Die Forsyte-Saga - John Galsworthy - E-Book

Die Forsyte-Saga E-Book

John Galsworthy

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Beschreibung

In "Die Forsyte-Saga" skizziert John Galsworthy ein vielschichtiges Porträt der britischen Oberschicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Werk, das als episches Familienchronik konzipiert ist, spiegelt den Konflikt zwischen Tradition und Moderne wider und thematisiert die sozialen und moralischen Werte einer wohlhabenden, aber zerfallenden Gesellschaft. Galsworthys prägnante Sprache, gepaart mit seinem starken Sinn für Charakterentwicklung, ermöglicht es dem Leser, tief in die inneren Abgründe seiner Protagonisten einzutauchen, während er gleichzeitig die schleichenden Veränderungen der Epoche eindrucksvoll beleuchtet. John Galsworthy, ein bedeutender britischer Schriftsteller und Träger des Nobelpreises für Literatur, hatte sein Leben lang ein feines Gespür für soziale Gerechtigkeit und menschliche Beziehungen. Geboren in einer wohlhabenden Familie, war er selbst Zeuge der gesellschaftlichen Umwälzungen, die er in seinen Werken anprangerte. Seine persönliche Erfahrung und seine Ausbildung prägten seinen scharfen Geist und seine Fähigkeit, komplexe Familienthemen mit tiefgründiger Einsicht darzustellen. "Die Forsyte-Saga" ist nicht nur eine fesselnde Erzählung über den Verfall einer Familie, sondern auch ein zeitloses Werk über den menschlichen Zustand. Leser, die sich für die Dynamik zwischen den sozialen Klassen und den Herausforderungen des persönlichen Glücks interessieren, werden in dieser meisterhaft erzählten Saga reichhaltige Einsichten und Emotionen finden. Galsworthys Werke laden dazu ein, über die eigene Identität und die Werte der Gesellschaft nachzudenken. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine Autorenbiografie beleuchtet wichtige Stationen im Leben des Autors und vermittelt die persönlichen Einsichten hinter dem Text. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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John Galsworthy

Die Forsyte-Saga

Bereicherte Ausgabe. Alle 3 Romane der Trilogie: Der reiche Mann + In Fesseln + Zu vermieten
In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen
Einführung, Studien und Kommentare von Tristan Fleming
Bearbeitet und veröffentlicht von Good Press, 2023
EAN 8596547785262

Inhaltsverzeichnis

Einführung
Autorenbiografie
Historischer Kontext
Synopsis (Auswahl)
Die Forsyte-Saga
Analyse
Reflexion
Unvergessliche Zitate

Einführung

Inhaltsverzeichnis

Diese Sammlung vereint unter dem Titel 'Die Forsyte-Saga' die fünf Werke John Galsworthys, die den ersten, in sich geschlossenen Erzählbogen bilden: Der reiche Mann, Nachsommer, In Fesseln, Erwachen und Zu vermieten. Ihr Umfang ist bewusst auf diese Abfolge konzentriert, um die Entwicklung einer Familie und ihres Kreises als durchgehende Komposition erfahrbar zu machen. Zielsetzung ist nicht nur die Bereitstellung der Einzeltitel, sondern ihre Lektüre als zusammenhängendes Ganzes: als Romanfolge, in der Figuren, Motive und Tonlagen aufeinander antworten. So wird aus einzelnen Büchern ein Panorama, das die Kontinuität und die Brüche einer Epoche sichtbar macht.

Die Anordnung folgt der vom Autor intendierten Reihenfolge, in der drei umfangreiche Romane durch zwei kürzere Zwischenstücke verbunden werden. In dieser Gestalt entfaltet die Saga eine rhythmische Dramaturgie: auf Verdichtung folgt Innehalten, auf Konfrontation ein leiseres Nachklingen. Die Sammlung zielt darauf, diese Dramaturgie erfahrbar zu erhalten, damit Leserinnen und Leser die innere Logik der Übergänge nachvollziehen können. Zugleich betont sie die Eigenständigkeit der Teile: Jedes Buch besitzt sein eigenes Gewicht, doch erst im Verbund ergeben sich die weitgespannten Bezüge, die Galsworthys Werk als durchkomponierte Familienchronik der englischen Moderne kennzeichnen.

Im Zentrum steht die Grundkonstellation einer wohlhabenden Londoner Sippe, deren Selbstverständnis über Besitz, Ansehen und verfeinerte Lebensführung definiert ist. Die Sammlung lädt dazu ein, diese Welt in ihrer vielfältigen Textur kennenzulernen: von Gesellschaftsräumen über Kanzleien bis zu Ateliers und Parks. Sie versteht sich als Einladung, die langen Linien zu verfolgen, die Galsworthy legt: Bindungen und Loyalitäten, stillschweigende Erwartungen, subtile Verschiebungen von Geschmack und Moral. Gerade im Zusammenschluss der fünf Bücher wird sichtbar, wie individuelle Entscheidungen in größere Muster hineinreichen und wie Zeit aus gelebtem Alltag Geschichte formt, ohne dass die Erzählung Sensationswert sucht.

Die enthaltenen Titel gehören der erzählenden Prosa an und entfalten ihre Wirkung in unterschiedlichen Längen und Spannungen. Der reiche Mann, In Fesseln und Zu vermieten sind Romane, die mit breiter Anlage Milieus ausleuchten und Entwicklungslinien über mehrere Jahre verfolgen. Nachsommer und Erwachen sind kürzere Stücke, oft als Zwischen- oder Übergangstexte gelesen, die den Gesamtverlauf perspektivisch weiten und konzentriert auf Nachklang, Erinnerung und Stimmung setzen. Zusammengenommen zeigt die Sammlung, wie Galsworthy innerhalb der Prosa Gattungsnuancen nutzt, um Atem und Takt zu variieren, ohne die Einheit der Erzählwelt zu gefährden.

Die kürzeren Zwischenstücke fungieren als Resonanzräume zwischen den Romanen. Sie geben der Chronik eine fein abgestufte Artikulation, indem sie den Blick auf besondere Momente lenken, an denen Empfindung und Erinnerung dichter werden. Dadurch gewinnt die Gesamtstruktur Beweglichkeit: Übergänge wirken organisch, Zäsuren erhalten Sinn. Die Romane hingegen tragen die Last der großen Bögen, entwerfen Schauplätze, entfalten Konfliktfelder und begleiten Figuren durch Entscheidungen mit weitreichenden Folgen. Die Kombination beider Formen macht das Leseerlebnis abwechslungsreich und ausgewogen, denn sie verbindet erzählerischen Umfang mit poetischer Konzentration und lässt die Komposition als bewusst gebautes Ganzes erscheinen.

Formal zeichnet sich die Sammlung durch eine behutsam distanzierte Erzählinstanz aus, die genaue Beobachtung mit leiser Ironie verbindet. Wechselnde Fokussierungen erlauben psychologische Nuancierungen, ohne die Konturen der gesellschaftlichen Bühne zu verwischen. Wiederkehrende Motive – Haus, Vertrag, Bild, Garten – stiften Kohärenz, während Dialoge und szenische Verdichtung die Dynamik tragen. Der Stil ist zurückgenommen und klar, worin seine Eindringlichkeit liegt: Bedeutungen lagern sich in Gesten, Blicke und kleine Verschiebungen des Tons. Die fünf Bücher zeigen, wie erzählerische Technik und ethische Fragestellung zusammengehen: Form wird zu einer Art Gewissen, das wertet, indem es genau hinsieht.

Ein zentrales Thema der Saga ist der Begriff des Besitzes in seinen vielen Spielarten: Eigentum an Dingen, Ansprüchen, Beziehungen und Bildern von sich selbst. Die Sammlung macht erfahrbar, wie fest Vorstellungen von Haben und Halten mit Selbstwert und sozialer Ordnung verknüpft sind. Besitz bindet, schützt und belastet; er stiftet Identität und erzeugt Druck. Indem die Bücher Besitz nicht nur materiell, sondern auch symbolisch beleuchten, fragen sie nach den Kosten von Sicherheit und nach dem Preis von Freiheit. So entsteht eine subtile Ethik des Eigentums, die bis in die intimsten Entscheidungen hineinwirkt.

Ebenso präsent sind Institutionen: das Recht, die Ehe, das Erbrecht, die Konventionen der Klasse. Die Sammlung zeigt, wie Regeln Handlungsspielräume eröffnen und einhegen und wie Sprache des Rechts zum Medium persönlicher Konflikte wird. Kanzleien, Verträge und Verfahren sind keine Staffage, sondern Prüfsteine, an denen Charaktere sich zeigen, ohne dass intime Details ausgebreitet werden müssten. Der nüchterne Blick auf Institutionen verhindert Schwarz-Weiß-Moral und erlaubt, Ambivalenzen auszuhalten. Damit verknüpft sich die Frage, wie Loyalität und Pflicht mit Individualität zusammengehen und welche Formen der Verantwortung in einer komplexen, auf Stabilität bedachten Gesellschaft möglich bleiben.

Die fünf Werke entfalten ein Panorama des Wandels. Zeit wirkt nicht nur als Hintergrund, sondern als aktive Kraft: sie verschiebt Geschmack, macht Gewissheiten porös, setzt Werte gegeneinander. Die Sammlung verfolgt, wie eine großbürgerliche Lebensform auf Modernisierung reagiert und wie neue Empfindlichkeiten entstehen. London erscheint als Verdichtungsraum solcher Prozesse: Architektur, Parks und Innenräume geben Stimmungen und Maßstäbe vor. Besonders im Nebeneinander der Bücher wird sichtbar, wie Erinnerung und Erwartung miteinander ringen und wie das Erleben des Tages kleine, aber bleibende Verschiebungen herbeiführt, die erst im längeren Verlauf ihre Tragweite zeigen.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Geschmack und Kunst als Marker sozialer Zugehörigkeit. Sammeln, Einrichten, Ausstellen – diese Praktiken strukturieren Beziehungen und zeigen, wie das Schöne zwischen Genuss, Status und Besitzanspruch oszilliert. Die Sammlung führt vor, wie ästhetische Urteile zu Stellvertretern moralischer und sozialer Positionen werden. Dabei bleibt der Ton gelassen: statt Verdammung bietet die Erzählung genaue Beobachtung, die Unterschiede fühlbar macht. So wird ersichtlich, wie Klasse sich weniger durch Parolen als durch Routinen, Orte und Formen der Aufmerksamkeit stabilisiert – und wie Risse in diesen Mustern langsam neue Möglichkeiten eröffnen.

Stilistisch verbindet die Saga sachliche Präzision mit empathischer Zurückhaltung. Ironie dient nicht der Bloßstellung, sondern der Klärung; Pathos bleibt gezügelt und gewinnt gerade so an Wirkung. Die Sammlung zeigt einen Autor, der die Komplexität seiner Figuren ernst nimmt und Konflikte über Ton, Rhythmus und Blickführung modelliert. Wiederkehrende Leitmotive geben der Folge inneren Zusammenhalt, während jede Episode ihre eigene Farbe behält. Diese Maßhaltung macht das Werk dauerhaft anschlussfähig: Es erlaubt heutiger Lektüre, historische Distanz und gegenwärtige Erfahrung in Beziehung zu setzen, ohne auf einfache Urteile oder erklärende Übergriffe angewiesen zu sein.

Als Ganzes gelesen, ist diese Sammlung mehr als die Summe ihrer Teile: ein sorgfältig komponiertes Bild bürgerlicher Kultur im Übergang. Sie bietet Orientierung für Erstleserinnen und -leser und vertieft die Erfahrung all jener, die einzelne Titel kennen und nun die Verflechtungen wahrnehmen möchten. Die Gründe für die anhaltende Bedeutung liegen in der Mischung aus analytischer Schärfe und menschlicher Wärme, in der geduldigen Darstellung von Wandel und in der Kunst, Konflikte nuanciert zu halten. Indem die Abfolge bewahrt wird, bleibt die innere Musik hörbar, die Galsworthys Erzählwelt zusammenhält und über ihre Zeit hinaus trägt.

Autorenbiografie

Inhaltsverzeichnis

John Galsworthy (1867–1933) war ein englischer Romanautor, Dramatiker und Essayist der Übergangszeit von der Spätviktorianik zur Zwischenkriegszeit. International bekannt wurde er durch den Romanzyklus The Forsyte Saga, dessen präziser Realismus Eigentum, Klasse und gesellschaftliche Konventionen seziert. Seine Bühnenstücke – von The Silver Box bis Justice – verbanden erzählerische Strenge mit sozialkritischem Anliegen. 1932 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Galsworthy gilt heute als maßgebliche Stimme des edwardianischen Realismus, dessen klare Prosa und moralische Fragestellungen das literarische Leben Großbritanniens im frühen 20. Jahrhundert prägten und eine Brücke zwischen viktorianischer Tradition und moderner Sensibilität schlugen.

Aufgewachsen in Surrey, erhielt Galsworthy eine klassische Ausbildung an der Harrow School und am New College in Oxford. Er studierte Rechtswissenschaften, wurde zur Anwaltschaft zugelassen, praktizierte jedoch nicht, sondern bereiste zunächst im Rahmen familiärer Wirtschaftsinteressen die Welt. Auf einer Seereise in den 1890er-Jahren lernte er Joseph Conrad kennen; die Freundschaft bestärkte seinen literarischen Weg. Früh veröffentlichte er unter dem Pseudonym John Sinjohn, bevor er seinen Namen annahm. Prägend waren der englische Realismus der Jahrhundertwende und das europäische Gesellschaftsdrama, die seine Aufmerksamkeit für soziale Mechanismen, rechtliche Strukturen und die psychologischen Unterströmungen einer im Wandel begriffenen Gesellschaft schärften.

Mit The Island Pharisees (1904) fand Galsworthy zu einer unverwechselbaren Stimme, die Sittenkritik und psychologische Beobachtung verband. Den Durchbruch brachte The Man of Property (1906), der Auftakt der Forsyte-Chronik. In nüchterner, klar gegliederter Prosa zeichnet er die Obsessionen einer wohlhabenden Schicht, in der Besitz zur moralischen Kategorie wird. Die Resonanz war stark: Publikumserfolg und kritische Debatten befeuerten eine Fortsetzung, in der Galsworthy das Spannungsfeld von Individuum und Konvention weiter auslotete. Sein Erzählen setzt weniger auf Sensationsmomente als auf eine beharrliche, ironisch gebrochene Analyse, die die Härten eines scheinbar stabilen Gesellschaftsgefüges sichtbar macht.

Parallel etablierte sich Galsworthy als bedeutender Dramatiker. The Silver Box (1906) eröffnete eine Folge von Problemstücken über Gerechtigkeit, Klassenverhältnisse und Loyalität. The Country House (1907) und Strife (1909) schärften sein Profil als Autor scharf beobachteter Konflikte zwischen Kapital und Arbeit. Mit Justice (1910) trug er maßgeblich zur öffentlichen Diskussion über das Strafsystem bei; das Stück wurde vielfach gespielt und von Zeitgenossen als Anstoß zu Reformüberlegungen gelesen. Später festigte Loyalties (1922) seinen Rang, indem es Loyalität, Vorurteil und sozialen Druck vielstimmig verhandelte. Seine Bühnenarbeit zeichnen Ökonomie, Dialogkraft und ein sachlicher, doch empathischer Blick aus.

Über die Literatur hinaus engagierte sich Galsworthy institutionell und gesellschaftlich. Als Gründungsfigur von PEN International übernahm er 1921 dessen Präsidentschaft und setzte sich für Austausch und Schutz von Schriftstellerinnen und Schriftstellern ein. Während des Ersten Weltkriegs unterstützte er Hilfsarbeit im Umfeld des Britischen Roten Kreuzes und publizierte Essays, die humanitäre Anliegen betonten. In der Kurzprosa erreichte er mit The Apple Tree besondere Bekanntheit; die Erzählung zeigt seine Fähigkeit, Erinnerung, Landschaft und moralische Entscheidung in konzentrierter Form zu verschränken. Sein Gesamtwerk bleibt thematisch kohärent: Rechtsbewusstsein, Mitgefühl und Skepsis gegenüber gesellschaftlichen Dogmen bilden die wiederkehrenden Linien.

In den 1920er-Jahren führte Galsworthy die Forsyte-Welt mit In Chancery (1920) und To Let (1921) fort und erweiterte das Panorama später in den Zyklen A Modern Comedy (1924–1928) und End of the Chapter (1930–1931). Neben den Chroniken erschienen eigenständige Romane wie The Dark Flower, die intime Beziehungen und moralische Dilemmata mit zurückhaltender Intensität erkunden. Seine erzählerische Meisterschaft wurde 1932 durch den Nobelpreis gewürdigt, insbesondere für die künstlerische Geschlossenheit und gesellschaftliche Durchdringung der Forsyte-Romane. Trotz der Aufbrüche der literarischen Moderne behauptete er eine eigenständige Position, die Tradition und Zeitkritik ausbalancierte und ein breites Publikum erreichte.

Galsworthy starb 1933, kurz nach der internationalen Anerkennung seines Lebenswerks. Sein Einfluss reicht über die Romane hinaus: Die Stücke werden weiterhin neu inszeniert, und die Familienchroniken bleiben Referenztexte zur Darstellung der englischen Oberschicht im Wandel. Adaptionen in unterschiedlichen Medien haben die Reichweite seiner Stoffe vergrößert, ohne die subtile moralische Architektur zu nivellieren, die sein Schreiben trägt. Als erster Präsident von PEN International und als Chronist einer Klasse, deren Selbstbild über Besitz definiert ist, hinterließ er ein doppelt wirkendes Vermächtnis: literarisch prägend, institutionell verbindend – und bis heute Gegenstand ernsthafter Lektüre und Diskussion.

Historischer Kontext

Inhaltsverzeichnis

Die Werke spielen in einem England, das vom späten Viktorianismus in die edwardianische Epoche und die frühen Jahre Georgs V. übergeht. London wächst rasant; 1901 zählt die Metropole über 6,5 Millionen Einwohner. Die bürgerliche Oberschicht aus Anwälten, Maklern, Bauherren und Kaufleuten definiert sich über Eigentum, Respektabilität und Familienkontinuität. Dieses Milieu, geprägt durch Queen Victorias lange Herrschaft (1837–1901) und die Kontraste der Jahre unter Edward VII. (1901–1910), liefert die Bühne, auf der Fragen von Besitz, Ehe und sozialem Prestige verhandelt werden. Die Saga spiegelt dabei einen breiten historischen Wandel von den 1880er Jahren bis in die unmittelbare Nachkriegszeit.

John Galsworthy (1867–1933), geboren in Kingston upon Thames, studierte in Harrow und am New College, Oxford, und wurde 1889 als Barrister zur Anwaltschaft berufen, übte den Beruf jedoch nicht aus. Reisen auf See in den 1890er Jahren und eine liberale, reformorientierte Haltung prägten sein realistisches Schreiben. Seine Dramen, etwa Justice (1910), trugen zur öffentlichen Debatte über Strafrechts- und Gefängnisreformen bei. 1932 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Diese biografische Verortung erklärt das präzise juristische und soziale Wissen, das sich durch die Romane zieht: Ehe- und Eigentumsfragen werden nicht nur psychologisch, sondern im Lichte konkreter Institutionen und Gesetze verhandelt.

Die Entstehungsgeschichte der Romane spiegelt die Erosion einer viktorianischen Werteordnung. Das erste Buch erschien 1906, Fortsetzungen folgten 1918, 1920 und 1921, begleitet von zwei Zwischenspielen. Die erzählte Zeit setzt in den späten 1880er Jahren ein und reicht bis in das nachkriegsgeprägte Großbritannien der frühen 1920er. Dadurch überbrücken die Texte drei Regentschaften – Victoria, Edward VII. und George V. (ab 1910) – und dokumentieren den Übergang von einer gesicherten, eigentumsorientierten Kultur zu einer Gesellschaft, in der Mobilität, Unsicherheit und neue politische Kräfte die Agenda bestimmen.

Die rasch expandierende Stadtlandschaft Londons bildet den räumlichen Kern. Nach der Eröffnung der Metropolitan Railway 1863 beschleunigte sich die Suburbanisierung; um 1900 verdichteten sich Viertel wie Kensington, Bayswater und St John’s Wood. Spekulatives Bauen auf Leasehold-Grundstücken der großen Landbesitzer – etwa der Grosvenor- oder Cadogan-Estates – prägte die Architektur. 99-jährige Pachtverträge, Hypotheken und die Arbeit einer aufstrebenden Architektenschaft in der Tradition von Arts and Crafts (William Morris, C. F. A. Voysey) schufen repräsentative, zugleich standardisierte Stadthäuser und Villen. In diesem Rahmen werden Fragen von Geschmack, Status und der finanziellen Logik des Bauens literarisch konkret.

Eigentumspolitik und Steuern veränderten die Vermögensstrategien der bürgerlichen Elite. Mit dem Finance Act 1894 führte Sir William Harcourt die Estate Duty ein, die Erbschaften progressiv besteuerte und Familienstiftungen unter Druck setzte. Die People’s Budget von David Lloyd George (1909) verschärfte durch Grund- und Luxussteuern sowie Super-Tax die Umverteilung und löste die Verfassungskrise mit dem Oberhaus aus, die im Parliament Act 1911 dessen Vetorecht begrenzte. Wirtschaftliche Schocks – die Baring-Krise 1890 und die Finanzpanik von 1907 – illustrieren die Verwundbarkeit portfolioorientierter Lebensentwürfe, die in den Romanen als Mischung aus Vorsicht, Berechnung und Angst vor Verlust sichtbar werden.

Die rechtlichen Rahmenbedingungen bilden eine durchgängige Tiefenstruktur. Die Judicature Acts von 1873–1875 integrierten die bislang getrennten Gerichtsbarkeiten von Common Law und Equity; die Chancery Division blieb für Trusts, Nachlass- und Familiensachen maßgeblich. Ehe- und Vermögenssicherung erfolgte über Heiratsverträge, Settlements und Treuhandkonstruktionen, die zugleich Intimität regelten und Gefühle ökonomisierten. Der kostspielige, langwierige Charakter von Verfahren – ob in der Chancery oder im High Court in the Strand – ist Teil der sozialen Realität: Recht ist ein Instrument der Besitzenden, aber auch eine Bühne, auf der Reputationen, Erbenfolgen und der Wert von Kunst- und Grundeigentum verhandelt werden.

Die Ehedoktrin wandelte sich langsam. Mit dem Matrimonial Causes Act 1857 wurde die Zivilscheidung eingeführt; nachfolgende Reformen bis 1923 erweiterten die Zugangsmöglichkeiten, blieben jedoch geschlechtsasymmetrisch. Die Married Women’s Property Acts von 1870 und 1882 gaben verheirateten Frauen schrittweise Kontrolle über eigenes Vermögen und Einkommen. Diese gesetzlichen Veränderungen kollidierten mit Normen von Häuslichkeit und Gehorsam, die die Mittelklasse in Ratgebern und Periodika propagierte. Ehe erscheint dadurch als vertragliche, finanziell abgesicherte Institution, deren Bruch nicht nur moralische, sondern erhebliche materielle Folgen nach sich zieht – ein Spannungsfeld, das die gesamte Erzählung durchzieht.

Parallel dazu verschob sich die Geschlechterpolitik. Die National Union of Women’s Suffrage Societies (1897, Millicent Fawcett) und die radikalere Women’s Social and Political Union (1903, Emmeline Pankhurst) machten Wahlrecht und Autonomie zur Massenfrage. Der Representation of the People Act 1918 verlieh Millionen Männern und Frauen (über 30 mit Eigentumsqualifikation) das Wahlrecht; 1928 folgte Gleichstellung ab 21 Jahren. Der Sex Disqualification (Removal) Act 1919 öffnete Berufe wie Anwaltschaft und Verwaltung. Diese Öffnungen erlauben figurenübergreifende Lesarten: weibliche Selbstbehauptung, berufliche Ambitionen und eine langsam erodierende männliche Verfügungsgewalt über Körper, Zeit und Vermögen sind strukturprägende Hintergründe.

Die Sphäre der Kunst fungiert als ästhetisches Kapital. Seit den 1880er Jahren verband die Aesthetic Movement um James McNeill Whistler und Oscar Wilde Geschmack mit sozialem Aufstieg. Der Kunsthandel professionalisierte sich; Händler wie Joseph Duveen etablierten in den 1900er Jahren globale Märkte für Alte Meister. Mit der Eröffnung der Tate Gallery 1897 gewann London ein neues Museum für britische Kunst. Sammlungen, Interieurs und die Aura des Originals wurden zu Zeichen bürgerlicher Distinktion. Gleichzeitig verschmilzt Kunst mit Investment: Versicherungen, Provenienzfragen und Prestigekäufe an der Bond Street machen ästhetische Präferenzen zu bilanzierbaren, vererbbaren Vermögenswerten.

Die Innenräume bürgerlicher Haushalte sind Schnittstellen von Konsum und Moral. Kaufhäuser wie Harrods (Knightsbridge) expandierten in den 1890er Jahren; Liberty & Co. (gegründet 1875) prägte Stoffe und Interieurs im Arts-and-Crafts- und Jugendstil. Bedienungen, Gouvernanten, Kutscher und später Chauffeure machten häusliche Ordnung sichtbar; die Volkszählung 1911 weist den häuslichen Dienst als größte weibliche Erwerbsgruppe aus. Tischsitten, Sonntagsruhe, Mitgliedschaften in Clubs im West End und die Pflicht zu repräsentativen Festen kodifizieren Zugehörigkeit. Der Haushalt wird damit zum Spiegel ökonomischer Macht und zum Schauplatz von Verhandlungen zwischen Geschmack, Anstand, Begehren und Pflicht.

Das Imperium bildet den geopolitischen Horizont. Unter dem Banner der Pax Britannica erreichte das Empire um 1900 seine größte Ausdehnung; dennoch markierte der Zweite Burenkrieg (1899–1902) eine moralische Zäsur. Kriegsberichte, Konzentrationslager und hohe Kosten erschütterten Gewissheiten der Mittelklasse. Innenpolitisch setzten die liberalen Regierungen unter H. H. Asquith und David Lloyd George zwischen 1906 und 1914 Sozialreformen durch: der Old Age Pensions Act 1908 und der National Insurance Act 1911 etablierten Elemente eines Wohlfahrtsstaates. Diese Maßnahmen forderten eine Schicht heraus, die ihre Selbstgenügsamkeit, Mildtätigkeit und Steuervermeidung als Tugenden verstand und nun neu justieren musste.

Zwischen 1911 und 1914 kam es zur Welle der Great Unrest mit landesweiten Streiks in Hafen-, Eisenbahn- und Bergbaugewerbe. Das Labour Representation Committee (1900) entwickelte sich zur Labour Party, die 1906 im Unterhaus verankert war. Der Osborne Judgment (1909) beschränkte zunächst Gewerkschaftsbeiträge für politische Zwecke, bis der Trade Union Act 1913 dies korrigierte. Für Eigentümerfamilien bedeutete dies eine Erosion der vermeintlichen Sozialharmonie: steigende Löhne, Arbeitskämpfe und die Aussicht auf politische Machtverschiebungen bedrohten die Stabilität von Dividenden, Mieten und Investitionen – und trübten die Gewissheit, dass Kapital allein Ordnung stifte.

Technik revolutionierte Lebensrhythmen. Der Motor Car Act 1903 regelte Geschwindigkeiten und Zulassungen; bis 1910 verbreitete sich das Automobil als Statussymbol. Elektrizität ersetzte Gaslicht in wohlhabenden Häusern; Telefone vernetzten City und Vororte. Die Wochenendmobilität stärkte Landhaus- und Golfkultur, während Clubs, Restaurants und Theater im West End die urbane Geselligkeit kodifizierten. Die Verfügbarkeit schneller Transportmittel und die Beschleunigung der Kommunikation erzeugten neue Zeitökonomien, in denen Verschwiegenheit, Überwachung und Gerüchte florierten. Die Romane spiegeln damit einen Takt, in dem verpasste Züge, diskrete Kutschen und der neue Wagen zugleich Handlungsspielraum und soziale Kontrolle markieren.

Der Erste Weltkrieg (1914–1918) zerstörte die Grundannahmen einer sicheren bürgerlichen Zukunft. Die allgemeine Wehrpflicht 1916, massenhafte Verluste an der Somme und in Passchendaele, Kriegsanleihen und Zwangswirtschaft prägten Alltag und Haushaltsbudgets. Die Spanische Grippe (1918–1920) forderte zusätzlich hunderttausende Tote in Großbritannien. Frauen ersetzten Männer in Büros, Werkstätten und auf dem Land, kehrten aber 1919 teilweise in prekäre häusliche Abhängigkeiten zurück. Die Nachkriegsinflation, Rentenkontrollen (Increase of Rent and Mortgage Interest [War Restrictions] Act 1915) und die Wohnungsnot veränderten Stadt und Moral – eine Umbruchslage, die in den späten Teilen der Erzählung allgegenwärtig ist.

Intellektuell steht der Zyklus im Spannungsfeld zwischen realistischem Erzählen und der aufkommenden literarischen Moderne. Zeitgenossen wie Thomas Hardy, H. G. Wells und Arnold Bennett pflegten soziale Beobachtung, während Virginia Woolf (ab 1910 Bloomsbury) und James Joyce (Ulysses 1922) Formen radikal erneuerten. Galsworthy hielt an einer transparenten, juristisch präzisen Prosa fest. Verlagspraktiken um 1900 – Dreivolumen-Romane, Leihbibliotheken wie Mudie’s, später Zeitschriftenvorabdrucke – bestimmten Reichweite und Rhythmus der Publikation. Das Copyright Act 1911 vereinheitlichte das Urheberrecht im Empire und stabilisierte Einnahmen. Diese Medien- und Marktbedingungen rahmen die Entstehung und Rezeption der gesamten Reihe.

Das Wohnungsregime erklärt viele Motive von Besitz und Verlust. Londons Leasehold-System band Häuser über Jahrzehnte an Grundbesitzer; Ground Rents und Reparaturpflichten machten Eigentum zu einer kalkulierten Bürde. Nach 1915 begrenzten Rent Acts Mieterhöhungen, 1920 wurden Regelungen erweitert, was Renditen drückte und den Markt mit Schildern To Let füllte. Gleichzeitig propagierten Planer der London County Council (ab 1889) und der Addison Act 1919 kommunale Wohnsiedlungen. Für eine Klasse, die Prestige über Adresse und Fassade definierte, bedeutete dies strukturelle Unsicherheit: der Niedergang klassischer Stadtpalais, die Verlagerung in Vororte und neue Formen des Kapitalerhalts.

Im Ganzen zeichnen die Romane den Weg einer Eigentümerkultur, die zwischen 1886 und den frühen 1920er Jahren von Triumphen zu Selbstzweifeln wandert. Sie verbinden präzise Daten und Orte – Londoner Gerichtshöfe im Strand, Galerien der Bond Street, Vororte auf der Great Western Railway – mit Gesetzen und politischen Konflikten, die Eigentum, Ehe und Reputation formen. Die zeitgenössische Resonanz nach 1921 bestätigte den Typus des ‚Forsyte‘ als Chiffre der englischen Mittelschicht. Spätere Adaptionen, etwa die BBC-Serie 1967, machten diese Lesart kanonisch. Historisch bleibt zentral: Der Übergang von Besitzgewissheit zu rechtlich und moralisch fragiler Moderne.

Synopsis (Auswahl)

Inhaltsverzeichnis

Der reiche Mann

Soames Forsyte, Inbegriff des Besitzbürgertums, versucht sein Leben und seine Ehe wie Eigentum zu verwalten; die Spannungen zwischen Besitzanspruch und individueller Freiheit setzen die zentralen Konflikte der Forsyte-Familie in Gang.

Nachsommer

Ein leises Zwischenspiel um Old Jolyon und Irene, das späte Zuneigung, Reue und familiäre Loyalität beleuchtet und die kommenden Umbrüche vorbereitet.

In Fesseln

Die Forsytes geraten in juristische und moralische Verstrickungen rund um Ehe, Scheidung und gesellschaftlichen Ruf, während sich Beziehungen zwischen alten und jungen Generationen neu ordnen.

Erwachen

Aus der Perspektive des heranwachsenden Jon zeigt dieses Intermezzo das Erwachen von Empfindsamkeit und Identität und deutet künftige Konflikte an.

Zu vermieten

Die nächste Generation – insbesondere Fleur Forsyte und Jon – steht vor einer Kollision von Liebe und Loyalität, in der die ungelösten Konflikte der Eltern nachwirken; das Motiv des ‚Zu vermieten‘ markiert den Übergang von Besitzfixierung zu wandelnden Werten.

Die Forsyte-Saga

Hauptinhaltsverzeichnis
Der reiche Mann
Nachsommer
In Fesseln
Erwachen
Zu vermieten

Der reiche Mann

Inhaltsverzeichnis
Erster Teil
Erstes Kapitel
Empfang beim alten Jolyon
Zweites Kapitel
Der alte Jolyon geht in die Oper
Drittes Kapitel
Mittagessen bei Swithin
Viertes Kapitel
Bauprojekte für das Haus
Fünftes Kapitel
Eine Forsytesche Häuslichkeit
Sechstes Kapitel
James auf eigene Hand
Siebentes Kapitel
Des alten Jolyon Niederlage.
Achtes Kapitel
Baupläne
Neuntes Kapitel
Tante Anns Tod
Zweiter Teil
Erstes Kapitel
Der Bau des Hauses
Zweites Kapitel
Junes Fest
Drittes Kapitel
Spazierfahrt mit Swithin
Viertes Kapitel
James sieht selber nach
Fünftes Kapitel
Soames und Bosinney korrespondieren
Sechstes Kapitel
Der alte Jolyon im Zoo
Siebentes Kapitel
Ein Nachmittag bei Timothy
Achtes Kapitel
Ball bei Roger
Neuntes Kapitel
Der Abend in Richmond
Zehntes Kapitel
Diagnose eines Forsyte
Elftes Kapitel
Bosinney und Soames
Zwölftes Kapitel
June macht einige Besuche
Dreizehntes Kapitel
Vollendung des Hauses
Vierzehntes Kapitel
Soames sitzt auf der Treppe
Dritter Teil
Erstes Kapitel
Mrs. Mac Anders Wahrnehmungen
Zweites Kapitel
Nacht im Park
Drittes Kapitel
Die Begegnung im Botanischen Garten
Viertes Kapitel
Auf dem Weg ins Inferno
Fünftes Kapitel
Die Verhandlung
Sechstes Kapitel
Soames überbringt eine Nachricht
Siebentes Kapitel
Junes Sieg
Achtes Kapitel
Bosinneys Ende
Neuntes Kapitel
Irenens Rückkehr

»... Ihr antwortet: Die Sklaven sind ja unser...«

Kaufmann von Venedig.

Erster Teil

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Empfang beim alten Jolyon

Inhaltsverzeichnis

Wer einem Familienfeste der Forsytes beiwohnen durfte, sah etwas Erfreuliches und Lehrreiches vor sich – eine Familie des besseren Mittelstandes in vollem Staat. Besaß einer dieser Begünstigten aber die Gabe psychologischer Analyse (ein Talent ohne Geldwert und den Forsytes gänzlich unbekannt), so konnte er Zeuge eines Schauspiels sein, das nicht nur an sich ergötzlich war, sondern auch zur Illustration eines dunklen menschlichen Problems diente. Mit andern Worten, die Versammlung dieser Familie – in der nicht einer Zuneigung für den andern empfand, nicht drei ihrer Mitglieder ein Gefühl kannten, das Sympathie genannt zu werden verdiente – bestätigte ihm jenen geheimnisvollen festen Zusammenhang, der eine Familie zu einem so gefährlichen Ganzen in der Gesellschaft, einem so treuen Abbild der Gesellschaft im Kleinen macht. Es zeigte sich ihm ein flüchtiger Schimmer der dunklen Pfade sozialen Fortschritts, er erhielt einen Begriff von patriarchalischem Leben, vom Nomadenleben wilder Stämme, von der Blüte und dem Verfall der Nationen. Man könnte ihn dem vergleichen, der das Wachstum eines Baumes – einem Muster von Zähigkeit und Gedeihen auf seinem isolierten Standpunkt inmitten hundertanderer absterbender Pflanzen, die weniger stämmig, saftreich und widerstandsfähig sind – von Anfang an beobachtet hat und ihn eines Tages im vollen Schmuck seines zarten Laubes, in fast verblüffender Üppigkeit, auf der Höhe seiner Entfaltung vor sich sieht.

Am fünfzehnten Juni, Ende der achtziger Jahre, gegen vier Uhr nachmittags, hätte ein zufälliger Beobachter unter den Gästen im Hause des alten Jolyon in Stanhope Gate sich von der höchsten Blütezeit der Forsytes überzeugen können.

Der Anlaß des Empfanges war die Verlobung von Miß June Forsyte, der Enkelin des alten Jolyon, mit Mr. Philip Bosinney. Im Festschmuck ihrer hellen Handschuhe, gelben Westen, Federn und Kleider war die ganze Familie anwesend – selbst Tante Ann, die nur noch selten die Ecke im grünen Wohnzimmer ihres Bruders Timothy verließ, wo sie im Schutze eines Büschels gefärbter Pampasgräser in einer hellblauen Vase, von den Bildern dreier Generationen der Forsytes umgeben, den ganzen Tag lesend und strickend saß. Selbst Tante Ann war da; mit ihrem ungebeugten Rücken und der stillen Würde ihres alten Gesichts ein Bild starren Festhaltens an der Familienidee.

Wenn ein Forsyte sich verlobte, heiratete oder geboren wurde, waren die Forsytes dabei[1q]. Wenn ein Forsyte starb – aber bis jetzt war noch kein Forsyte gestorben; sie starben nicht, der Tod widersprach ihren Grundsätzen, sie trafen Vorsichtsmaßregeln dagegen, ganz instinktiv, wie Menschen von hoher Lebenskraft, die keine Eingriffe in ihr Eigentum dulden.

Den Forsytes, die sich heute unter die Schar der Gäste mischten, war eine größere Sorgfalt in ihrer Erscheinung anzumerken, eine wachsame, inquisitorische Sicherheit, eine gediegene Solidität, als wären sie darauf gefaßt, sich gegen irgend etwas zu wehren. Derdem Gesicht von Soames Forsyte eigene schnüffelnde Zug hatte sich ihren Reihen mitgeteilt; sie waren auf ihrem Posten.

Die halb unbewußte Feindseligkeit ihrer Haltung stempelte den Empfang beim alten Jolyon zum psychologischen Moment der Familiengeschichte, machte ihn zum Vorspiel ihres Dramas.

Etwas verstimmte die Forsytes, nicht persönlich, aber als Familie; und diese Verstimmung äußerte sich in einer mehr als sorgfältig gewählten Kleidung, einem Übermaß von Familienherzlichkeit, einer übertriebenen Betonung der Familienwürde – und in jenem ›Schnüffeln‹. Was die Forsytes witterten, war Gefahr – und eine solche war kaum zu vermeiden, wenn man den Grundeigenschaften einer Gesellschaft, einer Gruppe oder eines Individuums auf die Spur kommen wollte; die Vorahnung einer Gefahr verlieh ihren Waffen Glanz. Zum ersten Mal schienen sie als Familie das Gefühl zu haben, mit einer unbekannten, unsichern Sache in Berührung zu kommen.

Am Klavier drüben stand ein beleibter, stattlicher Mann mit zwei Westen über der breiten Brust, mit zwei Westen und einer Rubinnadel anstatt einer Atlasweste und der Diamantnadel für mehr gewöhnliche Gelegenheiten, und sein glattrasiertes, breites, altes Gesicht von der Farbe blassen Leders, mit den hellen Augen über der Atlasbinde, hatte seine würdevollste Miene aufgesteckt. Dicht am Fenster, wo er mehr als genug frische Luft schöpfen konnte, schaute vornübergeneigt wie immer, sein Zwillingsbruder James versunken auf das Schauspiel vor ihm. Wie der beleibte Swithin war er über sechs Fuß hoch, aber sehr hager, als sei er von Geburt an dazu bestimmt, das Gleichgewicht herzustellen und den Durchschnitt aufrecht zu erhalten – den Dicken und den Dünnen nannte deralte Jolyon diese beiden. Seine grauen Augen hatten einen Ausdruck völliger Vertieftheit in geheime Unruhe, die nur zuweilen durch einen raschen prüfenden Blick auf die Vorgänge um ihn her unterbrochen wurde, und seine Wangen, die zwei gleichlaufende Falten und eine glattrasierte Oberlippe schmal erscheinen ließen, waren von langen Koteletts umrahmt. In den Händen drehte er einen Porzellangegenstand hin und her. Nicht weit davon, neben einer Dame in Braun, der er zuhörte, sah man blaß und gutrasiert, mit dunklem Haar, aber ziemlich kahl, das Kinn seitwärts vorgeschoben, seinen einzigen Sohn Soames, der die Nase mit dem bewußten »Schnüffeln« hob, als verschmähe er ein Ei, das für ihn unverdaulich war. Hinter ihm sein Vetter, der lange George, ein Sohn Rogers, des fünften Forsyte, mit dem durchtriebenen Blick in dem fleischigen Gesicht, über einem seiner boshaften Späße grübelnd.

Auf allen lastete ein Druck, der mit der festlichen Veranlassung in Zusammenhang stand.

In einer Reihe, dicht neben einander, saßen drei Damen – die Tanten Ann, Hester (die beiden alten Jungfern der Familie Forsyte) und Juley (Abkürzung von Julia), die sich, und nicht einmal in ihrer ersten Jugend, so weit vergessen hatte, Septimus Small, einen Mann von schwächlicher Konstitution, zu heiraten. Sie hatte ihn um viele Jahre überlebt. Jetzt wohnte sie mit ihrer älteren und jüngeren Schwester im Hause ihres sechsten und jüngsten Bruders Timothy am Bayswater Road. Jede dieser Damen hielt einen Fächer in der Hand und betonte durch eine Farbennote, eine effektvolle Feder oder Brosche das Festliche der Gelegenheit.

Mitten im Zimmer, unter dem Kronleuchter, stand, wie es sich für einen Wirt gebührt, das Haupt derFamilie, der alte Jolyon selbst. Mit seinen achtzig Jahren, dem schönen weißen Haar, der hochgewölbten Stirn, den kleinen dunkelgrauen Augen und einem mächtigen, herabhängenden Schnurrbart, der über die ganze Breite seiner starken Kinnladen reichte, glich er einem Patriarchen, und trotz der hagern Wangen und eingefallenen Schläfen schien er über eine unversiegbare Jugendkraft zu verfügen. Er hielt sich außerordentlich aufrecht, seine scharfen ruhigen Augen hatten nichts von ihrem hellen Glanz verloren, und er erweckte so, dem Zweifel und der Unentschlossenheit unbedeutenderer Menschen gegenüber, den Eindruck von Überlegenheit. Nachdem er unzählige Jahre hindurch seinen eigenen Weg gegangen war, hatte er ein unbestrittenes Recht darauf erworben, und niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, Bedenken oder Mißtrauen zu hegen.

Zwischen ihm und den vier andern Brüdern, James, Swithin, Nicholas und Roger, die sich alle eingefunden hatten, herrschte große Verschiedenheit und große Ähnlichkeit. Jeder einzelne dieser Brüder war sehr verschieden von den andern, und doch glichen sie sich alle.

Bei aller Abweichung in Zügen und Ausdruck dieser fünf Gesichter war eine gewisse Festigkeit des Kinns auffallend, das trotz äußerlicher Unterschiede als ein Rassenmerkmal – die wahre Zunftmarke und Gewähr für den Familienwohlstand – gelten konnte, aber zu lange bestand, und aus zu ferner Vorzeit stammte, um nachgewiesen und festgestellt zu werden.

Bei der jüngeren Generation, dem großen stierähnlichen George, dem bleichen kraftvollen Archibald, dem jungen Nicholas mit seinem liebenswürdig schüchternen Eigensinn und dem ernsten, in seiner Entschiedenheit fast albernen Eustace, bemerkte man, wenigerausgesprochen vielleicht, aber unverkennbar, dasselbe Merkmal – ein unausrottbares Zeichen des Familiencharakters.

Auf allen diesen ungleichartigen und doch so ähnlichen Gesichtern hatte sich im Laufe des Nachmittags mitunter ein Ausdruck des Argwohns gezeigt, dessen Gegenstand offenbar der Mann war, den kennen zu lernen, sie sich hier versammelt hatten.

Sie wußten, daß Philip Bosinney ein junger Mann ohne Vermögen war, aber Forsytesche Mädchen hatten sich auch früher mit solchen verlobt und sie dann auch wirklich geheiratet. Dies also war nicht eigentlich der Grund ihrer Besorgnis. Sie hätten den Ursprung dieser durch den Nebel des Familienklatsches verdunkelten Bangigkeit nicht erklären können. Jedenfalls ging das Gerücht, er habe seinen Antrittsbesuch bei den Tanten Ann, Hester und Juley in einem weichen grauen Hut gemacht! – in einem weichen grauen Hut! und nicht einmal in einem neuen – sondern in einem verstaubten, formlosen Ding. »Unglaublich, nicht wahr – sehr merkwürdig!« Als Tante Hester durch den kleinen dunklen Flur ging, hatte sie versucht (sie war ziemlich kurzsichtig) das Ding vom Stuhl hinunter zu scheuchen, da sie es für eine gemeine fremde Katze hielt – ihr Tommy hatte so kompromittierende Freunde! Sie war ganz verstört, als es sich nicht rührte.

Wie ein Künstler beständig die bedeutsame Kleinigkeit zu entdecken sucht, in der sich der ganze Charakter einer Szene, eines Ortes oder eines Individuums verkörpert, waren die Forsytes, diese unbewußten Künstler, ganz intuitiv an diesem Hute haften geblieben. Das war für sie die bedeutsame Kleinigkeit, der kleine Nebenumstand, der die Bedeutung der ganzen Sache in sich faßt; denn jeder hatte sich gefragt:»Hättestdudiesen Besuch in solchem Hut gemacht?« und jeder hatte erwidert »Nein!« und einige mit mehr Phantasie hatten hinzugefügt: »So etwas wäre mir nie in den Sinn gekommen!«

Als George die Geschichte hörte, grinste er. Mit dem Hut hatte der junge Mann sich offenbar einen Scherz erlaubt! Er selbst verstand sich auf dergleichen.

»Sehr kühn!« sagte er, »dieser wilde Bukanier!«

Und diesesmot, »der Bukanier« ging von Mund zu Mund, bis er die Lieblingsform wurde, mit der man auf Bosinney anspielte.

Die Tanten machten June später Vorwürfe wegen des Hutes.

»Du hättest das nicht zulassen dürfen, mein Kind!« hatten sie gesagt.

Auf ihre herrisch lebhafte Art, in der sich die ganze Willenskraft des kleinen Geschöpfes offenbarte, hatte June geantwortet:

»Ach, was schadet das? Phil weiß nie, was er anhat.«

Niemand hätte eine so verwegene Antwort für möglich gehalten. Ein Mann sollte nicht wissen was er anhat? Unglaublich!

Wer war denn eigentlich dieser junge Mensch, der durch seine Verlobung mit June, der anerkannten Erbin des alten Jolyon, so gut für sich gesorgt hatte? Er war Architekt, das war an sich doch kein genügender Grund einen solchen Hut zu tragen. Von den Forsytes war zufällig keiner Architekt, aber einer von ihnen kannte zwei Architekten, die zu einem Pflichtbesuch in der Londoner Saison niemals solch einen Hut getragen hätten. Verdächtig – sehr verdächtig!

June natürlich fand gar nichts darin, aber sie stand auch, trotz ihrer neunzehn Jahre, in einem besondern Ruf. Hatte sie nicht zu Soames' Frau –die immer so wundervoll angezogen ging – gesagt, Federn wären ordinär? Und wirklich hatte Soames' Frau seitdem keine Federn mehr getragen, so schrecklich unverfroren war die liebe June.

Diese Besorgnisse, diese Mißbilligung und dies durchaus echte Mißtrauen hinderten die Forsytes jedoch nicht, sich auf die Einladung des alten Jolyon hin einzufinden. Ein Empfang in Stanhope Gate war eine große Seltenheit, seit dem Tode seiner Frau vor acht Jahren hatte keiner mehr stattgefunden.

Noch nie hatte sich dort eine so zahlreiche Gesellschaft versammelt, denn trotz aller Verschiedenheit im Geheimen eng mit einander verknüpft, hatten sie sich gegen eine gemeinsame Gefahr gewappnet. Wie eine Herde, wenn ein Hund ins Feld läuft, standen sie Kopf an Kopf und Schulter an Schulter, bereit den Eindringling niederzurennen und totzutrampeln. Offenbar waren sie auch gekommen um herauszufinden, welche Art von Geschenken schließlich wohl von ihnen erwartet wurde. Regelten sie die Frage der Hochzeitsgeschenke auch gewöhnlich in dieser Art: – »Was schenkstdu? Nicholas schenkt Löffel!« – so kam es doch sehr auf den Bräutigam an. War er gewandt, geschniegelt und von gefälligem Aussehen, so hielten sie es für geboten ihm auch hübsche Geschenke zu machen, das durfte er von ihnen erwarten. Zuletzt gab jeder freilich genau das, was durch eine Art von Familienübereinkommen als passend und schicklich festgesetzt wurde, wie die Preise auf der Börse festgesetzt werden, wobei die genauen Einzelheiten in Timothys behaglichem, am Park gelegenen Haus aus roten Ziegeln näher bestimmt wurden, wo die Tanten Ann, Hester und Juley wohnten.

Die Unruhe der Familie Forsyte war durch die einfache Erwähnung des Hutes gerechtfertigt. Hättenicht jede Familie des besseren Mittelstandes, die den ihr gebührenden äußeren Anstand zu wahren wußte, es für unmöglich und unrecht gehalten, sich hier nicht beunruhigt zu fühlen!

Der Urheber dieser Unruhe stand im Gespräch mit June an der nächsten Tür. Sein lockiges Haar war zerzaust, und er sah aus, als fände er alles ungewöhnlich, was um ihn her vorging. Seine Miene verriet auch, daß er seinen Spaß daran hatte.

George, der sich halblaut mit seinem Bruder Eustace unterhielt, sagte:

»Er sieht aus, als wolle er sich aus dem Staube machen – der flotte Bukanier!«

Dieser »sehr sonderbar aussehende Mann«, wie Mrs. Small ihn hernach nannte, war von mittlerer Größe und kräftig gebaut, hatte ein bleiches, braunes Gesicht, einen staubfarbenen Schnurrbart, sehr vorstehende Backenknochen und hohle Wangen. Seine Stirn stieg bis zum Wirbel des Kopfes hinauf und trat über den Augen in Höckern hervor, wie man es an Löwenstirnen im Zoo sehen kann. Er hatte Augen von der Farbe des Sherry, mit einem zuweilen beunruhigend zerstreuten Blick. Der Kutscher des alten Jolyon sollte, nachdem er June und Bosinney ins Theater gefahren hatte, zum Butler, dem Haushofmeister, gesagt haben:

»Aus dem wer ich nich klug. Mir kommt er wahrhaftig vor wie 'n ›Jahrmarkts-Tiger‹!«

Und hin und wieder tauchte ein Forsyte in der Nähe auf, schob sich vorbei und warf dabei einen Blick auf ihn.

June – das winzige Ding, »ganz Haar und Geist«, wie jemand einmal gesagt hatte, mit furchtlosen blauen Augen, einem festen Mund und leuchtenden Farben, stand vor ihm und wehrte diese müßigeNeugierde ab – Gesicht und Körper waren fast zu zart für ihre Krone rotgoldenen Haares.

Eine große Dame von schöner Gestalt, ein Familienmitglied hatte sie einmal mit einer heidnischen Göttin verglichen, beobachtete die beiden mit einem schattenhaften Lächeln.

Sie hielt die Hände in perlgrauen Handschuhen gekreuzt, das ernste schöne Gesicht zur Seite gewandt, und die Blicke aller Männer in der Nähe ruhten darauf. Ihre biegsame Gestalt wiegte sich, wie vom bloßen Lufthauch bewegt. Es war Wärme in ihren Wangen, aber wenig Farbe; ihre großen dunklen Augen blickten sanft. Aber die Männer schauten auf ihre Lippen, wenn sie mit jenem schattenhaften Lächeln eine Frage stellte oder eine Antwort gab. Es waren sensitive Lippen, süß und sinnlich, und wie von einer Blume, schien Wärme und Duft von ihnen auszuströmen.

Von dem Brautpaar war die stille Göttin und ihr forschender Blick bis jetzt unbemerkt geblieben. Bosinney entdeckte sie zuerst und fragte nach ihrem Namen.

June führte ihren Verlobten zu der Dame mit der schönen Figur.

»Irene ist meine allerbeste Freundin,« sagte sie. »Und ihr beide müßt auch gute Freunde werden.«

Alle drei lächelten bei dem Gebot des kleinen Wesens, und während sie noch lächelnd dastanden, tauchte Soames Forsyte geräuschlos hinter der Dame mit der schönen Figur auf, die seine Frau war, und sagte: »Bitte, stelle mich doch auch vor.«

Er entfernte sich bei öffentlichen Gelegenheiten nur selten von Irenens Seite, und wenn sie im Drang des gesellschaftlichen Verkehrs einmal getrennt wurden, konnte man sehen, wie seine Augen ihr mit einem seltsamenAusdruck von Wachsamkeit und Verlangen folgten.

Am Fenster untersuchte James, sein Vater, noch immer den Fabrikstempel auf dem Porzellan.

»Ich wundere mich, daß Jolyon diese Verbindung zugibt,« sagte er zu Tante Ann. »Wie ich höre, haben sie auf Jahre hinaus keine Aussicht sich zu heiraten. Dieser junge Bosinney (er machte im Gegensatz zu der üblichen Anwendung des offenen o einen Dactylus aus dem Wort) besitzt nichts. Als Winifred damals Dartie heiratete, sorgte ich dafür, daß er jeden Pfennig sicher anlegte – ein wahres Glück übrigens – sonst hätten sie jetzt nichts mehr!«

Tante Ann blickte von ihrem Sammetsessel auf. Graue Locken rahmten ihre Stirn ein, Locken, die seit Jahrzehnten unverändert, allen Sinn für Zeit in der Familie ausgelöscht hatten. Sie erwiderte nichts, denn sie sprach selten und schonte ihre alte Stimme, aber für James, der kein ganz ruhiges Gewissen hatte, war ihr Blick so gut wie eine Antwort.

»Ja,« sagte er, »ich konnte nichts dafür, daß Irene kein Geld hatte. Soames hatte es so eilig, er magerte sichtlich ab, als er sich so lange um sie bewarb.«

Verdrießlich stellte er die Schale aufs Klavier und ließ seine Augen zu der Gruppe an der Tür wandern.

»Meiner Ansicht nach,« sagte er ganz wider Erwarten, »ist es ganz gut so wie es ist!«

Tante Ann forderte ihn nicht auf, diese merkwürdige Äußerung zu erklären. Sie wußte was er dachte. Da Irene keine Mittel hatte, würde sie nicht so töricht sein dumme Streiche zu machen, denn es hieß – es hieß – sie habe getrennte Zimmer verlangt; aber Soames natürlich hatte nicht –

James unterbrach sie in ihrer Träumerei.

»Wo ist denn Timothy?« fragte er. »Ist er nicht mitgekommen?«

Über Tante Anns zusammengepreßte Lippen drängte sich ein Lächeln.

»Nein, er hat es nicht für ratsam gehalten, wo so viel Diphtheritis in der Luft liege und er so dazu neige, sich etwas zu holen.«

»Ja,erist sehr besorgt um sich,« erwiderte James. »Ich kann's mir nicht leisten, so besorgt um mich zu sein, wie er.«

Es war nicht leicht zu sagen, ob Bewunderung, Neid oder Verachtung in dieser Bemerkung vorherrschend war.

Timothy, das Baby der Familie, ließ sich in der Tat selten sehen. Er war Verleger von Beruf und hatte vor einigen Jahren, als das Geschäft noch in voller Blüte stand, eine Stockung vorausgewittert, die zwar noch immer nicht eingetreten war, aber nach der übereinstimmenden Meinung aller schließlich kommen mußte, darauf seinen Anteil an eine Firma verkauft, die sich hauptsächlich mit der Herstellung religiöser Bücher beschäftigte, und den ganz beträchtlichen Gewinn in goldsichern Papieren angelegt. Hierdurch war er sofort in eine völlig isolierte Stellung gekommen, denn kein Forsyte begnügte sich mit weniger als vier Prozent für sein Geld; und diese Isolierung hatte langsam aber sicher einen Geist unterminiert, der mehr zu Vorsicht neigte, als gemeinhin üblich war. Er war fast zur Mythe geworden – einer Art Verkörperung der Hypothekensicherheit, die im Hintergrund der Forsyteschen Welt spukte. Er hatte nie die Unklugheit besessen zu heiraten oder sich irgendwie mit Kindern zu behelligen.

James fuhr fort, indem er das Porzellan beklopfte:

»Das ist kein echtes altes Worcester. Jolyon hatdir doch wohl etwas über den jungen Mann gesagt. Nach allem wasichhöre, hat er weder ein Geschäft, noch ein Einkommen oder nennenswerte Verbindungen; aber ich weiß übrigens nichts – mir sagt keiner was!«

Tante Ann schüttelte den Kopf. Ein Zittern überflog ihr geierähnliches altes Gesicht mit dem eckigen Kinn; die spindeldürren Finger preßten und verflochten sich in einander, als wäre sie bemüht, ihre Willenskraft immer aufs neue anzuspannen.

Sie war um einige Jahre älter als die übrigen Forsytes und nahm deshalb eine besondere Stellung unter ihnen ein. Obwohl allesamt Opportunisten und Egoisten – wenngleich nicht mehr als ihre Nachbarn auch – schwand ihre Sicherheit doch ihrem unbestechlichen Wesen gegenüber, und wurde es ihnen einmal zu arg, so gingen sie ihr lieber aus dem Wege!

James schlug die langen dünnen Beine über einander und fuhr fort:

»Jolyon muß immer seinen eigenen Weg gehen. Er hat keine Kinder –« hier stockte er, denn ihm fiel ein, daß des alten Jolyon Sohn, der junge Jolyon, Junes Vater, noch existierte, der eine solche Torheit begangen und sich selbst um alles gebracht hatte, als er Weib und Kind im Stiche gelassen und mit der ausländischen Erzieherin durchgegangen war. »Na,« fing er hastig wieder an, »wenn er so was tut, muß er sich's wohl leisten können. Was gibt er ihr denn mit? Wohl tausend Pfund jährlich; er hat ja sonst niemand, dem er sein Geld hinterlassen kann.«

Er streckte die Hand aus, um sie einem lebhaften, glattrasierten Manne mit eingeknickter Nase, dicken Lippen und kalten grauen Augen unter rechtwinkligen Brauen zu reichen, der kaum ein Haar auf dem Kopfe hatte.

»Na, Nick,« brummte er, »wie geht's?«

Mit seiner vogelartigen Geschwindigkeit und dem Aussehen eines übernatürlich braven Schuljungen legte Nicholas Forsyte (er hatte es bei den Gesellschaften, deren Direktor er war, durchaus rechtmäßig, zu einem großen Vermögen gebracht) in diese kalte Hand seine noch kälteren Fingerspitzen und zog sie schnell wieder zurück.

»Mir geht's schlecht,« sagte er verdrießlich – »die ganze Woche schon; kann nachts nicht schlafen, der Doktor weiß nicht warum. Er ist ein tüchtiger Kerl, sonst hätte ich ihn nicht, aber ich bekomme nichts als Rezepte aus ihm heraus.«

»Doktoren!« fiel James ihm scharf ins Wort. »Ich hatte die Doktoren von ganz London für uns. Aus denen ist nichts Vernünftiges herauszubekommen, sie sagen einem irgend etwas. Da nimm zum Beispiel Swithin. Was haben sie dem genützt? Er ist dicker denn je, geradezu unförmig; sie bekommen sein Gewicht nicht herunter. Sieh ihn nur an!«

Swithin Forsyte, groß, vierschrötig und breit, mit einer Brust wie ein aufgeplusterter Täuberich im Staat seiner hellen Westen, kam gerade auf sie zustolziert.

»'n Tag, wie geht's,« sagte er in seiner stutzerhaften Weise.

Jeder der Brüder nahm eine gedrückte Miene an, wenn er die andern beiden ansah, denn er wußte aus Erfahrung, daß sie versuchen würden, seine Leiden durch die ihren in Schatten zu stellen.

»Wir sprachen eben davon,« sagte James, »daß du gar nicht dünner wirst.«

Swithins helle runde Augen quollen bei der Anstrengung hervor, die das Hören ihm bereitete.

»Dünner? Ich bin ganz zufrieden,« sagte er und neigte sich etwas vor, »nicht so ein Zwirnsfaden wie du!«

Aber in der Furcht etwas von seiner Stattlichkeit einzubüßen, nahm er wieder seine unbewegliche Haltung an, denn ihm ging nichts über eine distinguierte Erscheinung.

Tante Ann ließ ihre alten Augen von einem zum andern schweifen. Ihr Blick war ernst und mild. Die drei Brüder wiederum blickten Tante Ann an. Sie begann klapprig zu werden. Eine wunderbare Frau! Bald sechsundachtzig, und konnte gut noch zehn Jahre länger leben, dabei war sie nie sehr kräftig gewesen. Swithin und James, die Zwillinge, waren erst fünfundsiebzig, Nicholas ein wahres Baby an die siebzig. Alle waren gesund und die Aussichten darum tröstlich. Von allem Besitz lag ihre Gesundheit ihnen natürlich am meisten am Herzen.

»Mir geht's eigentlich recht gut,« fuhr James fort, »aber meine Nerven sind nicht in Ordnung. Die geringste Kleinigkeit ärgert mich zu Tode. Ich werde nach Bath gehen müssen.«

»Bath!« sagte Nicholas. »Ich hab's mit Harrogate versucht.Dashat gar keinen Zweck. Ich brauche Seeluft. Es geht nichts über Yarmouth. Wenn ich dort bin, schlafe ich –«

»Mit meiner Leber steht's schlimm,« unterbrach ihn Swithin langsam. »Scheußliche Schmerzen hier,« und er legte die Hand auf die rechte Seite.

»Mangel an Bewegung,« brummte James mit einem Blick auf die Porzellanschale. Schnell fügte er hinzu: »Habe da auch Schmerzen.«

Swithin wurde rot, sein altes Gesicht erinnerte an einen Truthahn.

»Bewegung!« sagte er. »Die hab ich reichlich. Ich benutze nie den Fahrstuhl im Klub.«

»Davon wußte ich nichts,« fiel James ein. »Ich weiß überhaupt von nichts; mir sagt keiner was.«

Swithin glotzte ihn an und fragte:

»Was tust du gegen die Schmerzen da?«

James leuchtete auf.

»Ich,« begann er, »ich nehme eine Mischung von –«

»Wie geht's, Onkel!«

June stand mit ausgestreckter Hand vor ihm und reckte ihr resolutes Gesichtchen empor zu dem seinen.

Das Leuchten in James Gesicht erlosch.

»Guten Tag,« sagte er unwirsch. »Du willst also morgen nach Wales, um die Tanten deines Verlobten zu besuchen? Da regnet es immer.« Er beklopfte die Schale: »Dies ist kein echtes altes Worcester. Das Service, das ich deiner Mutter zur Hochzeit schenkte, das war echt.«

June schüttelte ihren drei Großonkeln der Reihe nach die Hand und wandte sich darauf zu Tante Ann. Ein inniger Ausdruck war in das Gesicht der alten Dame gekommen, sie küßte dem Mädchen die Wange mit zitternder Inbrunst.

»Nun, mein Kind,« sagte sie, »du willst also auf einen ganzen Monat fort?«

Das junge Mädchen ging weiter, und Tante Ann sah der zierlichen kleinen Gestalt nach. Die runden, stahlgrauen Augen der alten Dame, die sich wie bei einem Vogel mit einem Häutchen zu überziehen begannen, folgten ihr nachdenklich durch das lärmende Gedränge, denn die Gesellschaft fing gerade an aufzubrechen; und ihre Fingerspitzen preßten sich in erneuter Anspannung ihrer Willenskraft wie zur Abwehr gegen jene unabwendbar letzte Reise immer fester an einander.

»Ja,« dachte sie, »es waren alle sehr freundlich; so viele kamen, um ihr zu gratulieren. Sie müßte so recht glücklich werden.«

Von den Gästen, die sich an der Tür drängten – lauter gutgekleidete Leute aus den Kreisen von Juristen, Ärzten, Kaufleuten und andern zahllosen Berufen des bessern Mittelstandes – waren nur etwa zwanzig Prozent Forsytes. Aber Tante Ann schien alle als Forsytes zu betrachten – und ein großer Unterschied war allerdings auch nicht vorhanden – sie sah nur ihr eigen Fleisch und Blut. Die Familie, das war ihre Welt, und für sie gab es keine andere, hatte es vielleicht nie eine andere gegeben. Alle ihre kleinen Geheimnisse, Krankheiten, Verlobungen und Heiraten, wie sie vorwärts kamen und ob sie Geld verdienten: alles dies war ihr Eigentum, ihre Freude, ihr Leben; darüber hinaus gab es nur einen vagen, schattenhaften Nebel von Ereignissen und Personen ohne eigentliche Bedeutung. Das würde sie eines Tages aufgeben müssen, wenn die Reihe zu sterben an sie kam; das gab ihr dieses Ansehen, jenes geheime Selbstgefühl, ohne das keiner von uns das Leben erträgt; und daran klammerte sie sich inbrünstig mit einer täglich wachsenden Gier. Wenn das Leben ihr auch entglitt,daswollte sie bis zum Ende behalten.

Sie dachte an den jungen Jolyon, Junes Vater, der mit der Ausländerin durchgegangen war. Das war ein Schlag für seinen Vater und sie alle. Solch ein vielversprechender Junge! Ein harter Schlag, wenn es auch glücklicherweise zu keinem öffentlichen Skandal gekommen war, da Jo's Frau keine Scheidung gewollt hatte! Es war lange her! Und als Junes Mutter vor acht Jahren starb, hatte Jo jene Person geheiratet, und sie hatten jetzt zwei Kinder, wie sie gehört. Dennoch hatte er sein Recht verwirkt hier zu sein, hatte sie um die höchsten Erwartungen betrogen, die der Familienstolz in ihr erweckt, und sie der Freude beraubt, ihren Liebling, solcheinen vielversprechenden Jungen, auf den sie so stolz gewesen, zu sehen und zu küssen! Dieser Gedanke zehrte mit der Bitterkeit lang erlittenen Unrechts an ihrem zähen alten Herzen. Ihre Augen wurden feucht und sie trocknete sie verstohlen mit einem Taschentuch aus feinstem Batist.

»Na, Tante Ann?« sagte eine Stimme hinter ihr.

Soames Forsyte, flachschultrig, glattrasiert, schmalwangig und engbrüstig, aber doch etwas geschlossen Vornehmes über seiner ganzen Erscheinung, sah schräg auf Tante Ann herab, als versuche er durch seine eigene Nase zu sehen.

»Und was sagstduzu dieser Verlobung?« fragte er.

Tante Anns Augen ruhten mit Stolz auf ihm. Als der Älteste ihrer Neffen seit dem Verschwinden des jungen Jolyon aus dem Familienkreise, war er jetzt ihr Liebling, denn in ihm erkannte sie einen treuen Heger der Familienseele, die ihrer Obhut so bald entrissen werden sollte.

»Sehr erfreulich für den jungen Mann,« sagte sie, »er sieht übrigens gut aus. Aber ich weiß nicht, ob er so ganz der Rechte ist für unsere June.«

Soames befühlte den Rand eines vergoldeten Kronleuchters.

»Sie wird ihn zähmen,« sagte er, indem er seinen Finger heimlich naß machte und an den höckrigen Buckeln rieb. »Das ist echte alte Vergoldung, so was gibt es heute gar nicht mehr. Der brächte einen guten Preis bei Jobson.« Er sprach mit Behagen, als fühle er, daß er die alte Tante aufheitere. Er war selten so mitteilsam. »Ich wollte, er gehörte mir,« fügte er hinzu, »alte echte Sachen wird man jederzeit gut los.«

»Du verstehst dich so gut auf solche Dinge,« sagte Tante Ann. »Und wie geht es Irene?«

Soames' Lächeln erstarb.

»O, ganz gut,« sagte er. »Sie klagt über schlechten Schlaf, dabei schläft sie viel besser als ich,« und er blickte zu seiner Frau hinüber, die an der Tür mit Bosinney sprach.

Tante Ann seufzte.

»Vielleicht wäre es besser,« sagte sie, »wenn sie nicht so viel mit June zusammensteckte. Sie ist ein so ausgesprochener Charakter, die liebe June!«

Soames stieg die Röte ins Gesicht; sie flog über seine schmalen Wangen und setzte sich als Merkmal quälender Gedanken zwischen den Augen fest.

»Ich weiß nicht, was sie an dem kleinen Irrwisch findet,« entfuhr es ihm, doch als er merkte, daß sie nicht länger allein waren, drehte er sich um und fing wieder an, den Kronleuchter zu untersuchen.

»Ich höre, Jolyon hat ein neues Haus gekauft,« sagte seines Vaters Stimme dicht neben ihm; »er muß einen Haufen Geld haben – mehr, als er zu gebrauchen weiß! Am Montpellier Square, sagen sie, dicht neben Soames! Mir hat keiner was davon gesagt – Irene sagt mir nie was!«

»Ausgezeichnete Lage, keine zwei Minuten von mir,« ließ sich Swithins Stimme vernehmen, »und von meiner Wohnung fahre ich in acht Minuten bis zum Klub.«

Die Lage ihrer Häuser war für die Forsytes eine Lebensfrage, kein Wunder übrigens, denn die ganze Seele ihres Erfolges war darin verkörpert.

Ihr Vater, der einem Bauerngeschlecht entstammte, war im Anfang des Jahrhunderts von Dorsetshire gekommen.

Von Beruf Steinmetz, hatte er sich zum Baumeister emporgearbeitet. Gegen Ende seines Lebens war er nach London gezogen, wo er in Highgate begrabenwurde, nachdem er bis an seinen Tod gebaut hatte. Er hinterließ seinen zehn Kindern über dreißigtausend Pfund. Wenn der alte Jolyon ihn überhaupt einmal erwähnte, beschrieb er ihn als einen ›Mann von kräftig derbem Schlag – nicht sonderlich fein‹. Die zweite Generation hatte allerdings das Gefühl, daß nicht viel Staat mit ihm zu machen war. Der einzige aristokratische Zug, den sie in seinem Wesen entdecken konnten, war seine Gewohnheit Madeira zu trinken.

Tante Hester, eine Autorität auf dem Gebiet der Familiengeschichte, schilderte ihn in folgender Weise:

»Ich erinnere mich nicht, daß er je etwas tat, wenigstens nicht zumeinerZeit. Er war eben – Hausbesitzer, weißt du. Sein Haar war etwa von der Farbe wie das von Onkel Swithin; ziemlich vierschrötig war er. Groß? N–nicht sehr (er war fünf einen halben Fuß hoch gewesen, mit roten Flecken im Gesicht), er hatte frische Farben. Trank sehr gern Madeira, das weiß ich noch, fragt nur Tante Ann. WasseinVater war? Der, hm – der hatte mit dem Land da unten in Dorsetshire, an der See, zu tun.«

James war einmal hingefahren um selbst zu sehen, aus was für einer Gegend sie eigentlich stammten. Er fand zwei alte Pachthöfe vor, von wo aus eine Wagenspur, die die rote Erde durchfurchte, zu einer Mühle unten am Strande führte, eine kleine graue Kirche innerhalb einer Pfeilermauer und eine noch kleinere und grauere Kapelle. Der Strom, der die Mühle trieb, kam in einem Dutzend kleiner Bäche plätschernd herab, und an der Bucht trieben sich Schweine umher. Ein leichter Nebel verhüllte die Aussicht. Die Vorfahren der Forsytes waren es augenscheinlich zufrieden gewesen, hunderte von Jahren Sonntag für Sonntag, die Füße tief im Morast und den Blick aufs Meer gerichtet, durch diesen Hohlweg zu wandern.

Ob James im stillen auf ein Erbe gerechnet, oder sonst etwas ganz Außergewöhnliches zu finden gehofft hatte oder nicht, er kam jedenfalls ganz kleinlaut nach der Stadt zurück und war aufs äußerste bemüht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

»Da ist nicht viel zu holen,« sagte er, »ein richtiges kleines Landnest, und uralt.«

Das Alter war noch ein Trost. Der alte Jolyon, bei dem mitunter eine unverfrorene Offenherzigkeit hervorsprudelte, sprach von seinen Vorfahren zuweilen als von »Freisassen – kleine Verhältnisse vermutlich.« Doch wiederholte er das Wort »Freisassen«, als gewähre es ihm eine besondere Genugtuung.

Die Forsytes hatten es alle so weit gebracht, daß sie nun als »gutsituierte Leute«, wie man es nennt, eine gewisse Stellung einnahmen. Sie hatten ihr Vermögen in allen möglichen Aktien angelegt, nur – Timothy ausgenommen – nicht in Konsols, denn sie fürchteten nichts auf der Welt so sehr, wie drei Prozent für ihr Geld. Sie sammelten Bilder und unterstützten Wohltätigkeitsanstalten, die ihren kranken Dienstboten einmal zugute kommen konnten. Von ihrem Vater, dem Steinmetz, hatten sie Verständnis für Ziegel und Mörtel geerbt. Wenn sie ursprünglich vielleicht auch einer schlichten Sekte angehört hatten, waren sie nach dem natürlichen Lauf der Dinge jetzt Mitglieder der Staatskirche und hielten darauf, daß ihre Frauen und Kinder ziemlich regelmäßig die vornehmeren Kirchen der Hauptstadt besuchten. Zweifel an ihrer Christlichkeit hätten sie überrascht und verletzt. Einige von ihnen bezahlten sogar ihre Kirchenstühle und brachten so in der praktischsten Weise ihre Sympathie für die Lehren Christi zum Ausdruck.

Ihre Häuser lagen in bestimmten Abständen rings um den Park und paßten wie die Schildwachen auf,daß das reiche Herz Londons, an dem ihre Wünsche hingen, nicht ihren Händen entschlüpfte und sie dadurch in der eigenen Achtung sinken ließ.

Der alte Jolyon wohnte in Stanhope Place; James in Park Lane; Swithin in der einsamen Pracht orangefarbener und blauer Gemächer in Hyde Park Mansions – er hatte nie geheiratet – Gott bewahre! – Soames mit seiner Frau in ihrem Heim bei Knightsbridge; Roger in Prince's Gardens (Roger war dadurch merkwürdig unter den Forsytes, daß er sich vorgenommen und es durchgesetzt hatte, seine vier Söhne zu einem neuen Beruf zu erziehen. »Legt euer Geld in Häusern an – darüber geht nichts!« pflegte er zu sagen. »Ich hab's nie anders gemacht!«)

Dann Haymans – Mrs. Hayman war die einzige verheiratete Schwester der Forsytes – in einem Haus oben in Campden Hill, wie eine Giraffe anzusehen und so hoch, daß wer es betrachtete, einen steifen Nacken bekam. Nicholas wohnte in Ladbroke Grove in einer geräumigen Wohnung und billig dazu; und endlich Timothy am Bayswater Road, wo Ann, Hester und Juley unter seinem Schutze lebten.

James hatte die ganze Zeit nachdenklich dagestanden und fragte endlich seinen Gastgeber und Bruder was er für das Haus am Montpellier Square gegeben hatte. Er selber habe seit Jahren dort ein Haus im Auge, aber sie forderten einen zu hohen Preis dafür.

Der alte Jolyon berichtete über die Einzelheiten seines Kaufes.

»Auf zweiundzwanzig Jahre?« wiederholte James, »gerade das Haus, das ich wollte – du hast zu viel dafür bezahlt!«

Der alte Jolyon runzelte die Stirn.

»Ich will es nicht etwa für mich haben,« sagte James hastig, »zu dem Preis paßt es nicht für meineZwecke. Soames kennt das Haus sehr gut, na – er wird dir sagen, daß es zu teuer ist – auf sein Urteil kann man etwas geben.«

»Ich gebe keinen Pfifferling dafür,« sagte der alte Jolyon.

»Meinetwegen,« brummte James, »du mußt ja immer deinen Willen haben – aber sein Urteil ist gut. Adieu! Wir wollen nach Hurlington hinausfahren. Ich höre, June geht nach Wales. Du wirst morgen allein sein. Was hast du vor? Du solltest zum Essen lieber zu uns kommen!«

Jolyon lehnte ab. Er ging mit an die Haustür, half ihnen in den Wagen und winkte ihnen zu, denn er hatte seinen Unmut schon vergessen. Im Fond saß groß und majestätisch James' Frau mit kastanienbraunem Haar, ihr zur Linken Irene – die beiden Gatten, Vater und Sohn, nahmen eifrig, fast erwartungsvoll, ihren Frauen gegenüber Platz. Auf ihren Sprungfederpolstern hin und her geworfen, gaben sie schwankend jeder Bewegung des Wagens nach und fuhren, von den Blicken des alten Jolyon begleitet, schweigend im Sonnenschein davon.

Während der Fahrt unterbrach James' Frau das Schweigen.

»Ist euch jemals eine solche Gesellschaft schnurriger Leute vorgekommen?«

Soames, der sie unter seinen Lidern hervor flüchtig ansah, nickte und bemerkte, wie Irene ihm einen ihrer unergründlichen Blicke zuwarf.

Höchst wahrscheinlich hatte jeder Zweig der Familie Forsyte auf der Heimfahrt von dem Empfang beim alten Jolyon diese Bemerkung gemacht.

Unter den letzten der aufbrechenden Gäste gingen der vierte und fünfte Bruder, Nicholas und Roger zusammen fort und schlugen die Richtung am Hyde Parkentlang nach einer Station der Untergrundbahn ein. Wie alle andern Forsytes in einem gewissen Alter, hielten sie sich eigenes Fuhrwerk und vermieden, wenn es sich irgend tun ließ, eine Droschke zu nehmen.

Es war ein schöner Tag, die Bäume des Parks standen in der vollen Pracht ihres Junilaubes, aber die Brüder schienen nicht auf die Natur zu achten, die nichtsdestoweniger zur Lebhaftigkeit ihres Ganges und der Unterhaltung beitrug.

»Ja,« sagte Roger, »ein schönes Weib, diese Frau von Soames. Ich höre, es stimmt da nicht alles.«

Dieser Bruder hatte eine hohe Stirn und von allen Forsytes die frischeste Farbe. Seine hellgrauen Augen musterten die Häuser der Straßenfront am Wege, und dann und wann hob er seinen Schirm, um die verschiedenen Höhen abzumessen.

»Geld hatte sie nicht,« erwiderte Nicholas.

Er selbst hatte sehr reich geheiratet, und da es noch in der goldenen Zeit vor Einführung des Vermögensrechts der Ehefrauen war, glücklicherweise einen vorteilhaften Gebrauch von dem Gelde machen können.

»Was war ihr Vater?«

»Er hieß Peron, Professor, wie ich höre.«

Roger schüttelte den Kopf.

»Das bringt nichts ein,« sagte er.

»Ihr Großvater von Mutters Seite soll in Cement gearbeitet haben.«

Rogers Gesicht erhellte sich.

»Er machte aber Bankrott,« fuhr Nicholas fort.

»Ja, ja,« rief Roger aus. »Soames wird seine Not mit ihr haben, denk an mich, er wird seine Not mit ihr haben – sie hat was Verdächtiges im Blick.«

Nicholas leckte sich die Lippen.

»Sie ist eine schöne Frau,« sagte er und schob einen Straßenkehrer beiseite.

»Wie kam er eigentlich an sie heran?« fragte Roger darauf. »Ihre Toilette muß ihn ein Heidengeld kosten!«

»Ann sagt,« erwiderte Nicholas, »er war ganz toll hinter ihr her. Fünfmal hat sie ihn abgewiesen. James ist die Sache fatal, das ist ihm anzumerken.«

»Für James tut es mir leid,« fing Roger wieder an, »er hat schon mit Dartie seine Not gehabt.« Das Gehen hatte seine frische Farbe noch erhöht, er schwang den Schirm öfter denn je bis in Augenhöhe. Auch Nicholas' Gesicht hatte einen heitern Ausdruck.

»Zu blaß für meinen Geschmack,« sagte er, »aber die Figur ist prachtvoll!«

Roger erwiderte nichts.

»Ich finde, sie sieht vornehm aus,« sagte er endlich – es war das höchste Lob im Forsyteschen Wortschatz. »Dieser junge Bosinney soll so'n Kunstfex sein – hat sich in den Kopf gesetzt, die englische Architektur zu vervollkommnen; das bringt nichts ein! Ich möchte wissen, was Timothy dazu sagt.«

Sie betraten die Bahnstation.

»Welche Klasse fährst du? Ich fahre zweiter.«

»Nur nicht zweiter,« sagte Nicholas, »man weiß nie, was man sich da holt.«

Er nahm ein Billett erster Klasse nach Notting Hill Gate, Roger eins zweiter nach Kensington. Eine Minute später fuhr der Zug ein, die Brüder trennten sich und jeder stieg in sein Abteil. Beide waren verletzt, daß der andere nicht von seiner Gewohnheit abgewichen war, um seine Gesellschaft etwas länger zu genießen.

»Immer ein alter Starrkopf dieser Nick!« dachte Roger bei sich.