sie sich und verschwand.

Als sie außer Hörweite war, fing Mark an zu lachen. »Wie alt ist Finn? Mindestens zwölf, glaube ich, dann soll er sich sein Buch doch selbst bestellen! Und ihre Tochter wird auch nicht gleich verhungern, wenn sie das Brot erst heute Nachmittag isst. Wie mir diese Helikoptereltern auf die Nerven gehen!«

»Sei nicht so streng mit ihr. Außerdem sind die besorgten Eltern unsere besten Kunden.«

Das stimmte, und gute Kunden konnte man nie genug haben.

Obwohl New York so weit weg war, war selbst Heufeld innerhalb einer Stunde in Aufruhr, als jeder wusste, dass zwei Flugzeuge in das World Trade Center gekracht waren. Mittlerweile war der Elektroladen proppenvoll, weil es drinnen neben den Bildern auch den dazugehörigen Ton gab. Natürlich hätte sich jeder an diesem Tag schnell auf den Weg nach Hause machen können, um das Geschehen vor dem eigenen Fernseher zu verfolgen, aber vielen war nach Gemeinschaft zumute.

Auch Hilde, Josefine und der alte Mann liefen herüber, nachdem sie im Radio das Unglaubliche gehört hatten. Josefine konnte kaum auf die Bildschirme sehen, da alle um sie herum zwei Köpfe größer waren. Und wenn sie einen Blick erhaschte, dann sah sie immer wieder den Feuerball, als das Flugzeug in den Turm des Wolkenkratzers donnerte.

»Ich habe es gewusst, der Dritte Weltkrieg steht bevor!«, ereiferte sich ein Mann mit wirren grauen Haaren und kantigem Gesicht.

»Es war ja nur eine Frage der Zeit, dass so etwas passiert«, bemerkte ein anderer, während die meisten wie gelähmt auf die Bildschirme starrten.

»Ich bin froh, dass wir in einem kleinen Ort wohnen, da bleiben wir wenigstens von solchen Katastrophen verschont«, sagte eine schwangere Frau, die sich schützend um den Bauch fasste.

»Tante Hilde, ist Köln eine wirkliche Großstadt?«, fragte Josefine. Schließlich lebte sie in Köln und verbrachte nur in den Ferien etwas Zeit bei ihrer Tante.

»Wenn du einen Berliner oder Münchner fragst, dann ist Köln keine richtige Großstadt«, antwortete Tante Hilde und strich ihrer Nichte über den Kopf. »Köln ist eher ein großes Dorf.«

Auf einmal wurden die Moderatoren hektisch. Ein rotes Banner am oberen Rand des Bildschirms kündigte weitere Neuigkeiten an.

»Wie wir soeben erfahren haben, wurde auch Washington Ziel eines Anschlags. Es wird also immer wahrscheinlicher, dass es sich um einen gezielten Angriff handelt«, sagte eine Nachrichtensprecherin, die um Fassung rang, obwohl sie sonst recht gelassen von den Kriegen der Welt berichtete. Josefine kannte sie aus den Nachrichten, die ihre Eltern immer schauten.

»Das war doch klar! Ihr könnt uns nicht verarschen und so tun, als wäre das ein Unfall! Bald wird die ganze Welt brennen. Wartet nur ab!«, schrie der Mann mit der grauen Mähne auf.

»Nach ersten Einschätzungen gibt es mindestens zweitausend Tote …« Die Moderatorin war kaum zu verstehen, was vor allem daran lag, dass verschiedene Sender auf den unzähligen Bildschirmen in dem Elektroladen liefen.

»Das waren die Russen! Ich sage es euch! Und morgen marschieren sie hier ein!«, fuhr der Grauhaarige fort.

»Erstens sind die eingeflogen, und zweitens tippe ich eher auf …« Aber der Journalist einer regionalen Tageszeitung, der Fuldaer Zeitung, behielt seine Vermutung lieber für sich. Er, um dessen Hals eine riesige Kamera baumelte, hatte eigentlich über den Wochenmarkt berichten wollen und sich schon ein paar O-Töne notiert.

Die schwangere Frau unterdrückte ein Schluchzen und wurde von einer Freundin zu einem freien Stuhl geführt.

»In was für eine Welt soll mein kleines Würmchen denn hineingeboren werden! Wenn ich das gewusst hätte!«

Eine alte Frau mit Kopftuch und Korb über dem Arm reichte ihr ein Pfefferminzbonbon. »Hier, das macht einen klaren Kopf. Ich bin mit drei Kindern aus Schlesien geflohen. Die Zeiten waren immer schlecht. Ihr wisst doch gar nicht, wie gut ihr es habt!«

Die Schwangere steckte das Bonbon tatsächlich in den Mund und schaute etwas betreten zu Boden.

»Ja, aber das wird nicht so bleiben!«, prophezeite der alte Mann, der immer noch nicht von seinen finsteren Botschaften lassen wollte. »Was bin ich froh, dass ich schon so alt bin. Da wird mir einiges erspart bleiben.«

War es zunächst ein völlig absurdes Schauspiel auf unzähligen Fernsehbildschirmen, so kroch langsam die Angst in Josefine hoch. Was war, wenn all diese Leute recht hatten? Was war, wenn bald auch über ihr Zuhause ein Dutzend Flugzeuge bretterten und alles zerstörten? Und was war, wenn es wirklich einen Krieg geben würde? Krieg war so ein Wort wie Pferdekutsche, Leben ohne Telefon oder Sklaverei. Das waren alles Begriffe aus Zeiten, mit denen Josefine nichts anfangen konnte. Obwohl der Raum voller verschwitzter Körper und erhitzter Gemüter war, fröstelte es Josefine.

»Tante Hilde, ich habe Angst«, sie griff nach der Hand ihrer Tante.

»Das brauchst du nicht.« Tante Hilde nahm ihre Hand und zog sie aus dem Gedränge nach draußen. Dankbar sog Josefine die kühle Herbstluft ein und ließ sich von Tante Hilde mitziehen. Doch statt in den Buchladen zurückzukehren, der immer noch offen stand, hielten sie auf die jahrhundertealte Dorfkirche zu und liefen die ausgetretenen Treppenstufen hoch. Auch hier stand das Portal offen, obwohl niemand im Kirchengebäude war. Hier war es noch kühler als draußen, und es roch nach feuchtem Stein und Wachs. Tante Hilde ging beherzt auf den Kerzenstand zu, an dem ein paar Teelichter flackerten und Streichhölzer bereitlagen. Sie kramte nach Kleingeld in ihrer Jackentasche, warf es in die Spendenkassette und nahm zwei Teelichter.

»Hier, das ist das Einzige, was wir tun können. Den Opfern das beste wünschen. Und hoffen, dass es nicht noch mehr werden«, sagte Tante Hilde und hatte doch Tränen in den Augen. Aber Josefine wurde es tatsächlich wärmer, als sie die Kerze anzündete und zu den anderen stellte.

»Josefine, lass dich nie von dem Gerede der Leute verunsichern. Es gibt schlimme Dinge, aber keiner von denen, die ihre wilden Theorien verbreiten, macht diese Dinge besser.«

»Aber ich will irgendwas tun, was die Welt besser macht!«, entgegnete Josefine. Schließlich taten das die Menschen in ihren Lieblingsbüchern auch oft. Und dazu war sie doch schließlich auf der Welt, oder? Tante Hilde dachte nach, und Josefine fand, dass sie viel hübscher als ihre Mutter aussah, obwohl sie schon so viele Falten hatte und viel älter war. Aber irgendwie hatte ihre Tante etwas von einer Fee. Josefine war sich sicher, dass Tante Hilde die Welt immer wieder in Ordnung bringen konnte. So wie vor einem halben Jahr, als sich der blöde Junge aus der Parallelklasse über ihre roten Haare lustig gemacht hatte. Da hatte Tante Hilde ihr das Buch Anne auf Green Gables geschenkt. Josefine würde ihren Widersacher zwar niemals heiraten, so wie Anne Gilbert, der sie Karotte genannt hatte. Aber nach den Geschichten von Anne mochte sie ihre roten Haare.

In Tante Hilde arbeitete es, als schufteten lauter winzige Bauarbeiter in ihrem Gehirn. Sie hatte ein ernstes Gesicht und grübelte, doch schließlich lächelte sie.

»Ich weiß, wie wir die Welt besser machen können. Wir verkaufen einfach weiter richtig gute Bücher!«, rief sie aus.

Josefine verstand noch nicht ganz, wie das funktionieren sollte, nickte aber erst mal, um ihre Tante nicht zu entmutigen.

Als Josefine nach einem langen Tag im Buchladen, an dessen Ende sie mit Mark noch Hunderte neue Taschenbücher auf dem Tisch mit den Neuerscheinungen drapiert hatte, obwohl die alten noch lange nicht verkauft waren, ihre eigene Wohnung aufschloss, freute sie sich auf ein wenig Ruhe. Einfach mit dem aufgewärmten Kürbiseintopf, den Mark sowieso verabscheute, am Küchentisch sitzen und aus dem Fenster starren. Als Tante Hilde sie hier einmal besucht hatte, war sie entsetzt gewesen und hatte ein Gesicht gemacht, als müsste sie ihre Nichte aus dem Gefängnis befreien. Aber Josefine wohnte gerne hier, an einem der hässlichsten Plätze Kölns. Der Barbarossaplatz war eine einzige Ansammlung von Straßenbahnhaltestellen, Autoverkehr, schäbigen Achtzigerjahrebauten und einer McDonald’s-Filiale in Blickweite, aber er lag so wunderbar zentral, dass Josefine überallhin laufen konnte. Der Buchladen lag um die Ecke, Mark wohnte um die Ecke in einer WG, selbst die Südstadt mit dem Volksgarten war um die Ecke, wenn sie mal etwas Natur brauchte. Und in diesen Park hatte sie Tante Hilde auch geführt, aber anscheinend war er nichts gegen das einsame Häuschen am Waldrand, das Tante Hilde bewohnte.

Josefine pfefferte den Eintopf und schaufelte das heiße Gemüse in sich hinein. Sie hatte tagsüber nur die paar Kekse gegessen, die der Verlagsvertreter übrig gelassen hatte.

Diese ganz besondere Spezies von Buchmenschen kam leider auch immer seltener, aber wenn, war Josefine froh. Schließlich konnte sie nicht alle Neuerscheinungen selbst lesen, weshalb sie sich gerne anhörte, welche Bücher der Vertreter ihr empfahl. Und Herr Hanser gehörte tatsächlich zu der Sorte Vertreter, der jedes Buch, das er vorstellte, selbst gelesen hatte. Bei den Titeln, die er den Buchhändlern empfahl, quoll ihm die Begeisterung förmlich aus den Augen. Zweimal im Jahr, einmal im Frühling und einmal im Herbst, kam er vorbei, um Bücher aus »seinen« Verlagen anzupreisen.

Josefine warf zwar selbst einen Blick in die dicken Vorschaukataloge, in denen die Verlage ihre Titel anboten, aber hier wurde jedes Buch erst einmal als grandioses Werk angepriesen.

Als der Teller leer war, hatte Josefine immer noch Hunger und machte sich ein Käsebrot. Der Kühlschrank war wieder fast leer, obwohl der nächste Supermarkt direkt gegenüber lag, genau wie in der Buchhandlung. Und er hatte bis 24 Uhr geöffnet. Sie nahm eine der drei letzten Brotscheiben und schnitt ein paar Scheiben Camembert ab. Auf dem Küchentisch lagen noch ein paar Vorschauen und die Post, die sie auf dem Weg nach oben aus dem Briefkasten mitgenommen hatte. Die grauen Briefumschläge vom Finanzamt würde sie morgen öffnen. Sie und Mark beglichen Außenstände stets pünktlich, aber sie beide hatten unterschätzt, wie viel Papierkram mit dem eigenen Laden auf sie zukommen würde. Den rosafarbenen Brief mit der handgeschriebenen Adresse hingegen öffnete sie sofort. Es war die Einladung zu einer Hochzeit von ihrer Freundin Bea, die ein halbes Klassentreffen werden würde, weil sie beide – genauso wie ihr halber Freundeskreis – ihre Heimatstadt Köln nie verlassen hatten. Josefine freute sich für Bea, beneidete sie aber auch ein ganz winziges bisschen. Sie liebte Mark, aber sie war sich nicht sicher, ob sie aus vollem Herzen für immer Ja sagen könnte. Andererseits stand auch nicht zu befürchten, dass diese Frage so schnell aufkommen würde, schließlich betonte Mark immer wieder, dass die Bindung durch den Laden schon groß genug war.

Warum hatte die Arbeit in Tante Hildes Buchhandlung immer so viel zauberhafter gewirkt? So viel romantischer? Die Buchhandlung Gronau war für Josefine immer ein Ort gewesen, wie er nur im Märchen vorkam. Ja, sie war wirklich zauberhaft in dem alten Fachwerkhaus mit den unverputzten Ziegeln und dem riesigen, meist ungenutzten Hinterhof mitten in der Einkaufsstraße von Heufeld. Dort hatte sie so oft in dem gemütlichen Sessel gesessen und so viele Bücher gelesen, wie in ihre Ferien passten. Eine gute Buchhändlerin musste schließlich informiert sein. Hatte Tante Hilde die ganze Buchhaltung und Organisation nicht auch wahnsinnig gemacht? Wie blauäugig sie gewesen war: Damals hatte Josefine nicht einmal mitbekommen, dass solche Arbeiten überhaupt anfielen.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte Tante Hilde sich verändert. Sie war stiller geworden. Und gleichzeitig stärker. Und trotziger. Und sie bestellte weniger Bücher und schaffte den Ständer mit den Tageszeitungen ganz ab. Es war ein bisschen so, als ob sie im Buchladen die schlechte Welt aussperren wollte und zugleich die Ärmel hochkrempelte, um dem Schlechten nicht die Bühne zu überlassen. Auch die Kunden hatten sich verändert. Viele waren bedrückter. Und manche kamen nicht mehr, weil Tante Hilde eine türkischstämmige Frau als Aushilfe in ihrem Laden einstellte, nachdem die Übeltäter identifiziert worden waren. Josefine verstand damals beim allerbesten Willen nicht, was ausgerechnet die damit zu tun haben sollte, dass das World Trade Center nicht mehr stand. Aber der grauhaarige Mann aus dem Elektroladen hatte »Wehret den Anfängen!« gerufen, als er noch einmal in den Buchladen kam und einen Stapel Bücher dabeihatte, in denen angeblich ganz genau erklärt wurde, welche Katastrophen der Welt noch bevorstünden.

»Ich habe Sie gewarnt, Frau Gronau. Verschließen Sie nicht die Augen vor der Wahrheit! Und lassen Sie vor allem nicht Ihre Chance ungenutzt, die Menschen aufzuklären!« Damit war er aus dem Laden gestapft. Mittlerweile ignorierte Josefine solcherart Unkenrufe, aber damals hatte ihr dieser Mann Angst gemacht.

Doch mit jeden neuen Ferien veränderte sich auch die Stimmung in der Buchhandlung Gronau abermals. Die Leute, die hereinkamen, gingen fröhlicher wieder hinaus. Und auch Tante Hilde strahlte wieder. Zudem versuchte Josefine jetzt auch, ihre Tante zwischen den Ferien zu besuchen. Dann setzte sie sich freitagnachmittags in den Zug bis nach Fulda, wo Tante Hilde sie abholte und es noch eine gute halbe Stunde mit dem Auto bis nach Heufeld war, mitten durch eine hügelige Landschaft voller Kuhweiden und Apfelwiesen.

Sie beobachtete ihre Tante, konnte jedoch nicht fassen, was sich verändert hatte. Auch wenn mittlerweile der Laden weihnachtlich dekoriert war, musste der Grund woanders zu finden sein. Ein Gedanke schoss der mittlerweile dreizehnjährigen Josefine damals durch den Kopf. Ob Tante Hilde verliebt war? Ihr Nachbar Achim Eisenbach kam öfter mit seinem Sohn Johannes in den Laden, und Josefine merkte, dass Herr Eisenbach Tante Hilde manchmal ganz verträumt ansah. Der Sohn dagegen starrte oft traurig vor sich hin. Die beiden wohnten gegenüber von Tante Hilde in einem dunkel vertäfelten Bauernhaus, um das mächtige Tannen standen. Da Herr Eisenbach Imker war, rochen die beiden oft süßlich nach Honig, auch wenn die Miene des Vaters meist bitter war.

Als die beiden wieder einmal im Laden vorbeischauten, der Vater aber nur einen schmucklosen Kalender für das nächste Jahr erstand, fasste Josefine sich ein Herz, nachdem sich die Ladentür hinter den beiden geschlossen hatte.

»Tante Hilde, würdest du mir ein Geheimnis verraten?«

Tante Hilde setzte sich zu ihr auf einen Hocker neben dem Sessel. »Na, dann wäre es kein Geheimnis mehr.« Sie lächelte. »Was möchtest du denn wissen? Ich habe so einige Geheimnisse.«

»Bist du verliebt?«, fragte Josefine.

»Verliebt?! In wen sollte ich denn verliebt sein?«, fragte sie lachend.

»Na, zum Beispiel in den Vater von Johannes. Er guckt dich immer so an«, sagte Josefine und kam sich fast albern vor.

»Hast du denn gesehen, dass ich ihn genauso anschaue?« Ein Schatten huschte über Tante Hildes Gesicht.

»Nein, aber du bist in letzter Zeit irgendwie anders.«

Tante Hildes Mundwinkel zuckten, als fühle sie sich ertappt. »Wie denn?«

»Eben als hättest du ein Geheimnis. So wie eine Figur in einem Buch, die eine wichtige Mission erhalten hat, aber niemandem etwas davon verrät. Kannst du nicht wenigstens mir alles verraten?«, hakte Josefine nach und spürte einen wohligen Schauer durch ihren Körper laufen wie beim Lesen eines gruseligen Buches, bei dem man im sicheren Bett liegt.

»Also gut, ich werde dir ein Geheimnis verraten«, antwortete sie, sagte aber erst einmal gar nichts.

Josefine wartete ab und sah ihre Tante gespannt an.

»Also gut! Manche Orte sind wie Türen. Und manche Menschen auch«, fing sie an und schwieg wieder, als suche sie nach den richtigen Worten. »Jedenfalls hat jeder Raum eine Tür«, Josefine lächelte ihre Tante auffordernd an. Wenn sie nicht gleich weitersprechen würde, kämen noch die nächsten Kunden in den Laden.

Tante Hilde lächelte zurück und erhob sich vom Hocker. »Also, um es kurz zu machen: Ich glaube, dass auch mein Buchladen eine Tür zu einer anderen Welt ist. Ich habe in der Hand, ob die Leute dahinter in den Abgrund stürzen oder ob es ihnen besser geht.«

»Du meinst so wie bei Narnia?« Josefines Herz klopfte.

»Zumindest so ähnlich.«

»Aber jeder wird doch glücklicher, wenn er ein Buch kauft. Selbst wenn er einen schrecklichen Krimi kauft. Das weiß doch jeder, dass das nicht echt ist«, bohrte Josefine nach, die ganz elektrisiert war und mehr erfahren wollte.

»Das stimmt, aber dennoch gibt es Bücher, die einen nicht nur für ein paar Stunden gruseln lassen, sondern die einen selbst danach ratlos zurücklassen.«

»Findest du, dass Bücher immer ein Happy End haben müssen?«

»Nein, aber sie sollen einen nicht in Stücke reißen, ohne dabei zu helfen, die Teile wieder zusammenzufügen«, meinte sie etwas rätselhaft, was Josefine merkwürdig vorkam.

»Weißt du, es gibt gute Gedanken, die Menschen aufbauen, und schlechte, die sie herunterziehen. Und obwohl keiner von uns im Dorf von dem Anschlag direkt betroffen war und es leider nicht die erste und letzte Katastrophe auf der Welt bleiben wird, haben einige Leute es mit ihren Spekulationen über die Zukunft und dem Misstrauen gegenüber anderen Menschen nur noch schlimmer gemacht.«

»Aber ganz ohne Grund sind die Sorgen ja nicht. Und ganz ehrlich, die Terroristen sind für mich auch keine wertvollen Menschen mehr«, entgegnete Josefine, die nach dem Unglück angefangen hatte, öfter die Nachrichten zu schauen.

»Ja, aber die sind ja auch nicht als Terroristen auf die Welt gekommen. Irgendjemand hat irgendwann einmal angefangen, einen schlechten Gedanken in ihnen zu verpflanzen. Und ich möchte das Gegenteil machen. Ab jetzt darf es nur noch Bücher hier geben, die die Menschen aufbauen. Die ihnen Hoffnung geben.«

»Und wenn einer eins bestellt, dass du schlecht findest?«

»Na ja, wer bin ich denn, dass ich den freien Willen meiner Kunden beschneide? Bestellen werde ich es, aber keins dieser Bücher hier auslegen.«

Josefine wusste schon damals nicht, was sie von der Idee halten sollte, nickte aber.

»Und ich möchte jedem Menschen, der hier rein- und rausgeht, gute Gedanken und Wünsche mitgeben. Ich glaube, unsere Gedanken bewirken etwas. Das glaube ich wirklich.« Den letzten Satz sprach sie mehr zu sich selbst.

»Du meinst also, deine Buchhandlung ist ab heute die Buchhandlung der guten Wünsche?«, fragte Josefine freudestrahlend, und ihre Tante strahlte genauso zurück.

»Genau, die Buchhandlung der guten Wünsche! Aber das bleibt unser Geheimnis, okay? Deine Eltern halten mich eh schon für bekloppt.«

Josefine errötete und versprach, es für sich zu behalten. Auch wenn sie sich nicht sicher war, dass Tante Hildes wilde Gedankenwelt auch in der tatsächlichen Welt funktionierte, so wusste sie ganz genau, dass ihre Eltern sie tatsächlich merkwürdig fanden. Aber das war Josefine ganz egal. Tante Hilde war einer ihrer absoluten Lieblingsmenschen.

Und auch heute noch hing Josefine sehr an Tante Hilde, auch wenn sie es einfach nicht schaffte, sie länger zu besuchen. Als könnte Tante Hilde Gedanken lesen, klingelte das Telefon. Josefine nahm ab.

»Hallo, Tante Hilde. Wie geht es dir?«

»Gut, meine Liebe, sehr gut! Und bald wird es mir noch viel besser gehen, weil ich ein neues Knie bekomme. Ein paar Wochen Reha, und ich kann wieder die Treppen im Haus laufen und Bücherkisten schleppen.«

Sie hatte sich also endlich zu der Operation durchringen können, die hoffentlich die Zeit in Sachen Fitness zurückdrehen würde.

»Möchtest du dich nicht einfach mal zur Ruhe setzen? Andere in deinem Alter sind schon jahrelang in Rente«, seufzte Josefine, obwohl sie die Antwort zu gut kannte.

»Natürlich nicht. Der Buchladen braucht mich! Wer sonst wäre in der Lage, die geheime Mission der Buchhandlung der guten Wünsche aufrechtzuerhalten?«

Josefine konnte selbst durch das Telefon spüren, wie ihre Tante ihr zuzwinkerte. Und Josefine wusste, dass sie gemeint war. Und einen Moment fühlte sie sich schuldig, dass nicht sie es war, die den Laden eines Tages übernahm. Für einen Moment schwiegen beide.

»Ich habe seit einiger Zeit eine wunderbare junge Mitarbeiterin. Eva wird den Laden allein schmeißen, während ich im Krankenhaus bin«, fuhr Tante Hilde fort.

»Das freut mich. Wirklich.«

»Ich würde dich gerne wieder einmal für eine Woche einladen. Jetzt ist genau die Zeit, in der es bei uns so schön ist. Der ganze Wald leuchtet golden. Die Äpfel warten darauf, gepflückt zu werden. Und der Buchladen würde sich auch freuen, dich wiederzusehen.«

Tante Hilde hatte gut reden! Sie besaß ein eigenes Haus sowie das Ladenlokal und musste nicht zusätzlich auch noch für die Miete rackern. Und Lesungen gab es in ihrem Laden auch nie, während Josefine und Mark fast jeden Monat mindestens zwei Autoren einluden.

»Ich würde wirklich so gerne kommen, aber ich kann im Moment einfach nicht weg. Der eigene Laden macht so viel Arbeit, die ganze Steuer muss ich diesen Monat auch noch durcharbeiten. Ich weiß echt nicht, wo mir der Kopf steht.«

»Ach Josefine, wenn ich dich so reden höre, denke ich manchmal, du bist im Gefängnis und nicht in einer Buchhandlung! Es ist doch dein Laden!«

»Eben drum muss ich ja immer da sein.« Josefine wäre wirklich gerne mal wieder ein paar Tage zu ihrer Tante gefahren, allein um abzuschalten, aber das konnte sie sich einfach nicht leisten. Mal ganz davon abgesehen, dass sie nicht mal ein Auto besaß und der Weg nach Heufeld mit öffentlichen Verkehrsmitteln sehr umständlich war. Ihre Tante fuhr zwar noch Auto, aber leider nicht mehr sehr sicher und immer nur die paar Minuten von ihrem Haus in den Ort, sodass Josefine sie unmöglich bitten konnte, sie von Fulda abzuholen. Und da sie eh jeden Cent umdrehen musste, wollte sie sich lange Taxifahrten für den Notfall aufsparen.

»Und was ist mit deinem Freund? Kann der den Laden nicht mal ein paar Tage ohne dich führen?«, hakte Hilde nach.

Josefine hatte bei ihrem letzten Besuch gespürt, dass Tante Hilde Mark nicht so gut leiden konnte, wie sie sich das gewünscht hatte. Das hatte ihr einen Stich versetzt, schließlich war Mark der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Aber sie versuchte, nachsichtig mit Tante Hilde zu sein. Immerhin hatte sie nie Glück in der Liebe gehabt und wäre wahrscheinlich jedem Mann gegenüber skeptisch gewesen.

»Ich frage ihn mal. Aber bald fängt das Vorweihnachtsgeschäft an, da sind wir selbst zu dritt im Laden manchmal überfordert. Aber ich verspreche dir, dass ich dich bald wieder besuchen werde, spätestens nach der Operation im Krankenhaus, okay? Vielleicht kann ich mir dann im Frühling mal ein paar Tage länger freinehmen, aber jetzt geht es wirklich nicht.« Josefine hatte als Kind immer über die Erwachsenen den Kopf geschüttelt, die behaupteten, die Zeit rase immer schneller. Jetzt war sie gerade dreißig und musste schon den Kalender zurate ziehen, um sich mal mit einer Freundin zu einem Kaffee zu verabreden. Wie musste sich erst Tante Hilde mit über siebzig Jahren fühlen?

»Vielleicht sollten wir doch bald zusammenziehen, damit wir nicht die Besenkammer für unsere Rendezvous nutzen müssen«, sagte Mark lachend, als er Josefines Taille umschlang. Okay, in ihrem Büro stand auch das Putzzeug, aber dennoch war es ein nettes Zimmer und keine Besenkammer.

Josefine hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen. »Warum nicht? Wir sehen uns tatsächlich viel zu selten außerhalb der Arbeitszeit.« Ihr Blick blieb an dem Monitor der Überwachungskamera hängen, der den Eingangsbereich kontrollierte. Sie mussten die Kamera gleich noch ausschalten. Manchmal fühlte sich Josefine mulmig angesichts der Überwachung, aber so konnten sie auch mal während der Öffnungszeiten anfallende Arbeiten im Büro erledigen, wenn einer von ihnen allein im Laden war. Tante Hilde ließ ihre Tür selbst dann auf, wenn sie im Lagerraum war. Sie sagte immer, beim Stöbern in den Büchern würde schon keiner so schnell wegrennen.

»Mark, lass uns heute Abend mal wieder was Schönes unternehmen! Vielleicht essen gehen?«

Als um halb sieben der letzte Kunde gegangen war, hatten sie die Tür verriegelt und sich an die Aufräumarbeiten gemacht.

»Mmmhh, essen ist nicht schlecht, aber ich hätte da auch noch auf was anderes Lust.« Er küsste sie knapp neben den Mund, und ein Schauer lief durch Josefines Körper.

»Da hätte ich auch nichts gegen.« Allerdings müsste sie erst einmal die ganze Arbeit ausblenden, was Josefine zunehmend schwerer fiel. Ihr Blick fiel erneut auf den kleinen Schwarz-Weiß-Bildschirm. Da versuchte doch wirklich jemand vergeblich, die Tür zu öffnen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Mark.

»Ja, ja, da ist nur noch jemand an der Tür. Soll er halt morgen wiederkommen«, antwortete sie und küsste ihren Freund flüchtig. In jemandes Arme fallen und alles andere vergessen kam wohl nur in den Büchern vor, die bunte Umschläge voller Muffins, Meeresansichten oder Liebesbriefen aus altmodischem Papier zierten. Aber da erkannte Josefine die Frau, die immer noch an der Tür rüttelte. Es war Frau Schmitz, die gestern noch betont hatte, dass sie das Deutschbuch unbedingt für heute brauchte. Sie ließ von der Türklinke ab und stampfte auf den Boden. Josefine musste keinen Kurs im Lippenlesen besucht haben, um den Fluch zu identifizieren, der aus ihrem Mund kam: »Scheiße!« Ja, selbst in Schwarz-Weiß und Miniaturformat war zu erahnen, dass Frau Schmitz sich am liebsten in Grund und Boden gestampft hätte.

»Mark, ich glaube, ich muss doch noch mal zur Tür.«

»Warum das denn?«

»Na, guck mal auf den Bildschirm. Unsere Stammkundin. Und sie braucht das Buch bis morgen.«

»Ganz ehrlich, sie weiß seit Jahren, dass wir um halb sieben schließen. Nur weil sie nicht organisiert ist, müssen wir doch nicht nach ihrer Pfeife tanzen. Uns in den Feierabend zu grätschen ist so was von rücksichtslos!« Mark rückte etwas von ihr ab.

Josefine musste ihm recht geben. So sehr sie ihren Job liebte, aber es gab wirklich Leute, die sich überhaupt nicht darum scherten, was für Bedürfnisse andere Menschen hatten. Die grundsätzlich zwei Minuten vor Ladenschluss noch eine ellenlange Beratung einforderten, nur um dann doch nichts zu kaufen.

»Aber sie braucht das Buch wirklich!«

»Dann hätte sie früher kommen müssen. Jetzt ist die Kasse schon zu. Und wir sind schon den ganzen Tag auf den Beinen, ich kann einfach nicht mehr.«

Josefine sah auf den Bildschirm statt in die Augen ihres Freundes. Frau Schmitz hatte anscheinend aufgegeben und sich mit hängenden Schultern umgedreht. Es würde zwei Minuten dauern, das Buch aus dem Regal mit den Vorbestellungen herauszusuchen und ihr nachzusetzen.

»Bitte! Wir haben uns den Feierabend wirklich verdient.«

»Ist ja gut!«, antwortete Josefine, und sie küssten sich. Allerdings war Josefine dabei nicht wirklich bei der Sache. Sie nahm sich vor, den Titel später in ihre Tasche zu packen, bei Frau Schmitz in den Briefkasten zu werfen und ihr eine WhatsApp-Nachricht zu schicken, dass sie das Buch nur aus dem Briefkasten fischen müsse. So waren beide glücklich. Mark und Frau Schmitz. Und wenn alle anderen zufrieden waren, war Josefine es auch.

»Es geht nicht anders, ich muss nächste Woche nach Rom.« Mark stellte Josefine einen Kaffee auf den Tisch, auf dem noch das Geschirr vom Abend stand. Wohlgemerkt nicht das von Josefine und Mark, die gestern nach einem köstlichen Curry bei ihrem Lieblingsinder direkt im Bett verschwunden waren, sondern das von seinen beiden Mitbewohnern. Josefine versuchte, die Teller zu ignorieren, schließlich war das nicht ihre WG. Mark schienen sie nicht einmal aufzufallen.

Josefine kam sich trotz Marks Schlafanzugs, den sie sich heute Morgen ausgeliehen hatte, nackt vor. Hoffentlich schliefen die anderen beiden Mitbewohner noch tief und fest oder lauschten wenigstens nicht ihrer Diskussion. Jetzt gönnte sie sich erst einmal einen Schluck Kaffee, weil sie Marks Ankündigung nicht einordnen konnte. Mark pendelte in der Regel nur zwischen Schreibtisch und Buchladen hin und her, Rom entsprach so gar nicht seinem Bewegungsradius.

»Warum das denn?«

»Weil mein Protagonist da unbedingt hinmuss. Ich stecke gerade fest, und gestern habe ich kapiert, warum. Mein Held muss nach Rom.« Mark setzte sich. Seine blonden Haare waren noch ganz verwuschelt von der Nacht, aber der Blick aus seinen ungewöhnlicherweise braunen Augen war schon sehr wach.

»Aber deswegen musst du ja nicht gleich hinfliegen!«

Von ihnen beiden war sie immer die Stimme der Vernunft, während Mark der Mann für die großen Visionen war. Dabei war sie selbst einmal eine große Träumerin gewesen.

»Ach, Josy, natürlich muss ich das! Oder meinst du allen Ernstes, ich kann über Google Street View eine vernünftige Recherche betreiben?«, fragte er mit einer Stimme, die Josefine einen Hauch zu freundlich vorkam. Ihre Rücklagen waren fast aufgebraucht. Es brauchte nur irgendetwas kaputtzugehen, und sie wären bankrott. Und da wollte er eine teure Recherchereise machen?

»Mark! Du bist der Autor! Lass deinen Helden halt in Köln sein Abenteuer erleben! Und beim Rest hilft dir deine Fantasie!« Sie konnte es selbst kaum ertragen, sich so reden zu hören, aber sie würde es noch weniger ertragen, wenn sie sich irgendwann um nicht vorhandenes Geld streiten müssten.

»Du nimmst meine Arbeit nicht ernst.« Er schob seine Kaffeetasse von sich, als wäre das Gebräu durch Josefines Unverständnis ungenießbar geworden. Josefine griff nach seiner Hand, doch er zog sie zurück.

»Mark, Entschuldigung. Ich sollte mir erst mal anhören, um was es genau geht«, versuchte sie einzulenken.

»Ne, also in dem Ton habe ich schon einmal gar keine Lust zu diskutieren. Es kann doch wohl nicht sein, dass du mir so eine kleine Recherchereise nicht gönnst.« Er zog eine Schnute wie ein verwöhntes Kind.

»Mark, ich gönne dir alles! Aber du weißt doch genauso wie ich, dass wir weder Geld noch Zeit haben. Wenn wir den Gründungskredit abgestottert haben oder du mit deinem Buch richtig Geld verdienst, dann kann jeder von uns wieder machen, was er will! Aber jetzt müssen wir nun mal auf alle Extras verzichten, sonst sind wir bald pleite!«, regte Josefine sich auf, jedoch weniger über Mark als über die harten Zeiten für den stationären Buchhandel. Rund fünf Millionen Leser waren in den letzten Jahren weggebrochen und brachen damit auch manchem Buchladen das Genick. Und viele der übrig gebliebenen Leser ließen sich lieber durch Algorithmen beraten als durch ausgebildete Buchhändler, die eben doch etwas ganz anderes waren als einfache Verkäufer oder Buchhalter. Wobei manche Buchhandelskette schon auf ausgebildete Buchhändler verzichtete und stattdessen Studenten für den Mindestlohn einstellte – ebenfalls aus Kostengründen. Es war ein Teufelskreis, von dem die Autoren nicht verschont blieben, die sich nur noch selten einen teuren Rechercheaufwand leisten konnten.

»Ich hätte dich nicht so überrumpeln dürfen, aber ich würde mir mehr Vertrauen von deiner Seite wünschen.«

»Hast du schon gebucht?«

»Ja, der Flug war ein Schnäppchen, da musste ich sofort zuschlagen. Es sind doch nur ein paar Tage!«

Fünf Sekunden, um mich zu fragen, hättest du bestimmt gehabt, dachte Josefine, sagte aber nur: »Okay, wir werden das schon hinbekommen.«

»Eben, das werden wir. Wie alles bisher.« Mark küsste sie auf die offenen, noch ungekämmten Haare. Dann verschwand er im Badezimmer, schließlich mussten sie gleich den Laden aufschließen.

Josefine seufzte und kippte den restlichen Kaffee in den Ausguss. Sie hatten einen schönen Abend und eine schöne Nacht verbracht, aber Marks Ankündigung hatte ihr den Morgen verdorben. Sie mochte den Teil in ihr nicht, der wütend auf Mark war, weil er sich so eine harmlose, kleine Extravaganz gönnte, während sie nicht einmal wegen ihrer Tante bei ihm angefragt hatte. Sie war davon ausgegangen, dass es nicht funktionierte. Und das tat es ja auch wirklich nicht! Aber Mark machte einfach sein Ding. War sie zu kleingeistig? War die Arbeit nichts als eine dumme Ausrede?

Eine Nachricht blinkte auf.

Vielen Dank für das Buch im Briefkasten. Sie sind einfach die allerbeste Buchhandlung der Welt!!!!

Die Lobeshymne wurde mit hochgereckten Daumen und strahlenden Smileys unterstrichen. Josefine fühlte sich wie eine Hochstaplerin, die hinterrücks anderer Leute Träume bremste, aber ganz sicher nicht wie die beste Buchhandlung der Welt – zumal sie ja auch nur fünfzig Prozent einer ganz gewöhnlichen Buchhandlung ausmachte.

Der Geruch von Winter lag schon in der Luft, obwohl der Tag nicht hätte goldener sein können. Josefine hatte sich auf dem Weg von der Buchhandlung nach Hause eine kleine Pause gegönnt. Die dicken roten Haare hatte sie unter einer Mütze verstaut und um den Hals einen Schal gewickelt, und mit einem Milchkaffee ließ es sich auf dem Rathenauplatz gut aushalten. Durch die Baumkronen mit all den rotbraunen Blättern, die vor dem Winter noch einmal ihre ganze Pracht entfalteten, schien die Abendsonne. Die wunderschönen Stuckfassaden der Altbauten um den Platz erschienen noch prächtiger. Josefine liebte das Leben in der Stadt. Sie liebte es auch, allein inmitten des Gewusels zu sitzen. Kinder turnten auf den Spielgeräten neben dem Biergarten, der bis in den Winter hinein Plätze draußen anbot. Rote Fleecedecken und Heizstrahler trotzten dem eigentlich milden Wetter, das den Kölner aber schon an den nahenden Winter erinnerte. Leute mit ihren Einkaufstüten nahmen die Abkürzung durch den Park, manch einer hetzte zur U-Bahn, als ob die nächste nicht in ein paar Minuten fahren würde. Alles war voll, laut und voller Leben. Niemand schaute sie komisch an, wenn sie ganz allein an einem Tisch saß und nichts machte, als die Blätter in den Baumkronen zu beobachten. Sie musste an Tante Hilde denken, die einmal erzählt hatte, dass es den Menschen in ihrem Dorf verdächtig vorkam, wenn jemand allein in einem Biergarten oder Café saß. Innerhalb starrer, dörflicher Strukturen auch noch unter Beobachtung zu stehen, wäre ein Albtraum für Josefine!

Aber war ihr Leben nicht auch schon ganz schön durchstrukturiert und vor allem verplant?

Vielleicht war es das, aber sie hatte sich schließlich so eingerichtet mit ihrem Traumberuf und ihrem Traummann. Dass sich beides manchmal auch wie harte Arbeit anfühlte, war doch ganz normal. Der Kaffee außer Haus wäre der einzige Luxus für diese Woche, hatte sie sich angesichts ihres Kontostands vorgenommen. Und wirklich jeden Anflug von Neid auf Mark beiseitezuschieben, weil er nun ein paar Tage in der Ewigen Stadt weilte, die für Josefine in erster Linie ewig weit weg war, kam auch harter Arbeit gleich. Vor allem, weil Mark sich das Geld von ihrem Geschäftskonto geliehen hatte. Gut, es war nicht viel, und er hatte versprochen, alles zurückzuzahlen, aber dennoch hatte Josefine dabei kein gutes Gefühl.

Sie umklammerte die Kaffeetasse mit ihren Händen, um ihre Finger zu wärmen, doch der Kaffee war auch nur noch lauwarm. Sie kippte den Rest mit einem Schluck herunter, brachte die Tasse zurück, damit die Kellnerin nicht laufen musste, und spazierte nach Hause. Der Supermarkt auf dem Weg lockte schon mit Spekulatius im Schaufenster, die Bahn bimmelte hektisch, weil mal wieder jemand bei Rot über die Schienen spurtete. Alle hatten es eilig, nur Josefine nicht. An ihrer Wohnung angekommen, schloss sie deshalb auch in aller Ruhe den Briefkasten im Hausflur auf und nahm den dicken Stapel Post heraus. Werbung, ein paar Rechnungen und ein handgeschriebener Brief, der ihr Herzklopfen verursachte. Ein schwarzer Streifen auf dem Umschlag verhieß nichts Gutes. Ein Absender stand nicht darauf. Bitte lass es nicht Tante Hilde sein! Aber das war Unsinn. Sie hatten nach ihrer Operation noch telefoniert, bei der alles gut verlaufen war. Außerdem hätte sie bestimmt jemand angerufen, wenn etwas mit Tante Hilde passiert wäre. Ihre Eltern zum Beispiel, obwohl sie eher unregelmäßigen Kontakt zu ihrer Großtante pflegten. Und obwohl Josefines Eltern im Bergischen Land gar nicht so weit weg wohnten, sahen sie sich auch eher unregelmäßig. Wobei Josefine sich immer sehr freute, wenn ihre Mutter in den Buchladen kam und dann stapelweise Bücher bestellte, auch für ihre Freunde und Nachbarn. Bei den teuren Bildbänden hätte Josefine ihre Mutter manchmal am liebsten zu einer günstigen Alternative überredet. Eine typische Buchhändlermacke, als wäre nicht selbst ein prächtiger Gartenbildband ein bescheidener Luxus, an dem sich der Besitzer jahrelang erfreuen konnte. Wenn ihre Mutter ihr dann erklärte, dass die Freundin, die den einen Bildband für fünfzig Euro bestellt hatte, sich ansonsten auch kein T-Shirt unter fünfzig Euro kaufte, konnte sie den Gedanken an einen Gefälligkeitskauf getrost beiseitewischen. Die Beklommenheit angesichts des Umschlags ließ sich dagegen auch nicht mit dem Gedanken daran beiseitewischen, dass ihre Eltern sie informiert hätten, wenn etwas passiert wäre.