Das Herz kommt zuletzt - Margaret Atwood - E-Book

Das Herz kommt zuletzt E-Book

Margaret Atwood

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Beschreibung

Wer wohnt schon gern in seinem Auto? Zumal, wenn marodierende Banden die Stadt beherrschen? Stan und Charmaine, ein nettes, normales Paar, durch die Wirtschaftskrise in Not geraten, werden immer verzweifelter. Eine Anzeige verspricht Rettung: das Positron Project, ein »soziales Experiment«, verspricht ein Leben in Sicherheit und geregelten Verhältnissen. Hastig unterschreiben sie, obwohl die Bedingungen eigenwillig sind - alle Bewohner der streng abgeschiedenen Stadt Consilience wechseln im Monatsturnus zwischen dem Status eines Gefangenen und dem eines Freien. Zunächst läuft alles bestens - auch wenn Charmaine und Stan, ohne dass der jeweils andere davon weiß, eine sexuelle Obsession für ihre Hauspartner entwickeln - also jene Leute, die ihr schmuckes Heim bewohnen, wenn sie selbst ihren Gefängnismonat absolvieren. Doch dann finden sich Charmaine und Stan durch einen »Buchungsfehler« in verschiedenen Zyklen wieder, und bald ist viel mehr gefährdet als nur ihre Ehe ...

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www.berlinverlag.de

Für Marian Engel (1933–1985)

Angela Carter (1940–1992) und

Judy Merril (1923–1997)

Und, wie immer, für Graeme

Aus dem Englischen von Monika Baark

ISBN 978-3-8270-7937-4

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Heart Goes Last bei Bloomsbury Publishing Plc, London /New York.

© O. W. Toad Ltd. 2015

Für die deutsche Ausgabe

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2017

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Lawrence Manning / getty images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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»Schneeiges Elfenbein mit seltnem Geschick und Gelingen schnitzt er indes und verleiht ihm Gestalt … Wirkliche Jungfrau scheint die Gestalt, und man meinte, lebendig sei sie und wolle, wofern nicht Scham es verböte, sich regen. So lässt Kunst nicht sehen die Kunst … Küsse auch gibt er und glaubt sie erwidert und spricht und umarmt sie …

Ovid, Metamorphosen, Zehntes Buch, Pygmalion

»Am Ende aber fühlen sich die Dinger einfach nicht richtig an. Sie sind aus gummiartigem Material, das sich nicht mal annähernd wie ein menschliches Körperteil anfühlt. Das wiederum versuchen sie wettzumachen, indem sie sagen, man soll sie erst in warmem Wasser einweichen und dann haufenweise Gleitcreme benutzen …«

Adam Frucci, »I Had Sex With Furniture«, Gizmodo, 10/17/09

»Verliebte und Verrückte

Sind beide von so brausendem Gehirn,

So bildungsreicher Phantasie, die wahrnimmt,

Was nie die kühlere Vernunft begreift.«

William Shakespeare, Ein Sommernachtstraum

I – WOHIN?

BEENGT

Das Schlafen im Auto ist beengt. Als Dritte-Hand-Honda ist es ohnehin schon kein Palast. Wär’s ein Transporter, hätten sie mehr Platz, aber sich so einen leisten zu können, nie im Leben, nicht mal damals, als sie noch Geld zu haben glaubten. Stan sagt, sie hätten Glück, überhaupt ein Auto zu haben, und das stimmt, aber dieses Glück macht das Auto nicht größer.

Charmaine findet eigentlich, dass Stan hinten schlafen sollte, weil er mehr Platz braucht – es wäre nur fair, er ist größer –, aber er muss vorne sein, um im Notfall schnell losfahren zu können. Unter solchen Bedingungen zu funktionieren, traut er Charmaine nicht zu: Sie wäre viel zu beschäftigt mit Schreien, sagt er. Also kann Charmaine den geräumigeren Rücksitz haben, wobei nicht mal sie sich ausstrecken kann, sondern sich wie eine Schnecke zusammenrollen muss.

Die Fenster lassen sie meist zu, wegen der Mücken und der Gangs und der allein herumziehenden Vandalen. Letztere haben eher selten Gewehre oder Messer dabei – wenn ja, muss man dreimal so schnell das Weite suchen –, sind aber dafür meist massiv gestört, und ein Irrer mit einem Stück Metall oder einem Stein oder selbst einem hochhackigen Schuh kann jede Menge Schaden anrichten. Die halten einen für einen Dämon oder einen Zombie oder eine Vampirhure, und nichts, was man auch nur irgendwie zur Beruhigung zu ihnen sagen könnte, wird sie von dieser Überzeugung abbringen. Wie Oma Win immer zu sagen pflegte: Um Verrückte sollte man einen Bogen machen oder am besten gleich die Beine in die Hand nehmen.

Bei den bis auf einen winzigen Spalt geschlossenen Fenstern wird die Luft irgendwann knapp und schwer von ihren eigenen Ausdünstungen. Es gibt kaum Möglichkeiten, zu duschen oder seine Sachen zu waschen, und das schlägt Stan aufs Gemüt. Auch Charmaine schlägt es aufs Gemüt, aber sie bemüht sich, dieses Gefühl zu verdrängen und die Sache positiv zu sehen, denn was nützt das Jammern?

Was nützt überhaupt irgendwas?, denkt sie des Öfteren. Aber was soll es nützen, auch nur zu denken, Was nützt es? Also sagt sie stattdessen: »Sind wir doch optimistisch, Schatz!«

»Wozu?«, könnte Stan erwidern. »Nenn mir einen verdammten Grund, verdammt noch mal optimistisch zu sein.« Oder er könnte sagen: »Halten wir lieber die Klappe, Schatz«, wobei er ihren leichten, positiven Tonfall imitiert, was gemein von ihm ist. Er kann gemein sein, wenn er schlechte Laune hat, doch im Grunde seines Herzens ist er ein guter Mann. Die meisten Menschen sind im Grunde ihres Herzens gut, wenn sie die Chance bekommen, ihre Güte zu zeigen: Charmaine ist wild entschlossen, auch weiterhin daran zu glauben. Eine Dusche bringt das Gute im Menschen hervor, denn, wie Oma Win zu sagen pflegte: Reinlichkeit kommt gleich nach Frömmigkeit, und Frömmigkeit bedeutet Gutmütigkeit.

Das war so einer ihrer Sprüche, genau wie: Deine Mutter hat sich nicht das Leben genommen, das ist dummes Gerede. Dein Vater hat sein Bestes getan, aber irgendwann wurde es ihm zu viel. Du solltest wirklich versuchen, alles andere zu vergessen, ein Mann ist nicht zurechnungsfähig, wenn er getrunken hat. Und dann sagte sie: Lass uns Popcorn machen!

Und dann machten sie Popcorn, und Oma Win sagte: Guck nicht aus dem Fenster, Herzchen, das willst du gar nicht sehen, was die da draußen machen. Das ist nicht schön. Die brüllen einfach aus Lust und Laune. Das ist Selbstdarstellung. Komm, setz dich zu mir. Es ist doch jetzt alles gut, denn schau, du bist hier, und wir sind jetzt glücklich und in Sicherheit!

Aber es war nicht von Dauer. Das Glück. Die Sicherheit. Das Jetzt.

WOHIN?

Stan rutscht im Fahrersitz hin und her und sucht nach einer bequemen Lage. Aber keine Chance. Was kann er also tun? Wohin können sie sich wenden? Es gibt keinen sicheren Ort, es gibt keine Anweisungen. Es ist wie von einem heftigen, aber sinnlosen Wind im Kreis herum geweht zu werden. Ausweglos.

Er fühlt sich so einsam, und Charmaines Gegenwart verstärkt dieses Gefühl manchmal sogar noch. Er hat sie enttäuscht.

Ja, er hat einen Bruder, aber das wäre die letzte Instanz. Er und Conor haben damals, höflich ausgedrückt, getrennte Wege eingeschlagen. Unhöflich ausgedrückt: eine betrunkene nächtliche Schlägerei mit dem großzügigen Austausch von Worten wie Wichser und Schlappschwanz und Gehirnamputierter, das war der Weg, für den Conor sich bei ihrer letzten Begegnung entschieden hatte. Streng genommen hatte auch Stan diesen Weg gewählt, nur hatte er noch nie so ein dreckiges Mundwerk gehabt wie Con.

Stans Ansicht nach – seiner damaligen Ansicht nach – stand Conor schon immer mit einem Fuß im Gefängnis. Stan dagegen war in Cons Augen ein Opfer des Systems, Arschkriecher, Witzfigur und Feigling. Eier wie ’ne Kaulquappe.

Wo ist er heute, der aalglatte Con, was treibt er? Zumindest wird er im großen Wirtschafts- und Finanzcrash, der diesen Teil des Landes in eine Rostlaube verwandelt hat, nicht seinen Job verloren haben: Wer keinen Job hat, kann ihn nicht verlieren. Anders als Stan wird er nicht entlassen, vertrieben und zu einem hektischen Flüchtlingsleben mit verklebten Augen und ungewaschenen Achselhöhlen verurteilt worden sein. Con hat immer von dem gelebt, was er anderen abschwatzen oder abnehmen konnte, schon seit frühester Kindheit. Stan hat alles noch auf dem Schirm, sein Schweizer Messer, mühsam zusammengespart, seinen Transformer, seinen Nerf-Blaster mit Schaumstoffmunition: Alles war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt, während sein kleiner Bruder Con immer nur kopfschüttelnd dastand und sagte: Wer, ich? Ich doch nicht!

Nachts schreckt Stan aus dem Schlaf und glaubt für einen Moment, er sei zu Hause in seinem Bett oder wenigstens in irgendeinem Bett. Er tastet nach Charmaine, aber sie liegt nicht neben ihm, und dann fällt es ihm wieder ein, er ist in seinem miefigen Auto und muss pinkeln, hat aber Angst, die Tür aufzumachen wegen der plärrenden Stimmen und der Schritte, die knirschend über den Kies oder donnernd über den Asphalt kommen, und vielleicht wegen der Faust, mit der irgendeiner gegen das Autodach hämmert, bevor ein vernarbtes Gesicht mit grinsendem Mund voller Zahnstümpfe durchs Fenster glotzt: Na, wen haben wir denn da! Fickware! Mach auf die Karre! Gib mal die Brechstange!

Und dann Charmaines entsetztes Flüstern: »Stan! Stan! Wir müssen hier weg!« Ach was. Der Zündschlüssel steckt immer. Aufheulender Motor, quietschende Reifen, Gebrüll und Gejohle, Herzrasen, und dann? Alles wieder auf Anfang, anderer Parkplatz, andere Seitenstraße, irgendwo anders. Ein Maschinengewehr müsste man haben; was Kleineres würde es nicht mal annähernd bringen. So jedoch ist Flucht seine einzige Waffe.

Er fühlt sich vom Unglück verfolgt, als wäre das Unglück ein Straßenhund, der seine Witterung aufgenommen hat, der hinter der nächsten Biegung lauert. Der unterm Gebüsch hervorspäht, um ihn mit seinem bösen Blick, seinem gelben Augenpaar zu fixieren. Vielleicht braucht er vor allem einen Hexendoktor, irgendeinen handfesten Voodoozauber. Dazu ein paar Hunderter, um die Nacht im Hotel verbringen zu können, mit Charmaine an seiner Seite statt unerreichbar auf dem Rücksitz. Das wäre das Mindeste: Sich mehr zu wünschen würde den Bogen überspannen.

Charmaines Mitgefühl macht die Sache nicht besser. Sie gibt sich so viel Mühe. »Du bist kein Versager«, sagt sie. »Nur weil wir das Haus verloren haben und im Auto schlafen müssen, und nur weil du …« Gefeuertwurdest will sie nicht sagen. »Du hast nicht aufgegeben, zumindest suchst du immer noch Arbeit. Das mit dem Haus, und, und … so was ist vielen passiert. Den meisten.«

»Aber nicht allen, verdammte Scheiße«, sagt Stan dann. »Nicht allen.«

Nicht den Reichen.

Anfangs war alles so vielversprechend gewesen. Sie hatten beide einen Job. Charmaine arbeitete als Eventmanagerin in einem Seniorenheim der Ruby-Slippers-Kette – sie habe ein Händchen für ältere Menschen, sagten ihre Vorgesetzten – und machte dort gerade Karriere. Auch er war erfolgreich: Er war bei Emo-Robotics in der Qualitätssicherung, er testete das Empathiemodul für die Kundenbetreuung. Die Leute wollten nicht nur ihre Einkäufe in Tüten gepackt bekommen, erklärte er Charmaine damals gern: Sie wollten das Rundum-Shoppingerlebnis, und dazu gehörte ein Lächeln. Und das hatte seine Tücken; ein Lächeln konnte schnell zur Grimasse oder zu einem anzüglichen Grinsen werden, aber wenn man’s überzeugend rüberbrachte, waren die Leute spendabler. Wahnsinn, wenn man bedenkt, wofür die Leute damals Geld ausgegeben haben.

Sie heirateten im kleinen Kreis – nur Freunde, da es auf beiden Seiten kaum noch Familie gab, die Eltern waren tot, auf die eine oder andere Art. Charmaine sagte, ihre Eltern hätte sie ohnehin nicht eingeladen, und dabei blieb es, weil sie nicht gern darüber redete, nur ihre Oma Win, die hätte sie gern dabeigehabt. Und wer wusste schon, wo Conor gerade war? Stan machte sich nicht eigens auf die Suche, denn Con hätte ja doch nur versucht, Charmaine zu begrabschen oder anderweitig Aufmerksamkeit zu heischen.

Dann hatten sie die Flitterwochen in Georgia verbracht. Ein echtes Highlight. Da sind sie, die beiden, auf den Fotos, goldblond und lächelnd in einem Dunst aus glitzerndem Sonnenlicht, und prosten sich zu mit ihrem – was war das noch mal, irgendein tropischer, limettenlikörlastiger Cocktail. Charmaine in einem geblümten schulterfreien Retro-Top und Wickelrock, Hibiskusblüte hinterm Ohr, die blonden Haare glänzend und vom Wind zerzaust, er in einem grünen Hemd mit Pinguinen, ausgesucht von Charmaine, und mit Panamahut; na ja, keinem echten, aber das war die Idee. Sie wirkten so jung, so unberührt. So begierig aufs Leben.

Stan schickte Conor ein Foto, um ihm zu beweisen, dass er endlich ein Mädchen hatte, das Conor ihm nicht abspenstig machen konnte; auch als Beispiel für den Erfolg, den selbst Con erwarten könnte, wenn er denn mal zur Ruhe kommen und anständig werden und nicht dauernd im Knast landen und aufhören würde, am Rande der Gesellschaft krumme Dinger zu drehen. Nicht dass Con nicht schlau war: Er war eher zu schlau. Er ließ halt nichts anbrennen.

Con schrieb zurück: Titten und Arsch nicht übel, großer Bruder. Kann sie kochen? Die Pinguine sind aber scheiße. Typisch Con: immer diese hämischen Bemerkungen, immer austeilen. Das war, bevor er sich aus dem Netz verabschiedet und jeglichen Kontakt unmöglich gemacht hatte.

Oben im Norden hatten sie damals eine Anzahlung auf ein Haus geleistet, ihr erstes kleines Häuschen, das etwas Zuwendung brauchte, aber mit genug Platz für die Familienplanung, wie der Makler mit einem Augenzwinkern sagte. Es schien erschwinglich, aus heutiger Sicht jedoch war der Kauf eine Fehlentscheidung – es gab Renovierungsarbeiten, Reparaturen, also zusätzliche Belastungen. Sie redeten sich ein, sie könnten es stemmen: Sie lebten sparsam, sie arbeiteten hart. Und das war das Fatale: die Schufterei. Er hatte sich den Arsch aufgerissen. Hätte er sich alles schenken können angesichts dessen, was ihm geblieben war. Er könnte ausrasten bei dem Gedanken, wie er geschuftet hatte.

Dann ging alles vor die Hunde. Gefühlt über Nacht. Nicht nur in seinem Leben; das ganze Kartenhaus, das ganze System fiel in sich zusammen, Abermillionen Dollar wurden von den Bilanzen gewischt wie Dunst von einer Scheibe. Horden von billigen Experten gaben im Fernsehen vor zu erklären, wie es passiert war – Demografie, Vertrauensverlust, ein gigantisches Schneeballsystem –, alles Schwachsinn, reine Spekulation. Irgendwer hatte gelogen, irgendwer hatte getrickst, irgendwer hatte Leerverkäufe gemacht, irgendwer die Inflation geschaffen. Zu wenig Jobs, zu viele Menschen. Oder nicht genug Jobs für Normalverbraucher wie Stan und Charmaine. Den Nordosten, ihre Gegend, traf es am härtesten.

Die Zweigstelle von Charmaines Seniorenheim geriet in finanzielle Not: Die Ruby-Slippers-Kette war im oberen Preissegment, und viele Familien konnten es sich nicht mehr leisten, ihre alten Leute dort zu parken. Die Zimmer leerten sich, Betriebskosten wurden gekürzt. Charmaine bewarb sich auf eine andere Stelle – an der Westküste ging es der Kette immer noch gut –, aber statt Versetzung kam die Freisetzung. Dann brach Emo-Robotics die Zelte ab und zog nach Westen, und Stan bekam nicht einmal eine Abfindung.

Sie saßen in ihrem neuen Haus auf ihrem neuen Sofa mit den passenden geblümten Dekokissen, nach denen Charmaine so lange gesucht hatte, hielten sich in den Armen und beteuerten einander ihre Liebe, und Charmaine weinte und Stan tätschelte ihr den Rücken und fühlte sich nutzlos.

Charmaine fand einen befristeten Job als Kellnerin; als der Laden dichtmachen musste, fand sie einen neuen Job. Dann wieder einen neuen, in einer Bar. Alles keine Nobelschuppen; die machten alle zu, denn jeder, der sich tolles Essen leisten konnte, verschlang es weiter im Westen oder in irgendwelchen exotischen Ländern, wo Mindestlohn ein Fremdwort war.

Stan hatte nicht so viel Glück mit seinen Nebenjobs: Er sei überqualifiziert, hieß es bei der Stellenvermittlung. Er beteuerte, er sei nicht wählerisch – er würde auch Fußböden wischen oder Rasen mähen –, worauf sie spöttisch grinsten (welche Fußböden? Welchen Rasen?) und versprachen, ihn in ihre Kartei aufzunehmen. Aber dann machte die Stellenvermittlung selbst zu, denn was nützte eine Stellenvermittlung, wenn es keine Stellen gab?

Sie hielten an ihrem Häuschen fest, lebten von Fastfood und dem Verkauf ihrer Möbel, sparten an Strom und Heizung und saßen im Dunkeln, hoffend, dass sich die Dinge zum Besseren wenden würden. Am Ende warfen sie das Haus auf den Markt, aber es gab keine Käufer mehr; die Nachbarhäuser zu beiden Seiten standen schon leer, die Plünderer waren damit durch und hatten alles ausgeräumt, was sich zu Geld machen ließ. Eines Tages war kein Geld mehr da für die Hypothekenzahlung, und ihre Kreditkarten wurden gesperrt. Sie gingen freiwillig, bevor man sie auf die Straße setzte, sie fuhren davon, bevor die Gläubiger ihr Auto pfänden konnten.

Zum Glück hatte Charmaine etwas Bargeld gehortet. Das und ihr kleines Gehalt aus der Bar plus Trinkgeld reichte bisher für Benzin und ein Postfach, falls doch noch was auftauchte für Stan, und hin und wieder für den Waschsalon, wenn sie’s in ihren dreckigen Klamotten nicht mehr aushielten.

Zweimal hatte Stan sein Blut verkauft, aber nicht viel dafür bekommen. »Sie werden’s nicht glauben«, sagte die Frau, als sie ihm nach der zweiten Blutabnahme einen Pappbecher künstlichen Fruchtsaft reichte, »aber wir hatten schon Leute, die haben uns gefragt, ob wir nicht das Blut ihres Babys kaufen wollten, das müssen Sie sich mal vorstellen.«

»Echt?«, sagte Stan. »Wieso? Babys haben doch gar nicht so viel Blut.«

Es sei kostbarer, lautete die Antwort. In der Zeitung habe gestanden, eine komplette Bluterneuerung, junges Blut gegen altes, könne vor Altersdemenz schützen und die biologische Uhr bis zu dreißig Jahre zurückdrehen. »Bisher wurde es nur an Mäusen ausprobiert«, sagte sie. »Mäuse sind keine Menschen! Aber es gibt Leute, die greifen nach jedem Strohhalm. Wir haben bestimmt ein Dutzend Babyblut-Angebote abgelehnt. Wir sagen immer, das können wir nicht annehmen.«

Irgendjemand nimmt es aber an, dachte Stan. Darauf kannst du wetten. Hauptsache, es bringt Geld.

Könnten die beiden doch nur irgendwohin, wo die Aussichten besser sind. Oregon boomt ja angeblich – angetrieben durch die Entdeckung von Seltenerdmetallen, der Hauptabnehmer ist China –, aber wie hinkommen? Sie müssten auf Charmaines Geldrinnsal verzichten, und irgendwann wäre das Benzin alle. Sie könnten das Auto stehen lassen und versuchen zu trampen, aber Charmaine hat schreckliche Angst davor. Das Auto ist ihr einziger Schutz vor einer Gruppenvergewaltigung, und das gelte nicht nur für sie, sagt Charmaine, wenn man bedenke, was nachts da draußen ohne Hosen durch die Gegend streift. Und sie hat recht.

Was soll er tun, um sie aus dieser Misere zu retten? Er würde alles machen. Die Arbeitswelt wimmelte einst von Arschkriecherjobs, aber die Ärsche sind unerreichbar geworden. Die Banken haben die Region verlassen, ebenso wie die Betriebe; die Überflieger-Start-ups sind auf fetteres Weideland in gedeihlichere Regionen und Nationen abgewandert. Früher galt der Servicesektor als Heilsversprechen, aber diese Jobs sind zu selten, zumindest hier in der Gegend. Ein inzwischen verstorbener Onkel von Stan war Koch, damals zu der Zeit, als Koch noch eine gute Sache war, weil die Oberschicht auf dem Festland lebte und Nobelrestaurants glamourös waren. Anders als heute, wo dieserart Kunden auf steuerbefreiten Meeresplattformen hinter der Offshore-Grenze vor sich hin dümpeln. Leute, die so reich sind, nehmen ihre Köche mit.

Wieder Mitternacht, wieder ein Parkplatz. Es ist der dritte in dieser Nacht; von den ersten beiden mussten sie fliehen. Jetzt sind sie so nervös, dass sie nicht mehr schlafen können.

»Vielleicht sollten wir’s noch mal am Automaten probieren«, sagt Charmaine. Sie hatten ein Mal gespielt und zehn Dollar gewonnen. Nicht viel, aber immerhin hatten sie nicht alles verloren.

»Auf keinen Fall«, sagt Stan. »Das können wir nicht riskieren. Wir brauchen das Geld für Benzin.«

»Hier, nimm einen Kaugummi, Schatz«, sagt Charmaine. »Entspann dich ein bisschen. Schlaf jetzt. Dein Gehirn ist zu aktiv.«

»Welches Gehirn?« Gekränktes Schweigen: Er sollte es nicht an ihr auslassen. Arschloch, sagt er zu sich. Sie kann doch nichts dafür.

Morgen wird er seinen Stolz überwinden. Er wird Conor aufspüren, er wird ihn unterstützen bei seinen krummen Deals, egal was es gerade ist, er wird sich der kriminellen Halbwelt anschließen. Er hat schon eine Idee, wo er anfangen kann zu suchen. Vielleicht haut er Con auch einfach nur um Geld an, vorausgesetzt, Con ist flüssig. Früher war es genau umgekehrt, früher hat Conor ihn angehauen, als sie noch jünger waren und bevor Conor dahinterkam, wie man das System austrickst – jetzt wird er es tunlichst vermeiden, Conor an die frühere Rollenverteilung zu erinnern.

Oder vielleicht sollte er das doch tun. Con ist ihm einiges schuldig. Er könnte sagen, jetzt bin ich dran,oder so was. Nicht dass er am längeren Hebel säße. Aber dennoch, Con ist sein Bruder. Und er ist Cons Bruder. Für irgendetwas muss das doch gut sein.

II – ‎PITCH

GEBRÄU

Es war keine gute Nacht. Charmaine bemühte sich noch um ein tröstliches Wort: »Wir wollen uns auf das konzentrieren, was wir haben, ja?«, hatte sie in die feuchtwarme miefige Dunkelheit des Autos hinein gesagt. »Wir haben uns.« Sie hatte Anstalten gemacht, über den Vordersitz zu greifen und Stan zu berühren, ihn zu beruhigen, aber dann hatte sie sich besonnen. Stan könnte es falsch verstehen, er würde zu ihr auf die Rückbank wollen, er würde Sex haben wollen, und das konnte extrem unbequem werden, zu zweit dahinten; sie würde mit dem Kopf gegen die Autotür gedrückt werden und langsam vom Sitz rutschen und Stan würde sie bearbeiten, als wenn sie ein Job wäre, den er ganz schnell hinter sich bringen müsste, und ihr Kopf würde gegen die Innenseite der Tür schlagen, wumms wumms wumms. Es war nicht gerade inspirierend.

Außerdem wäre es ihr unmöglich, sich zu konzentrieren, denn es könnte sich draußen immer jemand anschleichen, und was dann? Stan hätte die Hose in den Kniekehlen und müsste so schnell wie möglich auf den Vordersitz klettern und den Motor starten, und die Gangster würden gegen die Scheiben trommeln und versuchen, sie aus dem Wagen zu zerren. Aber in erster Linie ginge es nicht um sie. Worauf sie es abgesehen hätten, das einzig wirklich Wertvolle, wäre das Auto. Sie wäre nur ein Nebenprodukt, nachdem sie Stan beseitigt hätten.

Es waren schon Autobesitzer auf die Straße geworfen worden, ganz in der Nähe, abgestochen und mit eingeschlagenem Schädel verblutet. Es kümmert sich niemand mehr um diese Fälle, niemand sucht nach den Tätern, das würde ja Zeit kosten, und nur reiche Leute können sich Polizei leisten. Alles, was wir nie zu schätzen wussten, bis wir’s nicht mehr hatten, wie Oma Win immer sagte, denkt Charmaine reumütig.

Oma Win wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus, als sie schwer krank wurde. Viel zu teuer, sagte sie zu Recht. Also starb sie zu Hause; bis zuletzt von Charmaine gepflegt. Verkauf das Haus, Liebes, hatte Oma Win gesagt, als sie noch klar im Kopf war. Geh studieren, mach das Beste aus dir. Du kriegst das hin.

Und Charmaine hatte das Beste aus sich gemacht. Sie hatte Gerontologie und Spieltherapie studiert, weil Oma Win sagte, damit hätte sie beide Seiten abgedeckt, sie sei empathisch und habe eine besondere Gabe, Menschen zu helfen. Sie hatte ihr Studium abgeschlossen.

Nicht dass das jetzt noch irgendeine Rolle spielen würde.

Wenn irgendwas passiert, ist jeder von uns auf sich selbst gestellt, sagt Stan viel zu oft zu ihr. Kein beruhigender Gedanke. Kein Wunder, dass er’s so eilig hat, wenn er es dann doch mal schafft, sich auf sie zu wälzen. Er muss ununterbrochen auf der Hut sein.

Also hat sie Stan letzte Nacht nicht berührt, sondern geflüstert: »Schlaf gut. Ich liebe dich.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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