Das Herrenhaus - John Galsworthy - E-Book

Das Herrenhaus E-Book

John Galsworthy

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Beschreibung

In "Das Herrenhaus" entfaltet John Galsworthy ein eindrucksvolles Panorama der britischen Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Der Roman zeichnet sich durch seine feinsinnige Charakterstudie und den präzisen, oft melancholischen Schreibstil aus, der die inneren Konflikte der Protagonisten einfängt. Galsworthy thematisiert dabei die Kluft zwischen Tradition und Moderne, das Streben nach sozialem Status sowie die tragischen Verstrickungen des individuellen Schicksals in ein unbarmherziges gesellschaftliches Gefüge. Als Teil seiner Forsyte-Saga bietet das Werk nicht nur autobiografische Züge, sondern fungiert auch als scharfe Gesellschaftskritik, die den literarischen Kontext des Naturalismus und der klassischen Erzählkunst aufgreift. John Galsworthy, ein bedeutender englischer Schriftsteller und Nobelpreisträger, wurde 1867 geboren und war ein scharfer Beobachter der sozialen Dynamiken seiner Zeit. Sein eigenes Aufwachsen in einer wohlhabenden Familie prägte seine Sichtweise auf Themen wie Klassenunterschiede und soziale Verantwortung. Galsworthys Engagement in sozialen und politischen Bewegungen ließ ihn tiefere Einsichten in die menschliche Natur und das Streben nach sozialer Gerechtigkeit entwickeln, die sich in seinem literarischen Schaffen widerspiegeln. "Das Herrenhaus" ist eine fesselnde Lektüre für alle, die sich für die menschliche Psyche und die komplexen Strömungen der Gesellschaft interessieren. Galsworthys meisterhafte Erzählweise lädt dazu ein, die Verstrickungen der Charaktere und deren innere Kämpfe nachzuvollziehen. Dieses Buch ist nicht nur ein literarisches Meisterwerk, sondern auch ein zeitloses Zeugnis der Herausforderungen, mit denen sich Individuen in einem sich wandelnden sozialen Umfeld konfrontiert sehen. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine Autorenbiografie beleuchtet wichtige Stationen im Leben des Autors und vermittelt die persönlichen Einsichten hinter dem Text. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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John Galsworthy

Das Herrenhaus

Bereicherte Ausgabe. Historischer Roman
In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen
Einführung, Studien und Kommentare von Tristan Fleming
Bearbeitet und veröffentlicht von Good Press, 2023
EAN 8596547787549

Inhaltsverzeichnis

Einführung
Synopsis
Historischer Kontext
Autorenbiografie
Das Herrenhaus
Analyse
Reflexion
Unvergessliche Zitate
Notizen

Einführung

Inhaltsverzeichnis

Unter dem stillen Glanz eines Landhauses knirschen die Räder der Konvention, während die Herzen der Bewohner leise aufbegehren. In dieser Spannung zwischen Repräsentation und Regung entfaltet John Galsworthy ein Panorama aus Haltung, Pflicht und verborgener Sehnsucht. Das Haus steht wie ein leuchtender Fixpunkt in der Landschaft und zugleich wie ein Spiegel für die Regeln einer Gesellschaft, die sich selbst bewahren will. Wer hier eintritt, betritt mehr als Räume: Er betritt ein Gefüge aus Rollen, Erwartungen und zartem Widerspruch. So richtet das Buch seinen Blick auf die feinen Verschiebungen, an denen sich eine ganze Epoche erkennen lässt.

Das Werk gilt als Klassiker, weil es die Form der Gesellschaftserzählung mit einer Genauigkeit und moralischen Sensibilität erneuert, die bis heute Maßstäbe setzt. Galsworthy verbindet elegante Zurückhaltung mit präziser Beobachtung und öffnet damit einen Raum der Selbstprüfung: für Figuren wie für Lesende. Zeitlose Themen – Eigentum, Status, Loyalität, Gewissen – werden ohne Polemik, doch mit nachhaltiger Wirkung verhandelt. Viele spätere Autorinnen und Autoren haben von dieser kontrollierten Ironie, der kunstvollen Perspektivführung und der nüchternen Emotionalität gelernt. In der Literaturgeschichte markiert das Buch einen Übergang: vom viktorianischen Selbstverständnis zur modernen Skepsis gegenüber tradierten Gewissheiten.

John Galsworthy, englischer Romancier und Dramatiker, schrieb dieses Werk im frühen 20. Jahrhundert, in einer Übergangszeit zwischen Spätviktorianismus und Edwardianischer Ära. Er ist für seine kritische, zugleich empathische Darstellung der wohlhabenden Schichten bekannt und wurde 1932 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Das Buch entstand vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Debatten um Ehe, Eigentum und Ansehen. Es gehört zu jenen Arbeiten, mit denen Galsworthy seinen Rang als maßgeblicher Chronist der britischen Oberschicht begründete. Statt laut anzuklagen, zeigt er, wie soziale Formen und juristische Rahmenbedingungen das Private prägen – und wie Menschen unter eleganten Fassaden ihre inneren Kämpfe führen.

Im Zentrum steht ein ländlicher Besitz mit seinem weitverzweigten sozialen Geflecht: Familie, Gäste, Nachbarn, Bedienstete, Beobachter von außen. Zwischen Parkwegen und Salons gerät eine fragile Ordnung ins Schwanken, als Gefühle, Gerüchte und Ansprüche einander überlagern. Ein Vorfall – mehr Andeutung als Ereignis – macht sichtbar, wie rasch Ansehen kippen kann, wenn individuelle Wünsche mit dem Kanon der Gesellschaft kollidieren. Galsworthy skizziert dies ohne Effekthascherei: Er belässt viel im Zwielicht der Vermutung und vertraut darauf, dass Blicke, Gesten und kleine Entscheidungen die größte Spannung erzeugen. So entsteht ein leiser, aber beharrlicher Sog.

Stilistisch setzt das Buch auf klare, geschmeidige Prosa, die nicht aufdrängt, sondern enthüllt. Der Erzähler wahrt Abstand, doch die Feinheiten der Wahrnehmung rücken nahe heran. Ironie dient als Instrument, um Selbstgewissheiten zu lockern, ohne Figuren zu verraten. Szenische Dichte und ökonomische Detailschärfe ersetzen pathetische Ausbrüche. Das Haus, die Räume, die Stoffe und Lichter sind nicht bloß Dekor, sondern semantisches Gewebe, in dem soziale Spielregeln sichtbar werden. Mit dieser zurückgenommenen Intensität eröffnet Galsworthy einen moralischen Resonanzraum: nicht im Sinne belehrender Thesen, sondern durch die Etikette des Alltags, die Fragen stellt, indem sie scheinbar nur beschreibt.

Das Herrenhaus ist dabei Symbol und Prüfstein. Seine Mauern bewahren Erinnerungen, Erwartungen, Besitzansprüche; seine Flure disziplinieren Wege und Worte. Wer hier lebt, bewegt sich in einem Stillleben aus Gewohnheiten, das zugleich behaglich und bedrückend wirkt. Diese Ambivalenz trägt die Erzählung: Heimstatt und Bühne, Schutzraum und Schaufenster. Je genauer das Inventar aufgenommen wird – Landschaft, Mobiliar, Routinen –, desto deutlicher zeigt sich, wie Formen zu Normen gerinnen. Galsworthy interessiert, wie Orte Menschen formen, und wie Menschen Orte mit Bedeutung aufladen. Das Haus wird so zum Charakter eigener Art, der Handeln lenkt, ohne ein Wort zu sagen.

Zentral sind Fragen nach Eigentum und Verantwortung: Wem gehört was – und was gehört eigentlich wem? Besitz sichert Prestige, doch er bindet die, die ihn verwalten, an eine Ethik der Erscheinung. Ehe, Loyalität und Recht wirken als Koordinaten, zwischen denen individuelle Wünsche ihren Platz suchen. Galsworthy legt offen, wie höfliche Rituale Konflikte dämpfen und zugleich verschärfen. Er zeigt die sanfte Gewalt der Konvention, die niemandem gehört und doch alle steuert. Damit berührt das Buch Grundthemen moderner Gesellschaften: die Spannung von Freiheit und Form, von Gefühl und Gesetz, von persönlichem Glück und der Last des Gesehenwerdens.

In der Entwicklung des englischen Gesellschaftsromans behauptet das Werk einen markanten Ort. Es hält am Realismus fest, ohne in bloße Bestandsaufnahme zu verfallen, und es antizipiert skeptische, modernere Blickweisen, ohne die erzählerische Klarheit preiszugeben. Man kann es neben andere Landhausromane stellen, in denen Besitz zum Prüfstein menschlicher Beziehungen wird; zugleich wahrt es eine eigene Tonlage, geprägt von feiner Zurückhaltung. Dieser Doppelcharakter – klassisch in der Form, zeitgenössisch in der Sensibilität – erklärt seine anhaltende Wirkung. Es schärft den Blick für die Mechanik sozialer Systeme und ermutigt, hinter die makellosen Fassaden zu schauen.

Die Entstehungszeit war von leisen Beben begleitet: aufkommende soziale Mobilität, veränderte Geschlechterrollen, neue rechtliche Debatten. Noch bevor politische Erschütterungen die alten Sicherheiten offen zerstörten, vibriert hier eine Vorahnung des Wandels. Das Buch registriert diese Töne, ohne sie mit großen Gesten zu verstärken. Es interessiert sich für die Mikrodramen, in denen Geschichte beginnt: Gespräche im Halbdunkel, Verschiebungen im Takt von Besuchszeiten, Unschärfen zwischen Pflicht und Neigung. Die literarische Wirkung liegt in dieser Empfindlichkeit fürs Vorläufige. Galsworthy zeigt, wie eine Ordnung nicht durch Skandale bricht, sondern durch feine Risse, die irgendwann nicht mehr zu kitten sind.

Wer das Buch liest, erlebt eine sorgfältig austarierte Dramaturgie der Andeutung. Nichts wird überstürzt, nichts laut erklärt, und doch baut sich Spannung auf – durch Erwartungen, die nicht erfüllt werden dürfen, durch Gewissheiten, die im entscheidenden Moment ins Flimmern geraten. Charaktere erscheinen nicht als Fallbeispiele, sondern als Träger von Würde und Widerspruch. So entsteht ein leises Drama der Selbstprüfung, dessen Wirkung sich aus der Genauigkeit des Tons speist. Die Sprache fordert aufmerksam lesende Augen, belohnt sie aber mit Nuancenreichtum, der lange nachklingt. Das ist klassische Kunst: beherrschte Intensität, in der jedes Detail Gewicht gewinnt.

Auch heute bleibt diese Erzählung relevant, weil sie Fragen stellt, die nicht veralten: Wie leben wir mit Erwartungen, die uns definieren und beschränken? Welche Rolle spielen Besitz, Status und Öffentlichkeit in unseren intimsten Entscheidungen? Das Buch zeigt, wie soziale Räume Verhalten rahmen, und lädt dazu ein, eigene Routinen und Gewissheiten zu befragen. In einer Gegenwart, die permanent gesehen und bewertet, klingen die Mechanismen von Ansehen und Diskretion überraschend modern. Zudem erinnert Galsworthy daran, dass moralische Urteile selten einfach sind – und dass Empathie dort beginnt, wo unsere Gewissheit endet.

Das Herrenhaus überzeugt durch seine klare Form, seine stillen Spannungen und seine souveräne Mischung aus Beobachtung und Mitgefühl. Es ist ein Klassiker, weil es die großen Themen – Besitz, Verpflichtung, Begehren, Recht – in eine erzählerische Architektur übersetzt, die präzise und einladend zugleich ist. Dieses Buch hält die Balance zwischen Zeitbild und zeitloser Studie menschlicher Motive. Es spricht Leserinnen und Leser an, die nicht nur wissen wollen, was geschieht, sondern warum Menschen handeln, wie sie handeln. Darin liegt seine dauerhafte Anziehungskraft: in der Kunst, das Wesentliche im Leisen hörbar zu machen und dem Sichtbaren seine verborgenen Gründe zu entlocken.

Synopsis

Inhaltsverzeichnis

Das Herrenhaus spielt im ländlichen England des späten 19. Jahrhunderts und zeichnet den Alltag einer alteingesessenen Gutsfamilie nach. Im Mittelpunkt steht Horace Pendyce, der Squire, dessen Leben vom Rhythmus der Jagdsaison, den Pflichten gegenüber Pächtern und einem strengen Ehrenkodex bestimmt wird. Sein Anwesen gilt als sichtbares Zeichen von Beständigkeit, Ordnung und Ansehen. Um ihn herum entfaltet sich die Welt der County Society mit ihren festen Umgangsformen, ihren Festen, sportlichen Ritualen und diskreten Rangabstufungen. Das Herrenhaus erscheint als Mittelpunkt zahlreicher Abhängigkeiten, in dem Generationenfragen, Familienstolz und öffentliche Meinung ein empfindliches Gleichgewicht bilden.

Georges Pendyce, der Sohn des Hauses, fühlt sich den Erwartungen seines Standes verpflichtet, zugleich aber von ihnen beengt. Während er zwischen Land und Stadt pendelt, begegnet er Helen Bellew, einer jungen Frau aus demselben gesellschaftlichen Umfeld, deren Ehe als belastet gilt. Ihre Gespräche und zufälligen Begegnungen verdichten sich zu einer stillen Nähe, die jedoch innerhalb der herrschenden Konventionen keinen Raum hat. George erkennt in ihr eine seelenverwandte, nach Unabhängigkeit strebende Person. Das gegenseitige Verständnis bleibt unausgesprochen und vorsichtig, doch es setzt Kräfte frei, die den sicheren Rahmen des Herrenhauses zunehmend infrage stellen.

Der Roman öffnet den Blick auf die Mechanik des Landadels: Jagdausfahrten, Sonntagsbesuche, Dinnergesellschaften und die ungeschriebenen Gesetze eines engmaschigen Milieus. Figuren wie ein energischer Pfarrer, aufmerksame Nachbarinnen und standesbewusste Freunde spiegeln die Normen dieser Welt. Gerüchte werden taktvoll verpackt und dennoch nachhaltig verbreitet. Der Squire sieht sich als Hüter der Tradition und versucht, Spannungen durch diskrete Einflussnahme zu dämpfen. Die scheinbar nebensächlichen Szenen – ein missverständlich geführtes Gespräch, ein Blick beim Tanz, eine ausbleibende Einladung – markieren Verschiebungen in der sozialen Temperatur, die bald in offenere Konflikte münden können.

Zwischen George und Helen verdichtet sich die Verbindung, während ihr Umfeld wachsam wird. Helens Ehe, belastet durch unterschiedliche Vorstellungen und das Verhalten ihres Mannes, gerät in den Fokus stiller Beobachter. Die beteiligten Personen erklären ihr Handeln mit Pflicht, Rücksicht oder Anstand, doch unausgesprochene Motive spielen stets mit. Der soziale Rahmen erlaubt Nähe nur als Andeutung; zugleich reifen Überlegungen, ob und wie sich ein legitimer Ausweg eröffnen ließe. In Andeutungen fällt das Wort Scheidung, ein Thema, das im ländlichen Kreis zwar bekannt, aber heikel ist. Die Diskrepanz zwischen privatem Empfinden und öffentlicher Erwartung wird deutlicher.

An diesem Punkt rückt das Recht ins Zentrum. Ein erfahrener Anwalt wird konsultiert, und die komplizierten Regeln des damaligen Scheidungsrechts werden skizziert. Beweise, Zeugenaussagen und formale Hürden treten zutage, zugleich die Gefahr des Skandals. Der Squire erkennt, wie sehr ein öffentlich verhandelter Konflikt das Ansehen des Hauses berühren könnte. Während die Mutter zu Besonnenheit rät, insistieren Vertraute auf Disziplin und Abstand. George steht vor der Frage, ob Loyalität zur Familie oder Treue zu eigenen Empfindungen schwerer wiegt. Die juristische Sprache wirkt kühl, doch ihre Konsequenzen greifen unmittelbar in Leben, Ruf und Zukunftsaussichten aller Beteiligten ein.

Ein gesellschaftliches Ereignis verschärft die Lage: Inmitten einer Saison voller Begegnungen kommt es zu einer Szene, die Tuscheln in merkliches Raunen verwandelt. Helens Ehemann tritt energischer auf; Worte fallen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Kleine Indiskretionen gelangen an die falschen Ohren, und die Presse zeigt erste Anzeichen von Interesse. Das private Dilemma wird zur öffentlichen Angelegenheit, und die Grenzen des taktvollen Wegschauens sind überschritten. George reagiert impulsiv, Helen erwägt eine formale Klärung. Der Ton wird schärfer, zugleich zeigt der Text die stillen Kosten dieser Eskalation: Scham, Unruhe, das Gefühl, beobachtet und beurteilt zu werden.

Der Squire, bislang souveräner Regisseur des Familienlebens, erlebt einen inneren Zielkonflikt. Er liebt seinen Sohn und will zugleich das Erbe bewahren. Strategien werden erwogen: eine Reise, eine vorübergehende Trennung, Gespräche mit einflussreichen Bekannten. Das Landjahr schreitet voran; die Jagdmetapher zieht sich durch die Kapitel und spiegelt die Frage, wer hier eigentlich wem nachsetzt. Die ruhige Ordnung des Gutes kontrastiert mit der Unruhe in den Köpfen. In Gesprächen über Grundbesitz, Pflicht und Takt kristallisiert sich, was das Herrenhaus im Kern bedeutet: nicht nur Gebäude und Land, sondern ein System, das individuelle Wünsche absorbieren oder umformen will.

Als juristische Schritte konkreter werden, formieren sich Lager. Aussagen werden gesammelt, Chronologien erstellt, Verhalten beurteilt. Freunde und Bekannte wägen ab, ob Loyalität zur Person oder zum Stand Vorrang hat. Die Möglichkeit eines formellen Verfahrens eröffnet zwar einen Weg, aber auch die Aussicht auf öffentliche Bloßstellung. Für George stellt sich die Entscheidung nicht nur als Frage der Liebe, sondern als Prüfung seiner Identität innerhalb einer Ordnung, die ihn definiert. Helen bemüht sich, ihre Handlungsfreiheit zu behaupten, ohne ihren Rest an Schutz zu verlieren. Der Roman betont die komplexe Verzahnung von persönlicher Integrität, gesellschaftlicher Rolle und rechtlicher Form.

Die weitere Entwicklung wird ohne Effekthascherei geschildert und bleibt frei von melodramatischen Enthüllungen. Statt eines spektakulären Finales betont der Roman die leisen, nachhaltigen Verschiebungen: wie Beziehungen abkühlen oder sich neu ordnen, wie ein Haus an Glanz wahrt, aber an Unbeschwertheit verliert. Das zentrale Thema ist die Reibung zwischen Tradition und individueller Selbstbestimmung, zwischen öffentlicher Moral und privatem Empfinden. Das Herrenhaus zeigt, welche Kräfte nötig sind, um eine Fassade zu halten, und welchen Preis Nähe und Wahrhaftigkeit fordern können. Die Essenz liegt in der Frage, was Bestand haben darf: Besitz und Ruf – oder menschliche Rücksicht.

Historischer Kontext

Inhaltsverzeichnis

Das Herrenhaus (The Country House), 1907 veröffentlicht, spielt im England der späten viktorianischen und frühen edwardianischen Epoche, als die Monarchie von Königin Victoria zu Eduard VII. überging (1901–1910). Der Schauplatz ist die ländliche Grafschaft, geprägt von Großgrundbesitz, Pachtwirtschaft, Jagdsaisons und dem gesellschaftlichen Kalender der „county set“. Der Roman verortet seine Figuren zwischen Landhaus und London, wo politische, juristische und gesellschaftliche Prozesse verdichtet sichtbar werden. Zeitlich spiegelt er die Jahre, in denen der Landadel unter finanziellen und institutionellen Druck geriet, während städtische Modernisierung und Massenpresse neue Normen und Konflikte in die ländliche Welt hineintragen.

Der Ort des Geschehens – das englische Herrenhaus samt Dorf, Kirche und Pachthöfen – fungiert als Mikrokosmos der britischen Klassengesellschaft. Hier kreuzen sich Autorität des Squires, Pflichten gegenüber Pächtern, Traditionen wie die Fuchsjagd und die Ansprüche moderner Mobilität und Öffentlichkeit. Die Nähe Londons (juristische Beratung, Klatschpresse, politische Debatten) verstärkt die Reibungen zwischen abgeschotteter Landkultur und urbaner Gegenwart. John Galsworthy zeigt das Anwesen als wirtschaftliches und symbolisches Zentrum, dessen Kontinuität durch neue Steuern, rechtliche Reformen und veränderte Moralauffassungen bedroht ist – Bedingungen, die die Figuren unter Druck setzen und die Handlung antreiben.

Die Große Agrarkrise in Großbritannien (1873–1896) senkte dramatisch die Einkommen der Landgüter: Weltmarktkonkurrenz durch billiges Getreide aus den USA und Russland ließ Pachtpreise und Erträge fallen. Viele Güter stellten auf Weidewirtschaft und Milchproduktion um, während Pächter verhandelten oder aufgaben. Statistisch sanken landwirtschaftliche Preise in den 1880er Jahren um teils über 30 Prozent. Im Roman rahmt diese ökonomische Erosion das Herrenhaus: Galsworthy betont subtile Sorgen um Rentabilität, die Notwendigkeit straffer Verwaltung und die Verletzlichkeit eines Status, der jahrhundertelang als selbstverständlich galt. So wird die private Moralprüfung vor dem Hintergrund schrumpfender finanzieller Spielräume erzählt.

Der Finance Act von 1894 führte umfassende Erbschaftssteuern („death duties“) ein, die in der Edwardianischen Zeit mehrfach angehoben wurden. Zusammen mit den bereits zuvor drückenden Hypotheken belasteten diese Abgaben das gebundene Vermögen der Landhäuser überproportional, da liquide Mittel fehlten. Nachlassabwicklungen erzwangen Verkäufe von Land, Kunst oder Jagdrechten. Galsworthy spiegelt diese strukturelle Verschiebung, indem er die Fragilität des Besitzes betont: Der Schein unerschütterlicher Kontinuität wird von fiskalischen Realitäten unterminiert. Das Herrenhaus erscheint als kostspielige Institution, deren Erhalt politisch (Steuerpolitik) und wirtschaftlich (Marktpreise) keineswegs garantiert ist.

Die Settled Land Acts (1882, 1890) erleichterten Lebensrentnern den Verkauf von Teilen gebundener Güter, während der Local Government Act 1888 und der Local Government Act 1894 lokale Macht vom Adel an gewählte Räte verlagerte. Diese Reformen minderten den direkten Einfluss der Squires auf Verwaltung, Infrastruktur und Armenfürsorge. Im Roman rahmt diese Kompetenzverschiebung den Rückzug paternalistischer Autorität: Entscheidungen, einst im Herrensitz gefällt, müssen nun öffentlich begründet werden. Galsworthy lässt die Spannung zwischen überlieferten Besitzansprüchen und moderner Verantwortlichkeit sichtbar werden – eine Schlüsselbedingung für die Krise der Landhauskultur, die er in alltäglichen Szenen der Verwaltung, Jagd und Geselligkeit einfängt.

Das Eherecht prägte die Handlung maßgeblich: Der Matrimonial Causes Act von 1857 schuf ein ziviles Scheidungsgericht, ließ aber eine geschlechtsspezifische Asymmetrie bestehen. Männer konnten mit dem Nachweis von Ehebruch scheiden; Frauen benötigten zusätzlich Härtefälle wie Grausamkeit oder Desertion. Um 1907 waren Scheidungen rechtlich möglich, gesellschaftlich jedoch stigmatisiert. Galsworthys Roman greift diese Rechtslage auf, indem er eine von Ehebruch und Scheidung bedrohte Konstellation zeigt. Die drohende Öffentlichkeit eines Verfahrens – mit Zeugen, Spürmethoden und Presse – verschränkt Privates und Politisches und macht die Geschlechterdoppelstandards als soziale Realität erfahrbar.

Zwischen 1890 und 1910 wurden Scheidungsprozesse zu Massenspektakeln. Sir Gorell Barnes, Präsident der Probate, Divorce and Admiralty Division (1905–1909), führte einen überlasteten Gerichtshof; sensationelle Berichte in Blättern wie dem Daily Mail (gegründet 1896) verbreiteten intime Details. Erst der Judicial Proceedings (Regulation of Reports) Act 1926 schränkte solche Darstellungen ein. Im Roman wird die Furcht vor öffentlicher Bloßstellung in Dialogen und Entscheidungen spürbar: Der Landadel fürchtet weniger die rechtliche Norm als den Rufverlust. Galsworthy verknüpft so juristische Verfahren, Medienkultur und gesellschaftliche Sanktionen, die den Handlungsspielraum insbesondere von Frauen einengen.

Die Praxis der Scheidungsgerichte basierte auf Beweisführung: Detektive, Hotelregister, „co-respondents“ (Mitbeklagte) und Indizien des Ehebruchs spielten eine Rolle; zugleich galten Kollusion und arrangierte Beweise als unzulässig. Kostenrisiken konnten Vermögen aufzehren, und Unterhaltsfragen trafen Frauen häufig härter. Galsworthy nutzt diese Rahmenbedingungen, um das Dilemma zwischen persönlicher Integrität und juristischer Zweckmäßigkeit auszustellen. Figuren verhandeln die Frage, ob moralische Wahrheit oder prozessuale Erfolgsaussicht zählt – ein Spannungsfeld, das den Roman zeitgeschichtlich verankert und die enge Verzahnung von Recht, Klasse und öffentlicher Meinung im frühen 20. Jahrhundert offenlegt.

Die Tarifreform-Krise (1903–1906), ausgelöst durch Joseph Chamberlains Vorstoß für Schutzzölle, spaltete Konservative und Unionisten. Das Land wurde in „Free Fooder“ und Protektionisten gespalten; Landwirte hofften auf höhere Preise, Industrielle stritten über Exportrisiken. 1906 siegte der Freihandel mit dem liberalen Erdrutschsieg. Im Roman schwingt diese Debatte in Gesprächen und Haltungen der ländlichen Elite mit: Die landbesitzende Klasse neigt dem Konservatismus zu, ringt aber um ökonomische Rezepte. Galsworthy zeigt, wie wirtschaftspolitische Konflikte nicht abstrakt bleiben, sondern Jagdgesellschaften, Dinner und Dorfalltage ideologisch aufladen.

Die Liberale Regierung ab 1906 leitete Sozialreformen ein: Trades Disputes Act 1906 stärkte Gewerkschaften; Workmen’s Compensation Act 1906 verbesserte Entschädigungen; 1908 folgte der Old Age Pensions Act. Während diese Maßnahmen das urbane Proletariat adressierten, deuteten sie zugleich eine Umverteilung politischer Aufmerksamkeit an. Im Roman erscheinen solche Reformen als ferne, aber spürbare Irritation für eine Klasse, die gewohnt war, lokales Sozialwesen paternalistisch zu ordnen. Galsworthy verknüpft ländliche Selbstbilder mit nationaler Gesetzgebung: Ein Herrenhaus kann seine Welt nicht mehr nach rein eigenen Maßstäben halten.

Der People’s Budget von 1909 hob Spitzensteuern und Erbschaftsabgaben an und schlug Bodensteuern vor; die Weigerung des Oberhauses provozierte die Verfassungskrise 1909–1911, die im Parliament Act 1911 den Lords nur noch ein Suspensivveto ließ. Obwohl nach der Entstehung des Romans, spiegeln sich diese Konfliktlinien bereits als Angsthorizont: Die fiskalische und institutionelle Machtverschiebung gegen Großgrundbesitz war im Gange. Galsworthy nutzt die Figur des Landhauses als seismografischen Körper – jede politische Erschütterung zeigt sich als Riss im Selbstverständnis der Klasse, die Legitimität aus Besitz, Tradition und sozialer Distanz bezogen hatte.

Die Frauenbewegung gewann um 1900 an Dynamik: Die NUWSS (1897) setzte auf Verfassungskampagnen, die WSPU (1903) radikalisierte mit „Deeds, not words“. Zugleich stärkten die Married Women’s Property Acts (1870, 1882) ökonomische Autonomie verheirateter Frauen. Dennoch blieben Scheidung und Sorgerecht ungleich. Im Roman konzentriert Galsworthy die Spannungen der weiblichen Selbstbestimmung in einer Zeit, die moralische Normen per Gesetz und Klatsch sanktionierte. Die Handlung zeigt, wie begrenzte Rechtspositionen persönliche Entscheidungen formen und wie das Herrenhaus als sozialer Druckkessel weibliche Handlungsmacht zugleich ermöglicht und beschränkt.

Die „halfpenny press“ veränderte nach 1890 die Öffentlichkeit: Daily Mail (1896), Daily Express (1900) und Illustrierte verbreiteten Nachrichten rasant; das Education Act 1870 hatte die Alphabetisierung erhöht. Adels- und Scheidungsskandale wurden national diskutiert, der ländliche Rückzugsort medial entgrenzt. Im Roman spiegelt das die ständige Beobachtbarkeit der Oberen Zehntausend: Gerüchte, karikierende Notizen und städtische Sensationslust dringen ins Dorf. Galsworthy zeichnet eine Welt, in der Ansehen nicht mehr in exklusiven Zirkeln stabilisiert werden kann, sondern im großen öffentlichen Forum – mit Folgen für Ehe, Erziehung und die Selbstdarstellung des Besitzes.

Das Eisenbahnnetz verband seit dem späten 19. Jahrhundert Land und Metropole eng: Great Western Railway und London & South Western Railway ermöglichten Wochenendpendeln, Jagdgäste und schnelle Anwaltswege. Londoner Anwaltskanzleien, Clubs und Redaktionen wurden aus der ländlichen Perspektive erreichbarer – und umgekehrt. Im Roman erleichtert diese Mobilität die Verflechtung von Privatsphäre und öffentlicher Bühne: Ein Streit im Herrenhaus findet rasch seinen Weg in die Stadt und wieder zurück. Galsworthy nutzt diese Dynamik, um die Durchlässigkeit einer scheinbar abgeschirmten Ordnung zu zeigen, die technisch modern geworden ist, ohne ihre alten Gewissheiten zu verlieren.

Tierschutz und Anti-Blutsport-Kampagnen gewannen an Profil: Die RSPCA (1824) etablierte Normen gegen Grausamkeit; die Humanitarian League (1891) kritisierte die Fuchsjagd offen. Obwohl Gesetzesänderungen gegen die Jagd ausblieben, entstand moralischer Druck. Galsworthy inszeniert Jagdszenen als Prüfung der traditionellen Ethik des Landadels: Kameradschaft, Mut und Besitzrecht stehen gegen Empathie und Reformwille. Der Roman verknüpft damit gesellschaftliche Debatten über Gewalt, Eigentum und Natur mit dem Selbstbild der Klasse. Die Jagd wird so zum Symbol für den Kampf zwischen überkommener Lebensform und emergenten städtischen Empfindlichkeiten.

Als gesellschaftliche Kritik entlarvt das Buch die moralische Selbstgewissheit einer Klasse, die Rechts- und Machtvorteile für natürliche Ordnung hält. Indem Galsworthy ökonomische Verwundbarkeit, fiskalischen Druck und rechtliche Ambivalenzen sichtbar macht, zeigt er, wie „Stand“ durch Medien, Gerichte und Parlamente neu bewertet wird. Besonders die Scheidungsthematik offenbart die Doppelmoral: männliche Spielräume gegenüber weiblicher Sanktion. Das Herrenhaus fungiert als Bühne, auf der sich Besitzlogik, öffentlicher Ruf und privates Glück kollidieren – nicht als Einzelfall, sondern als exemplarische Diagnose der Edwardianischen Gesellschaft.

Politisch richtet sich die Kritik gegen jene Strukturen, die Privilegien als Naturrecht kaschieren: das asymmetrische Eherecht, paternalistische Lokalherrschaft und fiskalisch geschonte Kapitalformen der Vergangenheit. Galsworthy macht die großen Probleme der Epoche – Klassenantagonismus, juristische Ungleichheit, mediale Vorverurteilung – durch konkrete Konflikte erfahrbar. Er zeigt, wie eine Gesellschaft, die Modernisierung bejaht, zugleich ihre alten Schutzwälle verteidigt. Das Herrenhaus erscheint dadurch weniger als Idylle denn als Institution im Stressfeld von Reform und Resistenz: ein präziser Spiegel politischer Aushandlung, der soziale Ungerechtigkeiten und politische Opportunismen schonungslos beleuchtet.

Autorenbiografie

Inhaltsverzeichnis

John Galsworthy (1867–1933) war ein englischer Erzähler und Dramatiker, dessen Werk den Übergang von der späten Viktorianik zur Zwischenkriegszeit prägnant spiegelt. International bekannt wurde er mit der Forsyte-Saga, einer groß angelegten Familiensaga über Besitz, Klasse und gesellschaftlichen Wandel, die ihm 1932 den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Seine Prosa verbindet psychologische Genauigkeit mit nüchterner Beobachtung; seine Theaterstücke machten soziale Konflikte der Moderne verhandelbar. Als öffentliche Figur trat er für künstlerische und bürgerliche Freiheitsrechte ein. Galsworthy gilt als eine der prägenden Stimmen des britischen Realismus, dessen nüchterner Stil und ethische Grundierung breite Leserschaften erreichten.

Aufgewachsen nahe London, erhielt Galsworthy eine klassische Ausbildung an der Harrow School und am New College, Oxford. Er studierte Rechtswissenschaften und wurde zum Barrister ausgebildet, wandte sich jedoch nach Reisen und prägenden Lektüren zunehmend der Literatur zu. Früh verfasste Erzählungen erschienen teilweise unter dem Pseudonym John Sinjohn, ein Hinweis auf seine anfängliche Zurückhaltung, öffentlich als Autor aufzutreten. In den 1890er-Jahren lernte er Joseph Conrad kennen; der Austausch mit dem älteren Kollegen bestärkte seinen Sinn für Form und moralische Ambivalenz. Literarisch orientierte er sich an realistischen und naturalistischen Traditionen, die soziale Wirklichkeit ohne melodramatische Effekte darstellen wollten.

Seinen literarischen Durchbruch erreichte Galsworthy in den 1900er-Jahren. Der Roman The Man of Property (1906) setzte den Auftakt zur später sogenannten Forsyte-Saga. Parallel etablierte er sich als Dramatiker mit Stücken wie The Silver Box (1906), Strife (1909) und Justice (1910). Diese Werke behandelten Klassenkonflikte, Arbeitskämpfe und den Zustand des Rechtssystems und wurden für ihre sachliche, unpathetische Darstellung gelobt. Galsworthys Bühne verzichtete auf einfache Schuldzuweisungen und legte strukturelle Spannungen offen. Damit stieß er Debatten über Reformen an und gewann Aufmerksamkeit von Theaterkreisen, die das „New Drama“ der Zeit vorantrieben.

Zwischen 1906 und frühen 1920er-Jahren entwickelte Galsworthy die Forsyte-Saga zu einer mehrteiligen Chronik, ergänzt durch Zwischenspiele und Folgeromane. In den 1920er- und frühen 1930er-Jahren setzte er das Panorama mit den Zyklen A Modern Comedy und End of the Chapter fort. Neben diesen Romanfolgen entstanden eigenständige Werke wie The Country House und The Patrician sowie vielgelesene Kurzprosa, darunter The Apple Tree. Als Dramatiker blieb er produktiv mit The Skin Game (1920) und Loyalties (1922). Über Gattungsgrenzen hinweg verband er narrative Ökonomie, gesellschaftliche Diagnose und eine stilistische Zurückhaltung, die seine Figuren selbst sprechen ließ.

Galsworthy verstand Literatur als moralische Praxis, ohne sie zum Pamphlet zu verengen. Sein Stück Justice trug zur Diskussion über Strafvollzug und Gefängnisreform bei. Während des Ersten Weltkriegs unterstützte er Krankenhäuser und Hilfsorganisationen und schrieb Texte, die die Belastungen der Zeit reflektierten. Zugleich engagierte er sich institutionell: In den 1920er-Jahren wirkte er bei der Autorenvereinigung PEN International mit und fungierte als deren erster Präsident. Für Autorinnen und Autoren setzte er sich in Fragen des Urheberrechts und der Redefreiheit ein. Seine Essays und Vorträge verbinden ästhetische Überlegungen mit sozialem Verantwortungsbewusstsein, ohne programmatische Starrheit.

In den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren schloss Galsworthy zentrale Teile seines epischen Zyklus ab und festigte seinen Rang als führender britischer Schriftsteller. 1932 erhielt er den Nobelpreis für Literatur, eine Auszeichnung, die seine internationale Wirkung bestätigte und die Bedeutung der Forsyte-Saga unterstrich. Sein Werk blieb auf der Bühne präsent, während neue Prosabände seine Themen in veränderten gesellschaftlichen Konstellationen weiterführten. Galsworthy starb 1933 in London. Zeitgenössische Nachrufe hoben die Integrität seines Realismus hervor: eine Kunst des genauen Hinsehens, die ohne Sentimentalität Empathie erzeugt und institutionelle Zwänge kritisch beleuchtet.

Das Vermächtnis John Galsworthys gründet in der Verbindung aus erzählerischer Disziplin, sozialer Aufmerksamkeit und zurückhaltender Ironie. Die Forsyte-Saga wurde vielfach für Bühne, Radio, Film und Fernsehen adaptiert und fungiert als Kulturgedächtnis einer Epoche des britischen Bürgertums. Seine Dramen bleiben Referenztexte des Problemstücks, deren Fragestellungen zu Loyalität, Recht, Eigentum und Zugehörigkeit weiterhin Resonanz erzeugen. In Forschung und Lehre dient sein Werk als Fallstudie für realistische Verfahren und die Darstellung schleichenden gesellschaftlichen Wandels. Galsworthys Einsatz für internationale Autorennetzwerke wirkt in Institutionen fort, die literarische Freiheit und Verantwortung weltweit verfechten.

Das Herrenhaus

Hauptinhaltsverzeichnis
Erster Teil
Erstes Kapitel: Eine Jagdgesellschaft auf Worsted Skeynes
Zweites Kapitel: Die Jagd
Drittes Kapitel: Die frohe Stunde
Viertes Kapitel: Die seligen Jagdgründe
Fünftes Kapitel: Tanz bei Mrs. Pendyce
Sechstes Kapitel: Der Einfluß des Pfarrers Hussell Barter
Siebentes Kapitel: Sabbat auf Worsted Skeynes
Achtes Kapitel: Gregory Vigil denkt
Neuntes Kapitel: Paramor lenkt
Zehntes Kapitel: Bei Blafard
Zweiter Teil
Erstes Kapitel: Gregory eröffnet den Feldzug von neuem
Zweites Kapitel: Pastor Hussell Barters fernerer Einfluß
Drittes Kapitel: Der verhängnisvolle Abend
Viertes Kapitel: Mr. Pendyces Kopf
Fünftes Kapitel: Pfarrer und Gutsherr
Sechstes Kapitel: Der Hydepark
Siebentes Kapitel: Ungewisse Stimmung auf Worsted Skeynes
Achtes Kapitel: Beratung auf Worsted Skeynes
Neuntes Kapitel: Erklärung der ›Pendycitis‹
Zehntes Kapitel: George ›geht aufs Ganze‹
Elftes Kapitel: Mr. Barter macht einen Spaziergang
Zwölftes Kapitel: Der Gutsherr faßt einen Entschluß
Dritter Teil
Erstes Kapitel: Mrs. Pendyces Odyssee
Zweites Kapitel: Der Sohn und die Mutter
Drittes Kapitel: Mrs. Bellew ordnet ihr Konto
Viertes Kapitel: Mrs. Pendyces Eingebung
Fünftes Kapitel: Mutter und Sohn
Sechstes Kapitel: Gregory blickt zum Himmel
Siebentes Kapitel: Spazierritt mit dem Spaniel John
Achtes Kapitel: Ein heftiger Anfall von ›Pendycitis‹
Neuntes Kapitel: Bellew beugt sich einer Dame

» ... 's ist ein wüster Garten.«

Hamlet

Erster Teil

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel Eine Jagdgesellschaft auf Worsted Skeynes

Inhaltsverzeichnis

Es war das Jahr 1891, der Monat: Oktober, der Tag: ein Montag. Draußen, im Dunkel vor dem Bahnhofsgebäude von Worsted Skeynes nahmen die verschiedenen Gefährte von Mr. Horace Pendyce – Kremser, Coupé und Gepäckwagen – allen freien Raum für sich in Anspruch; und ebenso hatte das Gesicht seines Kutschers offenbar Monopol auf das Licht der einzigen Bahnhofslaterne.

Rosig angehaucht, mit dichtem, kurzgeschorenem, grauem Backenbart und fest aufeinander gepreßten Lippen thronte er hoch oben in dem herben Ostwind gleich einem Wahrzeichen des Feudalsystems. Drinnen auf dem Bahnsteig warteten in langen Livreeröcken mit Silberknöpfen, das feierliche Aussehen gemildert durch die etwas schief gerückten Zylinderhüte, der erste Lakai und der zweite Reitknecht auf die Ankunft des Sechs-Uhr-fünfzehn-Zuges.

Der erste Lakai zog aus seiner Tasche ein Blatt Briefpapier mit Wappen und Initialen, das die zierlichen, regelmäßigen Schriftzüge von Mr. Horace Pendyce zeigte. Mit näselnder, etwas spöttischer Stimme begann er laut zu lesen: »›Der Ehrenwerte Geoffrey Winlow und Gattin das blaue Zimmer mit Toilettenraum; die Jungfer das kleine gelbe. Mr. George das weiße Zimmer. Mrs. Jaspar Bellew das goldne. Der Herr Hauptmann das rote. General Pendyce das rosa Zimmer; sein Kammerdiener die hintere Dachstube.‹ So, das sind alle.«

Der Reitknecht, ein rotbackiger junger Bursch, hörte nicht zu. »Wenn Mr. Georges ›Ambler‹ Mittwoch gewinnt«, meinte er, »dann hab' ich fünf Pfund sicher in der Tasche. Wer reitet für Mr. George?«

»Na, James, natürlich.«

Der Reitknecht pfiff durch die Zähne.

»Ich will zusehen, daß ich morgen bei der Waage dabei sein kann. Hast du auch gewettet, Tom?«

»Da steht ja noch etwas auf der andern Seite«, gab der Lakai zur Antwort. »Grünes Zimmer rechter Flügel – kriegt der Foxleigh; nicht viel los mit ihm. So eine ›Nimm was du kriegen kannst und rück nichts raus‹-Sorte! Aber zu schießen versteht er! Darum laden sie ihn ja auch bloß ein!«

Hinter einer Wand dunkler Bäume hervor lief jetzt der Zug ein.

Den Bahnsteig herunter kamen die ersten Reisenden, zwei Viehhändler mit langen Stöcken, die in ihren Friesröcken daherstapften und einen Geruch von Stall und schwarzem Tabak um sich verbreiteten. Dann hinter ihnen ein Paar und einige einzelne Gestalten, die sich möglichst weit entfernt voneinander hielten: Mr. Horace Pendyces Gäste. Ganz langsam kamen sie, einer nach dem andern, bis an die Wagen und blickten eifrig geradeaus, als fürchteten sie, einander zu erkennen. Ein hochgewachsener Mann im Pelz, dessen hochgewachsene Frau eine silberbeschlagene Ledertasche trug, redete den Kutscher an:

»Abend, Benson! Mr. George sagt, Hauptmann Pendyce hätte ihm erzählt, daß er erst mit dem Neun-Uhr-dreißig-Zug ankäme. Ich denke, wir fahren –«

Wie ein leiser Windhauch, der durch das starre Schweigen eines Nebels dringt, so wurde eine hohe, helle Frauenstimme vernehmbar:

»Oh, danke sehr; ich nehme das Coupé!«

Vom ersten Lakaien, der ihr die Sachen trug, begleitet, näherte sich eine Dame. Durch den weißen Schleier hindurch, der sie verhüllte, gewahrte des Ehrenwerten Geoffrey Winlow lässig umherschweifender Blick ein Paar schimmernde Augen. Nachdem sie sich noch einmal umgedreht hatte, verschwand sie in dem Coupé. Gleich darauf erschien ihr Kopf hinter der Schleierhülle wieder.

»Hier drinnen ist noch Platz genug, George!«

George Pendyce trat rasch heran und stieg zu ihr in den Wagen. Ein Räderknirschen, und das Coupé rollte davon.

Der Ehrenwerte Geoffrey Winlow sah wieder zu dem Kutscher hinauf.

»Wer war das, Benson?«

Der Kutscher, der sich vertraulich hinunterbeugte, hielt seine plumpe, weißgekleidete Hand gespreizt in der Höhe von Winlows Hut und antwortete:

»Mrs. Jaspar Bellew, gnädiger Herr. Die Frau Gemahlin vom Hauptmann Bellew, dem das Haus ›Die Föhren‹ gehört.«

»Aber ich glaube, die wären nicht mehr –«

»Nein, gnädiger Herr; sind sie auch nicht!«

»Ah!«

Eine ruhige, etwas dünne Stimme ließ sich vom Kremser her vernehmen:

»Aber Geoff!«

Der Ehrenwerte Geoffrey Winlow folgte seiner Gattin, Mr. Foxleigh und dem General Pendyce in den Kremser, und wieder hörte man Mrs. Winlows Stimme:

»Darf meine Jungfer mit herein? – Kommen Sie, Tookson!« ...

Der weiße, langgestreckte, niedrige Herrensitz, der stattlich dastand inmitten ausgezeichneter Güter, war durch eine Heirat mit der letzten Worsted in den Besitz von Mr. Horace Pendyces Ur-Ur-Ur-Großvater gekommen. Ursprünglich war der schöne Grundbesitz, in kleinere Anwesen geteilt, an Pächter vergeben gewesen, die, ohne daß man sich um sie gekümmert, recht gut vorwärtsgekommen waren und ansehnliche Pacht gezahlt hatten. Jetzt wurde das Gut nach neuesten Methoden bewirtschaftet und ergab ein kleines Defizit. Von Zeit zu Zeit machte Mr. Pendyce Zuchtversuche mit neuen Rindern oder Rebhühnern und ließ bei den Schulen einen Flügel anbauen. Sein Einkommen war glücklicherweise unabhängig von diesem Grundbesitz. Er lebte im besten Einvernehmen mit dem Pfarrer und den Verwaltungsbehörden und führte nicht selten Klage darüber, daß seine Pächter nicht auf dem Lande bleiben wollten. Seine Gattin war eine Totteridge und sein Wildbestand vortrefflich. Daß er ein erstgeborener Sohn gewesen war, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Seiner individuellen Überzeugung nach stand England im Begriff, am Individualismus zugrunde zu gehen, und er hatte sich zur Aufgabe gemacht, diesen Fehler zum wenigsten bei seinen Pächtern auszumerzen. Indem er an Stelle ihres Individualismus seine eigenen Neigungen, Ideen und Empfindungen, ja, man hätte sagen können, seinen eigenen Individualismus setzte – was ihn oft genug Geld kostete – hatte er einigermaßen seine Lieblingstheorie bewiesen, nämlich, daß die Entwicklung des Individualismus einen Niedergang des Gemeinwesens bedeute.

Wenn man ihm jedoch die Sache derart vor Augen führte, konnte er sich sehr ereifern, denn er hielt sich nicht etwa für einen Individualisten, sondern für einen ›konservativen Kommunisten[2]‹, wie er es nannte. Seinen landwirtschaftlichen Interessen gemäß, war er natürlich Schutzzöllner; ein Zoll auf Getreide, das war ihm klar, mußte für Englands Wohlstand von ungeheurer Bedeutung sein. Oft genug erklärte er: ›Ein Zoll von vier oder fünf Shilling auf Getreide, und ich würde aus meinem Grund und Boden einen Gewinn herauswirtschaften‹.

Mr. Pendyce besaß hingegen andere Eigenheiten, in denen sich nicht allzuviel Individualität verriet. Er war ein Gegner jeder Änderung in der bestehenden Ordnung der Dinge, machte sich über alles schriftliche Notizen und fühlte sich nie glücklicher, als wenn er von sich, von seinem Grundbesitz reden durfte. Er besaß einen schwarzen Spaniel, John genannt, mit langer Schnauze und noch längeren Ohren, den er selbst aufgezogen hatte; und das Tier war nur glücklich in seiner Nähe.

Der Erscheinung nach gehörte Mr. Pendyce eigentlich zur alten Schule, mit seiner hochaufgerichteten, beweglichen Gestalt und dem dünnen Backenbart, dem er jedoch seit mehreren Jahren einen Schnurrbart hinzugefügt hatte, der herunterhing und schon angegraut war. Er trug breite Krawatten und Gehröcke. Er war kein Raucher.

An der Spitze seiner mit Blumen und Silber beladenen Tafel saß er zwischen der Ehrenwerten Mrs. Winlow und Mrs. Jaspar Bellew. Auffallendere und verschiedenartigere Nachbarinnen hätte er sich nicht wünschen können. Die Natur hatte sie beide gleich hoch an Wuchs, stattlich und schön geschaffen; und doch war zwischen diesen zwei Frauen ein Abstand, den auszufüllen Mr. Pendyce, ein Mann von hagerer Statur, vergeblich sich bemühte. Eine dem aschblonden Typ der englischen Aristokratie anhaftende Seelenruhe lag beständig auf Mrs. Winlows Antlitz, wie das Lächeln eines Frosttages. In seiner gewissen Ausdruckslosigkeit überzeugte es den Beobachter sofort, daß er eine Frau bester Herkunft vor sich habe. Wäre je ein entschiedener Ausdruck auf ihren Zügen erschienen, Gott weiß, welche Folgen das gezeitigt hätte. Sie hatte stets die Ermahnung ihrer Nurse befolgt: ›Um alles in der Welt, schneiden Sie kein Gesicht, Miß Truda; wenn die Uhr schlägt, bleibt's stehen!‹ Seit jenem Tage hat Gertrude Winlow, die von Hause aus und durch ihre Heirat zum Adel des Landes gehörte, nie wieder das Gesicht verzogen, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einmal, als ihr Sohn geboren worden war. Und da mußte nun gerade auf der andern Seite des Hausherrn diese rätselhafte Mrs. Bellew mit den grüngrauen Augen sitzen, die von den würdigsten Vertreterinnen ihres Geschlechts mit instinktiver Mißbilligung angesehen wurde! Eine Frau in ihrer Lage hätte alles Auffällige vermeiden sollen; aber die Natur hatte ihr eine gar zu bemerkenswerte Erscheinung verliehen. Es hieß, daß sie sich vor zwei Jahren nur deshalb von Hauptmann Bellew getrennt und ihre Besitzung ›Die Föhren‹ verlassen hatte, weil sie einander überdrüssig waren. Man erzählte sich auch, daß sie George, den ältesten Sohn von Mr. Pendyce, in seinen Huldigungen offenbar ermunterte.

Lady Malden hatte vor Tische zu Mrs. Winlow die Bemerkung gemacht:

»Was ist's nur eigentlich mit dieser Mrs. Bellew? Ich habe sie nie gemocht. Eine Frau in ihrer Lage müßte sich viel zurückhaltender benehmen. Ich begreife überhaupt nicht, wie man sie hier einladen konnte, wo ihr Mann doch ganz in der Nähe wohnt. Es geht ihr übrigens pekuniär recht mäßig. Sie versucht es auch gar nicht zu bemänteln. Sieht doch bedenklich nach Abenteurerin aus!«

Mrs. Winlow hatte darauf erwidert:

»Sie ist ja wohl eine Cousine oder so etwas von Mrs. Pendyce. Die Pendyces sind mit aller Welt verschwägert. Wie peinlich! Man weiß nie ...«

Lady Malden gab zurück:

»Verkehrten Sie mit ihr, als sie hier auf dem Lande lebte? Ich kann diese Frauen, die mit den Männern um die Wette reiten, nicht ausstehen. Sie und ihr Mann waren ja unglaublich! Sie spricht immer nur davon, welches Hindernis sie genommen und wie sie es genommen hat; und sie wettet und besucht die Rennen. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn George Pendyce nicht in sie verschossen ist. Sie gehört zu den Frauen, denen die Männer immer auf den Leim gehen!«

An der Spitze seiner Tafel, auf der vor jedem Gast ein Menü stand, in der sorgfältigsten Handschrift seiner ältesten Tochter geschrieben, saß Horace Pendyce und löffelte seine Suppe.

»Diese Suppe«, bemerkte er eben zu Mrs. Bellew, »weckt die Erinnerung an Ihren Herrn Vater in mir; er hat sie nämlich sehr gern gemocht. Ich hatte immer große Hochachtung vor Ihrem Vater – ein prachtvoller Mann! Ich behauptete immer, er sei der tatkräftigste Mensch, den ich, abgesehen von meinem eigenen guten Vater, gekannt habe, und der war der eigenwilligste Mann in den drei Königreichen.«

Mr. Pendyce bediente sich oft des Ausdrucks ›in den drei Königreichen‹, dem manchmal die Erklärung folgte, daß seine Großmutter von RichardIII[1]. abstamme, während seines Großvaters Familie auf die Cornwall-Riesen zurückging, von denen einer – das pflegte er mit geringschätzigem Lächeln hinzuzusetzen – einst eine Kuh über eine Mauer geschleudert hatte.

»Nur war mir Ihr Herr Vater ein zu eifriger Anhänger des Individualismus, Mrs. Bellew. Ich habe bei der Bewirtschaftung meiner Güter reichliche Erfahrungen mit dem Individualismus gemacht, und ich habe gefunden, daß ein Individualist niemals zufrieden ist! Meine Pächter haben alles, was sie brauchen, aber sie zufriedenzustellen, ist unmöglich. Da ist zum Beispiel einer, namens Peacock, ein halsstarriger, ganz beschränkter Mensch! Ich gebe ihm natürlich nicht nach. Wenn man dem seinen Willen ließe, dann würde er auf die ganz altmodische Manier der Landbewirtschaftung zurückgreifen. Er möchte mir das Gehöft gern abkaufen. Altes, ungesundes System der Freibauern! Gleich ist er mit der Redensart da, sein Großvater hätte es auch so gehalten. So ein Kerl ist das. Ich hasse allen Individualismus. Er richtet England zugrunde! Sie werden nirgends besser gebaute Wohnhäuser oder bessere Wirtschaftshäuser finden als auf meinem Grundbesitz. Ich bin für Zentralisation. Sie wissen wohl, wie ich mich selbst immer bezeichne: als einen konservativen Kommunisten. Meiner Meinung nach ist das die Partei der Zukunft.Sehen Sie, Ihres Vaters Wahlspruch war: ›Jeder für sich!‹ Auf dem Lande täte das nie gut! Besitzer und Pächter müssen Hand in Hand arbeiten. Übrigens – Sie kommen doch am Mittwoch mit uns nach Newmarket[3]? George läßt ein famoses Pferd im Rutlandshire-Rennen laufen – ein ganz famoses Pferd. Ich bin sehr froh, daß er nicht wettet. Nichts auf der Welt ist mir so verhaßt wie Spielen und Wetten!«

Mrs. Bellew streifte ihn mit einem Seitenblick, und ein leises, ironisches Lächeln zuckte um ihre vollen, roten Lippen. Aber Mr. Pendyces Aufmerksamkeit hatte sich schon seiner Suppe zugewandt. Als er die Unterhaltung wieder aufnehmen wollte, sprach die schöne Frau mit seinem Sohne, und der Hausherr wandte sich, ein wenig die Stirn runzelnd, zu Mrs. Winlow. Ihr Zuhören hatte etwas Automatisches und Lebloses; sie schien sich durch ein allzu entgegenkommendes Verständnis nicht ermüden zu wollen. Aber eine geduldige Zuhörerin fand Mr. Pendyce in ihr.

»Das Land verändert sich«, begann er, »verändert sich von Tag zu Tag. Das Herrenhaus ist nicht mehr das, was es war[1q]. Eine große Verantwortung ruht auf uns Besitzern. Wenn wir nicht standhalten, bricht alles zusammen.«

Was konnte es in der Tat Schöneres geben als dieses Herrenhausleben, wie es Mr. Pendyce führte; mit seiner geschäftigen Behaglichkeit, seiner moralischen Sauberkeit, mit seinem Zusammenwirken von frischer Luft und blumendurchdufteter Wärme, seiner vollkommenen geistigen Ruhe, seinem Nichtswissenwollen von Leiden irgendwelcher Art und seiner Suppe – vor allem und gewissermaßen als Sinnbild wirkend – seiner Suppe, hergestellt aus Fleischstücken sorgfältig gemästeter Tiere.

Mr. Pendyce hielt diese Art von Leben für die einzig vernünftige; diejenigen, die es lebten, für die einzig vernünftigen Menschen. Er betrachtete es geradezu als eine Pflicht, dieses Leben zu führen mit seinem gesunden, einfachen und doch behaglichen Kreislauf, umgeben von Geschöpfen, die für seinen eigenen Tisch aufgezogen wurden – umgeben gleichsam von einem Meer von Suppe! Und daß da Menschen waren, die in Städten zu Millionen ihr Dasein fristeten, einer dem andern nicht das Brot gönnend, viele von ihnen arbeitslos, und alle die andern Begleiterscheinungen ungesunder Verhältnisse, diese deprimierenden Vorstellungen waren ihm schrecklich! Aber auch das Leben in den Vorstädten, jenes Dasein in den schiefergedeckten Häusern, die in kleinen Reihen dastehen und so sehr einander gleichen, daß ihr Anblick jedem Menschen von Geschmack unerträglich ist, auch diese Art von Dasein mißfiel ihm höchlich. Und doch war er bei all seiner Vorliebe für ein Leben auf eigenem Grundbesitz nicht etwa ein reicher Mann; sein Einkommen überstieg ja kaum zehntausend Pfund jährlich.

Die erste Jagdgesellschaft der Saison, bloß für das Buschwerk und die an der Jagdgrenze liegenden Gehege, war, wie gewöhnlich, so angesetzt, daß sie mit dem letzten der Newmarket-Rennen zusammentraf, denn Newmarket war bequem von Worsted Skeynes zu erreichen; und obgleich Mr. Pendyce das Wetten verabscheute, lag ihm daran, sich auf dem Rennplatz zu zeigen. Er wollte als ein Mann gelten, der sich für den Sport nur um des Sportes willen interessierte, und er war stolz darauf, daß sein Sohn den ›Ambler‹, von dem man viel erwartete, so billig gekauft hatte und ihn nur aus Liebhaberei laufen ließ.

Die Gäste waren mit Bedacht ausgewählt. Zur Rechten von Mrs. Winlow saß Thomas Brandwhite (von der Firma Brown & Brandwhite), der eine Stellung, die man nicht gut ignorieren konnte, in der Finanzwelt einnahm und nebenbei zwei Landsitze und eine Vergnügungsjacht besaß. Sein längliches, durchfurchtes Gesicht, mit dem dicken Schnurrbart, zeigte meistens einen verdrießlichen Ausdruck. Er war aus der Firma ausgeschieden und saß nur noch im Aufsichtsrat verschiedener Gesellschaften. An seiner Seite sah man Mrs. Hussell Barter, mit jenem rührenden Ausdruck in den Zügen, wie man ihn bei vielen englischen Frauen antrifft. Es war der Gesichtsausdruck der Frau, die immer ihre Pflicht, ihre nicht leichte Pflicht erfüllt; der Frau, deren Augen über den einst rosigen, jetzt welken Wangen groß und angstvoll blicken; deren Art zu reden ungekünstelt, freundlich, offen, ein wenig schüchtern ist; die in ihrer Stimme etwas Hoffnungsloses und doch Tröstliches hat; eine jener Frauen, die immer von Kindern, Leidenden, alten Leuten umgeben sind, weil sie von ihr Beistand erwarten; Frauen, die sich niemals den Luxus leisten, unter dem Ansturm der Pflichten zusammenzubrechen. Eine von diesen Frauen war Mrs. Hussell Barter, die Ehegattin des Pastors Hussell Barter, der morgen die Jagd, aber nicht das Rennen am Mittwoch mitmachen sollte. An ihrer andern Seite saß Gilbert Foxleigh, ein schlankgewachsener Mann mit langem, schmalem Kopf, kräftigen, weißen Zähnen und tiefliegenden, hungrigen Augen. Er gehörte der in der Gegend ansässigen Familie der Foxleighs an und war einer von sechs Brüdern. Als unschätzbar erwies er sich für die Besitzer von Jagden oder jungen, halbwilden Pferden, in einer Zeit, da, wie Foxleigh es auszudrücken pflegte, ›kaum ein einziger von den Jungen auch nur noch einen Schimmer vom Reiten oder Schießen hat‹. Es gab keine Art von Vierfüßlern, Vögeln oder Fischen, die er nicht mit ebensoviel Geschicklichkeit wie Behagen zu vernichten imstande war und vernichtete. Sein einziges Mißgeschick war sein Einkommen, das sehr unbedeutend war. Er hatte Mrs. Brandwhite zu Tisch geführt, mit der er aber wenig sprach; erüberließ es ihrem andern Nachbarn, General Pendyce, die Kosten der Unterhaltung zu tragen.