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Ich nahm den Acedia wahr, endlich! Er manifestierte sich als kleines, hasserfüllt starrendes Männlein, dessen nackter Leib von einem aufgeschwappten Bäuchlein dominiert wurde. Über eine blaurot pulsierende Nabelschnur war der Acedia mit Georg verbunden. Das Gewand meines Bruders war im Kampf zerrissen worden, sein Rücken entblößt. Die Nabelschnur des dämonischen Geschöpfs endete auf einem eitrigen Furunkel zwischen den Schulterblättern meines Bruders. Feinste Verästelungen zogen hässliche, pulsierende Linien über Georgs Haut. Ich trat näher und griff zu. Ich erwischte den Acedia an einem seiner dünnen Beinchen - und musste gleich wieder loslassen. Das Wesen war glitschig und erzeugte in meinem Kopf Bilder von Ekel, wie ich sie sonst nicht kannte ...
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Seitenzahl: 131
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Was bisher geschah
ACEDIA
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
mystery-press
Vorschau
Impressum
Coco Zamis ist das jüngste von insgesamt sieben Kindern der Eltern Michael und Thekla Zamis, die in einer Villa im mondänen Wiener Stadtteil Hietzing leben. Schon früh spürt Coco, dass dem Einfluss und der hohen gesellschaftlichen Stellung ihrer Familie ein dunkles Geheimnis zugrundeliegt.
Die Zamis sind Teil der Schwarzen Familie, eines Zusammenschlusses von Vampiren, Werwölfen, Ghoulen und anderen unheimlichen Geschöpfen, die zumeist in Tarngestalt unter den Menschen leben. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht Coco den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Ihr Vater sieht mit Entsetzen, wie sie den Ruf der Zamis-Sippe zu ruinieren droht. So lernt sie während der Ausbildung auf dem Schloss ihres Patenonkels ihre erste große Liebe Rupert Schwinger kennen. Auf einem Sabbat soll Coco zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an, doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut und verwandelt Rupert Schwinger in ein Ungeheuer.
In den folgenden Jahren lässt das Oberhaupt keine Gelegenheit aus, gegen die Zamis-Sippe zu intrigieren. So verlangt Asmodi von Coco, einen gewissen Dorian Hunter für ihn töten. Es gelingt Coco, Dorian zu becircen – doch anstatt den Auftrag sofort auszuführen, verliebt sie sich in ihn. Zur Strafe verwandelt Asmodi Dorian Hunter in einen seelenlosen Zombie, der fortan als Hüter des Hauses in der Villa Zamis sein Dasein fristet.
In Wien übernimmt Coco ein geheimnisvolles Café. Sie beschließt, es als neutralen Ort zu etablieren, in dem Menschen und Dämonen gleichermaßen einkehren. Zugleich stellt Coco fest, dass sie von Dorian Hunter schwanger ist. Coco, Michael und Toth bitten Asmodi um Hilfe gegen die Todesboten, müssen dafür jedoch das für sie jeweils Wertvollste als Pfand hinterlegen. So wird Coco ihr Ungeborenes genommen.
Mit Hilfe von Cocos Bruder Volkart gelingt es, die Todesboten zu besiegen. Doch Asmodi gibt den Fötus zunächst nicht wieder her. Mit Hilfe ihres neuen Liebhabers Damon Chacal gelingt es Coco schließlich, das Kind zu finden und es im Totenreich zu verstecken. Danach trennt sie sich wieder von Chacal und folgt einer Einladung ihrer Freundin Rebecca nach New York ... Doch die schwangere Rebecca steht unter dem Einfluss der dämonischen Vanderbuilds. Coco kann nicht verhindern, dass das Kind im Dakota Building zur Welt kommt. Es entpuppt sich als missgestalteter Dämon mit gewaltigen Kräften. Coco kann das Dämonenkind mit Hilfe einer Voodoo-Queen töten.
Während es in einem Motel der Bates-Kette zu einem tödlichen Zwischenfall kommt, erscheint in Wien eine junge Frau, die sich Georg gegenüber als Dorian Hunters Schwester ausgibt und Coco zu sprechen wünscht. Georg schwant nichts Gutes. Auch Coco sieht sich, zurück in Wien, mit einer neuen Gefahr konfrontiert: Im Café Zamis sind die Acedia, die Dämonen der Trägheit, erwacht ...
ACEDIA
von Michael M. Thurner
»Menschen verschwenden ihre Energien für nichtige Dinge«, sagte Anton Requin und platzierte den Kugelschreiber sorgfältig auf der Fläche vor sich. Sodass er parallel zu seinem Schreibblock lag. »Ihre Wolkenkratzer ragen Hunderte Meter hoch. Sie wollen sich damit beweisen, dass sie dank ihrer Baukunst den widrigsten Bedingungen trotzen können.«
»Richtig«, sagte Vif Andersson, Requins persönlicher Sekretär.
»Sie erschaffen sich eine Scheinwelt, die von protzigen, glänzenden, mächtig wirkenden Dingen dominiert wird. Doch das Sein ihrer Existenz ist ganz anders. Die Menschen sind klein, schwach und unbedarft – und sie wissen, dass da noch etwas ganz anderes ist. Mächte, die sie nicht kontrollieren können. Die sie erahnen, aber nicht begreifen.« Requin tastete über die Schuppen an seiner Stirn. »Sie fühlen unsere Anwesenheit, sehen uns – und können uns doch nicht in ihr Wertesystem einfügen. Würden sie uns ausmachen, würde es ihre Zivilisation erschüttern.«
»So ist es.«
»Ich langweile Sie, Vif?«
Der hagere Mann überkreuzte die Beine und blickte auf die Uhr. »Wir haben Geschäftliches zu besprechen, Sir. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass auch Sie nicht frei von Eitelkeiten sind. Schließlich sitzen wir im Penthouse eines der höchsten Wolkenkratzer auf Manhattan. Mit einer Verglasung ringsum, die es uns erlaubt, die von Ihnen so gering geschätzten Menschen in ihrem Treiben zu beobachten.«
»Ich bin schwach, Vif. Verzeihen Sie mir?«
»Es wird mir nichts anderes übrig bleiben. Sie sind der Boss.«
Requin erhob sich aus dem Stuhl und reckte den Körper. Er hatte Hunger. »Sie hassen mich wirklich sehr, nicht wahr?«
»Sie wissen, dass Hass die treibende Kraft meiner Art ist. Machen Sie sich also keine Gedanken. Können wir nun zur Tagesordnung ...«
»Sie waren niemals illoyal, haben mich stets auf meinem Weg unterstützt und begleitet, haben die Drecksarbeit für mich erledigt und niemals allzu unverschämte Forderungen gestellt. Warum eigentlich?«
Andersson seufzte. »Sie stellen mir dieselbe Frage immer wieder. Muss ich denn darauf antworten?«
»Ich bitte darum.«
Der Sekretär nahm die Brille ab, faltete sie zusammen und steckte sie mit spitzen Fingern in die Brusttasche seines Armani-Anzugs.
»Wir sind nur noch wenige. Wir müssen uns den Verhältnissen anpassen. Unsichtbar bleiben, dienen, die schlechten Zeiten überstehen und auf eine Gelegenheit warten, die Erhabenheit unseres Geschlechts wiederherzustellen.«
»Aber leider haben Sie noch keine passende Partnerin gefunden, um ihr ach so großartiges Geschlecht mit Nachwuchs zu bereichern. Wie bedauerlich.«
Andersson presste die Lippen fest aufeinander und schwieg.
»Vielleicht sind Sie gar der Allerletzte Ihrer Art? Womöglich hoffen Sie vergeblich? Und je älter Sie werden, desto deutlicher wird Ihnen die Hoffnungslosigkeit Ihrer Lage bewusst. Deshalb suchen Sie einen Platz an den Schalthebeln der Macht. Weil Sie wissen, dass einer wie ich über die Mittel verfügt, Ihnen Gewissheit über die Existenz anderer Ihres Geschlechts zu verschaffen.«
»Können wir endlich zum Geschäftlichen übergehen?«, fragte Andersson.
Sein Sekretär vermochte sich kaum mehr zu beherrschen. Requin sah amüsiert zu, wie sich der schlaksige Mann auf dem Stuhl wand, wie er seinen Ärger nur mühsam runterschluckte.
»Also schön, Vif. Was steht heute an?«
»Die Geschäfte laufen zufriedenstellend. An der Westküste gibt es interne Reibereien in der Organisation. Ich habe veranlasst, dass sich zwei Troubleshooter um das Problem kümmern.«
»An der Westküste gibt es immer Ärger. Die Clans werden unverschämt, wenn man die Zügel zu locker lässt. – Weiter, Andersson.«
»Der Aktienindex zeigt nach oben. Menschen-Investoren pumpen beständig Geld in unsere Startups. Allein der Gedanke, dass wir the next big thing durch unsere Entwicklungsarbeiten im Silicon Valley liefern könnten, bringt sie dazu, Millionen in unsere Fonds reinzustopfen. Sie sind fasziniert von einer App, die den Handy-Benutzer über Gewaltverbrechen in seiner unmittelbaren Nähe informiert. Das Thema Virtual Reality im Sado-Maso-Bereich reizt sie. Und auf einer anderen, viel banaleren Ebene haben wir Erfolg bei der Markteinführung von Blutschokolade unter dem Namen Soylent Green ...«
»Ich brauche keine Jubelmeldungen von Ihnen, Vif. Ich möchte wissen, ob es Schwierigkeiten im System gibt. Dinge, um die ich mich persönlich kümmern sollte.«
»Ich rate Ihnen seit Jahr und Tag, sich ausschließlich um Planung und Geschäftsgebarung des Konzerns zu kümmern. Es bleibt nun mal keine Zeit mehr für die Niederungen des Alltagsgeschäfts.«
Requins Magen grummelte. Er hatte wirklichen Hunger. »Ich schätze Sie sehr, Vif. Aber Sie werden die Entscheidungen darüber, was wichtig ist und was nicht, gefälligst mir überlassen.«
»Ich verstehe, Mister Requin.« Andersson räusperte sich, zog sein Tablet hervor, wischte darüber hinweg und sagte dann: »In Kolumbien gab es Schwierigkeiten mit einem Polizeipräfekten, der sich nicht bestechen lassen wollte. Als seine Leiche in einem Rinnsal gefunden wurde, kam es zu lokalen Protesten, die sich allmählich ausweiten.«
»Das übliche südamerikanische Durcheinander also.« Requin zuckte mit den Schultern. »Schickt einen schönen Blumenkranz und eine angemessene Zahlung an die Witwe, sorgt für ein paar kleine infrastrukturelle Verbesserungen in diesem Wie-auch-immer-es-heißt-Nest, und die Angelegenheit ist in einigen Wochen vergessen. Weiter!«
»China ist ein Hoffnungsmarkt, aber auch ein schwieriges Terrain. Einheimische Gruppierungen stellen sich uns entgegen.«
»Sind sie an Geld interessiert?«
»Wie die meisten Dämonen gieren sie nach Macht.«
»Dann versucht es mit einer Beteiligung. Mit Joint-Ventures. Lullt sie ein, und schlagt dann zu, wenn die inneren Strukturen der Gegner bekannt sind.«
»So ist es angedacht.«
»Sollte sich die Gelegenheit ergeben, beschafft mir dabei endlich die Haut eines Vietnamesen. Sie wissen, dass mir ein derartiges Hautmuster noch in meiner Sammlung fehlt. Man sollte nicht glauben, wie schwer es ist, an ein derartiges Objekt heranzukommen.«
»Ich weiß, Mister Requin. Ich darf Sie daran erinnern, dass ich seit Jahren mit der Komplettierung Ihrer Hautsammlung beschäftigt bin.«
»Vielleicht liegt es an Ihrem mangelnden Engagement, dass mir immer noch sieben Muster fehlen?«
»Ich tue mein Bestes«, sagte sein Sekretär.
»Gibt es sonst noch etwas?«
»Da wäre diese Angelegenheit mit dem verwüsteten Bates Motel.«
»Ich erinnere mich vage, einen Vermerk gelesen zu haben. Worum geht es genau?«
»Unsere neue Akquisition, eine Motel-Kette, deren Räumlichkeiten fast ausschließlich für Dämonen und deren Horden zur Verfügung stehen. Das neue Konzept wurde gut angenommen. Wir konnten den schlechten Ruf der Vorbesitzer vergessen machen und haben kräftig expandiert. Nun gab es allerdings einen unangenehmen Zwischenfall am Interstate Highway 80, dreihundert Meilen westlich von New York City.«
Requin griff nach der Kristall-Karaffe. Ihr Schliff war einzigartig und beruhte auf der Arbeit eines deutschen Meisters aus dem achtzehnten Jahrhundert. Vorsichtig goss er Salzwasser in ein bereitstehendes Glas und trank in einem Zug aus.
»Tote und Verletzte«, sagte er. »Highway-Polizisten, die drangsaliert werden mussten, damit sie uns die Angelegenheit überließen. Ärger mit dämonischen Gruppierungen, mit Angehörigen des toten ghoulschen Lizenznehmers, mit lokalen Menschen-Behörden.« Requin erinnerte sich nun wieder an die Details. »Konnte man den Schuldigen ausfindig machen?«
»Eine der mutmaßlichen Täterinnen wurde identifiziert. Es handelt sich um eine europäische Dämonin. Um eine ganz besondere.«
»Und zwar?«
»Die Sippe der Zamis ist Ihnen ein Begriff?«
»Ein alteingesessenes Geschlecht, das Familienzweige in Russland, in Spanien, Frankreich und vor allem in Österreich besitzt. Alte Dämonen, die sich den Herausforderungen der modernen Zeit kaum stellen. Wie es halt so üblich ist bei Europäern.«
»Richtig, Mister Requin. Eine der Töchter des Familienoberhauptes ist allem Anschein nach für das Massaker im Motel verantwortlich. Ihr Name ist Coco Zamis.«
Requin öffnete eine Datei in seinem Netbook und suchte nach der Trägerin dieses Namens. Sie war nicht schwer zu finden. Es gab dutzendweise Einträge zu einer jungen Frau. Ihr Register war durchgehend negativ belegt. Sie hatte sich als Menschenfreundin entpuppt, hatte sich gegen ihre Sippe gestellt, versuchte sich in Unabhängigkeit, galt als stur und aufsässig.
»Ein weißes Schaf.«
»So ist es. Umso weniger verwundert es, dass sie mehrere Dämonen getötet haben soll.«
Coco Zamis besaß ein ausnehmend hübsches Gesicht, das von schwarzen Haaren umrahmt wurde. Grüne Augen glitzerten, die Mundwinkel waren spöttisch verzogen. Oh, sie reizte ihn. Requin lief das Wasser im Mund zusammen.
»Nicht schon wieder!«
»Wie bitte, Vif?«
»Ich kenne diesen Gesichtsausdruck, Mister Requin. Sie vergessen, dass Ihr Platz hier in New York ist. Sie sind einer Gruppe der wohlhabendsten Investoren und einer erklecklichen Anzahl dämonischer Aktionäre verpflichtet.«
»Auch ein Vorstandsvorsitzender benötigt einmal Urlaub, verbunden mit ein wenig Vergnügen. Und ich war schon lange nicht mehr in der Alten Welt.«
»Ich muss energisch protestieren, Mister Requin. Im Namen aller Mitarbeiter der ...«
»Ach, sparen Sie sich Ihr Geplapper. Ich erledige diese kleine Angelegenheit – und keine Widerrede.« Er klopfte energisch auf den Tisch. »Wo bleibt mein Essen? Ich habe Hunger, ich will Nahrung!«
Andersson seufzte tief. »Natürlich, Mister Requin. Ich möchte Sie allerdings darauf aufmerksam machen, dass es immer schwieriger wird, Ihren exklusiven Geschmack zu befriedigen.«
»Es schert mich nicht, wo Sie die Beute herbekommen! Sorgen Sie gefälligst dafür, dass ich satt werde. Ein hungriger Vorstandsvorsitzender ist ein schlechter Vorstandsvorsitzender.«
Andersson läutete eine Handglocke, gleich darauf betrat der Mittagskoch den Raum. Er schob einen Handwagen vor sich her, auf dem eine gewaltig große und chromblitzende Haube thronte. Die Haube wackelte, und aus dem Darunter drangen dumpfe Geräusche hervor.
Requin leckte sich über die Lippen und schob sie so weit nach hinten, dass seine Zahnreihen hervorstoßen konnten.
Er öffnete die Haube und blickte das Essen an. In den Augen seines Opfers war das Entsetzen zu erkennen. Gut so.
Requin hängte das Gebiss aus, öffnete das Maul und warf sich auf die Beute.
Wir kehrten in Hugos – oder Carthes – Spiegellabyrinth zurück und fanden mit Vindobenes Hilfe unseren Weg in dessen Inneres. Von den Dämonen, die noch vor wenigen Stunden hier gehaust hatten, war nichts mehr zu sehen.
»Sie sind ausgebrochen«, sagte der Kleine achselzuckend. »New York wird sich in nächster Zeit mit einigen ungewöhnlichen Geschehnissen auseinandersetzen müssen. Menschenfresser, Seelendiebe, massenmordende Verrückte und so.«
Er griff in die Tasche seiner ausgebeulten Hose und holte ein Asthmaspray hervor. Genussvoll inhalierte er und nahm dann etwas zu sich, das wie getrocknete Rossäpfel aussah.
Er ernährte sich von Düften und Geschmäckern, von flüssigen sowie festen Stoffen, die aus Wien stammten. Andernfalls bestand die Gefahr, dass er schrumpfte und sich im Nichts verlor. Er und die Stadt, sie waren unabdinglich miteinander verknüpft.
Wir wanderten angespannt durch Gänge und Räume, die jenseits der Realität lagen und eine leicht verschobene Abbildung der Wirklichkeit zeigten.
Blickte ich an mir hinab, entdeckte ich Beulen und Dellen an meinem Leib. Ich war selbst zum gespiegelten Objekt geworden, das von minderwertigem Glas in diesen ganz besonderen Raum übertragen worden war.
Was war dieses Land eigentlich? Existierten Vindobene, Georg und ich nun mehrfach, einmal innerhalb und einmal außerhalb der Realität?
Es gibt dich nur einmal, sagte ich mir und konzentrierte mich auf den Weg, der vor uns lag. Hier warf die Dunkelheit Schatten, während helles Licht im Raum versickerte. Farben besaßen eine obszöne Note und erweckten sonderbare Assoziationen, während manche Töne und Geräusche angsterregend wirkten. Insbesondere Vindobene zuckte ein ums andere Mal nervös zusammen und blickte sich nach allen Richtungen um.
Der Kleine deutete auf eine ovale Spiegelfläche, die Teil eines größeren Nebenraums war. »Hier wäre ein Ausgang nach Versailles«, sagte er, und zu einer anderen Gelegenheit: »Dies ist das Tor zum Laurenziberg in Prag. Eine schöne Gegend. Damals, zu Zeiten der Habsburger Monarchie, als Böhmen noch bei Österreich war, konnte ich mich dort problemlos aufhalten. Die Prager hatten einen ähnlichen Beigeschmack wie die Wiener und nährten mich ausgezeichnet.«
Er lotste uns durch weitere Bereiche des Spiegellabyrinths, bis wir vor jener Fläche standen, die nach Schönbrunn führen sollte. Sie war gerade mal kopfgroß und befand sich in einer Art Abstellkammer.
Ich sah mich aufmerksam um und entdeckte aufgehäufte Kleidungsstücke, Wertgegenstände und persönliche Habseligkeiten, die andere Benutzer der Spiegelverbindungen einstmals vergessen hatten. Aber auch Dinge, die ich in solch einer Umgebung nicht vermutet hätte: ein Straßenschild, das einen Kutscher zeigte, einen öligen Fahrzeugkolben, Schaufeln, einen Reisigbesen, ein handbesticktes Taschentuch, mehrere Papyrusstreifen, antike Münzen, Bierflaschen. Gegenstände, die aus mehreren Jahrhunderten stammten.
»Wie alt ist dieses System der Spiegeltore?«, fragte ich interessiert.
»Das weiß niemand so recht. Die Papyrusreste dürften allerdings echt sein.«
Ich schauderte. Waren etwa schon Dämonen in der hohen Zeit der altägyptischen Kultur von einem Ort zum nächsten gewechselt?
»Das Wissen darüber ist verloren gegangen«, fuhr Vindobene fort, während sich Georg erschöpft auf einen Holzklotz setzte und tief durchatmete. »Man erzählte mir einmal, dass es nur noch wenige Geschöpfe gibt, die die Spiegeltore begehen würden. Doch das scheint sich geändert haben. Andernfalls hätten wir nicht so einfach hierher vordringen können.«
Es war also eine Änderung eingetreten. Waren neue, alte Geister auf diese Welt zurückgekehrt? Warteten unangenehme Überraschungen auf die herrschenden Dämonenfamilien und auf die ahnungslosen Menschen?
Darüber würde ich mir ein anderes Mal den Kopf zerbrechen. Vordergründig gab es wichtigere Probleme.
»Da sollen wir hinein?«, fragte ich Vindobene und deutete auf jenes kleine Spiegeltor, durch das wir ins Schloss Schönbrunn gelangen sollten.
»Mach dir keine Sorgen, Coco. Räumliche Dimensionen haben hier nur wenig Bedeutung.« Vindobene schleppte einen Pflasterstein herbei, stieg darauf und starrte angestrengt auf die spiegelnde Fläche.