Das Haus in den Hügeln
Ines Maria Freundl
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Für Heike
Contents
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Dedication
Das Haus in den Hügeln
Frühling
Sommer
Herbst
Winter
Zitate und Quellen
About The Author
Das Haus in den Hügeln
Die Wörter müssen eigentlich das Schweigen hervorheben.
Etty Hillesum
Frühling
I
Nun ist endlich die Zeit verschwunden. Die Tage sind noch da, die Nächte auch, sie kommen und gehen wie es ihnen zusteht, aber es gibt keine Zeit mehr. Ich habe noch nie eine Uhr getragen, auch früher nicht, als Zeit noch eine Rolle gespielt hat. Es schien mir nie nötig, da Uhren in unserer Welt nahezu überall zu finden sind. Das Messen von Zeit ist neben dem Berechnen von Kapitaleinsatz und Gewinnerwartung die Lieblingsbeschäftigung der gegenwärtigen Epoche. Dabei fällt auf: Von beidem haben die Menschen stets zu wenig, von der Zeit, vom Kapital. Ein Experiment: Wäre, wenn man auf das ständige Messen und Berechnen verzichten würde, das Gemessene und Berechnete mit einem Mal reichlich, vielleicht sogar im Überfluss vorhanden? Meine Erfahrung, seit ich hier bin, ist: Auf die Zeit trifft dies zu. Sie verschwindet und ist damit, paradoxerweise, mit einem Mal unerschöpflich vorhanden. Für mein Kapital gilt dies bedauerlicherweise nicht, hier muss sich noch herausstellen, wie ich zurechtkommen werde. Aber ohne Zeitmaß wird aus der Zeit – ja, was? Wer tritt an Chronos‘ Stelle? Für mich ist es hier die Weile, die seinen Platz einnimmt und die je länger, je schöner ist, so dass ich nicht mehr verstehe, warum die Langeweile in Verruf geraten ist. Eine Aneinanderreihung von einzelnen Momenten, deren keiner mehr irgendeine Forderung an mich stellt, in denen ich nichts anderes tue, als zu verweilen, kommt meiner Vorstellung von lebenswertem Leben inzwischen sehr nahe.
II
Die Tage beginnen hier mit Schweigen. Mit Schweigen, das unversehens übergeht in den Gesang ungezählter Vögel aus den bewaldeten Hügeln ringsum. Aber in all den Tagen, die ich jetzt hier bin, ist es mir nicht gelungen, jenen Moment zu erspüren, in dem aus dem Schweigen Gesang wird. Es ist, als würden die Vögel auf ein unmerkliches Zeichen hin gemeinsam loslegen. Oder entwischt mir dieser Moment, weil das Schweigen noch zu meinem Schlaf gehört, weil ich erst dann vollständig erwache, wenn der Gesang schon auf seinem Höhepunkt ist? Weil ich die einzelnen Vogelstimmen – das allererste, vielleicht noch zögernd fragende Zwitschern, dann ein zweites und drittes Pfeifen und Trillern, beherzter schon, dann all die anderen, die sich nach und nach dazugesellen – weil ich sie alle schlichtweg verschlafe, auch wenn ich mich in dem tiefen Schweigen davor als wach wahrgenommen habe?
III
Tagsüber gehen die Vögel ihren verschiedenen Geschäften nach, unhörbar und unsichtbar in den Tiefen der Wälder. Auch von den Menschen hört und sieht man hier nicht viel. Ab und zu einmal das Motorengeräusch eines Mofas oder Autos, wenn es der Wind von der fernen Straße herüberträgt. Manchmal eine Motorsäge, vor allem, wenn es Sturm gegeben hat und Waldwege freigeräumt werden müssen. Flugzeuge, die über mich hinweg Richtung Süden fliegen, sobald die Urlaubszeit beginnt. Aber sie sind sehr weit über mir und ich kann sie ignorieren. Freilich, schöner fände ich es, wenn der Himmel den Wolken vorbehalten bliebe. Und wenn unsere Sehnsuchtsorte zu Fuß erreichbar wären.
IV
Am Abend ist er wieder da, der Gesang der Vögel. Und dann, kurz vor Sonnenuntergang, wenn alles jubiliert und das Singen in vollem Gange ist, fällt mir erneut auf, dass ich den Moment verpasst habe, in dem die warme Frühlingsluft, die schon eine Ahnung baldiger Sommerhitze in sich trägt, begonnen hat, diese unzähligen Stimmen in sich aufzunehmen. Dann setze ich mich auf den Balkon. Von dort sieht man weit nach Südwesten hinüber zu den Meeralpen. Hügel um Hügel, bis hin zu den höheren Bergen in der Ferne, liegt die Abendlandschaft in graublauen, von letzten Sonnenstrahlen rötlich bepuderten und wellig ansteigenden Schatten vor meinen Augen. Und meine Seele spannt weit ihre Flügel aus und fliegt durch die stillen Lande nach Haus. Bis ich ein weiteres Mal bemerke, dass ich einen bestimmten Moment verpasst habe: Die Vögel schweigen, dafür vibriert die Luft jetzt vom Gezirpe der Zikaden. Wer hat ihnen den Einsatz gegeben, und wie konnte ich ihn überhören?
V
Die Frage beschäftigt mich: Wie vollziehen sich diese Übergänge vom Schweigen in den Gesang, vom Gesang zum Zirpen, vom Zirpen wieder ins Schweigen – denn irgendwann in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden stellen auch die Zikaden ihr Gelärme ein und geben ihrerseits wieder dem tiefen Schweigen, das dem Morgengesang der Vögel vorangeht, Raum. Wie kann es sein, dass es mir während all der Tage, die ich nun hier bin, nicht gelungen ist, ‚Jetzt!‘ zu diesem Moment des Übergangs zu sagen? Oh ja, ein Grund ist sicher meine Unwilligkeit, früh genug wach zu werden. Aber ich habe so viel Schlaf nachzuholen. Und noch bin ich nicht bereit, die Nächte willentlich zu unterbrechen, noch genieße ich zu sehr meinen Schlaf, diesen herrlich tiefen Schlaf hier in dem alten Haus. Einen Schlaf, der wirklich ein kleiner Tod ist und endlich frei vom Aufschrecken aus Albträumen, die ich gerade in der letzten Zeit, in den Monaten vor meiner Abreise, nicht loswerden konnte. Wie schön auch am Abend der Wechsel des Lichtes, diese wunderbaren Farbenspiele in den Hügelschatten, der sanfte Duft abendkühler Wiesen und diese Leichtigkeit der Luft um mich! Und ehe ich es gewahr werde, ist der Gesang wieder in Zirpen übergegangen.
Ist es wichtig, dieses ‚Jetzt‘ zu finden? Ich weiß es nicht. Vielleicht lässt es mir nur deshalb keine Ruhe, weil ich es im Leben so oft übersehen habe? Weil ich so oft versäumt habe, die Übergänge zu erkennen und sie deshalb nicht gestalten konnte?
VI
Schweigen ist ein wesentliches Element der Sprache. Nur wer schweigt, kann hören, und was wäre die Sprache ohne Hörende? Hier, in diesem Haus in den Hügeln, in dem ich ganz alleine bin, spricht alles zu mir. Die Vögel, der Wind, die Zikaden. Bäume und Gräser. Und die Stille. Gestern, als der Mond hoch am Himmel stand und die leichten Federwölkchen in tausenderlei blausilbrigen Schattierungen aufleuchten ließ, war mir, als würde sich zum Hören noch das Erinnern gesellen. Erinnerungen an ungezählte Nächte unter eben diesem Mond, einst, vor langer Zeit. Vielleicht aber auch einst in Zeiten, die noch kommen werden. Erinnerungen an Lieder, die gesungen worden sind und nie mehr verklingen, sobald sie in einer Seele ihre Heimat gefunden haben. Ich habe den Mond gefragt: Was ist die Quelle dieser Erinnerungen? Der Mond schwieg. Die Zikaden zirpten weiter.
VII
Ich habe aufgehört, die Tage zu zählen. Das ist etwas unvorsichtig, denn am Sonntag haben die Geschäfte geschlossen, und ich sollte mir keine vergebliche Fahrt hinunter in die kleine Stadt oder ins große Einkaufszentrum leisten. Benzin ist teuer, mein Auto ist alt, und ich möchte, nein, ich muss mit dem Geld, das mir auf meinem Konto noch übrig blieb, so lange als irgend möglich auskommen. Seitdem ich hier bin, habe ich zweimal vormittags aus östlicher Richtung fernes Geläute gehört. Vielleicht der Ruf zur Sonntagsmesse aus einer dieser kleinen unscheinbaren Natursteinkirchen mit ihren nicht allzu hohen Glockentürmchen. Oder ein Spiel des Windes, eine Täuschung meiner Ohren? Ich werde lernen, bewusster hinzuhören. Meine Wahrnehmung auszudehnen. Liegt nicht an Sonntagen eine andere Atmosphäre in der Luft, als an den anderen Tagen? Eine, für die mir die Worte fehlen. Weicher, durchlässiger? Als würde sich die alltägliche Anspannung der Menschen über die Werktage hinweg in der Luft anreichern und die Atmosphäre dicht und drückend machen, der Sonntag aber hätte die Kraft, dieses Dichte und Drückende für einen Tag lang in ein leichtes, durchlässiges Nichts aufzulösen.
Heute ziehen Wolken über den Himmel und ich habe keine Glocken gehört, doch im Herzen ist mir, als wäre hier jeder Tag ein Sonntag.
VIII