Das indigene Kanada: First Nations, Inuit und Métis - Geneviève Susemihl - E-Book

Das indigene Kanada: First Nations, Inuit und Métis E-Book

Geneviève Susemihl

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Beschreibung

In Kanada leben etwa 1,67 Millionen indigene Menschen. Sie gehören zu einer der drei als indigen anerkannten Bevölkerungsgruppen – den First Nations, Inuit und Métis. Das Buch umreißt ihre Geschichte vor und nach Ankunft der europäischen Siedler, beschreibt ihre heutige Situation und gibt Einblicke in ihre vielfältigen Kulturen und Lebensweisen. Kundig und anschaulich schildert Geneviève Susemihl soziale Strukturen in den Reservationen und urbanen Gegenden und beschreibt traditionelles Wissen, Beziehungen zum Land und indigenen Tourismus. Sie erklärt schwierige Themen wie den Widerstand gegen die Assimilierungspolitik und Residential Schools sowie aktuelle Debatten um Landrechte, Verträge und Versöhnung. Projekte zur Wiederbelebung traditioneller Sprachen, vielfältige Feste und innovative Unternehmungen betrachtet sie ebenso wie Kunst, Literatur oder Film und zeigt dabei, wie die Menschen sich und ihre Umwelt selbst präsentieren. Geneviève Susemihl nimmt den Leser mit zu faszinierenden Orten und erzählt von persönlichen Erlebnissen und Begegnungen mit Mohawk, Blackfoot, Haida und anderen Indigenen in Kanada. Ein Erlebnisführer mit vielen Vorschlägen für Reiserouten rundet das Buch ab und macht es zu einem wertvollen Begleiter für den nächsten Kanada-Urlaub.

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Seitenzahl: 411

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Geneviève Susemihl

FIRST NATIONS, INUIT UND MÉTIS

DAS INDIGENE KANADA

Geschichte – Kulturen – Tourismus

IMPRESSUM

First Nations, Inuit und Métis: Das indigene Kanada

Geneviève Susemihl

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2023 360° medien I Nachtigallenweg 1 I 40822 Mettmann

360grad-medien.de

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung sowie Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Inhalt des Werkes wurde sorgfältig recherchiert, ist jedoch teilweise der Subjektivität unterworfen und bleibt ohne Gewähr für Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität.

Redaktion und Lektorat: Christine Walter

Satz und Layout: Elke Gräfe

Gedruckt und gebunden:

Himmer GmbH Druckerei & Verlag I Steinerne Furt 95 I 86167 Augsburg

www.himmer.de

Bildnachweis: siehe Seite 288

ISBN: 978-3-96855-428-0

Hergestellt in Deutschland

360grad-medien.de

Geneviève Susemihl

FIRST NATIONS, INUIT UND MÉTIS

DAS INDIGENE KANADA

Geschichte – Kulturen – Tourismus

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

EINLEITUNG

AM ANFANG STEHEN GESCHICHTEN

Sky Woman

Raven stiehlt das Licht der Welt

Sedna, Göttin der Meere

GESCHICHTE DER INDIGENEN NATIONEN IN KANADA

Besiedlung des Kontinents: Herkunft, Wanderwege und Entwicklung der Kulturen

Kulturkontakte und Kolonialisierung

Politik der Assimilierung und Widerstand der Indigenen

Residential Schools

Landrechte, Verträge und Selbstverwaltung

INDIGENE KULTUREN IN KANADA VOR ANKUNFT DER EUROPÄER

Die Bewohner der Arktis

Die Jäger der Subarktis

Die Jäger und Farmer im nordöstlichen Waldland

Die Büffeljäger der Great Plains

Die Jäger der Plateauregion

Die Fischer der Nordwestküste

DIE INDIGENE GESELLSCHAFT HEUTE: EIN LEBEN ZWISCHEN DEN WELTEN

Lebensweise in Reservationen und urbanen Gegenden

Politische Situation: Emanzipation, Selbstverwaltung und neue Abkommen

Wirtschaftliche Situation: Unternehmen und Tourismus

Soziale Situation

Gesundheits- und Bildungswesen

Wiederbelebung indigener Sprachen

Kampf der Frauen um Gleichberechtigung und Anerkennung

Traditionelles Wissen, indigene Weltsicht und Beziehungen zum Land

KUNST UND KULTUR DER FIRST NATIONS, MÉTIS UND INUIT

Mündliche Überlieferungen – Oral Traditions

Literatur

Theater

Presse, Film und Fernsehen

Malerei und Bildende Kunst

Musik und Tanz

Sport

Mode

Indigene Küche

Powwows und andere Feste

Darstellung und Selbstdarstellung in Museen

UNTERWEGS AUF TURTLE ISLAND: REISEROUTEN UND ERLEBNISFÜHRER

Nova Scotia

Halifax und Umgebung

Cape Breton: Halifax – Truro – Wagmatcook – Eskasoni – Membertou

New Brunswick

Red Bank und Elsipogtog

Prince Edward Island

Newfoundland und Labrador

Québec

Montréal

Québec City

Ausflug nach Wendake

Route 1: Montréal – Mont-Saint-Hilaire – Odanak

Route 2: Montréal – Manawan – La Tuque

Route 3: Auf den Spuren der Innu entlang des Sankt-Lorenz-Stroms

Route 4: Die Maliseet und Mi’kmaq südlich vom Sankt-Lorenz-Golf

Route 5: Kultur der Innu und Cree: Mashteuiatsh, Oujé-Bougoumou, Waswanipi

Route 6: Kultur und Geschichte der James Bay Cree: Waskaganish und Chiasasibi

Route 7: Vier Nationalparks und Innu Kultur in Nunavik

Ontario

Toronto

Ottawa

Route 1: Toronto – Brantford – Six Nations/Oshweken – Milton

Route 2: Toronto – Tyendinaga – Peterborough – Curve Lake

Route 3: Toronto – Cape Croker Park – Manitoulin Island – Sudbury

Route 4: Toronto – Sault Ste. Marie – Thunder Bay – Kenora – Winnipeg

Route 5: Die Cree im Norden: Moose Factory

Manitoba

Winnipeg

Route 1: Ausflug zum Whiteshell Provincial Park

Route 2: Ausflug nach Pine Fall

Route 3: In den Norden: The Pas und Thompson

Saskatchewan

Regina

Saskatoon

Geschichte und Kultur der Métis: Saskatoon – Batoche – Duck Lake

Alberta

Edmonton

Calgary

Route 1: Edmonton – Elk Island – Métis Crossing – Kikino – Lac La Biche

Route 2: Von Calgary nach Banff

Route 3: Ausflug zum Head-Smashed-In Buffalo Jump

Route 4: Von Calgary nach Blackfoot Crossing

Route 5: Writing-on-Stone Provincial Park

Route 6: Fort Macleod – Stand Off – Waterton Lakes National Park

British Columbia

Vancouver

Route 1: Vancouver Island: Von Victoria bis Alert Bay

Route 2: Von Vancouver nach Whistler

Route 3: Okanagan Valley Tour: Kamloops – Chase – Kelowna

Route 4: Der Gold Rush Trail: Lillooet – Williams Lake – Prince George – Hazelton

Route 5: Haida Gwaii am Rand der Welt3

Yukon

Whitehorse

Dawson City

Route 1: Whitehorse – Carcross – Tagish – Teslin – Watson Lake

Route 2: Whitehorse – Haines Junction – Burwash Landing – Beaver Creek

Route 3: Von Whitehorse nach Dawson City über Mayo

Route 4: Dawson City – Tombstone Territorial Park – Inuvik

Northwest Territories

Yellowknife

Inuvik

Route 1: Yellowknife – Fort Simpson

Route 2: Per Flugzeug nach Ivvavik

Nunavut

Iqaluit

Pangnirtung

GESCHICHTEN VON REISEN UND BEGEGNUNGEN

Im Land der Blackfoot

Auf Haida Gwaii

Begegnungen entlang der Westküste

Bei den Tr’ondëk Hwëch’in im Yukon

Quellen und Literaturempfehlungen

Bildnachweis

VORWORT

Die First Nations kultivierten einst Bohnen, Mais, Kartoffeln und Kürbisse. Sie erfanden Eishockey, Lacrosse, Dart und Hustensaft. Heute lebt ein Fünftel von ihnen in Kanada ohne sauberes Trinkwasser. Das Durchschnittsalter der Inuit liegt bei 22 Jahren; über 13.000 von ihnen verdienen als Künstler ihren Lebensunterhalt. Die Métis erfanden den Red River-Ochsenkarren, der bei Flussüberquerungen zum Floß umgebaut werden konnte. Ihre Sprache, Michif, sprechen sie noch heute und feiern ihre eigene Kultur mit besonderen Festen. Doch wer sind die First Nations, Inuit und Métis eigentlich? Woher kommen die Menschen? Wie entwickelten sich ihre unterschiedlichen Kulturen und wie leben sie heute?

Dieses Buch beantwortet diese und viele weitere Fragen. Dazu geht es auf vielfältige Facetten des indigenen Kanadas ein. Das breite Themenspektrum erstreckt sich von der Geschichte der indigenen Gruppen vor und nach Ankunft der europäischen Siedler über traditionelle und moderne Kulturen und Lebensweisen, die Herausforderungen in der gegenwärtigen Gesellschaft bis hin zu indigenem Tourismus. Außerdem liefert das Buch wertvolle Tipps und Informationen für eine Reise durch das indigene Kanada, u. a. über Sehenswürdigkeiten, Museen, Aktivitäten in der Natur, kulturelle Veranstaltungen, Restaurants und Unterkünfte. Das macht diesen Erlebnisführer zu einem wertvollen Begleiter für den nächsten Kanada-Urlaub.

Das indigene Kanada ist aufregend und faszinierend. Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal Tanzschritte auf einem Powwow lernte. Meine Freundin Dawn forderte mich auf, einfach mitzutanzen und ich erfuhr die Gastfreundschaft und Großzügigkeit der Mohawk. Ich weiß noch, wie mein erster Bisonburger schmeckte. Ich paddelte Kanus, probierte traditionelle Gerichte, erlebte Zeremonien, übernachtete in Tipis, wohnte bei Familien und lernte ihren Tagesablauf kennen. Auf meinen Reisen sprach ich mit indigenen Elders, Politikern, Geschäftsleuten, Guides, Künstlern, Kuratoren, Autoren und anderen. Viele von ihnen teilten Geschichten, persönliche Erlebnisse und traditionelles Wissen mit mir. Manchmal kam es dabei zu magischen Momenten des gegenseitigen Verstehens und unsere Geschichten ergänzten sich auf wunderbare Weise. Meine eigenen Erfahrungen als Frau, Autorin, Wissenschaftlerin, Lehrerin und Mutter dreier Kinder schafften vielfältige Berührungspunkte mit meinen Gesprächspartnern.

Ich bin eine nicht-indigene, deutsche Autorin. Geboren in den 1970er-Jahren, wuchs ich in der DDR auf. Als die Mauer 1989 fiel, begann ich Nordamerika zu bereisen. Meine familiären Wurzeln erstrecken sich entlang der Ostseeküste von Mecklenburg bis nach Kaliningrad und Tallinn und meine Familienchronik verbindet mich mit vielen Orten. Ausgebildet in nordamerikanischer Literatur- und Kulturwissenschaft, beschäftige ich mich seit über dreißig Jahren mit den Indigenen in Kanada. Abenteuerlust, Studien- und Forschungsinteressen und berufliche Aufgaben führten mich in verschiedene Regionen, in denen ich Indigene traf. Ihre Geschichten, Erfahrungen und ihr Wissen möchte ich in diesem Buch weitergeben. Ich erzähle von besonderen Begegnungen mit den Menschen und nehme die Leser mit auf Exkursionen in die traditionellen Territorien der Mohawk, Blackfoot, Haida und anderer Gruppen. Damit soll dieses Buch zu einem größeren Verständnis für die indigene Gesellschaft in Kanada beitragen. Jedoch spreche ich dabei nicht für meine Interviewpartner, sondern sehe mich als Gast an den Orten und in den Diskussionen, über die ich schreibe.

Geneviève Susemihl

Ich danke den Menschen, die ihre Zeit mit mir teilten, mir ihre Geschichten anvertrauten und gestatteten, diese weiterzugeben. Nia:wen an Dawn T. Maracle (Mohawk), die seit vielen Jahren eine Mentorin und Freundin ist. Marcee an Jim McKenzie, der seine Familiengeschichte mit einem Studium der Geschichte der Métis ergründete und mir diese erzählte. Kukstemc an Danny Saul von der Tk’emlúpsemc Nation, der mich durch die Kamloops Indian Residential School führte und sich an seine Schulzeit dort erinnerte. Nitsiniiyi’taki an Quinton Crow Shoe, Stan Knowlton, Edwin Small Legs and Kiit Kiitokii der Piikani Nation. Háw’aa an Kii’iljuus, Guujaaw und Laa’daa der Haida Nation. Mähsi cho an Angie Joseph-Rear und Sammy Taylor von den Tr’ondëk Hwëch’in. Miigwech – Qu-ja-nna-miik – Danke!

Geneviève Susemihl

EINLEITUNG

Totempfähle sind ein Symbol für die Indigenen

EINLEITUNG

Einst lebten auf dem Gebiet des heutigen Kanadas über einhundert verschiedene indigene Gruppen, die mehr als 50 verschiedene Sprachen nutzten und ganz unterschiedliche Kulturen und Lebensweisen besaßen. Heute leben in Kanada etwa 1,67 Millionen indigene Menschen. Das entspricht 4,5 Prozent der Gesamt-bevölkerung. Sie gehören zu einer der drei als indigen anerkannten Bevölkerungsgruppen – den First Nations („Erste Nationen“), Métis und Inuit. Alle drei Gruppen werden als Indigenous Peoples („indigene Völker“) bezeichnet.

Flaggen der Shuswap Nation und British Columbias ...

Der Begriff First Nations schließt registered Indians („registrierte Indianer“) bzw. Status Indians sowie Non-Status Indians ein. Registered Indians/Status Indians sind jene, die unter dem Indian Act („Indianergesetz“) als Indian anerkannt und im Indian Register („Indianerregister“) eingetragen sind – einer Liste, die vom Ministerium für Indigenous Services Canada verwaltet wird. 2019 standen 1.008.955 Menschen auf dieser Liste, also etwa 60 Prozent der indigenen Bevölkerung. Non-Status Indians, die etwa 14 Prozent der indigenen Bevölkerung ausmachen, leben beinahe ausschließlich außerhalb von Reservationen, die meisten in urbanen Gegenden. Etwa 133.000 Indigene gehören keiner Nation an, d. h. sie gehören zu den First Nations und sind dennoch im juristischen Sinne keine „Indianer“, denn nach wie vor entscheidet die kanadische Regierung auf der Grundlage des Indian Act, wer als Status Indian anerkannt wird. Seit 2007 versucht die Union of Ontario Indians, die 42 indigene Gruppen vertritt, durchzusetzen, dass die Gruppen selbst festlegen, wer als Indian gilt. Während die anerkannten Gruppen durch den Indian Act der Administration der kanadischen Regierung unterstehen, haben sich einzelne Gruppen wie die Cree im Norden Québecs, die Nisga’a Nation in British Columbia, die Tlicho First Nation in den Northwest Territories und die meisten First Nations im Yukon-Territorium durch Abkommen der Aufsicht durch die Regierung entzogen und Selbstverwaltung erlangt.

Als Métis werden die Nachfahren meist frankophoner Pelzhändler, Trapper und Waldläufer mit Frauen indigener Abstammung (häufig der Cree, Anishinabe, Saulteaux, Ojibwa, Abenaki, Menominee oder Maliseet) bezeichnet. Nach der Niederlage Frankreichs im Siebenjährigen Krieg zogen nach 1763 viele Métis sowie französische Händler, Trapper und Siedler weiter nach Westen, wo sie Frauen der Chipewyan, Woodland Cree, Dogrib, Yellowknife, Slavey und Gwich’in heirateten. Durch diese Verbindungen entwickelten sich eine eigene Kultur und Sprache, das Michif, das auf einem Dialekt des kanadischen Französisch, Cree und Lehnwörtern aus dem Englischen und Sprachen der First Nations aufbaut. Das Heimatterritorium der Métis umfasst die Provinzen Manitoba, Saskatchewan und Alberta sowie Teile Ontarios, British Columbias, der Northwest Territories und der nördlichen USA. In Kanada leben knapp 587.900 Métis, was etwa 33 Prozent der indigenen Bevölkerung ausmacht.

... und der Haudenosaunee

Die Inuit sind die indigenen Menschen der Arktis. Das Wort „Inuit“ bedeutet „die Menschen“ auf Inuktitut, der Sprache der Inuit; der Singular ist „Inuk“. Die Inuit umfassen nur vier Prozent der indigenen Bevölkerung, mit 65.000 Personen, die sich als Inuit identifizieren. Die Mehrheit (73 Prozent) leben in Inuit Nunangat, was „Heimat“ bedeutet und ein Drittel der Landmasse Kanadas und 50 Prozent der Küste ausmacht. Inuit Nunangat umfasst 51 Gemeinden in den vier Regionen Inuvialuit im Yukon und den Northwest Territories, Nunavut, Nunavik im nördlichen Québec und Nunatsiavut in Newfoundland und Labrador.

Es gibt 634 First Nations-Gemeinden in Kanada, die über 50 verschiedene Nationen repräsentieren. Knapp die Hälfte der Indigenen leben in urbanen Räumen, vornehmlich in Winnipeg, Edmonton, Vancouver, Toronto, Calgary, Ottawa und Montréal. Die anderen leben in Reservationen und einige in ländlichen Gegenden außerhalb der Reservationen (off reserve). Die meisten Gemeinden sind klein. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist die indigene Bevölkerung sehr jung; die Hälfte der Menschen ist unter 25 Jahre. Die Wachstumsrate ist dagegen hoch und man geht davon aus, dass die Zahl der Indigenen bis 2041 auf 2,8 Millionen steigen wird. In Nunavut, das von den Inuit selbst regiert wird, macht die indigene Bevölkerung 86 Prozent aus, in den Northwest Territories 50 Prozent, im Yukon 23 Prozent und in Manitoba 18 Prozent, wobei sich die Lebensweisen in Reservationen, urbanen Räumen und der Arktis und Subarktis gravierend unterscheiden.

Die Nationen unterteilen sich in sechs geografische Regionen und gehören verschiedenen Sprachgruppen und Kulturarealen an, deren Grenzen sich überschneiden. Die Sprachgeschichte ist ein Spiegel der historischen Besiedlungs- und Wanderungsgeschichte und Gegenstand vieler Forschungsprojekte. Grundsätzlich werden zwölf Sprachfamilien mit insgesamt 60 Sprachen erfasst, die sich wiederum in viele Dialekte unterteilen. Im indigenen Denken sind Sprache, Gesang, Ortsnamen, Weltanschauungen, Lebensweisen und intergenerationelle Wissensvermittlung untrennbar miteinander verbunden. Auch wenn alle Indigenen gewisse Grundauffassungen bezüglich des Umgangs mit ihrem Lebensumfeld teilen, hat jede Gruppe ihre eigenen konkreten, lokalen und traditionsbedingten Auslegungen.

Skidegate, Haida Gwaii, BC

Die Grenzen zwischen Kanada und den USA und zwischen den Provinzen wurden willkürlich geschaffen und entsprechen nicht den traditionellen Siedlungsgebieten der indigenen Gruppen. So liegt das Territorium der Mohawk von Akwesasne in den Provinzen Ontario und Québec und im US-Staat New York, das Siedlungsgebiet der Okanagan umfasste Gebiete in British Columbia und im US-Staat Washington und das Territorium der Blackfoot erstreckte sich einst über Alberta, Saskatchewan und den US-Staat Montana. Vor allem die Grenze entlang des 49. Breitengrades beeinträchtigt die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und spirituellen Beziehungen innerhalb der Gruppen und trennt Familien und Freunde, wie der Piikani Stan Knowlton erklärt: „Immer, wenn ich Cousins der Blackfeet in Montana besuchen möchte, muss ich eine Staatsgrenze überqueren“.

In diesem Buch werden die Geschichte und die heutige Situation der Indigenen in Kanada betrachtet. Dabei spielen mündliche Überlieferungen, die lokal verankert sind und die Geschichte aus einer Eigenperspektive erklären, ebenso eine Rolle wie schriftliche Dokumente, Berichte, Analysen und Erzählungen, die von europäischen Zuwanderern sowie indigenen und nicht-indigenen Wissenschaftlern oder Autoren verfasst wurden. Auch meine eigenen Interviews und Erfahrungen dienen als Grundlage. Die Quellen unterscheiden sich in ihren Darstellungen und Erklärungen, doch nur wenn man alle berücksichtigt, werden ein behutsames Annähern an die indigenen Gruppen und ein reflektierter Umgang mit Konzepten der Selbst- und Fremdwahrnehmung möglich.

Sprache und Begrifflichkeiten

Allgemein wird der Begriff Indigenous Peoples (indigene Völker) genutzt. Die Begriffe First Peoples, Aboriginal People oder Indigenous People umfassen die drei Gruppen der First Nations, Métis und Inuit. Auch der Begriff Aboriginal Peoples war lange gebräuchlich, wird aber mittlerweile nur noch selten benutzt. Die offizielle Bezeichnung von staatlicher Seite ist Indians, die Selbstbezeichnung der Gruppen ist überwiegend First Nation, seltener Nation oder Indian Band. Während der Begriff „Indianer“ im deutschen Sprachgebrauch zwar weiterhin gängig ist, wird der Begriff Indians im Englischen zumeist abwertend oder selbstironisch verwendet. In den USA werden die Begriffe American Indians, Native Americans oder First Americans benutzt, wobei der Begriff Native Americans („gebürtige Amerikaner“) aus der Verwaltungssprache der US-Behörden stammt und daher von Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird. Das Konstrukt „indigene Völker Nordamerikas“ (Indigenous Peoples of North America) empfinden die Menschen selbst häufig als sperrig und kompliziert. Im Deutschen gibt es keinen adäquaten Begriff. Zudem hat das Wort „Volk“ bzw. „Völker“ im Deutschen eine politisch-rassistische Bedeutung und wurde in der Ethnologie (früher „Völkerkunde“) mit dem Begriff „Ethnie“ weitgehend ersetzt.

Die verschiedenen Begriffe haben jeweils eine eigene Geschichte, entstanden in unterschiedlichen historischen Kontexten, und sind häufig Resultat des politischen Kampfes um Anerkennung, rechtliche Gleichstellung und Gleichberechtigung der Indigenen. Der Begriff „First Nations“ geht z. B. auf die Tatsache zurück, dass die britische Krone mit der Königlichen Proklamation von 1763 die First Nations im Rahmen der Kolonialisierung als souveräne Nationen anerkannte. Indem die Beziehungen zur indigenen Bevölkerung unter die Kontrolle der britischen Regierung gestellt wurden, sollten private Verhandlungen zwischen Siedlern bzw. Händlern und der indigenen Bevölkerung verhindert werden. Das Adjektiv „first“ wurde von den First Nations selbst hinzugefügt, um die Anerkennung ihrer Souveränität untrennbar mit ihrem territorialen Anspruch als „erste“ Bevölkerung zu verbinden.

Die indigenen Gruppen des Territoriums, das heute als Kanada bezeichnet wird, hatten ihre eigenen einzigartigen Namen und es gab keine Notwendigkeit für Sammelbegriffe oder komplizierte Termini. Mit dem Kontakt der Europäer und der Kolonialisierung forderte die Regierung jedoch, dass die Menschen definiert und bezeichnet wurden, um das Regieren zu erleichtern. Mit der „Entdeckung“, Eroberung und Kolonialisierung des Kontinents und der Einführung des Indian Act wurden daher Begrifflichkeiten eingeführt, von denen die meisten heute unangebracht oder sogar rassistisch sind. Viele Bezeichnungen, die früher im Zusammenhang mit den Indigenen benutzt wurden, werden heute nicht mehr verwendet, da sie diskriminierend und schlichtweg tabu oder falsch und unangemessen sind.

Viele dieser Begriffe entstammen den Aufzeichnungen der „Entdecker“ und Missionare und sind von Ideen der Eroberung der Territorien und der Bekehrung der indigenen Gruppen zum Christentum geprägt. Andere Bezeichnungen entstammen der Anthropologie und Archäologie. Beide Disziplinen tendieren dazu, indigene Gruppen als „Überbleibsel“ der Vergangenheit zu sehen. Bestimmte Begriffe wie z. B. „Artefakt“ für kulturelle Objekte können die Menschen und ihre Kulturen degradieren und sie als Mitglieder „primitiver“ Gesellschaften präsentieren, deren Lebensweise vor dem vermeintlichen „Aussterben“ noch dokumentiert werden sollte. Damit widersprechen sie der Realität dynamischer Kulturen, deren Überleben auf uralten Prinzipien beruht. Auch die Begriffe „Vorgeschichte“ oder „Prähistorie“ (prehistory) implizieren, dass nur schriftliche Dokumente als legitime „Geschichte“ zählen und indigene Gruppen keine Geschichte dokumentierten, bevor sie mit Europäern in Kontakt kamen. Diese Denkweise ist ethnozentrisch, da sie mündliche Überlieferungen nicht anerkennt. Eine weitere Gruppe von Begriffen entstammt der Kitsch-Terminologie von Romanen und Filmen, die oft mit Rassismus und Bedeutungslosigkeit verbunden ist.

Der Begriff „Indianer“ ist nicht direkt diskriminierend im deutschen Sprachgebrauch, sein Ursprung beruht jedoch auf einem historischen Irrtum und einer geografischen Fehlbezeichnung. Als Christopher Kolumbus 1492 dachte, er sei in Indien angelandet, benannte er die vermeintlichen Inder los Indios, engl. Indians, was als „Indianer“ ins Deutsche übersetzt wurde. Dennoch ist die Bezeichnung belastet, da sie Assoziationen weckt, die von Klischees geprägt sind und mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben. Außerdem stammt der Begriff aus der Zeit des Kolonialismus und der Völkerschauen und viele Angehörige indigener Gruppen empfinden ihn als problematisch oder kränkend. Ebenso sind Begriffe wie „Stamm“ (tribe), „Krieger“ (brave), „Entdeckung“ (discovery), „Eskimo“ (eskimo), „Ungläubige“ bzw. „Heiden“ (heathen bzw. pagan), „Rothäute“ (redskins), „Squaw“ (squaw) und „Wilde“ (savage) zu vermeiden. Begriffe wie „Friedenspfeife“ (peace pipe), „Regentanz“ bzw. „Kriegstanz“ (rain dance/war dance), „Tomahawk“ oder „Tomtom“ sind unangebracht, da sie meist Sammelbegriffe für etwas sind, das so in den Kulturen nicht existierte.

Heute wird versucht, die Namen der einzelnen Nationen oder Gruppen zu verwenden und Fremdbezeichnungen zu vermeiden. Viele Namen haben sich im Laufe der letzten Jahre geändert, denn die Gruppen nutzen heute wieder ihre eigenen Bezeichnungen und nicht jene, die weiße Eroberer oder Missionare ihnen gaben und unter denen sie bekannt wurden. Diese gehen häufig zurück auf besondere Beobachtungen über die Menschen, wie z. B. bei den Blackfoot („Schwarzfuß“) oder Flathead („Flachkopf“), oder auf ein ins Englische übersetzte Wort, dass die Europäer hörten, wie z. B. Kwagiulth oder Salish. Die Wiederherstellung der traditionellen Namen nebst der angemessenen Schreibweise ist ein laufender Prozess. So bezeichnen sich die Iroquois (Irokesen) als Haudenosaunee, die Mohawk nennen sich Kanien’keha:ka, die Kootney heißen Ktunaxa, die Blackfoot bezeichnen sich als Niisitapi und die Shuswap als Secwepemc. Für Nicht-Indigene ist es zuweilen schwierig, den korrekten Ausdruck zu wählen, denn der Prozess der Entkolonialisierung der Sprache ist noch lange nicht abgeschlossen und Begriffe entwickeln und ändern sich laufend. Das Wichtigste dabei ist, durch Sprache Respekt für indigene Sichtweisen auszudrücken.

Die Gebiete, die den Indigenen in Nordamerika von den Regierungen zugewiesen wurden, werden in Kanada als reserve („reservieren“), in den USA als reservation bezeichnet. Im Deutschen ist das Wort „Reservat“ gebräuchlich. Als „Reservat“ wird laut Duden ein größeres Gebiet bezeichnet, in dem seltene Tier- oder Pflanzenarbeiten geschützt werden. Als zweite Definition wird ein „den Ureinwohnern (besonders der indigenen Bevölkerung Nordamerikas) als Lebensraum zugewiesenes Gebiet“ angegeben. Historisch gesehen wurden die Indigenen in Nordamerika als „schützenswerte“ Kreaturen angesehen, die in entsprechende Schutzgebiete eingesperrt wurden. Um eine Distanz zu dieser kolonialen Sichtweise und Definition zu schaffen, nutze ich das Wort „Reservation“. Auch der Begriff „Dekolonialisierung“ wird von vielen Indigenen abgelehnt, da er einen Prozess kennzeichnet, der von nicht-indigenen Politikern und Wissenschaftlern aufgezeigt wird. Es ist schließlich auch unangebracht, von „Kanadas indigenen Völkern“ zu sprechen, da Kanada diese Völker nicht besitzt.

Kolonialisierung und Namensgebungen

Essenzielles Werkzeug zur Kolonialisierung war das Benennen der „entdeckten“ und eroberten Gebiete mitsamt der Berge, Täler, Flüsse und der dort lebenden Menschen. Namen können von jedem gegeben werden, der eine Sprache spricht. Die Beziehung zwischen Namensgeber und Namensempfänger ist daher kompliziert und involviert Privilegien, Besitzansprüche und Freiheiten. Ein Name ist wesentlicher Teil der Identität des Namensträgers und definiert nicht nur einen Ort, sondern ist auf geheimnisvolle Art und Weise auch mit dem Prozess seiner Entstehung verbunden, denn der Ort wird als komplexe Interaktion von Sprache, Geschichte und Umwelt aufgefasst. Gleichzeitig birgt der Verlust eines Namens, der immer eine Bedeutung besitzt, auch den Verlust von Identität und den Kampf um Zugehörigkeit. Die Umbenennung von Orten ist somit wichtiger Teil des postkolonialen Diskurses. Selbst die Landesbezeichnung Kanada geht auf europäische „Entdecker“ zurück.

Der Name Kanada ist vom Wort kanata abgeleitet, das in der Sprache der Haudenosaunee „Dorf“ oder „Siedlung“ bedeutete. 1535 gaben Bewohner der Region um die heutige Stadt Québec dem französischen Entdecker Jacques Cartier eine Wegbeschreibung nach Stadacona. Cartier nutzte daraufhin die Bezeichnung Canada nicht nur für dieses Dorf, sondern für das ganze Gebiet, das von dem in Stadacona lebenden Häuptling Donnacona beherrscht wurde. Ab 1545 war auf Karten und in Büchern die Bezeichnung Canada für diese Region üblich. Cartier nannte außerdem den Sankt-Lorenz-Strom Rivière de Canada, ein Name, der bis zum frühen 17. Jahrhundert in Gebrauch war. Forscher und Pelzhändler zogen in Richtung Westen und Süden, wodurch das als „Kanada“ bezeichnete Gebiet wuchs. Im frühen 18. Jahrhundert wurde der Name für den gesamten heutigen mittleren Westen bis Louisiana benutzt. Die seit 1763 britische Kolonie Québec wurde 1791 in Ober- und Niederkanada aufgeteilt, was etwa den späteren Provinzen Ontario und Québec entsprach. Sie wurden 1841 zur Provinz Kanada vereinigt. 1867 erhielten die neu gegründeten Bundesstaaten der Kolonien in Britisch-Nordamerika den Namen Dominion of Canada, die bis in die 1950er-Jahre als amtliche Bezeichnung üblich war. Mit der zunehmenden politischen Autonomie gegenüber Großbritannien verwendete die Regierung immer häufiger die Bezeichnung Canada in Dokumenten und Verträgen und das Kanada-Gesetz von 1982 bezieht sich nur noch auf Canada.

Viele andere europäische Entdecker und Eroberer benannten Seen, Flüsse, Berge oder Orte und ihre Bewohner. Als der spanische Seefahrer und Entdecker Juan Pérez 1774 als erster Europäer die Inseln Haida Gwaiis im Pazifik sichtete, zwangen ihn der katastrophale Gesundheitszustand seiner Mannschaft und Proviantmangel bald, nach Süden zurückzukehren, ohne einen Fuß an Land gesetzt oder seiner „Entdeckung“ einen Namen gegeben zu haben – bis auf einen Gebirgszug. Ein Jahrzehnt später, im Jahr 1786, fertigte der französische Seefahrer Jean-François de Galaup, Comte de La Pérouse, die erste Karte von Haida Gwaii an und fügte europäische Namen für Berge und Gewässer ein. Die Inseln selbst wurden 1787 von Kapitän George Dixon in „Queen Charlotte Islands“ benannt, nach Königin Sophie Charlotte von Mecklenburg-Strelitz, der Gemahlin von König George III. von Großbritannien. Dass das Land bereits bewohnt war und die Einwohner eigene Gesetze, Lebensweisen, Kulturen, Religionen und Namen für ihre Lebenswelten hatten, kümmerte die europäischen Entdecker und Monarchen wenig. Heute werden die kolonialen Namen nach und nach abgelegt. 2010 gaben die Haida in einer Zeremonie den Namen „Queen Charlotte Islands“ an die Provinz zurück, etablierten „Haida Gwaii“ und 2022 erhielten auch viele Orte auf den Inseln ihre traditionellen Haida-Namen zurück, die fortan in Dokumenten und Karten offiziell genutzt werden. Auch an vielen anderen Orten in Kanada weisen Schilder auf traditionelle indigene Namen hin.

Realität und Klischee – kulturelle Wertschätzung und kulturelle Aneignung

Die Liebe zu den „Indianern“ ist in Deutschland Tradition. Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau und Autoren wie Henry W. Longfellow, Friedrich Gerstäcker und Karl May faszinierten Generationen von Lesern. In Romanen sowie in Filmen, Comics, Kinderbüchern und der Werbung begegnen uns jedoch immer wieder stereotypische Darstellungen Indigener. Das klischeehafte Bild wurde insbesondere von Hollywood und Karl Mays „Winnetou“ geprägt, einem Mann hoch zu Ross, mit „Kriegsbemalung“ und Federschmuck. Die Deutschen verbinden mit dem „Indianer“ Eigenschaften wie Naturverbundenheit, Tapferkeit und Mut. Doch auch ein positives Image wird den Menschen und ihrer kulturellen Vielfalt nicht gerecht. „Indianer“ sind keine Meister des Schweigens. Sie sitzen nicht Pfeife rauchend im Schneidersitz, schauen stoisch in die Ferne oder laufen geräuschlos durch den Wald. Sie sind voller Lebenslust, lachen viel und erzählen gern von ihren Erlebnissen. Ihr Humor ist tiefsinnig, witzig und oft doppeldeutig, wie zahreiche indigene Autoren oder Filmemacher beweisen.

Filme haben das stereotypische Image der „Indianer“ verbreitet.

Indianerfest ...

Indigene Gruppen, die in Tipis wohnten und den Büffelherden nachstellten, gab es nur in der Prärie und das Zelt als Wohnstatt war keineswegs die Regel. Pferde kamen erst durch die Europäer ab Ende des 15. Jahrhunderts nach Amerika. Im Nordosten Amerikas lebten die Indigenen in Wigwams aus Holz und Rinde, im Süden bauten sie Dörfer aus Lehmziegeln. Jene, die in festen Häusern wohnten, lebten seit tausenden von Jahren vom Ackerbau. Bereits 1500 v. Chr., lange vor den antiken Hochkulturen der Römer und Griechen, gab es in Nordamerika Ackerbaukulturen mit aufwendigen Bewässerungssystemen, die Mais, Bohnen und Kürbisse anbauten. Die Darstellung der indigenen Gruppen als kriegslüsterne Nomadenstämme, denen nur die weißen Siedler Zivilisation und Kultur vermitteln konnten, diente ausschließlich dazu, die weiße Vorherrschaft zu festigen.

... in einem Kindergarten.

Stereotypische Darstellungen haben diskriminierende Auswirkungen auf jene Bevölkerungsgruppen, deren reichhaltige Kulturen auf Klischeevorstellungen reduziert werden. Falsche Darstellungen und das Festigen von Stereotypen haben negative Folgen für die Menschen selbst. Besonders davon betroffen sind Kinder und Jugendliche. Neben anderen psychologischen Auswirkungen wird ihr Selbstwertgefühl untergraben. First Nations kritisieren daher die Art und Weise, wie Indigene in Filmen, Dokumentationen, Fernsehserien, Projekten in Kindergärten und Schulen, Shows, Zeitungsartikeln und in der Werbung dargestellt oder „porträtiert“ werden und betonen, dass es einen Unterschied gibt zwischen kultureller Aneignung (cultural appropriation) und kultureller Wertschätzung (cultural appreciation).

KULTURELLE ANEIGNUNG – CULTURAL APPROPRIATION

Wenn sich Menschen aus dominanten Gesellschaftsgruppen der Mode, Frisuren, Accessoires, sprachlicher Besonderheiten oder sonstiger kultureller Elemente einer marginalisierten Kultur bedienen, weil sie diese interessant finden oder damit Geld verdienen, ohne dabei den Wert der jeweiligen Kultur zu respektieren, handelt es sich um sogenannte kulturelle Aneignung (cultural appropriation). Dabei werden kulturell kodierte Details ihrem Ursprungskontext entrissen und wie eine Maske oder ein Kostüm oder in stereotyper Imitation verwendet. Während in der Aneignung häufig eine Wertschätzung des Angeeigneten zum Ausdruck gebracht werden soll, fokussiert sich die Kritik kultureller Aneignung nicht in erster Linie auf die individuelle Übernahme kulturell markierter Stile von Frisur oder Kleidung, sondern auf die rassistische Struktur der Stereotypisierung außerhalb kultureller Kontexte.

Oft kommt es im Marketing zur kulturellen Aneignung indigener Namen und Images für Produkte, denn Unternehmen nutzen gern bestimmte Assoziationen mit indigener Kultur. Etliche Marken, darunter Nestlé, Colgate, Quaker Oats und Land O’Lakes, haben mittlerweile ihre Namen oder Logos für einzelne Produkte geändert, da sie rassistische Vorurteile oder stereotypische Vorstellungen von Indigenen zementierten. Auch Sportteams trennten sich von Vereinsnamen oder Maskottchen. Das Sasketchewan-Baseballteam „Swift Current Indians“ änderte seinen Name in „Swift Current 57’s“, aus dem Basketballteam „Ottawa Tomahawks“ wurden die „SkyHawks“ und die „Edmonton Eskimos“ spielen heute unter dem Namen „Edmonton Elks“ in der Canadian Football League.

Immer wieder verkleiden sich auch Nicht-indigene als „Indianer“ auf Kostümfesten, nehmen indigene Identitäten an oder berufen sich auf angebliche indigene Vorfahren. Der kanadische Autor Joseph Boyden (geb. 1966), der über die Kultur der First Nations schreibt, gibt an, indigener Abstammung zu sein, was weithin umstritten ist. Sein Roman Three Day Road (2005) über zwei Cree-Soldaten im Ersten Weltkrieg wurde von dem legendären Ojibwa-Scharfschützen Francis Pegahmagabow inspiriert und mehrfach preisgekrönt. 2015 wurde Boyden zum Mitglied des Order of Canada ernannt und für sein soziales Engagement, insbesondere zur Unterstützung der First Nations, ausgezeichnet. Viele indigene Schriftsteller, Aktivisten und Politiker erklärten jedoch, dass Boyden, der hauptsächlich irischer und schottischer Abstammung ist, nicht das Recht habe, im Namen der indigenen Gemeinschaft zu sprechen, da er nicht indigen sei.

2021 ging der Fall um Carrie Bourassa, Professorin am Department of Community Health and Epidemiology an der University of Saskatchewan, durch die Medien. Seit über einem Jahrzehnt identifizierte sich Bourassa, die als führende Expertin für indigene Gesundheitsfragen gilt, öffentlich als Métis und Anishinabe mit Tlingit-Wurzeln. Doch am Institut wurden Kollegen misstrauisch und erforschten ihren Stammbaum, der zeigt, dass Bourassa Wurzeln in Osteuropa, aber kein indigenes Blut hat. Es gibt viele Möchtegern-Indianer, Hochstapler und Fälle von indigenem Identitätsbetrug – einer der bekanntesten ist der Naturschützer und Schriftsteller Grey Owl.

„I Am My Own Celebration“, Amanda Marie Flynn, Woodland Cultural Centre, Brantford, ON

In diesem Buch wird versucht, ein vielfältiges Bild der indigenen Gruppen in Kanada zu zeichnen. Dabei geht es vor allem um die Darstellung der heutigen Situation, mit all ihren Facetten und Herausforderungen, und darum zu zeigen, wie Indigene sich selbst präsentieren. Wenn es dennoch hin und wieder zu Generalisierungen kommt, so ist das dem begrenzten Platz und der leichteren Verständlichkeit geschuldet.

Dänojà Zho Cultural Centre, Dawson City, YT

GREY OWL ODER ARCHIE BELANY (1888-1938)

Archie Belany, der in Deutschland als Wäscha-kwonnesin bekannt wurde, war ein englischer Naturschützer, Trapper und Schriftsteller. Belany wurde in Großbritannien geboren und wuchs in zerrütteten Familienverhältnissen auf. Schon während der Kindheit entwickelte er eine große Begeisterung für „Indianer“ und die Natur. Als er 1906 nach Kanada kam, arbeitete er zunächst als Verkäufer in Toronto. Bald zog es ihn in den Norden, wo er viel Zeit bei den Anishinabe auf Bear Island verbrachte, deren Sprache er lernte und wo er sich in Grey Owl (Wa-sha-quon-asin, auch Wäscha-kwonnesin, was so viel wie „Vogel, der nachts wandert“ bedeutet) umbenannte und 1910 die Anishinabe Angele Egwuna heiratete. Allmählich nahm Belany indigene Lebensgewohnheiten an, verleugnete seine englische Herkunft und gab an, Sohn eines schottischen Vaters und einer Apachin zu sein. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er in Europa kämpfte und verwundet wurde, kehrte er nach Kanada zurück. Dort lernte er die 19-jährige Mohawk Gertrude Bernhard kennen, die er später Anahareo nannte, und lebte als Fallensteller mit ihr im Norden von New Brunswick. Nach der Aufzucht von zwei Bibern gab er das Fallenstellen auf und gründete stattdessen eine Biberkolonie. Seine erste Naturerzählung für die Zeitschrift Country Life war so erfolgreich, dass er aufgefordert wurde, eine Autobiografie als „Halbblut“ zu schreiben. Seine schriftstellerischen Arbeiten fanden großen Anklang und der kanadische Nationalparkservice bot ihm an, seine Arbeit als Naturschützer innerhalb eines Nationalparks fortzuführen. Mit Anahareo und den Bibern zog Belany in den Prince Albert National Park, wo er 1938 an Lungenentzündung starb. Mit seinen Büchern, Dokumentationen und Vorträgen erreichten seine Ansichten zum Naturschutz ein breites Publikum. Nach seinem Tod wirkte sich jedoch die Enthüllung, dass er kein Indigener war, zusammen mit anderen autobiografischen Erfindungen, negativ auf seinen Ruf aus. Sein Leben wurde im Film Grey Owl (1999) mit Hauptdarsteller Pierce Brosnan dargestellt.

AM ANFANG STEHEN GESCHICHTEN

Felszeichnungen im Sproat Lake Provincial Park, BC, wie sie von vielen indigenen Gruppen geschaffen wurden.

AM ANFANG STEHEN GESCHICHTEN

Viele First Nations bezeichnen Nordamerika heute als „Turtle Island“, basierend auf uralten, mündlich überlieferten Geschichten. Das Land wurde ihnen vom Schöpfer gegeben und Geschichten erklären, wie die Welt und alle Lebewesen und Dinge in ihr einst entstanden sind und wie sich die Menschen verhalten sollen, um ihre Lebenswelt zu bewahren.

Sky Woman – eine Schöpfungsgeschichte der Haudenosaunee1

Am Anfang, als die Erde noch tief unter dem Wasser lag und in der Welt eine große Dunkelheit herrschte, gab es nur die Welt im Himmel, Sky World. Dort existierten weder Krankheit noch Tod, Eifersucht oder Hass. Die Himmelsmenschen hatten besondere Talente und alle trugen zum Gemeinwohl bei. Eines Tages suchte der Chief eine Frau. Um die richtige zu finden, wurde ein Wettbewerb ausgerufen, den Traum des Chiefs zu erraten. Nach vielen Monaten erriet eine junge Frau den Traum. Die Dorfbewohner waren erfreut und richteten die Hochzeit aus. Eines Tages war Sky Woman schwanger und teilte ihrem Mann die Neuigkeit mit. Dieser wurde wütend, denn er konnte sich die Situation nicht erklären. Im Zentrum der Himmelswelt stand ein riesiger Baum mit tiefen Wurzeln, der Licht spendete, denn es gab noch keine Sonne. Voller Wut riss der Mann den Baum aus und ein großes Loch entstand. Neugierig spähte die Frau in das Loch und erkannte tief unten eine Welt bedeckt mit Wasser und Wolken. In diesem Moment schubste der Mann Sky Woman und sie fiel in das Loch im Himmel.

Sky Woman fiel eine Ewigkeit. Dort unten gab es nichts als Wasser und Vögel und Tiere, die im Wasser lebten, wie Biber, Bisamratte, Ente und Seetaucher. Während sie fiel, erkannten die Tiere weit oben ein Licht. Das war Sky Woman, wie sie vom Himmel stürzte. Aus Angst vor dem Licht tauchten sie unter, doch sie waren auch neugierig. Sie machten sich Sorgen um Sky Women und fragten sich, was mit ihr passieren würde, wenn sie ins Wasser fallen würde. Ein Schwarm Gänse flog ihr entgegen, formierte sich, fing sie auf und trug sie auf ihren Flügeln. Doch lange konnten sie Sky Woman nicht tragen und so suchten sie nach einem trockenen Platz, wo sie sie absetzen konnten. Schließlich baten sie die Schildkröte, Sky Woman auf ihren Rücken zu nehmen. So lebte Sky Woman auf dem Rücken der Schildkröte. Doch sie erwartete ein Kind und die Tiere sahen, dass sie sich unwohl fühlte und berieten, was zu tun sei. Sie hatten gehört, dass es auf dem Meeresgrund einen braunen Schlamm geben sollte, der weich und angenehm war. Den wollten sie für die Frau holen.

„Ich werde auf den Grund des Meeres tauchen und Erde bringen“, erklärte sich der Biber bereit. Er war groß und stark, ein ausgezeichneter Schwimmer und hatte einen kräftigen Ruderschwanz. Er würde es schaffen. Er blieb lange fort. Als er völlig erschöpft auftauchte, hatte er den Meeresgrund nicht erreicht. Als nächstes meldete sich Otter. Er war kleiner und schneller als Biber. Otter tauchte und blieb lange unter Wasser, doppelt so lange wie Biber. Endlich tauchte er auf und die Tiere jubelten, doch auch er hatte keine Erde in seinen Händen. Dann versuchte es Ente, aber sie kam ohne Erde wieder hoch. Viele Tiere versuchten es, doch alle waren erfolglos.

Schließlich meldete sich Bisamratte. Die Tiere lachten, denn Bisamratte war klein und hatte einen dünnen Schwanz. Sie sprang ins Wasser und tauchte. Lange blieb sie fort und die Tiere warteten und warteten, bis sie des Wartens müde wurden und ihrer Arbeit nachgingen. Nach unendlich langer Zeit tauchte ihr Körper auf. Doch er bewegte sich nicht. Leblos schwamm Bisamratte auf dem Wasser. Die Tiere trauerten um ihren Freund. Sie brachten Bisamratte auf den Schildkrötenpanzer und als sie sie niederlegten, sahen sie, dass sie in ihren kleinen Händen ein klein wenig braune Erde hatte. Nur ein winziges Körnchen.

Sie platzierten den Schlamm auf dem Rücken der Schildkröte und Sky Woman nahm ihre Trommel, die sie mitgebracht hatte, und begann zu trommeln, zu singen und zu tanzen. Es war der erste Tanz, der auf Mutter Erde getanzt wurde und er ist bis heute heilig. Und während sie tanzte und mit ihren Füßen die Erde liebkoste, begann diese sich auszubreiten und zu wachsen. Sky Woman tanzte Monate und Jahre und hörte erst auf, als die Erde so groß war, dass alle zukünftigen Generationen der Menschen auf ihr Platz hatten. Sky Woman war nicht mit leeren Händen gekommen. Während ihres Sturzes in das Loch im Himmel hatte sie haltsuchend mit ihren Händen in die Äste des Baumes gegriffen und von jeder Pflanzenart Samen mitgebracht. Diese fielen auf die Erde und begannen zu wachsen und sie pflegte sie, bis die Erde grün wurde und Pflanzen als Medizin und Nahrung für alle Wesen auf ihr gediehen. Daher nennen die First Nations Nordamerika heute Turtle Island – Schildkröteninsel.

Es gibt unzählige Versionen dieser Geschichte. Die Gottheit Sky Woman wurde aus dem Himmel ausgestoßen, weil sie ein Tabu gebrochen und/oder ihr eifersüchtiger Ehemann sie verraten hatte. In einer anderen Version der Geschichte wies der Great Spirit, Herrscher über die Himmelswelt, seine Tochter an, in die dunkle Welt zu gehen und warf sie eigenhändig in das Himmelsloch. Sky Woman ist auch die Mutter der Zwillinge Sky-Holder und Flint, die auch Good Spirit und Bad Spirit bezeichnet werden. In anderen Versionen ist sie die Mutter einer Tochter, Tekawerahkwa oder „Hauch des Windes“, die die Zwillinge gebärt. Die Zwillinge repräsentieren Gut und Böse bzw. die Gegensätze des Lebens. Sky-Holder repräsentiert Schöpfung, Leben, Tag und Sommer, während Flint für Zerstörung, Tod, Nacht und Winter steht. In einigen Versionen bevorzugt Sky Woman ihren Enkel Flint, da er sie täuscht und ihr einredet, Sky-Holder habe Tekawerahkwa getötet. In anderen Versionen missbilligt Sky Woman Sky-Holders menschliche Schöpfung mit all ihren Eigenarten. In wieder anderen Versionen unterstützt sie beide Söhne, denn Leben und Tod existieren gleichermaßen in der Welt. Sky Woman wird auch mit dem Mond assoziiert: Sie verwandelt sich entweder selbst in den Mond, hat diesen geschaffen oder Sky-Holder verwandelt nach ihrem Tod ihren Körper in Sonne, Mond und Sterne. In der Mythologie der Haudenosaunee gibt es viele Namen für Sky Woman, denn dies ist eher ein Titel als ihr Name. Sie ist eine Himmelsfrau, da sie eine der Himmelsmenschen, Karionake, ist. Ihr Name lautet Ataensic (Huron), Iagentci („sehr alte Frau“ in der Sprache der Seneca), Iotsitsisonh oder Atsi’tsiaka:ion („fruchtbare Blume“ in der Sprache der Mohawk), Awenhai (Cayuga/Seneca) oder Aentsik.

Raven stiehlt das Licht der Welt2

Es gab eine Zeit, da war die Welt mit Dunkelheit bedeckt, einer undurchdringlichen, rabenschwarzen Dunkelheit, die das Jagen, Fischen und Beerensammeln schwierig machte. Damals, als es noch nichts auf der Welt gab – keine Bäume, keine Vögel und nicht einmal Fische und Wale und Robben – lebte ein alter Mann in einem Haus am Flussufer. Er lebte dort zusammen mit seiner Tochter. Ob sie so schön war wie die Spitzen der Hemlocktanne im Frühlingshimmel bei Sonnenaufgang oder so hässlich wie eine Nacktschnecke, war schwer zu sagen. Es spielte auch keine Rolle, denn es war ja dunkel. Es spielt auch keine Rolle für diese Geschichte, denn sie spielt vornehmlich im Dunkeln. Denn damals war die gesamte Welt dunkel – pechrabenschwarz, schwärzer als stürmische Winternächte, schwärzer als irgendetwas, das es gab. Das lag an dem alten Mann in dem Haus am Fluss.

Er besaß eine Truhe. Darin war eine Truhe, in der eine weitere Truhe steckte, die viele weitere Truhen enthielt, jede ein bisschen kleiner als die vorherige. Die letzte, klitzekleine Truhe schließlich enthielt das gesamte Licht des Universums, das der alte Mann selbstsüchtig für sich behielt. Raven – den es damals schon gab, denn er war schon immer da, und es wird ihn immer geben – war nicht zufrieden mit der Lage der Dinge, denn sie führte dazu, dass vieles vermurkst und vermasselt wurde und er ständig irgendwo gegenstieß. Die Dunkelheit behinderte ihn enorm in seinem Streben nach Nahrung, bei der Befriedigung anderer Lüste und bei seinen ständigen Bemühungen, sich in alle Dinge einzumischen und sie zu verändern.

Eines Tages führte ihn sein Weg zum Haus des alten Mannes, wo er eine feine Stimme singen hörte. Er folgte der Stimme und als er sein Ohr gegen die Holzwand drückte, hörte er die Worte: „Ich habe eine Truhe, und darin ist wieder eine Truhe, und darin sind viele weitere Truhen, und in der kleinsten ist das Licht der Welt, und es gehört mir ganz allein. Ich gebe es niemals weg, nicht einmal meiner Tochter, denn wer weiß, sie kann so hässlich sein wie eine Nacktschnecke, und weder sie noch ich wollen das wirklich wissen.“ Es dauerte nur einen Augenblick für Raven, um zu beschließen, das Licht zu stehlen. Etwas länger dauerte es, einen Plan zu schmieden, um sein Vorhaben umzusetzen. Zuerst musste er eine Tür in das Haus finden, aber so oft er auch um das Haus herumlief oder die Planken abtastete, es war glatt und ohne Eingang. Manchmal hörte er, wie der Mann oder die Tochter das Haus verließen, aber ganz gleich, wo er war, sie verließen es immer auf der gegenüberliegenden Seite, und als Raven zu der anderen Seite des Hauses herumgelaufen war, schienen die Wände glatt wie zuvor. Schließlich setzte sich Raven an den Fluss und überlegte, wie er in das Haus gelangen könnte. Und wie er so grübelte, dachte er immer öfter an die Tochter. „Sie ist wahrscheinlich so hässlich wie eine Nacktschnecke“, sagte er zu sich, aber andererseits könnte sie auch so schön sein wie die Spitzen der Hemlocktanne im Frühlingshimmel bei Sonnenaufgang (nicht dass es damals schon einen Sonnenaufgang gegeben hätte). Da hatte er die Lösung.

Raven mit dem Licht im Schnabel, Totem Pole, Museum of Anthropology, Vancouver

Er wartete, bis die junge Frau, deren Schritte er mittlerweile von denen ihres Vaters unterscheiden konnte, zum Fluss kam, um Wasser zu holen. Dann verwandelte er sich in eine Tannennadel, fiel ins Wasser und trieb den Fluss hinunter, gerade rechtzeitig, um von dem Korb, den die Tochter in das Wasser tauchte, aufgefangen zu werden. Sogar als Tannennadel besaß Raven noch Kräfte, die das Mädchen durstig machten und sie einen Schluck Wasser vom Korb trinken ließen, wobei sie die Tannennadel verschluckte. Raven glitt in ihr warmes Inneres und fand einen weichen Platz, an dem er sich wieder verwandelte – dieses Mal in ein sehr kleines, menschliches Wesen. Er schlief eine lange Zeit, und während er schlief, wuchs er. Das Mädchen hatte keine Ahnung, was mit ihr geschah. Und natürlich erzählte sie es nicht ihrem Vater, der nichts Ungewöhnliches wahrnahm, denn es war ja stockdunkel. Bis er plötzlich die Anwesenheit von etwas Neuem im Haus gewahr wurde, als Raven triumphierend in Gestalt eines Jungen erschien. Er war – wenn irgendjemand ihn hätte sehen können – ein merkwürdig aussehender Junge, mit einer langen, schnabelähnlichen Nase und einigen Federn hier und dort. Er hatte die funkelnden Augen des Raben, die seinem Gesicht ein hell leuchtendes, neugieriges Erscheinen gaben. Und er war laut. Er schrie wie ein verwöhntes Kind und ein verärgerter Rabe. Doch er konnte auch so sanft sprechen wie der Wind in den Tannenzweigen, mit dem Echo eines Glockenklanges. Es war zu Zeiten wie diesen, dass sein Großvater dieses neue Mitglied des Haushaltes lieben lernte. Er spielte mit ihm, erfand neue Spiele, fertigte Spielsachen an und verbrachte viele Stunden mit dem Rabenkind.

Der Rabe ist ein Trickster in den Geschichten vieler First Nations.

Als Raven sich der Liebe und des Vertrauens des alten Mannes sicher war, begann er, das Haus zu erforschen, um herauszufinden, wo der Alte das Licht versteckt hatte. Nach einigem Erkunden war er überzeugt, dass es in der großen Truhe in der Ecke des Hauses war. Eines Tages hob er vorsichtig den Deckel hoch. Er konnte nichts sehen, fühlte aber den Deckel einer anderen Truhe. Sein Großvater hörte, dass seine wertvolle Schatztruhe geöffnet worden war, schimpfte und drohte strengste Strafe an, wenn das Rabenkind je wieder die Truhe berühren sollte. Es folgte eine Welle geräuschvollen Protests, die nach einer Weile in zärtliches Bitten überging, mit der größten Truhe spielen zu dürfen. Die Truhe, sagte das Rabenkind, sei das einzige, das es wirklich glücklich machen würde. Wie wohl alle Großväter seit jeher gab auch der alte Mann schließlich nach und reichte seinem Enkel die größte Truhe. Damit war der Junge für einige Zeit zufrieden.

Aber wie wohl alle Enkel seit jeher verlangte Raven bald nach der nächsten Truhe. Es dauerte viele Tage und Schmeicheleien, durchzogen mit gut geplanten Wutanfällen, doch mit der Zeit entfernte der Alte eine Truhe nach der anderen und schenkte sie dem Jungen. Als nur noch wenige übrig waren, begann ein merkwürdiges Strahlen die Dunkelheit des Hauses zu erfüllen und enthüllte vage Formen und Schatten. Schließlich bat das Rabenkind, das Licht nur für einen kurzen Moment halten zu dürfen. Die Bitte wurde sofort abgeschlagen. Aber natürlich gab sein Großvater mit der Zeit nach. Der alte Mann hob das Licht in Form eines hell leuchtenden Balls aus der letzten Truhe und warf es seinem Enkel zu. Dabei warf er einen flüchtigen Blick auf das Kind, dem er so viel Liebe und Zuwendung geschenkt hatte. Doch als das Licht zu ihm flog, verwandelte sich das Kind von seiner menschlichen Gestalt in einen riesigen, glänzenden Schatten mit ausgebreiteten Flügeln und geöffnetem Schnabel. Raven fing das Licht mit seinem Schnabel, schwang seine großen Flügel und schoss durch das Rauchloch des Hauses in die Dunkelheit der Welt. Diese veränderte sich augenblicklich. Berge und Täler zeichneten sich ab, der Fluss glitzerte mit gebrochenen Reflektionen und überall begann Leben zu erwachen.

In der Ferne erhob sich eine andere Gestalt mit großen Schwingen in die Lüfte. Das Licht hatte auch die Augen des Adlers geblendet und ihm sein Ziel gezeigt. Der Rabe flog weiter, erfreute sich an seinem herrlichen Besitz, bewunderte den Effekt, den das Licht auf die Welt unter ihm hatte und schwelgte in der Fähigkeit, sehen zu können, wohin er flog, anstatt blind zu fliegen und auf das Beste zu hoffen. Er genoss seinen Erfolg so sehr, dass er den Adler nicht bemerkte, bevor dieser fast bei ihm war. In Panik wich er ihm aus, um dessen ausgestreckten Klauen zu entgehen. Dabei verlor er die Hälfte des Lichts, das er im Schnabel trug. Das Licht fiel auf den steinigen Boden in der Tiefe und zerbrach in tausend Stücke – in ein großes und unzählige kleine. Sie prallten zurück in den Himmel und blieben dort hängen, wo sie als Mond und Sterne die Nacht erhellen. Der Adler folgte Raven über den Rand der Welt hinaus. Erschöpft von der Verfolgung ließ Raven das letzte Stück Licht fallen, das außerhalb der Welt langsam zu den Wolken glitt und über den Bergen im Osten aufstieg.

Seine ersten Strahlen erreichten auch das Haus am Fluss, wo der alte Mann saß und bitterlich über den Verlust seines kostbaren Lichts und den Betrug seines Enkels klagte. Doch als ihn das Licht erreichte, blickte er auf und sah das erste Mal seine Tochter, die still am Ufer gesessen hatte, überwältigt vom Verlauf der Ereignisse. Und als der alte Mann sah, dass sie so schön war wie die Spitzen der Hemlocktanne im Frühlingshimmel bei Sonnenaufgang, fühlte er sich schon ein kleines bisschen besser.

Raven wird von vielen indigenen Künstlern auf Totempfählen und in anderen Werken dargestellt.

Der Rabe ist ein Schlüsselelement der Mythologie vieler First Nations entlang der Nordwestküste, die seit Jahrtausenden mit ihm Seite an Seite leben und seine Lebensweise und sein Verhalten genauestens studiert haben. Raven gilt als trickster, als trickreicher Gauner und dreister Schwindler, aber auch als Katalysator für Veränderung. Motiviert von Neugier, Maßlosigkeit und Hemmungslosigkeit symbolisiert er Kreativität und Humor. Da er sich schnell langweilt und ständig nach neuen Herausforderungen sucht, gerät er häufig in Situationen, die ein ungewöhnliches, kreatives Verhalten erfordern. Dabei handelt Raven oft überstürzt und unüberlegt, benimmt sich anstößig und gewissenlos der Gesellschaft gegenüber und muss dafür zuweilen einen hohen Preis bezahlen. Sein Handeln aber verändert die Welt und die Folgen sind für die Menschen von Nutzen. Die Geschichten seiner Abenteuer – die trickster tales – geben zudem Handlungsanweisungen für das Zusammenleben in der Gemeinschaft. Für die Menschen hat die Welt viele Gesichter. Sie ist weder gut noch böse, aber oft unberechenbar und Raven ist Teil dieser Welt und vieler creation stories – Geschichten, die von der Entstehung der Welt berichten. Der gefiederte Halbgott war zwar nicht bei der Entstehung der Welt an sich beteiligt, half aber bei der Erschaffung ihres gegenwärtigen Zustands – mit all ihren Vorzügen und Defiziten.

Sedna, Göttin der Meere – eine Geschichte der Inuit3

Vor langer Zeit lebte am Ufer des Meeres ein alter Inuk mit seinen Tochter Sedna. Seine Frau war vor vielen Jahren gestorben und die zwei führten ein ruhiges Leben. Sedna wuchs zu einer wunderschönen Frau heran und junge Männer von nah und fern hielten um ihre Hand an. Niemand jedoch konnte ihr stolzes Herz erweichen. Einen Bewerber nach dem anderen wies sie ab; niemand schien ihr gut genug. Eines Tages im Frühling, als das Eis zu schmelzen begann, erschien ein vermummter Jäger und bat ihren Vater um ihre Hand. Er bot ihm reichlich Fisch und Jagdbeute, versprach, für seine Frau zu sorgen und sie mit den wärmsten Pelzen und den schmackhaftesten Köstlichkeiten zu verwöhnen. Der Vater stimmte zu und reichte Sedna einen Schlaftrunk, um sie zu betäuben, und der fremde Jäger nahm seine Braut in seinem Kajak mit. Als Sedna aufwachte, musste sie erkennen, dass ihr Ehemann ein Sturmvogel war und ihr neues Heim kahle, öde Klippen. Ihre Wohnung war nicht mit weichen, warmen Pelzen ausgestattet, sondern mit kalten, löchrigen Fischhäuten, die Wind und Schnee durchließen. Statt weicher Rentierhäute bestand ihr Bett aus harten Walrosshäuten und als Nahrung erhielt sie nur elenden Fisch, den die Sturmvögel brachten. Sie erkannte, dass sie ihre Möglichkeiten weggeworfen hatte, als sie in ihrem dummen Stolz die jungen Inuit abgewiesen hatte. Senda weinte bitterlich, schrie in den Wind und rief ihren Vater um Hilfe an: „Oh Vater, wenn du wüsstest, wie elend es mir ergeht, so würdest du mich holen und wir würden in deinem Boot über das Wasser wegfahren. Die Vögel schauen voller Verachtung auf mich als Fremde, kalte Winde wehen um mein Bett. Bitte komm und hole mich.“