Das Haus der vergessenen Kinder - Clara Frey - E-Book

Das Haus der vergessenen Kinder E-Book

Clara Frey

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Beschreibung

Sie waren Feinde – bis sie sich verliebten. Doch ihre Liebe könnte nicht nur sie das Leben kosten.

Frankreich 1940. Als Antoine Mardieu in die Vichy-Regierung berufen und in den kleinen Ort Izieu versetzt wird, weiß er noch nicht, dass dies sein Leben grundlegend verändern wird. Denn dort lernt er Marguérite kennen, die im Kinderheim von Izieu arbeitet, und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Als er erfährt, dass sie eine aus Deutschland geflohene Jüdin ist, muss er seine bisherigen Ideale überdenken. Er erkennt, wie sehr er sich von seinen Vorgesetzten hat blenden lassen – doch kommt sein Sinneswandel noch rechtzeitig?
Gegenwart. Bei einem Segelkurs am Bodensee begegnen sich die Lehrerin Valerie und der französische Historiker Rick, der dort die Wahrheit über seinen verschollenen Großvater herausfinden will. Obwohl Valerie in festen Händen ist, verlieben die beiden sich leidenschaftlich ineinander. Es scheint jedoch eine Verbindung zwischen ihren beiden Familien zu geben, die den beiden Liebenden Jahrzehnte später zum Verhängnis werden könnte ...

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Buch

Frankreich 1940. Als Antoine Mardieu in die Vichy-Regierung berufen und in den kleinen Ort Izieu versetzt wird, weiß er noch nicht, dass dies sein Leben grundlegend verändern wird. Denn dort lernt er Marguérite kennen, die im Kinderheim von Izieu arbeitet, und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Als er erfährt, dass sie eine aus Deutschland geflohene Jüdin ist, muss er seine bisherigen Ideale überdenken. Er erkennt, wie sehr er sich von seinen Vorgesetzten hat blenden lassen – doch kommt sein Sinneswandel noch rechtzeitig?Gegenwart. Bei einem Segelkurs am Bodensee begegnen sich die Lehrerin Valerie und der französische Historiker Rick, der dort die Wahrheit über seinen verschollenen Großvater herausfinden will. Obwohl Valerie in festen Händen ist, verlieben die beiden sich leidenschaftlich ineinander. Es scheint jedoch eine Verbindung zwischen ihren beiden Familien zu geben, die den beiden Liebenden Jahrzehnte später zum Verhängnis werden könnte …

Autorin

Geboren in Augsburg, studierte Clara Frey in Würzburg und München Germanistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften. Schon als Kind lief sie stets mit einem Stift und einem Notizheft durchs Leben und notierte alles, was ihr wichtig erschien. Neben dem Schreiben gehören das Kochen und das Reisen zu ihren großen Leidenschaften. Clara Frey lebt mit ihrer Familie und diversen Haustieren in der Nähe des Bodensees und in der Provence.

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Clara Frey

Das Haus der vergessenen Kinder

Roman

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Für meine GroßelternJohann und Paula, Xaver und Victoria

Wir vergessen unsere Fehler leicht, wenn sie nur uns bekannt sind.

François de La RochefoucauldMaximen und Reflexionen

Lélinaz, Frankreich, April 1944

Noch lag ein zarter Schleier über der von Morgendunst verhüllten Landschaft der Bugey. Während in den Flussauen der jungen Rhône der Nebel dicht und zäh alles unter sich verbarg, begann sich ein Stück weiter oben, in den Kalkfelsen des über zweitausend Meter hohen Gebirgszugs der Chartreuse, der Vorhang bereits zu lüften. Dort, wo sich die Sonne bereits über die Hügel erhob, vermochten ihre wärmenden Strahlen die Feuchtigkeit der Nacht aufzulösen. Schon bald war alles in friedliches Morgenlicht gehüllt. Der Ruf der Hähne mischte sich mit vereinzeltem Hundegebell und dem Brüllen der Kühe, die gemolken werden wollten. Vogelgezwitscher erfüllte die Frühlingsluft, in den Dörfern Brégnier-Cordon und Izieu sowie den Höfen und Weilern rundherum begannen die Menschen, ihren täglichen Pflichten nachzugehen. Aus dem Kinderheim des Weilers Lélinaz hörte man den hellen Klang von Kinderstimmen.

»Mina, Claudine! Beeilt euch! Was seid ihr nur für Schlafmützen. Gleich gibt’s Frühstück.«

Léa Feldblum sah, wie sich unter den Bettdecken des Stockbettes im hinteren Teil des Schlafsaals etwas zu regen begann. Wenig später schaute der verstrubbelte Kopf der achtjährigen Mina Halaunbrenner aus dem oberen der beiden Betten.

»Aber heute sind doch Ferien«, protestierte die Kleine reichlich verschlafen. »Ich will noch nicht aufstehen!«

»Die Sonne scheint und wartet nur darauf, dass ihr sie begrüßt!«

Léa Feldblum begleitete ihre Worte mit einem gutmütigen Lachen. Gleichzeitig zog sie mit einem kräftigen Ruck an der Bettdecke, sodass Mina gar nichts anderes übrig blieb, als endlich aufzustehen. Ihre fünfjährige Schwester saß bereits in ihrem Nachthemd auf der Bettkannte und rieb sich verschlafen die Augen. Die anderen Mitbewohnerinnen des Schlafsaals waren längst angezogen und befanden sich draußen an dem steinernen Brunnen bei der Morgentoilette. Aus dem geöffneten Fenster hörte man ihr Kichern und munteres Plaudern. Léa nahm sich die Zeit und setzte sich neben Claudine auf den Bettrand. Deren nackte Füßchen baumelten einen Fingerbreit über dem Boden, während sie teilnahmslos einen unbestimmten Punkt im Raum fixierte. An den verquollenen Augen erkannte Léa, dass die Kleine auch in dieser Nacht wieder geweint hatte.

»Komm, ich helfe dir beim Anziehen«, schlug die Betreuerin vor und reichte Claudine einen der Wollstrümpfe, die sorgfältig, wie die anderen Kleidungsstücke auch, über dem Gitterende des Feldbettes hingen. Die beiden Mädchen hatten erst wenige Tage zuvor erfahren, dass ihr Vater und ihr ältester Bruder in einem deutschen Konzentrationslager ums Leben gekommen waren. Seitdem war ihr Heimweh nach der Mutter, der Schwester Monique und ihrem Bruder Alexandre noch unerträglicher geworden. Während Mina sich äußerlich nichts anmerken ließ, weinte Claudine viel und zog sich immer mehr in sich zurück. Léa, die sich gemeinsam mit ihrer Kollegin Marguérite um die kleineren der jüdischen Kinder in dem Waisenhaus kümmerte, versuchte, sie abzulenken. »Möchtest du nach dem Frühstück vielleicht die Ferkel sehen? Monsieur Perticoz meinte, dass ihr sie heute besuchen dürft. Julien und Marguérite werden euch begleiten.«

Die Aussicht auf einen Besuch im Stall des Nachbarbauern gemeinsam mit Marguérite hob Claudines Stimmung. Ihre verweinten Augen leuchteten sogar ein wenig, als sie endlich damit begann, sich anzuziehen. Sie liebte die Betreuerin, die immer gut gelaunt war, so viele lustige Geschichten und Lieder kannte und außerdem ihre Muttersprache sprach. Mit ihr konnten selbst traurige Tage schön sein. Und Julien, der Knecht der Perticoz, war auch ganz nett. Manchmal ließ er sie auf seinem Rücken reiten und machte Späße, die die Kinder zum Lachen brachten.

»Wo ist Marguérite? Warum ist sie nicht hier?«, erkundigte sich Claudine, die es plötzlich nicht mehr erwarten konnte, endlich den Tag zu beginnen.

»Sie wird gleich kommen«, versicherte Léa. »Sie hatte gestern frei und war unten im Dorf.«

»Bestimmt hat sie sich wieder mit Antoine getroffen«, erwiderte die Kleine kichernd. »Die beiden sind, glaub ich, verliebt! Marguérite wird immer ganz rot, wenn sie ihn ansieht. Das hab ich gesehen!«

Mina, die bereits fertig war mit dem Ankleiden, drängte ihre Schwester, sich zu beeilen. Auch ihr lag eine Frage auf der Seele.

»Und was ist mit Madame Zlatin?«, erkundigte sie sich schüchtern. »Sie hat versprochen, sich nach Mama und Alexandre zu erkundigen. Vielleicht bringt sie sie ja mit!«

»Sie kommt sicher heute oder morgen zurück«, meinte Léa freundlich. »Bestimmt hat sie auch gute Nachrichten für euch. Und nun geht runter in den Frühstücksraum. Paul hat frisches Brot gebacken.«

Mina nahm ihre Schwester an die Hand und machte sich auf den Weg, während Léa ihnen nachdenklich folgte. Sie hoffte, dass ihre Worte der Wahrheit entsprachen und Heimleiterin Sabine Zlatin gute Neuigkeiten mitbrachte. Sie waren nicht mehr sicher, seitdem die Deutschen nun auch in dieser Region alles kontrollierten. Ein Anflug von Wehmut überfiel Léa, als sie sich vorstellte, dass sich ihre Gemeinschaft nun bald wieder auflösen würde. In den Monaten, die sie hier mit den Kindern verbracht hatte, hatte sie sich an diesen Ort gewöhnt und auch sicher gefühlt. Der Weiler lag einsam im Hinterland von Chambéry, nicht allzu weit von der schweizerischen Grenze entfernt. Ob es wohl möglich war, noch einmal einen solch sicheren Platz zu finden?

Die Menschen, die in der Gegend lebten, hatten ihre Gruppe gut aufgenommen und auf vielerlei Weise unterstützt. Sie hatten nicht danach gefragt, woher sie kamen, obwohl es ihnen nicht verborgen geblieben sein konnte, dass sie Flüchtlinge waren, die sich vor der Gestapo und der Vichy-Regierung versteckten. Dass sie alle noch am Leben waren, hatten sie dem Einsatz und Geschick des Ehepaars Zlatin zu verdanken, das sich trotz aller Widrigkeiten nicht davon abhalten ließ, ihnen zu helfen.

An die hundert Kinder hatte das Waisenhaus von Izieu im Laufe der letzten Monate gesehen. Die meisten von ihnen waren nur kurze Zeit geblieben, bevor die Zlatins sie anderswo in Sicherheit gebracht hatten. Léa hatte es nie bereut, als sie sich damals gemeinsam mit Marguérite dazu entschlossen hatte, Sabine und Miron zu helfen. Obwohl sie täglich Gefahr liefen, entdeckt oder verraten zu werden, war ihnen niemals der Gedanke gekommen, die Kinder alleinzulassen. Für die meisten waren sie die einzigen Bezugspersonen, nachdem man sie von ihren Eltern getrennt hatte. Viele hatten Schreckliches durchgemacht und brauchten die Hinwendung und Fürsorge mehr noch als Essen und Trinken. Doch nun waren die Deutschen in die von den Italienern besetzte Zone eingedrungen, sodass die Kinder hier nicht länger sicher waren. Aus diesem Grund warteten sie alle sehnlichst auf Sabine Zlatin, die nach Montpellier gereist war, um über die Flüchtlingsorganisation neue Zufluchtsorte zu finden. Léa war sicher, dass ihr das gelingen würde.

Im Speisesaal herrschte ein munteres Durcheinander, während sich die gut vierzig Kinder zwischen vier und siebzehn Jahren versammelten. Der Tumult nahm noch zu, als Léon Reifmann mit zwei Jugendlichen eintraf, die er für die Ferien aus dem Collège in Belley abgeholt hatte. Léas Herz schlug ein wenig schneller, als sie den jungen Mann eintreten sah. Seine Schwester mit ihrem Sohn Claude und seine Eltern begleiteten ihn. Miron Zlatin begrüßte die Neuankömmlinge herzlich. Léon hatte viel zu erzählen, denn er hatte einige Wochen zuvor über Nacht untertauchen müssen, nachdem bekannt geworden war, dass die Deutschen verstärkt junge Männer als Zwangsarbeiter rekrutierten. In seinem Gepäck hatte er Briefe und Ansichtskarten für einige der Kinder.

»Machst du auch bei unserem Theaterstück mit?«, bestürmte ihn der zwölfjährige Jacques Benguigui. »Wir brauchen noch ein paar gute Ideen für das Osterstück.«

Auch sein Freund Barouk-Raoul Bentitou war ein begeisterter Schauspieler. Gemeinsam mit dem Betreuer hatten sie schon mehrfach Stücke einstudiert.

»Warum nicht?« Léon lachte. »Habt ihr denn schon eine Idee?«

»Wir spielen Drachentöter und Prinzessin«, sprudelte es aus Raoul hervor.

»Ich frage gleich mal Philippe, ob er uns den Film von Tarzan noch mal mit der Laterna magica zeigt«, stimmte Joseph Goldberg begeistert mit ein.

Der Koch der Kolonie, so nannte man das Anwesen auch, hatte den Kindern mit dem selbst gebauten Projektor schon oft eine Freude bereitet, indem er ihre auf Papierstreifen gefertigten Zeichnungen auf eine Leinwand projizierte. Die Stimmung wurde immer ausgelassener. Sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen freuten sich auf die bevorstehenden Ostertage ohne Verpflichtungen. Um endlich wieder etwas Ruhe in den Saal zu bekommen, klatschte Miron Zlatin in die Hände und forderte die Kinder auf, sich zum Frühstück an die Tische zu setzen. Der Geruch von frisch gebackenem Brot durchzog den Raum. Auf den Tischen standen Gläser mit selbst gemachter Marmelade und Frischkäse von Bauer Perticoz. In den Keramikkannen befand sich heiße Ovomaltine. Während sich die Kinder auf Kommando ans Essen machten, ging die Tür auf, und ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren trat ein.

»François«, wurde er überrascht von dem Kinderheimleiter begrüßt. »Hat dir Monsieur Bourdon etwa doch freigegeben?«

»Ja, Monsieur«, antwortete François verlegen. Sein eigentlicher Name war Fritz Loebmann. Doch den hatte er wie viele deutsche Kinder, die in diesen gefährlichen Zeiten im Ausland untertauchen mussten, abgelegt. Sein Französisch hatte allerdings einen unverkennbar deutschen Akzent. »Er hat mich gleich nach dem Melken hierhergeschickt.«

»Dann wirst du sicher Hunger haben. Setz dich zu Arnold und Théo an den Tisch.«

Die beiden älteren Jungen hatten ihm bereits Platz gemacht und schlugen ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Bist bestimmt froh, dass du dem alten Griesgram mal für eine Zeit entkommen kannst«, hörte Léa, die am Nebentisch saß, Arnold Hirsch sagen.

»Hm …« François nickte und griff gierig nach einem Stück Brot.

Er war kein Freund großer Worte. Dafür hatte er eine umso größere Leidenschaft für die Landwirtschaft und für praktische Dinge. Als einer der Bauern aus der Umgebung angeboten hatte, ab und zu Gemüse an das Waisenhaus zu liefern, wenn einer der Jungen ihm unentgeltlich zur Hand ginge, hatte er sich sofort als Freiwilliger gemeldet. Dabei wurde er von Lucien Bourdon ziemlich mies behandelt. Léa wusste, dass der Bauer nicht mit Schlägen sparte, wenn ihm etwas nicht in den Kram passte. Doch François ertrug sein Schicksal ohne Klagen, obwohl Monsieur Zlatin ihm mehrfach angeboten hatte, die Stellung aufzukündigen, wenn es ihm zu viel wurde. Vielleicht half ihm ja die Arbeit, über sein Schicksal hinwegzukommen. Das Leben in diesen Zeiten war nicht gerecht, vor allem nicht den Kindern gegenüber.

Während des Essens wurde es etwas ruhiger im Saal. Die Kinder unterhielten sich zwar weiterhin, doch nun in gedämpftem Ton. Da draußen die Sonne schien, beschloss Léa, mit den Kleinen später hinaus auf die Wiesen zu gehen, um ein paar Frühlingsblumen zu pflücken. Sie kannte eine schöne Stelle unten am Bach mit Schlüsselblumen, wilden Narzissen und blühenden Weidenkätzchen. Dorthin wollte sie die Kinder führen. Ihr Blick wanderte über die Ausläufer des zum Teil noch mit Schnee bedeckten Chartreuse-Massivs hinunter ins Tal, durch das sich in lichtem Grün die Rhône schlängelte. Sie nahm sich fest vor, die letzten Tage hier zu genießen. Wer wusste schon, wohin das Schicksal sie trieb.

Sie sah erneut auf die Uhr. Wo blieb nur Marguérite? Ihre Freundin war längst überfällig! Léa stand auf, um durch das rückwärtige Fenster nach ihr Ausschau zu halten. Ihr war nicht wohl dabei, wenn sie daran dachte, dass sie womöglich die ganze Nacht mit Antoine verbracht hatte. Was, wenn der Kerl ihre Freundin nun doch sitzen ließ? Ihre Befürchtungen waren unbegründet, denn sie entdeckte zwei Gestalten, die den Hügel herunterliefen. Es waren Marguérite und Antoine. Erleichtert winkte sie ihnen zu, als sich plötzlich Unruhe im Saal breitmachte. Sie sah Miron und Léon am Fenster, das nach vorne hinausging, stehen. Ihre Mienen wirkten wie erstarrt. Eilig durchquerte sie den Speisesaal, um zu erfahren, was sie beunruhigte. Über die Zufahrtsstraße von Brégnier-Cordon näherten sich mit hoher Geschwindigkeit zwei Lastwagen, gefolgt von einer dunklen Limousine der Gestapo.

TEIL 1 VERDRÄNGEN

1

Wie kann ich nur all das in Worte fassen, was ich doch selbst kaum zu begreifen vermag? Seit Tagen sitze ich an meinem verflixten Schreibtisch und versuche niederzuschreiben, was mein Leben mir in den letzten Monaten an wundervollen und letztlich doch so schmerzlichen Überraschungen bereitgehalten hat. Das Schicksal ist ein wankelmütiger Genosse – und manchmal schlägt es Kapriolen, die einen von den höchsten Höhen in die tiefsten Abgründe stürzen können. Doch was hilft es schon, in Selbstmitleid zu baden? Bin ich nicht Wissenschaftler geworden, weil mir Vernunft und nachweisbare Fakten immer einen festen Halt gegeben haben?

Ich muss dieses Kapitel in meinem Leben endlich abschließen. Aus diesem Grund schreibe ich all das auf, was in letzter Zeit so Verrücktes geschehen ist. Dann erst werde ich bereit sein für meine neue Zukunft. Schließlich sind die Koffer schon längst gepackt. In wenigen Tagen verlasse ich Frankreich, um in den USA ein neues Leben zu beginnen. Meine Freunde beneiden mich um die Chance, in Harvard eine Professur zu übernehmen. Doch für mich wird es nur eine Flucht sein, eine Flucht vor dem Glück, das ich verloren habe.

Verdammt! Meine Gefühle sind noch zu stark, als dass ich sie einfach beiseiteschieben könnte. Diese tiefe Melancholie hat sich wie ein dichter Nebelschleier auf meine Seele gelegt. Dabei war die letzte Zeit so erfüllt und aufregend gewesen, dass ich glaubte, das Glück für immer in den Händen halten zu können. Wie habe ich mich doch getäuscht! An die Stelle von Glück und Erfüllung sind Trauer und Enttäuschung getreten. Beinahe jede Minute frage ich mich, was ich anders machen würde, wenn ich noch einmal die Chance hätte, mich neu zu entscheiden. Ich weiß es einfach nicht.

Hätte ich den Anruf meiner Tante Adèle damals einfach ignoriert – was durchaus verzeihlich gewesen wäre, da ich mich gerade auf der Geburtstagsfeier meines besten Freundes Maxime befand – , dann wären wir womöglich niemals an den Bodensee gefahren, und ich hätte die Liebe meines Lebens nicht kennengelernt. Doch was nützt es, über vergangene Dinge nachzugrübeln? Wenn ich eines in der jüngsten Vergangenheit gelernt habe, dann, dass man im Nachhinein nichts ungeschehen machen kann.

Alles begann Anfang Juni. Ich hatte mich mit ein paar Freunden in einem angesagten Bistro am Montparnasse zu besagter Geburtstagsfeier eingefunden. Wir waren eine fröhliche kleine Runde ehemaliger Kommilitonen und feierten nicht nur Maximes Geburtstag, sondern auch den Umstand, dass er einige Tage zuvor Vater von Zwillingen geworden war. Dementsprechend ausgelassen war unsere Stimmung. Ich hatte schon zwei Gläser Champagner getrunken und fühlte zum ersten Mal seit meiner Trennung von meiner langjährigen Freundin Marie-Claire wieder so etwas wie Unbeschwertheit.

Obwohl wir beide uns einvernehmlich und als Freunde voneinander getrennt hatten, war es für mich nach neun Jahren gemeinsamer Zeit nicht leicht gewesen, plötzlich wieder für mich selbst verantwortlich zu sein. Ich fühlte mich oft allein, vermisste sogar Marie-Claires Chaos, das mich immer so sehr genervt hatte. Sie war eine Meisterin darin gewesen, ständig unsere Wohnung mit ihren Architektenentwürfen und ihrer abgelegten Kleidung zu fluten. Für mich als Ordnungsfanatiker war das ein Graus. Doch kaum saß ich in meinem neuen, penibel aufgeräumten Appartement, fehlte mir diese Unordnung, sodass ich gar keine Lust mehr verspürte, viel zu Hause zu sein. Aus diesem Grund hatte ich mir in den letzten Monaten angewöhnt, meine Forschungstätigkeit wieder ganz in die Bibliotheken zu verlegen. In meine Wohnung ging ich nur noch zum Schlafen.

»Richard, ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust«, begann Adèle unser Gespräch überraschend energisch.

Normalerweise war meine Großtante eher zurückhaltend und niemals fordernd. Wir standen uns sehr nahe, denn sie war für mich mehr Großmutter als Tante. Bei meinem Taufnamen nannte sie mich eigentlich nur, wenn sie ein wichtiges Anliegen hatte. Ansonsten nannte sie mich wie alle anderen einfach nur Rick. Das ließ mich sofort aufhorchen. Inmitten der lauten Unterhaltung meiner Freunde konnte ich sie kaum verstehen. Vor allem, als auch noch das Getöse der Kaffeemaschine von der Bar hinzukam. Ich stand auf, um mir ein ruhigeres Eckchen zu suchen.

»Tante Adèle! Geht’s dir gut? Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht bei dir gemeldet habe!«

Mich plagte mein schlechtes Gewissen, denn wir hatten an Weihnachten zum letzten Mal voneinander gehört. Das war für unsere Verhältnisse wirklich außergewöhnlich und nur meinen besonderen privaten Umständen geschuldet. Dabei war Adèle für mich seit dem Tod meiner Mutter anderthalb Jahre zuvor der wichtigste Mensch, den ich noch hatte.

»Hör zu, mein Junge«, begann Adèle, ohne auf meine Frage zu antworten. Sie sprach in einer bestimmten Art, die keine Widersprüche duldete. »Ich möchte, dass du mit mir so schnell wie möglich an den Bodensee fährst. Es ist sehr wichtig für mich! Verstehst du?«

»Ähm … nein.«

»Wir reisen zum Grab deines Großvaters! Meine Koffer sind so gut wie gepackt. Wann kannst du mich abholen?«

»Wie bitte?« Ich hielt ihren Vorschlag für einen Scherz. »Ich kann hier nicht so einfach weg. Lass uns in Ruhe darüber reden, wann ich es einrichten kann.«

»Dafür bleibt keine Zeit!«, kam es vom anderen Ende der Leitung.

Ich erschrak. »Bist du krank?«

»Nein, aber ich werde im Dezember fünfundneunzig Jahre alt. Da kann man nicht mehr viel aufschieben.« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass es ihr ernst war. »Also sieh zu, dass du schnell nach Grenoble kommst!«

»Aber Mamie …« Ich fühlte mich völlig von ihrem Vorschlag überrumpelt. »Du weißt doch gar nicht, ob Antoine dort überhaupt begraben liegt. Das ist nur eine Vermutung! Vor einem halben Jahr hieltest du meine Nachforschungen nur für Hirngespinste, was sie übrigens wahrscheinlich auch sind. Ich bin mir mittlerweile längst nicht mehr sicher, ob ich mich nicht von meinem Eifer habe in die Irre leiten lassen. Womöglich habe ich mich da in etwas verstiegen. Lass mich erst noch weitere Nachforschungen anstellen, bevor du dir die anstrengende Reise zumutest.«

»Mach dir darüber bitte keine Sorgen«, erklärte Adèle plötzlich weit weniger energisch. »Ich weiß genau, was ich mir noch zumuten kann. Ich möchte, dass wir gemeinsam dorthin fahren. Vielleicht können wir ja dann beide endlich unseren Frieden finden.«

Ich schluckte. Etwas in ihrer Stimme sagte mir, dass ich ihren Wunsch respektieren sollte. Im Nachhinein schalt ich mich dafür, dass ich ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Vor einiger Zeit hatte ich im Zuge meiner Forschungsarbeit als Historiker über französische Kollaborateure und Widerstandskämpfer während der Naziherrschaft im Zweiten Weltkrieg begonnen, auch ein wenig meinem verschollenen Großvater Antoine nachzuspüren – dem Bruder von Adèle, den weder meine Mutter noch ich jemals kennengelernt hatten. Wir kannten seine Geschichte nur aus Adèles Erzählungen. Demnach hatte er als junger Mann Widerstand gegen die Nazis geleistet, bevor er eines Tages spurlos verschwand.

Für meine Großtante, die damals noch ein junges Mädchen gewesen war, war dies eine Tragödie gewesen, vor allem, weil sie und Antoine sich besonders nahegestanden hatten. Seit dem Frühjahr 1944 hatte sie nichts mehr von ihm gehört. In seinem letzten Brief hatte er geschrieben, dass er sich in eine Frau namens Marguérite verliebt hatte. Ein knappes Jahr später war eine Bauersfrau aus dem Vercors bei ihr aufgetaucht und hatte ihr und ihrem frisch angetrauten Mann Gustave ein erst wenige Wochen altes Baby gebracht – meine Mutter Isabelle, die aus der Beziehung zwischen Marguérite und Antoine hervorgegangen war. Als Beweis diente eine Taschenuhr, ein Familienerbstück von meinem Urgroßvater.

Über den Verbleib von Antoine und Marguérite wusste die Bäuerin nicht viel zu sagen. Nach Adèles Erzählungen hatte ihr Bruder sein Leben im Kampf gegen die Nazis verloren. Das schien auch mir sehr wahrscheinlich. Tatsächlich hatte das unzugängliche Gebirge des Vercors gegen Ende des Krieges eine große Rolle für die Widerstandskämpfer der Résistance gespielt. Viele von ihnen waren damals von den Nazis gefangen genommen und erschossen worden, etliche in die Konzentrationslager nach Deutschland deportiert.

Als Historiker war es nur natürlich, dass ich die Geschichte meines Großvaters im Blickfeld behielt. Im Zuge meiner Recherchen war ich auf einen Aktenvermerk im Konzentrationslager von Dachau gestoßen, wo ein gewisser Antoine Mardi (möglicherweise ein Rechtschreibfehler seines Geburtsnamens Mardieu) aus Grenoble vermerkt war. Nicht nur die Namen, sondern auch das Geburtsjahr stimmten überein. Laut der Aufzeichnung war dieser Mann nach der Befreiung durch die Alliierten 1945 als Tuberkulosekranker zur Erholung auf die Insel Mainau im Bodensee gebracht worden, wo er an den Folgen seiner Krankheit vermutlich verstorben war. Das erklärte, weshalb er sich nie wieder gemeldet hatte.

Leider blieb das nicht mehr als ein vager Hinweis. Mit Sicherheit konnte man seine Identität erst feststellen, wenn man vor Ort noch mal die Fakten überprüfte und weitere Nachforschungen anstellte. Und genau das hatte ich meiner Großtante an Weihnachten vorgeschlagen. Ich glaubte, ihr damit einen großen Gefallen zu tun. Die Ungewissheit bezüglich Antoines Schicksal hatte Adèle nie losgelassen. Ich hatte stets das Gefühl gehabt, dass sie ihr immer noch schwer auf der Seele lag. Umso größer war meine Verwunderung, dass meine Großtante ganz anders reagiert hatte, als ich es erwartete.

Anstatt sich darüber zu freuen, dass ich etwas über ihren Bruder herausgefunden hatte, hatte sie zurückhaltend reagiert und gemeint, dass man die Vergangenheit vielleicht doch lieber ruhen lassen solle. Nach längerem Nachdenken erklärte ich mir es so, dass ihr der Gedanke, dass ihr geliebter Antoine fernab der Heimat allein an dieser schrecklichen Krankheit gestorben war, unerträglich schien. Vielleicht aber hatte sie auch nur Angst davor, dass meine Spur im Sande verlief und die geschöpfte Hoffnung in einer Enttäuschung endete. Davor wollte ich sie natürlich bewahren und hatte mir deshalb vorgenommen, weitere Nachforschungen zu betreiben.

Doch dann war die Trennung von Marie-Claire gekommen, der Umzug in eine neue Wohnung und noch dazu der Termindruck seitens meines Verlages, der darauf drängte, endlich das Manuskript für mein neues Buch zu erhalten. Ich hatte einfach andere Dinge zu tun gehabt, und sie hatte nicht wieder nachgefragt. Umso erstaunter war ich, dass sie selbst dieses Thema wieder aufbrachte und plötzlich meine Vermutungen für Fakten zu halten schien.

»Ich habe Angst, dass du enttäuscht werden könntest«, gab ich ihr noch mal zu bedenken. »Das, was ich herausgefunden habe, ist nur ein Indiz. Vielleicht habe ich mich ja auch getäuscht. Lass mich der Sache erst noch etwas gründlicher auf den Grund gehen, dann fahren wir gemeinsam hin …«

»Nein, Richard, es ist wichtig, dass wir es jetzt tun«, unterbrach mich Adèle ungehalten. Dann hörte ich, wie sie einen tiefen Seufzer tat. »Ich möchte einfach einen Ort haben, an dem wir uns gemeinsam von Antoine verabschieden können«, erklärte sie mir. »Du sollst deinen Großvater immer in guter Erinnerung behalten.«

»Das habe ich doch jetzt auch! Du hast so vieles über ihn erzählt, dass ich das Gefühl habe, ihn mein ganzes Leben zu kennen.«

»Es ist mir wichtig!« Meine Tante ließ nicht locker.

»Ich weiß nicht …« Der Gedanke, Paris gerade jetzt zu verlassen, widerstrebte mir. »Ich habe viele Verpflichtungen«, argumentierte ich. »Außerdem stehe ich wegen meines neuen Buches unter Termindruck, und die Bewerbungsfristen für die neuen Stellen an der Sorbonne laufen demnächst ebenfalls ab. Ich rechne mit Vorstellungsgesprächen und muss hier zur Verfügung stehen …«

»Ich habe dich bisher noch nie um etwas gebeten.« Adèles Stimme bekam etwas Forderndes, was gar nicht ihrem Wesen entsprach. »Aber dieses eine Mal werde ich es tun. Ich wünsche mir, dass du mit mir an den Bodensee fährst. Bitte tu mir den Gefallen und hake nicht weiter nach.«

Zwischenzeitlich war der Geräuschpegel in der Brasserie so laut geworden, dass ich mich gezwungen sah, nach draußen auf die Straße zu gehen. Es war ein wunderschöner Frühsommertag, die Straßencafés quollen über von Touristen und Geschäftsleuten, die ihre Mittagspause machten. Zwischen zwei Häuserzeilen fand ich eine schmalere Gasse, in die ich hineinging, um in Ruhe unser Gespräch fortsetzen zu können.

»Hör zu, Tante Adèle«, lenkte ich schließlich ein. »Wie wäre es, wenn wir Mitte Juli an den Bodensee fahren würden? Dann sind Semesterferien, und ich habe alles Wichtige hier erledigt.«

»Dann ist es vielleicht schon zu spät.« Ihre Stimme klang mit einem Mal so traurig. Das darauffolgende Schweigen machte es nur umso schlimmer. Ich fürchtete schon, sie hätte aufgelegt. Mit einem heiseren Räuspern machte sie sich schließlich doch wieder bemerkbar. »Es war vermutlich ein Fehler, dass ich dich einfach so überrumpelt habe. Nimm es mir nicht übel, mein Junge, wenn ich dich belästigt habe …«

Ihre Worte ließen plötzlich alle Alarmglocken in mir schrillen. »Tante Adèle, so warte doch!«

Erst jetzt wurde mir bewusst, wie wichtig ihr Anliegen tatsächlich für sie war. Doch sie hatte bereits aufgelegt. Ich überlegte, sie zurückzurufen, beschloss dann aber doch, es bleiben zu lassen. Die anderen warteten bereits mit dem Essen auf mich. Um mein Gewissen zu beruhigen, versuchte ich, das Gespräch als schrullige Laune abzutun. Alte Menschen hatten manchmal seltsame Gepflogenheiten. Nachdenklich begab ich mich zurück zu meinen Freunden. Ich erinnere mich noch genau. Es gab gegrillte Dorade mit Gemüse-Tempura. Nachdem ich meinen Platz wieder eingenommen und damit begonnen hatte, meinen Fisch zu zerlegen, fragte mich Maxime, weshalb ich denn so ein bedrücktes Gesicht machte. Ich erklärte ihm kurz die Umstände und verschwieg auch nicht mein schlechtes Gewissen.

»Kannst du wirklich nicht weg?«, fragte er mich auf seine direkte Art.

Maxime arbeitete als Manager in einem Elektronikunternehmen und war es gewohnt, die Dinge gleich auf den Punkt zu bringen. Ich stutzte. Mein Freund wusste genau, wie viel ich zu tun hatte: Meine Vorlesungen als Gastdozent, die Seminare und dann noch das Buchprojekt, das meine Zeit mehr als in Anspruch nahm. Dann erst verstand ich, was er damit meinte. Meine Arbeit an dem Buch machte mich keineswegs unabkömmlich. Die Recherchen waren größtenteils abgeschlossen und auf meinem Rechner archiviert. Die Gliederung stand, was mir noch fehlte, war ein aktueller Bezug zu dem Thema, der als Aufhänger dienen konnte. An diesem Punkt hatte ich mich leider etwas festgebissen und war noch auf keinen vielversprechenden Ansatz gestoßen.

»Eigentlich nicht«, gab ich widerwillig zu, »an meinem Buch kann ich überall arbeiten, und die Seminare laufen ebenfalls aus …«

»Dann solltest du deiner Tante den Gefallen tun und an den Bodensee fahren«, erklärte mir mein Freund mit einem Schlag auf die Schulter. »Du sagst doch selbst immer wieder, wie wichtig sie für dich ist. Außerdem wird dir ein wenig Abwechslung guttun. Seit deiner Trennung von Marie-Claire vergräbst du dich nur noch in staubigen Bibliotheken. Nutze die Gelegenheit und bekomm endlich wieder einen klaren Kopf, Rick.«

Seine nur allzu wahren Worte gaben den letzten Ausschlag für meine Entscheidung. Ich beschloss, seinen Rat anzunehmen. Adèle war der wichtigste Mensch in meinem Leben, seit meine Mutter kurz nach ihrem siebzigsten Geburtstag an Krebs gestorben war. Sie war immer für mich und meine Mutter da gewesen, auch als mein Vater uns verlassen hatte und nie wieder etwas von sich hören ließ. Ich war es ihr einfach schuldig, mich jetzt um sie zu kümmern.

2

Adrian, du schaffst das! Jetzt nicht aufgeben! Du musst das Ende des Taus mehrfach um den Poller wickeln und dann die letzte Schlaufe umgekehrt darüberlegen. So kann sich das Tau festziehen und nicht mehr lösen.«

Valerie machte es vor und löste den Knoten danach wieder, damit ihr Segelschüler es selbst versuchen konnte. Der Zwölfjährige stellte sich reichlich ungeschickt an, doch schließlich bekam er es doch hin und war sichtlich zufrieden mit seiner Leistung, auch wenn er es eigentlich nicht zeigen wollte.

»Du machst das gut«, lobte die Segellehrerin, bevor sie zu den anderen ging, um auch deren Boote zu kontrollieren. Als alle Jollen zufriedenstellend festgezurrt waren, rief sie die elf Kinder zusammen und verabschiedete sich von ihnen. »Das lief heute wirklich sehr gut. Ihr habt alle bewiesen, dass ihr mit euren Booten umgehen könnt«, ermunterte sie die Gruppe. »Ich gehe davon aus, dass ihr die Prüfung bestehen werdet. Und denkt dran: immer schön ruhig bleiben und genau auf die Kommandos des Prüfers hören. Wir treffen uns morgen pünktlich um zehn Uhr am Hafen. Nun genießt den Tag. Es ist herrliches Badewetter.«

Die Kinder zogen ihre grellorangefarbenen Rettungswesten aus und warfen sie auf einen Haufen. Dann liefen sie zu den wartenden Eltern. Valerie nahm die Westen und räumte sie in den Schuppen. Währenddessen kam Werner, der Besitzer der Segelschule, auf sie zu.

»Du scheinst die beiden Quertreiber in deiner Truppe ja richtig gut in den Griff bekommen zu haben«, bemerkte er anerkennend. »Selbst Adrian frisst dir mittlerweile aus der Hand. Wer hätte das noch vor ein paar Tagen gedacht!«

»Ich nehme den Jungen einfach ernst und setze ihm Grenzen. Man muss nur konsequent bleiben.« Valerie freute sich über das Lob.

»Du hast ein Händchen für Kinder. Da merkt man gleich, dass du eine ausgebildete Pädagogin bist. Wirklich schade, dass du uns im August schon wieder verlässt.«

»Alles hat mal ein Ende«, antwortete Valerie charmant.

Sie freute sich über Werners Lob. Im Laufe der letzten Monate war ihr der liebenswerte Sechzigjährige zu einem väterlichen Freund geworden. Ohne seine Unterstützung hätte sie womöglich nie wieder Spaß am Leben gefunden. Dafür war sie ihm sehr dankbar. Was für ein Glück, dass sie Werner im letzten Herbst auf einer Bootsmesse über den Weg gelaufen war, als sie an seinem Stand die Prospekte durchgeblättert hatte. Sie waren ins Gespräch gekommen. Dabei hatte sie ihm erzählt, was für eine begeisterte Seglerin sie war. Dann hatten sie begonnen, über ihre gemeinsame Leidenschaft zu fachsimpeln, und festgestellt, dass sie sich sympathisch waren. Am Ende ihrer Unterhaltung hatte er sie gefragt, ob sie den Sommer über bei ihm als Segellehrerin arbeiten wollte.

Sie hatte nicht lange darüber nachgedacht und zugesagt. Nach ihrem Burn-out im vorausgegangenen Jahr, dem eine tiefe Depression gefolgt war, war es ihre erste aktive Entscheidung gewesen. Dadurch, dass sie daraufhin für ein Jahr von der Schule in Berlin freigestellt worden war und gerade eine mehrwöchige Kur in einer psychosomatischen Klinik hinter sich hatte, war sie frei und konnte tun und lassen, was sie wollte. Der Klinikaufenthalt hatte sie zu der Überzeugung gebracht, dass sie Abstand zu ihrem früheren Leben brauchte und dafür ein grundsätzlicher Ortswechsel nötig war. Die Idee, für eine Weile von Berlin an den Bodensee zu ziehen, kam also wie gerufen.

Jonas war davon nicht besonders begeistert gewesen. Ihr langjähriger Freund hatte mehrfach versucht, ihr die Pläne wieder auszureden. »Du kannst dich genauso gut hier in Berlin erholen«, hatte er sie zu überzeugen versucht. »Hier bin ich in deiner Nähe und kann für dich da sein, wenn du mich brauchst.«

Doch Valerie wollte nicht auf ihn hören. Ihre Krankheit hatte sie zum Nachdenken gebracht. Auch über ihre Beziehung zu Jonas. Sie war sich plötzlich nicht mehr sicher, wie wichtig sie überhaupt noch für ihn war. Er stand kurz davor, als Teilhaber in eine angesehene Rechtsanwaltskanzlei einzusteigen, und war viel zu eingespannt, als dass er sich wirklich um sie kümmern konnte. Außerdem war ihr in der Klinik klar geworden, dass sie ihr Leben sehr oft nach seinen Wünschen ausrichtete und dabei ihre eigenen Bedürfnisse allzu leicht vergaß. Schon aus diesem Grund brauchte sie auch von ihm etwas Abstand.

Ihr Handy klingelte. Valerie winkte Werner zu und versprach ihm, rechtzeitig vor der Prüfung am kommenden Morgen wieder da zu sein. Sie schaute auf das Display. Es war Jonas. Als hätte er ihre Gedanken erahnt.

»Na endlich! Ich dachte schon, ich erreiche dich gar nicht mehr«, drang seine vertraute Stimme an ihr Ohr. Ganz selbstverständlich ging er davon aus, dass sie Zeit für ihn hatte. »In der Kanzlei ist die Hölle los, und trotzdem muss ich dauernd an dich denken! Ich kann gar nicht abwarten, bis der blöde Sommer endlich zu Ende ist und du wieder zurück in Berlin bist.«

»Ich bin hier sehr glücklich«, widersprach Valerie leicht verstimmt. »Nun gönn mir doch meine kleine Auszeit!«

»Das fällt mir schwer. Ich hoffe immer noch, dass du schon ein wenig früher wieder zurückkommst! Segeln kannst du doch auch auf dem Wannsee.«

»Ach, Jonas, nun fang nicht schon wieder damit an.« Valerie spürte ihren Unmut wachsen. Auf dieses Thema kamen sie bei fast jedem ihrer Telefonate zu sprechen. Warum konnte er ihre Entscheidung nicht einfach akzeptieren? Langsam ging ihr diese Masche auf die Nerven. Es war ja schön zu wissen, dass er sie vermisste, aber sie brauchte eben auch ihre Freiräume. »Mir geht es gut, ich benötige die Zeit, bevor ich wieder zurückkommen kann«, antwortete sie gebetsmühlenartig. Auch wenn sie sich bemühte, gelang es ihr nicht, den Ärger in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Jonas schien es endlich zu bemerken. »Das weiß ich doch. Aber es fällt mir eben schwer, mich noch länger zu gedulden.« Als sie nicht antwortete, kam er auf den Grund seines Anrufs zu sprechen. »Was hältst du davon, wenn ich das Wochenende wieder bei dir am See verbringe?«, überraschte er sie gut gelaunt.

Sein Vorschlag traf Valerie wie aus heiterem Himmel. Jonas hatte sie erst zwei Wochen zuvor besucht, und die Begegnung war alles andere als harmonisch gewesen. Sie hatte seinen Besuch nicht gerade in bester Erinnerung. Möglicherweise war ja das schlechte Wetter daran schuld gewesen. Sie hatten die meiste Zeit in ihrem beengten Appartement verbringen müssen und waren sich dabei gehörig auf die Nerven gegangen. Jonas hatte nicht aufgehört, ihr ihr momentanes Leben madig zu machen. Konstanz, der See, ja selbst ihre neuen Freunde fanden seine Missbilligung. »Alles ist hier so schrecklich kleinkariert«, hatte er herumgemäkelt, bis ihr endlich der Geduldsfaden gerissen war.

Irgendwann hatten sie nur noch gestritten, bis Jonas schließlich abgereist war. Mehrere Tage hatte sie seine Anrufe ignoriert, bevor sie sich wieder vertragen hatten. Allerdings hatte sie darauf bestanden, sich erst einmal nicht mehr zu treffen. Er schien ihre Gedanken zu erraten.

»Tut mir leid, dass ich mich bei meinem Besuch wie ein Idiot benommen hab«, murmelte er zerknirscht. »Ich war einfach schlechter Laune. Ich hab dir doch erzählt, dass ich gerade Ärger mit meinem Seniorpartner hab. Diesen Unmut vom Büro hab ich bedauerlicherweise auf dich übertragen. Das tut mir wirklich leid.«

»Schon in Ordnung! Ich war auch nicht gerade nett zu dir.« Valerie fiel es schwer, nachtragend zu sein. Sie hatte Jonas längst verziehen, doch sie mochte es nicht, wenn er Dinge für sie beide entschied, ohne sie vorher zu fragen. »Leider hab ich dieses Wochenende keine Zeit. Ich hab schon was anderes vor. Die Segelschule braucht mich.«

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, doch das brauchte Jonas nicht zu wissen. Sie hatte sich mit Werner zum Training verabredet. Der Wetterbericht versprach für das Wochenende guten Wind, den sie nutzen wollten, um sich auf die große Regatta vorzubereiten, an der sie teilnehmen wollte. Sie waren drauf und dran, die Deutsche Meisterschaft im 470er zu gewinnen. Doch darüber konnte sie mit Jonas schlecht reden. Ihr Freund war eifersüchtig auf Werner, auch wenn ihr Segelpartner gut und gern ihr Vater sein könnte.

»Dann wird die Segelschule eben mal ein Wochenende ohne dich auskommen müssen«, beharrte er fröhlich, ohne auf ihren Einwand einzugehen. »Ich hab den Flug schon gebucht. Samstag gegen Mittag lande ich in Friedrichshafen. Glaub mir, du wirst es nicht bereuen. Vertrau mir und lass dich einfach überraschen!«

»Du kannst nicht einfach so über mein Leben bestimmen«, protestierte Valerie. Doch ihr Widerstand begann bereits zu bröckeln. Jonas schaffte es einfach immer wieder, sie um den Finger zu wickeln. »Du hättest mir rechtzeitig Bescheid geben müssen. Wir hatten ausgemacht, dass du meine Entscheidungen künftig respektierst.«

»Liebes, ich wollte dich wirklich nicht überrumpeln. Ich hab für dich, nein für uns, eine Riesenneuigkeit.« Seine Euphorie war so mitreißend, dass sie es nicht schaffen würde, ihm einen Korb zu geben. Doch so leicht wollte sie es ihm auch nicht machen, deshalb schwieg sie. »Wenn es dir nicht passt, verschieben wir unser Wiedersehen eben auf nächste Woche«, hörte sie ihn schließlich voller Enttäuschung vorwurfsvoll sagen. »Allerdings wird es nicht dasselbe sein.« Nur mit Mühe schaffte sie es, ihn noch weiter zappeln zu lassen. »Ich hab so Sehnsucht nach dir«, gestand er ihr. »Mir ist so vieles seit unserer letzten Auseinandersetzung klar geworden. Ich hab Fehler gemacht, die ich unbedingt wiedergutmachen möchte!« Sie hörte, wie er schluckte. »Ich hab Angst, dich zu verlieren!«

Damit hatte er sie auch schon wieder an der Angel. Wie immer, wenn Jonas diesen enttäuscht klingenden Ton eines kleinen Jungen anschlug, schrumpfte Valeries Widerstand in sich zusammen. Sofort begann sie zu grübeln. Der Streit vor zwei Wochen war schließlich auch auf ihre Kappe gegangen. Sie hatte Dinge zu ihm gesagt, die sie im Nachhinein bereute. Jonas war der zuverlässigste Mensch, den sie außer ihren Eltern kannte. Vielleicht war sie ungerecht, wenn sie ihn so harsch zurückwies. Sie liebte ihn schließlich. Und das Training mit Werner konnte sie verschieben.

»Also gut«, lenkte sie schließlich ein. »Dann komm am Wochenende. Ich werde in der Segelschule Bescheid geben.«

»Du wirst es nicht bereuen. Das verspreche ich dir.« Jonas’ Stimme klang sofort wieder völlig unbeschwert.

Richtig freuen konnte Valerie sich jedoch nicht. Sie kam mit ihm überein, ihn vom Flughafen abzuholen, dann beendeten sie das Gespräch.

Valerie war am Ende des Stegs bei ihrem Fahrrad angekommen und machte sich daran, es aufzuschließen. Der Tag war viel zu schön, um gleich nach Hause zu fahren. Sie nahm sich deshalb vor, schwimmen zu gehen. Schnell schob sie ihr Rad aus der Halterung auf den Uferweg und entdeckte dabei einen Interessenten, der den Anschlag ihrer Segelschule studierte. Da Werner auf jeden neuen Kunden angewiesen war, beschloss sie, ihn anzusprechen.

»Lust aufs Segeln?«

Der Mann war so vertieft ins Lesen, dass er einen Augenblick brauchte, bis er auf ihre Frage reagierte.

»Ich … interessiere mich tatsächlich dafür«, antwortete er zerstreut. Valerie erkannte sofort an seinem Akzent, dass er Franzose war. Allerdings sprach er ein ausgezeichnetes Deutsch. Dann wandte er sich ihr zu und sah sie mit einem offenen Lächeln an. »Arbeiten Sie hier?«

Valerie schätzte ihr Gegenüber auf Ende dreißig. Obwohl es ziemlich heiß war, trug der Mann ein Sakko über seinem T-Shirt.

»Ich gebe hier Unterricht«, bejahte sie, »die Segelschule gehört dem Mann dort auf dem Steg. Er heißt Werner Nothelfer. Wenn Sie einen Kurs machen wollen, müssen Sie sich an ihn wenden.«

»Aber ich kann darauf bestehen, dass Sie meine Segellehrerin werden, oder?«, fragte er charmant. Mit leicht schief gelegtem Kopf wartete er auf ihre Antwort. Erst als er ihr zuzwinkerte, begriff sie, dass er mit ihr flirtete. Sie hatte ganz vergessen, wie leicht es war, mit französischen Männern ins Gespräch zu kommen. Als sie nicht sofort reagierte, half er ihr auf die Sprünge. »Verzeihung, Sie kennen mich natürlich nicht! Mein Name ist Richard Mardieu. Ich komme aus Paris und mache hier für ein paar Tage mit meiner Großtante Urlaub. Wir wohnen in einer Ferienwohnung hier in der Nähe. Ich wollte die Zeit nutzen, um mir mit dem Segeln einen Kindheitstraum zu erfüllen. Helfen Sie mir dabei?«

Valerie gefiel seine unbekümmerte Art. »Selbstverständlich! Das ist ja mein Job.« Sie lächelte nun ebenfalls. »Sind Sie denn schon mal gesegelt?«

Rick zuckte mit den Schultern. »Ich bin wahrscheinlich schon öfter an Land hingesegelt, als mit dem Boot auf dem Wasser gewesen. Sagt man so?«

»Sie sprechen sehr gut Deutsch«, entgegnete Valerie, ohne direkt auf seinen Scherz einzugehen. Sie versuchte, einen möglichst geschäftsmäßigen Eindruck zu hinterlassen. Schließlich war er ein potenzieller Kunde, und mit Kunden flirtete sie prinzipiell nicht. »Morgen Nachmittag beginnt ein Anfängerkurs. Wenn Sie wollen, können Sie sich einschreiben. Fragen Sie Werner. Er wird Ihnen alles mitteilen, was Sie wissen müssen.« Sie nickte ihm zum Abschied zu und schwang sich auf ihr Fahrrad.

3

Knapp eine Woche nach jenem denkwürdigen Telefongespräch machte ich mich also von Paris auf an den Bodensee. In Grenoble packte ich meine unternehmungslustige Großtante in meinen nostalgischen VW-Bus, den ich mir von meinem ersten selbst verdienten Geld zugelegt hatte. Diese Reminiszenz an längst vergangene Hippietage hatte mir schon immer ein Gefühl von Freiheit gegeben. Ich hatte den Bus ausgebaut und nach meinen eigenen Bedürfnissen ausgestattet. Adèle liebte den Oldtimer beinahe genauso wie ich, auch wenn er mir immer wieder unvorhergesehene Pannen bescherte. Im Laufe der Jahre durfte ich jede einzelne Schraube meines Vehikels kennenlernen, was mich jedoch nicht davon abhielt, es in mein Herz zu schließen.

Ich hatte anfangs Skrupel, Adèle die weite Reise an den Bodensee damit zuzumuten, und bot ihr an, einen bequemeren Mietwagen zu besorgen, doch davon wollte die alte Dame nichts wissen. »Dein Bus ist genau das Richtige für unsere Reise«, meinte sie mit ihrem schelmischen Lächeln. »Sein Alter verschafft mir die Illusion, jünger zu sein, als ich bin, und das ist genau das, was ich jetzt brauche.« Also kutschierten wir quer durch die Schweiz über Genf, Lausanne, Bern und Zürich an den Bodensee.

Die Fahrt dorthin kam mir zunächst wie ein kleiner Ausflug in meine Kindheit vor. Solange ich mich erinnern konnte, hatten meine Mutter und ich die Sommer in Grenoble bei Adèle verbracht und die Gelegenheit genutzt, danach für ein oder zwei Wochen an einem der vielen Seen des westlichen Alpenraums zu campieren. Herrliche Ferien in beschaulicher Ruhe mit Angelausflügen und Wanderungen in die umliegenden Berge. Aus dieser Zeit stammte meine Begeisterung für Campingreisen.

Für Adèle und mich war dies nun die erste Reise in jenen Teil Deutschlands, und wir waren beide angenehm überrascht, als wir unser Ziel am frühen Nachmittag erreichten. Sowohl die Größe als auch die Grenzlage zu drei Ländern machen den See zu etwas Besonderem. Streng genommen besteht das über sechzig Kilometer lange Gewässer aus zwei Seen und einem sie verbindenden Flussabschnitt, dem Rhein, der aus den Bergen kommend quer durch den See fließt. Man spricht vom Obersee oder eigentlichen Bodensee, dem Seerhein und dem Untersee. Auf der schweizerischen und österreichischen Seite wird der Obersee von Bergen umrahmt, während das gegenüberliegende deutsche Ufer von Weinbergen und sanft gewelltem Hügelland gesäumt wird. Zwischen Obersee und Untersee ragt wie eine Art Halbinsel der Bodanrück auf und lässt den westlichen Teil des Sees wie zwei lange Arme aussehen.

Als wir uns von Konstanz her zum ersten Mal dem See näherten, stachen mir zuerst die vielen Fähren und Segelboote ins Auge. Sie bevölkerten den Obersee ebenso wie die Unmengen von Touristen, die an seinen Ufern entlangflanierten. Alles machte einen bemerkenswert durchorganisierten Eindruck, wie wir es in Frankreich höchstens an den Schlössern der Loire oder in einem Museum erleben. Überall gab es Schilder und Tafeln mit Hinweisen, damit sich die Urlauber gut zurechtfanden. Zahlreiche Radfahrer in allen Altersklassen waren unterwegs. Besonders bemerkenswert fand ich die Fahrradanhänger junger Eltern, in denen oftmals zwei Kleinkinder gleichzeitig transportiert wurden. Auch in der von mir angemieteten Ferienwohnung war alles sorgfältig beschriftet. Adèle registrierte es mit dem ihr eigenen Humor.

»Schau nur, Rick, hier ist sogar das Toilettenpapier ordentlich gestapelt«, bemerkte sie schmunzelnd. »Selbst in den Besteckkästen in der Küche ist alles beschriftet. Als ob wir Messer von Gabeln nicht unterscheiden könnten.«

Ich hatte meine Tante seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr so lebhaft und unternehmungslustig erlebt und freute mich umso mehr, dass ich mich auf unser kleines Abenteuer eingelassen hatte. Maxime hatte vermutlich recht. Ein wenig Erholung würde auch mir guttun. So nahm ich mir vor, neben der Arbeit an meinem neuen Buch und den Recherchen nach meinem Großvater auch meine Segelkenntnisse zu vertiefen. Bezüglich meines Großvaters hatte ich ein mulmiges Gefühl. Im Grunde genommen gab es außer jener Namensähnlichkeit und meinen Vermutungen keinerlei Beweise. Es stand noch lange nicht fest, dass Antoine auf der Mainau gestorben war. Aus Adèles emotionalen Erzählungen und den paar Fotos, die von ihm existierten, hatte ich mir im Laufe der Jahre ein ganz eigenes Bild von Antoine Mardieu gebildet.

Bereits als Junge war mein Großvater für mich ein Held gewesen, den sein Mut viel zu früh aus dem Leben gerissen hatte. Adèle hatte von ihrem Lieblingsbruder viele kleine Anekdoten über ihre gemeinsame Jugend zu erzählen gehabt, die ihn mir in meiner Vorstellung ungeheuer sympathisch gemacht hatten. Von ihren vier Brüdern war er derjenige gewesen, der immer zu einem Schabernack aufgelegt war. Überhaupt mussten Adèle und Antoine sehr vieles gemeinsam gehabt haben. Im Gegensatz zu den Geschwistern und anderen Mitgliedern der Uhrmacherfamilie, aus der sie stammten, fühlten sich die beiden schon früh der Kunst verbunden. Adèle zeichnete für ihr Leben gern und interessierte sich für Mode, während Antoine musikalisch begabt war. Hätte das Schicksal es ihm erlaubt, wäre er Musiker geworden und nach Paris gegangen. Doch in den damaligen Zeiten wurde von ihm erwartet, dass er in die Fußstapfen seines Vaters trat und Uhrmacher wurde.

Von der Zeit während des Zweiten Weltkrieges wusste Adèle leider nur wenig zu berichten. Ich erfuhr lediglich, dass Antoine beim Angriff der Deutschen auf Frankreich nicht zur Armee eingezogen worden war, weil seine älteren Brüder bereits dienten. Nach der Besetzung Frankreichs war er von Grenoble weggezogen und hatte sich in Lyon dem Untergrund angeschlossen. Ab und zu hatte er Adèle noch einen Brief geschrieben, der letzte hatte sie Anfang April 1944 aus Belley erreicht. Möglicherweise war Antoine im Zuge der Razzien, die die Gestapo in der Region durchführen ließ, gefangen genommen und später deportiert worden.

Zu meinem Leidwesen hatte Adèle diese Briefe vernichtet, damit sie nicht in falsche Hände gerieten, sodass sie mir keinen weiteren Aufschluss geben konnten. Um die Aussage, dass mein Großvater möglicherweise als politischer Gefangener in das Konzentrationslager Dachau gebracht und von dort nach der Befreiung durch die Alliierten tuberkulosekrank auf die Insel Mainau verlegt worden war, zu bestätigen, musste ich die Archive durchforsten und darauf hoffen, weitere Hinweise zu finden. Und da ich schon einmal vor Ort war, bot es sich auch an, die Geschichte der Insel Mainau während des Naziregimes etwas näher unter die Lupe zu nehmen.

Ähnlich wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es auch in Frankreich mit einem Mal keine Hitler-Sympathisanten mehr gegeben. Diesem Phänomen auf den Grund zu gehen hatte ich mir zur Aufgabe gestellt. Die Mainau bot genügend Material, um sie in meine laufenden Forschungen sinnvoll einzubauen. Die Bodensee-Insel war seit 1930 in schwedischem Besitz und gab sich den Anschein, während des Dritten Reiches neutral gewesen zu sein. Doch dies war offenbar nicht der Fall gewesen.

Nachdem der Sohn des Prinzen Wilhelm von Schweden, Graf Lennart Bernadotte, eine Bürgerliche geheiratet hatte, überließ ihm der Vater als Abfindung die Insel Mainau zur Nutzung. Zu Beginn der Nazizeit erlebte die Insel einen touristischen Aufschwung, der auch in der führertreuen Freizeitorganisation »Kraft durch Freude« in der Deutschen Arbeiterfront begründet war. Ab Sommer 1943 verpachtete der schwedische Graf die Mainau offiziell an die Nazis. Unter deren Oberhoheit blieb die Insel bis zum Ende des Krieges. Dem Grafen brachte dies eine Wertsteigerung seiner Immobilien. Die Nazis bauten eine Wasserleitung und setzten Gebäude instand.

Eine Zeit lang diente die Insel als Zufluchtsort für die Führungsgruppe des nazitreuen Vichy-Regimes um Parteiführer Jacques Doriot, als dieser auf der Flucht vor den einmarschierenden Alliierten war. Doriot und seine Leute steuerten von der Mainau aus mehrere Geheimdienstschulen in Süddeutschland und versuchten, Untergrundkämpfer auszubilden, die in Frankreich hinter den Linien der französischen Armee Sabotageakte ausführen und die Rückeroberung Frankreichs vorbereiten sollten.

Die Insel Mainau als Wolf im Schafspelz – das war ein interessanter Aspekt, den ich in mein Buch einbauen konnte. Noch vor meiner Abreise hatte ich aus diesem Grund Kontakt zu einem Historiker der Städtischen Museen Konstanz aufgenommen und ihn gebeten, Einblick in die Archive nehmen zu dürfen. Ebenso hatte ich die Pressestelle der Grafen Bernadotte auf der Insel Mainau angeschrieben, jedoch von dort noch keine Antwort erhalten. Es gab also eine Menge für mich zu tun.

Die Ferienwohnung, die ich für uns gemietet hatte, lag an einem schönen Wiesengrundstück direkt am See. Wie sich herausstellte, war unsere Wahl ein Glücksgriff gewesen, denn unsere Vermieterin Therese Hufnagel, eine bodenständige, herzliche Frau Mitte siebzig, und Adèle schlossen gleich bei der Begrüßung Freundschaft. Frau Hufnagel hatte als junges Mädchen ein Jahr als Au-pair in Toulouse gearbeitet und war deswegen ganz versessen darauf, ihre Französischkenntnisse aufzufrischen. Sie lebte gemeinsam mit ihrem Mann Otto, einem ehemaligen Bodenseefischer und Obstbauern, im selben Haus und bot sofort an, meiner Tante Gesellschaft zu leisten, wenn ich etwas zu erledigen hatte.

Mir kam dieser glückliche Umstand mehr als gelegen, denn so wusste ich meine Tante in guten Händen, wenn ich sie allein ließ. Während unserer kurzen Reise war mir klar geworden, dass Adèle sich zwar alle Mühe gab, auf mich einen munteren und gesunden Eindruck zu machen, doch in Wahrheit war sie keinesfalls so gut beieinander, wie sie vorgab. Ihre Kurzatmigkeit machte mir ebenso Sorgen wie ihre häufige Müdigkeit. Außerdem war sie nur noch schlecht zu Fuß – dummerweise weigerte sie sich standhaft, eine andere Gehhilfe als einen Stock in Anspruch zu nehmen.

Die Wohnung bot allen Komfort, den wir benötigten. Außer einem gemütlichen Wohnzimmer mit einer offenen Küche, die durch eine Theke abgetrennt war, verfügte sie über zwei großzügige Zimmer und eine Terrasse mit Seeblick. Auf den Gartentisch hatte uns Frau Hufnagel selbst gebackenen Träubleskuchen, wie sie Johannisbeerkuchen hier nannten, und eine Flasche hausgemachten Apfelsaft gestellt.

»Mon Dieu, kaum zu glauben, wie gastfreundlich die Menschen hier sind«, bemerkte meine Tante begeistert und schlug vor, gleich von dem Kuchen zu kosten, da wir nicht zu Mittag gegessen hatten.

Das Wetter lud dazu ein, auf der Terrasse zu sitzen. Sie ging auf ein weitläufiges Rasenstück über, das zum See hin von Weiden begrenzt wurde. Zwischen den herunterhängenden Zweigen konnte man auf dem Wasser weiße Segel ausmachen.

Der Kuchen war hervorragend. Die Säure der Johannisbeeren wurde durch einen saftigen Haselnussteig und eine lockere Baiserschicht aufgefangen. Nur Kaffee fehlte noch zu unserem Glück. Ich schlug vor, gleich nach unserer kleinen Stärkung in die Stadt zum Einkaufen zu fahren.

»Wenn du möchtest, können wir danach noch einen Abstecher auf die Mainau machen«, sagte ich voller Tatendrang.

Doch Adèle winkte ab. »Für mich ist es heute genug. Ich würde gern einfach nur hier sitzen und auf den See blicken. Frau Hufnagel will später noch einmal vorbeisehen. Ich bin also bestens versorgt. Um Antoine kümmern wir uns morgen.«

»Gut, dann besorge ich uns unterwegs etwas Feines zum Abendessen. Auch wenn du es nicht glauben magst, ist aus mir im Laufe der Jahre ein ganz passabler Koch geworden. Marie-Claire liebte es, von mir bekocht zu werden, und sie war ganz schön anspruchsvoll.«

»Vermisst du sie sehr?« Es war schwer, vor Adèle Geheimnisse zu bewahren.

»Nicht so sehr, wie ich bis vor Kurzem noch dachte«, gab ich zögernd zu. »Anfangs konnte ich es zu Hause nicht gut allein aushalten. Ich war dauernd unterwegs und habe versucht, mich abzulenken. Aber jetzt geht es mir tatsächlich wieder ganz gut. Vor allem, seitdem ich erfahren habe, dass Marie-Claire einen neuen Freund hat. Er scheint ein netter Typ zu sein und passt besser zu ihr, als ich es je getan habe. Er ist in derselben Branche tätig, und sie haben viel mehr Gemeinsamkeiten, als wir je hatten.«

»Oft ziehen sich Gegensätze erst einmal an, bevor man merkt, dass man doch nicht zueinander passt«, sinnierte Adèle. »Gustave und ich waren auch sehr unterschiedlich. Doch wir haben gelernt, uns in unseren Eigenheiten zu akzeptieren. Das war nicht immer leicht.« Ihr Blick wurde mit einem Mal wehmütig. Doch dann wechselte sie das Thema. »Ob wir Antoines Namen auf einem Gedenkstein finden werden?«, fragte sie unsicher.

»Das werden wir schon bald wissen. Aber selbst wenn er dort nicht verzeichnet ist, heißt das noch lange nicht, dass er nicht dort begraben wurde. Möglich, dass er einer der acht Toten ist, die bis heute noch nicht identifiziert sind«, versuchte ich, Adèle Mut zu machen. »Uns bleiben mehrere Möglichkeiten, um der Sache auf den Grund zu gehen.« Um sie etwas abzulenken, erzählte ich ihr von meinem geplanten Treffen mit dem Leiter des hiesigen Stadtmuseums, der mir in Aussicht gestellt hatte, das dortige Archiv durchforsten zu dürfen. Adèle hörte mir aufmerksam zu. »Wir haben einen vielversprechenden Anhaltspunkt«, behauptete ich entgegen meiner wahren Überzeugung. »Wenn dieser Antoine Mardi, dessen Name auf der Liste in Dachau stand, Großvater ist, hat er die Befreiung des dortigen KZs durch die Alliierten erlebt. Das beweisen die Lagerlisten. Außerdem wissen wir, dass er in der Krankenstation untergebracht war, deren Insassen auf die Insel Mainau gebracht wurden. Uns fehlt lediglich ein Hinweis, dass er auch wirklich hier angekommen ist. Vielleicht stoße ich ja auf eine Krankenakte oder etwas Ähnliches.«

Ganz so einfach, wie ich es meiner Tante darstellte, war der Sachverhalt natürlich nicht. Kurz nach Kriegsende waren die Zustände im Konzentrationslager Dachau chaotisch und hygienisch so katastrophal gewesen, dass dort Typhus ausgebrochen war. Um die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen, hatten die Amerikaner eine Quarantäne über das Lager verhängen müssen, was bedeutete, dass dreißigtausend Häftlinge zwar theoretisch befreit worden waren, aber praktisch weiterhin im Lager bleiben mussten. Aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem amerikanischen General Patch und dem französischen Artilleriegeneral Devinck durften die französischen Gefangenen erst in ihre Heimat gebracht werden, nachdem die Quarantäne aufgehoben war. Unter strengen Auflagen wurden die Häftlinge in die jeweiligen Besatzungszonen verlegt. Die Franzosen unterstanden der 1. Französischen Armee.

Der in Lindau am Bodensee residierende Oberkommandierende, General Jean de Lattre de Tassigny, ließ am 17. Mai 1945 die Inseln Reichenau und Mainau für die Unterbringung von befreiten KZ-Häftlingen aus Dachau requirieren. Etwa viertausend Franzosen kamen damals an den Bodensee. Das hieß jedoch nicht, dass man jedes einzelne Schicksal dokumentiert hatte. Ich machte mir da keine großen Illusionen. Meine Nachforschungen über Antoine Mardieu würden zu einer Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen werden. Doch ich wollte Adèle nicht entmutigen, also gab ich mich zuversichtlicher, als ich es war.

»Vielleicht ist es auch gar nicht notwendig, dass wir alles herausfinden«, bemerkte Adèle nachdenklich. »Vielleicht sind wir ja nur hier, um endlich einen Schlussstrich zu ziehen.«

Damit endete unsere Unterhaltung, und ich beschloss, ein wenig durch die Stadt zu flanieren, um einige Einkäufe zu tätigen. Es war ein lauer Abend, ich genoss die heitere Stimmung am See. Über den Uferweg flanierte ich in Richtung Stadtmitte und stieß dabei auf eine Segelschule, die sofort meine Aufmerksamkeit weckte, weil sie auch Anfängerkurse anbot. Eine Horde begeistert plappernder Kinder stürmte gerade auf ihre Eltern zu, die sie wohl vom Segeln abholten. Auf jeden Fall schienen sie Spaß zu haben. Interessiert studierte ich auf der Anschlagstafel die Angebote.

»Lust aufs Segeln?«, hörte ich eine frische Stimme hinter mir.

Ich wandte mich überrascht um und fand mich einer attraktiven jungen Frau gegenüber, deren dichte, lockige Haare zu einem wuscheligen Knoten am Hinterkopf geschlungen waren. Sie erklärte, sie sei Segellehrerin, und verwickelte mich in ein Gespräch. Ihre grünen Augen blitzten auf, während ich bereitwillig auf die Unterhaltung einging. Es machte Spaß, sie ein wenig aufzuziehen, und im Handumdrehen war mir klar, dass ich nirgendwo anders Segeln lernen wollte als bei ihr.

4

Adèle saß im überdachten Bereich der Terrasse und blickte gedankenverloren auf den See, dessen weiche Wellen sanft ans Ufer plätscherten. Die Weiden am Strand zogen lange Schatten und trugen ebenso zu der friedlichen Stimmung bei wie der Gesang der Vögel, der jetzt am Spätnachmittag, nach dem Abklingen der Hitze, wieder zugenommen hatte. Da ihr kühl geworden war, hatte sie sich eine Strickjacke übergezogen. Trotz ihrer körperlichen Erschöpfung spürte sie eine neue Lebensenergie, seitdem sie an diesem geschichtsträchtigen Ort angekommen war. Es war richtig, dass sie die Reise unternommen hatte. Frau Hufnagel hatte ihr freundlicherweise eine Kanne Tee zubereitet. Adèle schenkte sich nun davon ein. In Gedanken ließ sie die Unterhaltung mit ihrer Wirtin noch einmal Revue passieren. Sie hatte Frau Hufnagel nach der Insel Mainau gefragt.

»Die Insel ist im Sommer einfach wundervoll, wenn man Blumen liebt«, schwärmte sie. »Sie werden begeistert sein.« Sie erzählte von dem Rosengarten, dem Schmetterlingshaus und dem wundervollen Palmengarten. »Allerdings ist um diese Jahreszeit auch sehr viel los«, gab sie zu bedenken. »Wenn Sie nicht in einem Menschenpulk über die Insel geschoben werden wollen, sollten Sie Mainau gleich am frühen Morgen besuchen. Die Öffnungszeiten richten sich nach dem Sonnenstand. Ab halb fünf öffnen die Tore, sie schließen erst gegen zehn Uhr am Abend.«

»Du lieber Gott, das ist ja noch mitten in der Nacht«, erwiderte Adèle verwundert. »Ist das den Aufwand wert?«

»Aber ja!« Ihre Vermieterin lachte glucksend. »Dahinter steckt ein raffiniertes Marketingkonzept. Die Insel ist mit ihren Blumen, seltenen Pflanzen und Bäumen sowie dem Schmetterlingshaus die Haupttouristenattraktion des Bodensees. Die beiden Kinder des alten Grafen Bernadotte verstehen es, die Menschen zu überraschen. Aber das werden Sie ja selbst erleben. Allerdings muss man ganz schön viel laufen, wenn man das alles genießen will.« Frau Hufnagels skeptischer Blick verriet, dass sie ihr die Anstrengung nicht zutraute. »Für eine alte Dame wie Sie ist das kein Pappenstiel«, äußerte sie prompt offen ihre Bedenken.

»Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen.« Adèle mochte es nicht, wenn man sich in ihre Belange einmischte, auch wenn die Wirtin recht hatte.

»Natürlich!« Frau Hufnagel hob beschwichtigend die Hände. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen den Rollator meines Mannes ausleihen. Nach seiner Hüftoperation steht er nur noch nutzlos im Schuppen rum.«

»Das ist sehr freundlich, aber ich denke, ich komme auch ohne so etwas zurecht«, bedankte sich Adèle reserviert, woraufhin sich Frau Hufnagel dankenswerterweise einem anderen Thema zuwandte.

Sie hatte die Unterhaltung mit der munteren Frau zwar genossen, war aber nun wieder froh, allein zu sein. Es gab noch so vieles, über das sie nachdenken musste. Sie beobachtete, wie ein paar Stockenten vom See her über die Wiese ganz in ihre Nähe watschelten und sich dort niederließen, um ihr Gefieder zu putzen. Sie hatten keinerlei Scheu vor ihr und waren es offensichtlich gewohnt, genau dort zu pausieren. Das friedliche Bild erinnerte Adèle plötzlich an ein Erlebnis aus ihrer Vergangenheit, und sie gab sich ihren Gedanken hin.

Eines Tages, der Krieg hatte bereits begonnen, kam Antoine mit einer toten Ente unter dem Arm nach Hause und präsentierte sie ihrer Mutter stolz. An der rechten Hand hatte er eine blutende Bisswunde, die ihm ein wildernder Hund zugefügt hatte. Ihr Bruder hatte ihm seine Beute streitig gemacht und auf diese Weise für eine willkommene Fleischmahlzeit gesorgt. Die Mutter schimpfte, weil er sich verletzt hatte. Sie fürchtete, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Doch Antoine lachte nur und tat seine Verletzung als belanglos ab.