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Erfahrungen aus der Kindheit können uns das Leben und vor allem das Liebesleben im Erwachsenenalter schwermachen. Oft tragen wir unbewusste Muster und Verletzungen mit uns, die unsere Beziehungen beeinflussen. Wenn wir jedoch lernen, unser Inneres Kind zu verstehen, öffnen wir die Tür zu einem tieferen Verständnis unserer Gefühle und Verhaltensweisen. Peter Bartning zeigt anschaulich und behutsam, wie der bewusste Zugang zu und der Umgang mit den Inneren Kindern uns dabei helfen können, Konflikte in einem neuen Licht zu sehen. Mit praktischen Lösungen und einfühlsamen Ansätzen führt er uns auf den Weg zu einer erfüllten Partnerschaft, in der alte Wunden heilen und echte Verbundenheit entstehen kann.
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Seitenzahl: 160
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Das Buch
In unseren Liebesbeziehungen übernehmen immer wieder unsere Inneren Kinder das Ruder. Dann werden unsere Gefühle und unser Verhalten gegenüber unseren Partnern von unserem Unterbewusstsein gesteuert. In diesem Buch erfahren Paare, wie sie die Innere-Kind-Arbeit für ihre Beziehung nutzen können. Dabei setzt der Paartherapeut Peter Bartning Phasen von Verliebtheit, Anpassung oder Streit genauso wie Sexualität oder Affären in Bezug zu den Inneren Kindern der Partner. Durch diesen Zugang können Paare Konflikte besser verstehen lernen und ihre Liebe weiterentwickeln. Zusätzlich macht der Anhang mit vielen praktischen Übungen, zum Beispiel konstruktives Sprechen, wieder in die Liebe kommen, Verzeihen, das Buch zu einer wahren Fundgrube.
Der Autor
Peter Bartning, geb. 1952, ist Theologe, Heilpraktiker für Psychotherapie, Paar- und Familientherapeut (DGSF), Systemischer Supervisor (DGSF), hat eine Ausbildung in Transaktionsanalyse und ist selbstständig in seiner »Praxis für Beziehungsheilung« tätig. Er hält Seminare und Vorträge u. a. zur Aussöhnung mit dem Inneren Kind und zur Partnerschaftsvertiefung.
Mehr Informationen finden Sie unter:
www.beziehungsheilung.de
Peter Bartning
DAS INNERE KIND IN DER PAARBEZIEHUNG
Überarbeitete Taschenbuchausgabe 2025© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016Hermann-Herder-Str. 4, 79104 FreiburgBei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich an [email protected] Rechte vorbehaltenwww.herder.de
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, RohrdorfUmschlagmotiv: © phototake / iStock
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster
ISBN Print 978-3-451-03507-4ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83657-2
Seit Jahrzehnten gilt meine Leidenschaft den »Inneren Kindern«. 1981 begann ich eine erste Psychotherapieausbildung in Transaktionsanalyse und erfuhr erstmals systematisch von inneren Dialogen. Diese hatte ich bis dato schon vielfach in der eigenen Psyche erfahren und erlitten; der Ausdruck »Leidenschaft« ist daher auch in dem Sinne eines »Leidens« zu verstehen.
Manche besonders heftige innere Dialoge hatte ich hinsichtlich Beziehungen aller Art: in meinen Paarbeziehungen, in meinem ersten Beruf als Gemeindepastor und durch meine Klienten. Ich begriff damals, dass innere Dialoge durch all die vielen Begegnungen nur angestoßen wurden, dass diese also längst schon in mir waren und jeweils nur eine Art Comeback erfuhren. Denn in irgendeiner Form hatte sich alles schon ähnlich in meiner Kindheit zugetragen.
Insofern lernte ich zwar vieles durch meine Klienten, was ich im Folgenden über Paarbeziehungen berichte, aber auch aus meinen eigenen Partnerschaften sind mir solche inneren Dialoge wohl bekannt. In Krisen und vor allem in der Zeit der Trennung und Scheidung von meiner ersten Frau habe ich quälende Selbstvorwürfe und Selbstzweifel persönlich erlebt. Die Basis dieses Buches bleibt aber vor allem meine langjährige Arbeit mit Klienten. Insofern verstehe ich mich als eine Art Hebamme, die den Kindern – hier eben Ihren Inneren Kindern – ins Licht des Bewusstseins verhelfen will.
Die Beispiele, die ich in diesem Buch aufführe, gehen auf das Erleben meiner Klienten zurück; selbstverständlich habe ich die Beispiele verallgemeinert, sodass eine Zuordnung zu bestimmten Personen nicht mehr möglich ist. Wahrscheinlich sind es gerade solche Verallgemeinerungen, die Leserinnen und Leser anziehen, weil sie sich in ihnen wiederfinden können. Ich höre in meinen Gesprächen oft Sätze wie »Was Sie da auf Ihrer Webseite schreiben, das trifft haargenau auf uns zu«. Mich wundert das nicht. Denn wir Menschen sind gar nicht so verschieden, wie es scheint. Unsere Psyche arbeitet nach denselben Gesetzmäßigkeiten wie die Psyche unseres Freundes oder Feindes, wie die unserer Lebensgefährten und die des uns gänzlich Fremden. Diese Gesetzmäßigkeiten sind es, die mich immer wieder faszinieren: welche mitunter genialen Wege unsere Psyche einschlägt, damit sie mit den unterschiedlichsten Gegebenheiten klarkommt.
Bevor Sie nun in das Buch hineingehen, möchte ich insbesondere meine Leserinnen um Nachsicht bitten, dass ich es mir zugunsten des besseren Leseflusses sehr schnell wieder abgewöhnt habe, die weibliche und männliche Form jeweils auszuschreiben, wie es an und für sich angemessen wäre. Schrieb ich beispielsweise »Partner*in« oder »Betrogene*r«, so mochte ich meinen eigenen Text nicht mehr so recht lesen. Deshalb habe ich mich dann doch entschieden, nur in der männlichen Form zu schreiben. Natürlich sind stets beide Geschlechter gemeint.
Mein Wunsch ist es, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, einen Einblick in die kompliziert scheinenden Pfade unserer Psyche und das Wirken Ihrer Inneren Kinder in Ihrer Paarbeziehung gewinnen. So werden Sie wohl manche Probleme im Vorfeld erkennen und sogar vermeiden können.
Ich wünsche Ihnen ein interessantes und erfolgreiches Pfad-Finden!
Peter Bartning
Hinweis:
Die in diesem Buch gegebenen Anleitungen sind nur allgemeiner Art und demzufolge keinesfalls als psychotherapeutische Ratschläge oder gar als Paar- oder Psychotherapie anzusehen. Dazu ist Ihre Situation als Leserin oder Leser zu individuell! Sie werden von daher verstehen, dass eine Anwendung der Inhalte dieses Buches auf eigene Gefahr erfolgt; irgendeine Haftung seitens des Autors oder Verlages muss daher ausdrücklich ausgeschlossen werden.
Paare und Kinder – das kann man sich schon vorstellen, sogar lebhaft. Aber Paare und Innere Kinder?
Andererseits: Kennen wir es nicht zumindest vom Zuschauen, dass sich frisch verliebte Erwachsene glucksend im Kaufhaus unterhalten wie kleine, glückliche Kinder, die die Welt ringsum vergessen haben? Dabei scheren sie sich auch nicht um Leute, die schmunzelnd oder kopfschüttelnd danebenstehen.
Oder kennen wir nicht alle Situationen, in denen die anfangs so große Liebe urplötzlich umschlägt in Kampf oder gar Hass? In denen man sich derart streitet, dass ein Außenstehender – wenn es ihn denn in diesem Moment gäbe – meinen würde: Das ist ja wie im Sandkasten, gleich schmeißen die mit Sand!
Also: Überall haben wir es mit Kindern zu tun, nicht nur bei tatsächlich dem Lebensalter nach noch sehr jungen Menschen. Wenn also unsere Inneren Kinder imstande sind, mit Sand zu werfen, bzw. fliegende Untertassen und überhaupt unsere Paar- und sonstigen Beziehungen zu steuern, dann sollten wir schon ein Auge auf sie halten. Oder vielleicht auch eine Hand, mit der man ihnen zu verstehen gibt: »Ganz ruhig, komm erst mal runter«.
Aber damit ist es meistens nicht getan – oder haben Sie sich nicht schon einmal vorgenommen, in einem Krach mit Ihrem Partner ganz ruhig zu bleiben? Wahrscheinlich hat das nicht geklappt. Die Inneren Kinder machen nämlich, was sie wollen! Und das ist auch nicht verwunderlich, denn unsere Inneren Kinder sind zumeist in unserem Unterbewusstsein verankert. Und da kommt man ja bekanntermaßen schwer dran.
Beispielsweise bei Streit mischt das Innere Kind kräftig mit. Manchmal kommt man sich in solchen Streits geradezu wie fremdgesteuert vor, dabei hat nur ein Inneres Kind das Ruder übernommen.
Es scheint unglaublich, ist aber wahr: Wir alle folgen zu über 90 Prozent unserem Unterbewusstsein, lediglich knapp 10 Prozent unseres Alltags können wir bewusst gestalten.1 Das ist der Grund dafür, dass man sich oft geradezu fremdgesteuert fühlt; und man ist in extremen Situationen kaum imstande, sich bewusst im Zaum zu halten.
Ein Beispiel: Ein kleines Kind würde natürlich durchdrehen, wenn es von den Eltern verlassen werden würde. Ein Inneres Kind kann in genau solche Ängste und Wut geraten, wenn es auch nur den Eindruck hat, der Partner könnte die Beziehung beenden. Und da es inzwischen über erwachsene Kräfte verfügt, kann es unter Umständen mit Mord und Totschlag reagieren. Wohlgemerkt: Das Innere Kind in uns könnte so reagieren. Dass es bei Trennungen sehr selten zu solch extremen Handlungen kommt, haben wir dem Umstand zu verdanken, dass gewöhnlich genügend erwachsene Anteile vorhanden sind, die das Innere Kind im Zaume halten können.
Hirnforscher nennen recht erschreckende2 Zahlen darüber, dass wir zum überwiegenden Teil sozusagen auf Automatik laufen, von unserem unterbewussten Autopiloten gesteuert werden. Um es anschaulicher zu beschreiben: Wir alle laufen einmal als sichtbare Person herum, wohingegen neun »Personen« von uns unsichtbar seien, die unser Unterbewusstsein repräsentierten. Das entspricht dem oben genannten Zahlenverhältnis von 10 Prozent Bewusstsein zu 90 Prozent Unterbewusstsein. Da hat man als »Sichtbarer« mit dem sogenannten »freien Willen« nur begrenzte Chancen.
Doch man kann lernen, mit dem Unterbewusstsein umzugehen. Zwar hat das Unterbewusstsein seine eigene Gesetzlichkeit und untersteht keineswegs unserem Willensentschluss. Aber wie dennoch ein Umgehen damit möglich ist, wird besonders deutlich am Modell vom Inneren Kind.
Im Folgenden werde ich die Grundlagen vorstellen, die zu mehr Bewusstheit im Umgang mit den Inneren Kindern führen können. Zusätzlich ermöglichen praktische Übungen, die Paarbeziehung immer mehr zu verbessern.
Und noch eine gute Nachricht: Zum Erforschen des Inneren Kindes müssen wir nicht über die Zusammenhänge und Hintergründe nachdenken, sondern eher nachspüren, die Emotionen schweifen lassen. Das ist dem Unterbewusstsein gemäßer als das analytische Denken. Und dann erkennen wir mehr und mehr auch mit dem Bewusstsein, wie gut es unser Unterbewusstsein mit uns meint.
Das Konzept vom »Inneren Kind«3
Das Innere Kind ist ein symbolhafter Ausdruck für Teile unserer Psyche. Dieser Begriff ist u. a. bekannt geworden durch die Bücher von John Bradshaw4 bzw. Erika Chopich und Margaret Paul5. Sie gehen davon aus, dass alle Erfahrungen und die damit verbundenen Gefühle unserer Kindheit unauslöschlich in unserem Gehirn gespeichert sind, wo sie jederzeit reaktiviert werden können. Diese Gefühle und Erfahrungen können sehr schön, aber auch sehr problematisch sein, insbesondere wenn ein verletztes Inneres Kind verdrängt wird. Zwischen positiven und negativen Gefühlen eines Inneren Kindes kann eine große Bandbreite an Empfindungen liegen.
Der größte Teil der Psyche entwickelt sich weiter, wird mehr und mehr erwachsen. Aber insbesondere bei traumatischem Erleben entfaltet sich der betroffene Teil der Psyche künftig nicht mehr ohne Weiteres. Er wird unter Umständen wie »schockgefroren« und bleibt hinsichtlich der Gefühle und Erinnerungen zu diesem Erleben auf dieser Entwicklungsstufe stehen. Die Persönlichkeit kann dadurch gewissermaßen »zerfasern«, und solche Teile werden die »verletzten« Inneren Kinder genannt.
Werden hingegen positive Erfahrungen gemacht, sind diese im »freien« Inneren Kind aufbewahrt, und dann bleibt man in seiner Gesamtentwicklung nicht hängen.
Alle früher gemachten Erlebnisse, positive wie problematische, liefern für das weitere Leben Schablonen, nach denen alle weiteren Erfahrungen einsortiert oder gar passend gemacht werden.
Wenn man als Kind verletzt worden ist, entsteht seelischer Schmerz. Wenn das Kind dann befürchtet, dass der Schmerz immer wieder eintreten könnte, kommt als zusätzliches Gefühl Angst hinzu. Früher oder später gerät das Kind darüber in Wut. Es drückt damit aus: »Hier muss sich was grundlegend ändern!«
Wenn die Eltern jedoch schon nicht mit Schmerz oder Angst ihres Kindes angemessen umgehen konnten, dann können sie es zumeist auch nicht mit der dann folgenden Wut. Daraufhin geschieht eine Art Quantensprung; die allermeisten Kinder entdecken unterbewusst eine geniale Einrichtung der Psyche: die Abwehr. Diese besteht aus vielen – von Sigmund Freud so bezeichneten – einzelnen Abwehrmechanismen (zum Beispiel Verdrängen, Ablenken, Flüchten in Scheinwelten, Hobbys oder Süchte). Mit deren Hilfe wird Schmerz, Angst und Wut aus dem Bewusstsein verbannt oder wenigstens auf ein erträgliches Maß gedämpft.
Hierbei muss betont werden, dass Verletzungen natürlich auch durch besondere Umstände geschehen können. Auch wenn Eltern eines Frühgeborenen zum Beispiel jeden Tag an den Brutkasten kämen und alle nur erdenkliche Liebe zeigten, würde das Frühgeborene aller Wahrscheinlichkeit nach trotzdem einen großen Schmerz fühlen: »Ich bin so allein!« Und das könnte ebenfalls die Gefühlskaskade von Schmerz-Angst-Wut einleiten, die dann durch Abwehr zu einem vorläufigen Verstummen gebracht werden müsste.
Abgewehrte Gefühle verschwinden aber nicht, sondern sie rumoren im Unterbewusstsein weiter. Von Zeit zu Zeit, wenn eine aktuelle Situation ähnliche Gefühle hervorruft, verschaffen sich die verdrängten Gefühle aus der Kindheit Luft. Das Innere Kind reagiert dann mit Verhalten, das der eigentlichen Situation überhaupt nicht mehr angemessen ist. Wenn man in Betracht zieht, welche enorme Wut Kinder entwickeln können, und sich vor Augen führt, wie sie sich zum Beispiel auf den Boden werfen und mit Armen und Beinen strampeln, dann bekommt man eine Ahnung von der Energie Innerer Kinder. Diese kann dann auch bei Erwachsenen durchaus zum Ausrasten und zu Aggressivität oder sogar Tätlichkeiten führen.
Darüber hinaus hat die Abwehr der unangenehmen Gefühle einen hohen Preis: Die Abwehr muss ja mindestens ebenso groß sein wie Schmerz, Angst und Wut zusammen. Wenn so viel Kraft für die Abwehr aufgewendet werden muss, wie viel seelische Energie bleibt da noch für Begeisterung und Glücklichsein? Nicht mehr viel. Als Folge der Abwehr entstehen deshalb oft Leere, Energielosigkeit, Sinnlosigkeit, vielleicht gar Depression – je nach Intensität der abgewehrten Gefühle. Unbekümmerte Freude, Kreativität und Glücksgefühle sind dann nur noch eingeschränkt möglich.
Jedes Innere Kind macht sich zudem unbewusst einen Reim darauf, warum ihm seine Eltern oder das Schicksal nicht genügend Liebe entgegengebracht haben. Die meisten suchen den Fehler bei sich selbst: »Ich muss irgendetwas falsch gemacht haben! Irgendwie bin ich verkehrt!« – Die Folgen sind existenzielle Schamgefühle, und diese zu bewältigen oder auch noch zu verdrängen, erfordert wiederum erhebliche Energie.
Dies alles sind normale Reaktionen der Psyche auf unnormale Situationen. Sie laufen unterbewusst in allen Altersstufen ab. Jedoch sind die Reaktionen nicht bei allen abgewehrten Lebensthemen gleich. Bei manchen Menschen geht die Kaskade bis zum schamvollen Kind, bei anderen nur bis zur Wut – das ist individuell verschieden.
Dieses Schaubild6 zeigt das schon vollendete Drama: Schmerz, Angst und Wut prallen an der Abwehr fast vollständig ab. Diese lässt dann nur noch sehr wenige Gefühle in das Bewusstsein gelangen. Als Folge der Abwehr entstehen Leere und Scham.
So weit zum Konzept des Inneren Kindes. Von hier aus wird verständlich werden, wie unsere Inneren Kinder auch in unseren Liebesbeziehungen eine wesentliche Rolle spielen.
Wie wirken Innere Kinder in Liebesbeziehungen? Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich, wenn wir uns die Inneren Kinder plastisch vorstellen, und zwar in allen Altersstufen: noch ungeborene Innere Kinder, Innere Säuglinge, Innere Kleinkinder und größere Innere Kinder, Innere Teenager, Innere junge Erwachsene von zum Beispiel 25 Jahren usw. Unsere Psyche besteht also aus einer Menge von Teilen. Zum Glück melden sie sich nicht alle zur gleichen Zeit, aber sie sprechen (durch Gedanken und Gefühle) sehr viel öfter zu einem, als man zunächst annimmt und wahrnimmt. Doch je sensibler man für sich selbst und diese »Stimmen« wird, desto größere Möglichkeiten sind gegeben, angemessen darauf einzugehen.
Auf Innere Kinder eingehen bedeutet keineswegs, dass man alles tun müsste, was die Inneren Kinder wollen. Als gute Eltern macht man ja auch nicht alles, was reale Kinder wollen, oder? Etwa den ganzen Tag nur Eis und Pommes essen und fernsehen? Wichtig ist allein, dass man immer mehr in einen liebevollen Dialog mit sich selbst kommt. In uns allen finden solche inneren Dialoge statt; wir sind zu einer liebevollen Einflussnahme aufgerufen, statt sie nur zu ignorieren und damit automatisch abzuwehren.
In Paarbeziehungen sind der Erfahrung nach folgende fünf Phasen unterscheidbar, die nun auf der Grundlage des Konzepts vom Inneren Kind näher betrachtet werden.
Das Herz wird weit, man schwebt wie auf Wolken, die Sonne scheint heller, die Vögel zwitschern schöner, man könnte die ganze Welt umarmen, ungeahnte Fähigkeiten und Gefühle kommen zum Vorschein – kurzum: Verliebte fühlen sich wie neue Menschen. Nach dieser Liebe hatten sie sich schon ihr ganzes Leben lang gesehnt: Die Inneren Kinder fühlen sich endlich mal wie von guten Eltern geliebt.
Psychisch geschieht in dieser Phase Folgendes: Die Abwehr öffnet sich, und deshalb fühlt man sich wie ein neuer Mensch. Man kommt näher zu seiner wahren Natur zurück, die unter der Abwehr verschüttet worden war. Deswegen fühlen sich Verliebte oft in Dauerekstase und hegen Liebesgefühle zu allen (na ja, fast allen …☺) Menschen.
Beim Verlieben kann alles grundlegende Glücksempfinden wieder reaktiviert werden, und dann verhält man sich auch wie Säuglinge: Man ist ekstatisch, fühlt sich absolut geborgen und vom anderen verstanden, auch ohne Worte. Man fühlt sich wie Seelenverwandte und spricht zueinander fast in Babysprache: »Du, du, du, du! Ah, du Süße, ich könnt dich fressen!« Und lutscht man dann nicht auch wirklich aneinander? – Beide Beispiele sind auf den Mund bezogen, dem Wonnequell der Säuglingszeit, in der alles Entdecken der Welt zunächst mal mit dem Mund geschieht.
Und sucht man nicht immer die Nähe, die Wärme des anderen? Einheit um jeden Preis: Nichts darf trennen? So wie idealerweise nichts von dem damaligen Lebensquell, nämlich der Mutter, hätte trennen dürfen?
Deshalb spielt ja oft Sex in dieser Zeit eine so große Rolle; man ist wieder vereinigt mit jemandem. Die Rückerinnerung greift weit zurück: Man war neun Monate eins mit der Mutter, diese Zeit wird rückerinnert. Beim Sex ist man – neben vielem anderen, das hier im Spiel ist – wieder so wunderbar vereinigt: »Erst zusammen sind wir ganz« ist das besondere Empfinden. Zwar nicht über neun Monate, sondern vielleicht zwei oder zwanzig Minuten oder vielleicht fünf Stunden, je nach Ängsten, Reife und Ziel, das man miteinander hat.
Geht hingegen beim Sex etwas daneben, treten meist viele negative Gefühle zutage. Denn dies wird oft unterbewusst als Fall aus dem Paradies empfunden: als Fall aus dem rückerinnerten Paradies der Ganzheit im Mutterleib.
Ein Säugling verfügt über keinerlei Frustrationstoleranz. Ähnlich ist es bei Verliebten: Auch deren Wünsche müssen erfüllt werden, und zwar möglichst immer und sofort.
Ich erinnere ich mich an ein Paar, das zu mir in die Praxis kam. Das Paar genoss gerade frisch verliebt einen erneuten »Frühling«. Beide waren um die 50 und hatten vorher in anderen Partnerschaften gelebt. Neben dem eigentlichen Thema kamen wir einmal auf diese Sofort-Erwartungshaltung: Der Mann hatte eine SMS an die Frau geschrieben. Er wusste, sie war auf der Arbeit. Er wusste auch, dass sie die SMS deswegen nicht so schnell beantworten konnte. Aber er war dennoch darüber frustriert.
Die säuglingshafte, nicht vorhandene Frustrationstoleranz erklärt auch, dass eine große Liebe urplötzlich in Hass umschlagen kann, wenn die Liebe beendet oder gar mit einem Rivalen gelebt wird. Deswegen wird im Extremfall auch Mord und Totschlag begangen, sowohl an dem Rivalen als auch an dem gerade noch so heiß und innig geliebten Menschen. Devise: »Wenn ich dich nicht mehr lieben kann, dann sollst du auch keinem anderen gehören.« – Das erinnert an das Verhalten eines Säuglings mit null Frustrationstoleranz.
Und wie viele Menschen haben selbst ihr Leben beendet, weil sie »ohne den anderen nicht mehr leben« konnten! Aus der Sicht eines Säuglings ist solches absolut verständlich, weil er ohne andere Menschen und deren Versorgung verloren ist. Aber nur aus der Sicht eines Säuglings.
