Das Innere Land - Joachim Faulstich - E-Book

Das Innere Land E-Book

Joachim Faulstich

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Beschreibung

Joachim Faulstich nimmt uns mit auf eine faszinierende Expedition in ein unbekanntes Reich – verwandelt kehren wir aus dem Inneren Land zurück. Durch Bewusstseinsreisen können wir die Grenze zwischen Leben und Tod überschreiten. Ob Nahtod-Erfahrungen oder Erlebnisse mit schamanischen Techniken zur Bewusstseinserweiterung – die Schilderungen ähneln sich auf verblüffende Weise und zeigen, dass wir das Grenzland zwischen Leben und Tod bewusst erfahren können.

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Seitenzahl: 387

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Joachim Faulstich

Das Innere Land

Bewusstseinsreisen zwischen Leben und Tod

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Vor der ReiseAufbruchIm Irrgarten der WirklichkeitReisewegeUrbilderDer RatgeberWanderer zwischen den WeltenDas Ich und das SelbstBewusstsein und SeeleFlug der SchamanenDer verborgene EingangDie drei WeltenBerufung und EkstaseDas strahlende LandHelfende GeisterDie gefaltete WirklichkeitVisionssucheInitiationDie Wächter der anderen WeltJenseits des HorizontsErfahrungen in der Nähe des TodesGrenzgebiet des LichtsDas Schauspiel des LebensDie EntscheidungIntuitives WissenDie veränderte ZeitDas getrennte BewusstseinInnen und außenDas schweigende GehirnDer Ort des JenseitsIm Raum der LeereBegegnung mit der AngstFluchtwegeIm Angesicht der EwigkeitEine neue Sicht der WeltDie transparente MauerJenseitsreisenDie Visionen der MöncheArs moriendi – die Kunst des SterbensDie Anderswelt der DruidenDas Totenbuch der TibeterKüstenlinie der TräumeDie Klarheit der NachtKundschafter der WissenschaftDie Insel der gefangenen TräumeFlügel der WahrnehmungDas Licht der heiligen PflanzenZentrum des ZyklonsIm Labor der VisionenDie vier Gebiete der SeeleDas Experiment von BaltimoreDas Land der tanzenden TrommelReise ins Zentrum der KraftDas Jenseits in unsEine Simulation des ÜbergangsExpedition ins GrenzlandTod und WiedergeburtDie Erfahrung der fortlebenden SeeleSeelengeleiterHalluzination und WirklichkeitWelten des BewusstseinsIm Nebel der WahrscheinlichkeitenDas Rätsel von Gehirn und GeistAnkunftHeilende BilderSterbebegleitungAnhangWegweiserLiteraturhinweiseDanksagung
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Vor der Reise

Solange wir leben, erscheint uns die Wirklichkeit des Alltags unantastbar, und die Zeit, auch wenn sie sich oft mit unerklärlicher Schnelligkeit bewegt, erleben wir als eine Quelle, die niemals versiegt. Wir wissen, dass es den Tod gibt, aber wir sehen ihn als fernes Bild einer Realität, die wir anerkennen und gleichzeitig leugnen. Fast immer fühlen wir uns so, als ob das Unausweichliche uns nicht berühren könnte. Nur wenn der Tod die Räume betritt, in denen unsere Familie oder unsere Freunde leben, spüren wir für einen Moment seine Macht, und in der Trauer beweinen wir auch uns selbst.

 

Nur selten schicken wir unser Bewusstsein auf eine Reise und träumen uns für einige Zeit in die Welt der Phantasie, in der Tod und Leben eins sind und das Ende die Quelle eines neuen Anfangs, so wie wir es früher taten, als wir noch nichts von dem Glauben der Erwachsenen ahnten. Dieser Glaube nämlich, dem wir nun schon so viele Jahre anhängen, ist ein Ausdruck der Vernunft, also des Wachbewusstseins. Er ist ein Kind der einfachen Logik, die sich seit Jahrhunderten zum Herrn unseres Denkens erhoben hat. Die changierenden Bewegungen der Seele erscheinen ihm wie ein unruhiges Meer des Irrationalen, dem er die festen Deiche des ordnenden Verstandes entgegensetzt und dem er Jahr für Jahr neue Gebiete abringt. Weil wir mit unserem Ich diesseits des Deiches leben, verhalten wir uns seltsam gespalten: Auf dem festen Boden der Vernunft stehend, die nur die materielle Seite des Seins wirklich anerkennt, blicken wir hinaus ins Meer und fühlen eine andere Wahrheit, die wir gleichzeitig glauben und leugnen.

Dieses Buch will dazu ermutigen, den Blick auf die fernen Landschaften zu richten, die sich am Horizont abzeichnen. Dort, jenseits einer Kette von Inseln, liegt ein festes Land, das wir auf den Flügeln unseres Bewusstseins erreichen können. Ich nenne es das Innere Land, weil wir dorthin reisen können, wenn wir uns von den Sinneseindrücken der äußeren Wirklichkeit für eine gewisse Zeit lösen. Es mag uns zunächst als eine Welt der Phantasie erscheinen, weil seine Formen so leicht veränderbar sind, aber wenn wir es häufiger betreten, werden wir sehen, dass sich seine Strukturen immer klarer abzeichnen.

Auf Reisen durch die Zeit und rund um die Erde werden wir in diesem Buch Menschen begegnen, die das Innere Land erforschen. Weil es das Geheimnis des Todes und des Lebens berührt, mag auf den ersten Blick vielleicht der Gedanke entstehen, es ginge um Fragen des Glaubens. Aber dieser Eindruck wäre nicht richtig, denn die Forschungsreisen ins Innere Land sind eine Sache der Erfahrung. Vielleicht wird es gelingen zu zeigen, dass jenseits der kindlichen Hoffnung auf einen Vater oder eine Mutter, die aus der unsichtbaren Welt unsere Geschicke leiten, aber auch jenseits des trotzigen Glaubens an die Sinnlosigkeit der Welt Möglichkeiten existieren, die Bedeutung des Seins zu fühlen.

Die Mystiker aller Religionen haben dies seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden getan und sind von den Führern ihrer Konfessionen dafür nicht selten verfolgt und von den Menschen ihrer Umgebung verlacht worden. Aber in der Erfahrung liegt ein Weg der Stärke, der von den modischen Strömungen der Zeit ein wenig unabhängiger macht. Auch manche Wissenschaftler, die auf dem Weg zu den äußeren Grenzen der Erkenntnis dem Charakter der Wirklichkeit nachspüren, haben es nicht leicht, sich unter den strengen oder spöttischen Blicken der Mehrheit zu behaupten. Und doch rütteln sie unübersehbar an den Grundpfeilern, auf denen unser alltägliches Weltbild ruht. Auch von ihren Gedanken wird die Rede sein.

 

Weil dieses Buch von den Landschaften der Seele spricht, ist es in einer Sprache gehalten, die sich in Bildern bewegt. Denn farbige Zeichnungen sind die Ausdrucksformen der Seele, und es entspricht den Regeln der Höflichkeit, sich der Sprache des Gastgebers zu bedienen, wenn wir seiner Einladung folgen.

Die Leserinnen bitte ich um Nachsicht, wenn ich im Text bisweilen nur die männliche Form verwende und nicht stets darauf hinweise, dass es Träumerinnen und Träumer, Schamaninnen und Schamanen, Mystikerinnen und Mystiker gibt. Wenn der Zusammenhang allgemein ist, sind immer beide Seiten gemeint, Frauen ebenso wie Männer.

 

Vielleicht kann dieses Buch Menschen helfen, die über das Mysterium des Todes nachdenken und dabei ihrer Angst begegnen, aber auch der Hoffnung. Deshalb habe ich versucht, das Geheimnis aus der Erfahrung meiner eigenen, seit mehr als zwei Jahrzehnten andauernden Reise zu betrachten. Viele Menschen haben mir dabei geholfen, tiefer in die Welt jenseits des Wachbewusstseins vorzudringen, ohne den Kontakt zu unserer Wirklichkeit zu verlieren.

Wer die Reisewege der Seele erkunden will, braucht einen klaren Verstand, rationale Schärfe und gleichzeitig völlige Offenheit für die wechselnden Bilder anderer Dimensionen des Bewusstseins. Wer nur dem klaren Verstand folgt und keine Offenheit zulässt, ist wie ein Wanderer, der die Grenzen seines Landes befestigt und gleichzeitig bestreitet, dass jenseits der Grenze ein anderes Land existiert. Wer die Offenheit pflegt, aber den kritischen Geist ablehnt, ist wie ein Tagträumer, der sich den inneren Bildern überlässt und bestreitet, dass die äußere Realität Bedeutung hat.

Aber die Vernunft, wie wir sie im Alltag nutzen, um unserem Weg Sicherheit zu geben, ist ein trügerisches Mittel in den Räumen der Seele. C. G. Jung hat diesen Gedanken so ausgedrückt:

Von Zeit zu Zeit (sterben) die Götter, weil man plötzlich entdeckt, dass sie nichts bedeuten, dass sie von Menschenhand gemachte, aus Holz und Stein geformte Nichtsnutzigkeiten sind. In Wirklichkeit hat der Mensch dabei nur entdeckt, dass er bis dahin über seine Bilder überhaupt nichts gedacht hat. Und wenn er anfängt, darüber zu denken, so tut er es unter Beihilfe dessen, das er »Vernunft« nennt; was aber in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Summe seiner Voreingenommenheiten und Kurzsichtigkeiten.[1]

Der Weg, den dieses Buch beschreibt, ist nur einer von vielen. Das Land allerdings, in das er führt, existiert in jedem von uns.

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Aufbruch

Im Irrgarten der Wirklichkeit

Vielleicht sollten wir dieses Buch als einen Reiseführer betrachten, einen Begleiter in das Land der Seele, in ein fernes und zugleich vertrautes Land. Wir leben in ihm jeden Tag und mehr noch jede Nacht. Aber die weiten Landschaften jenseits des Wachbewusstseins erscheinen uns als Luftspiegelungen der Phantasie, als Fluchtbilder, als Widerschein versteckter oder offener Wünsche. Wenn wir freundlich zu ihnen sind, sehen wir sie als Botschaften des Unbewussten an das bewusste Ich, verschlüsselte und schwer zu entziffernde Wegweiser für die eigentliche, die greifbare, die messbare Wirklichkeit. Manchmal aber überfallen uns große Träume von erschreckender Realität, Begleiter für viele Jahre. Dann zweifeln wir für eine Weile an der Vereinbarung mit uns selbst, die nichts von der Wirklichkeit der Seele hält. Wir zweifeln, und zugleich verstärken wir die Mauern, die unser Selbstbild schützen. Weil wir dieses Bild mit der Wirklichkeit verwechseln, behält das Wachbewusstsein fast immer die Oberhand, und die Eindringlinge aus dem Land der Seele verlieren unsere Aufmerksamkeit, wenn auch nicht ihre Kraft.

Erst wenn wir in schweren körperlichen und seelischen Krisen die Nähe des Todes erleben, wenn also die gewohnte Sicherheit des denkenden Ich ins Wanken gerät, werden die Grenzen durchlässig. Dann kehren oft die Bilder der Vergangenheit zurück, denn wie es scheint, ist nichts vollständig vergessen. Wir werden jetzt Teil jener Welt, von der wir immer dachten, sie sei nur ein Geschöpf der allen Menschen eigenen Imagination. Die weiten Landschaften der Seele öffnen sich dem Blick, und der Zweifel an ihrer Wirklichkeit löst sich auf.

Wer zurückkehrt von dieser Verschmelzung mit sich selbst, fühlt sich verwandelt. Sein Weltbild ist auf den Kopf gestellt, denn jetzt erscheint der Alltag wie ein verzerrtes Abbild der Seele. Im Konflikt mit dem, was die meisten Menschen in der Welt des Wachbewusstseins für wirklich halten, schweigen die Rückkehrer, weil ihr Wissen ein inneres Wissen ist, das sich wie jede Erfahrung der logischen Beweisführung entzieht. Sie lauschen verwundert dem unablässig fließenden Strom der Erklärungen, die »rational« genannt werden und doch nur Bausteine der Mauer sind, jenes Schutzwalls gegen die Invasion des Mythos und damit der Begegnung mit sich selbst.

Aber die Sehnsucht nach diesen fernen nahen Welten bleibt. Auch bei denen, die nicht – noch nicht – die Grenze des Todes sahen. Das Ziel, mitten im Leben dorthin zu gelangen, und sei es nur für einen kleinen, wenn auch zeitlosen Moment, ist keine Illusion. Es gibt sichere Reisewege, Jahrtausende alte und moderne. Meister der Meditation führen uns dorthin, und die Vertreter der ältesten Methode, die Tür zwischen den Welten zu öffnen: Schamanen. Sie haben diese unendlichen Weiten seit vielen Jahrtausenden erkundet, solange jedenfalls die Erinnerung der Menschheit zurückreicht, aufgezeichnet schon in den magischen Bildern steinzeitlicher Höhlen.[2]

 

Dieses Buch folgt ihren Wegbeschreibungen, den Landkarten der »nichtalltäglichen Wirklichkeit«, wie die modernen Adepten dieses alten Pfades das Innere Land nennen. Wir werden die Erfahrungen der Schamanen mit denen jener Reisenden vergleichen, die unfreiwillig in die jenseitigen Welten gingen, Menschen, die nach einem Unfall, während einer Operation oder im Fieber schwerer Erkrankungen in die Nähe des Todes gerieten. Wir werden uns ansehen, ob sie dieselben Regionen der Seele betraten wie die geübten schamanischen Reisenden aus der Tiefe der Zeit oder der Ferne exotischer Völker, oder ob sie andere Ebenen erreichten.

Auf unseren Expeditionen in das Innere Land werden wir auch Menschen treffen, die natürliche oder künstliche Substanzen einsetzen, um die Reise tiefer in die Bilderwelt der Seele zu führen. An ihrer Seite finden wir Forscher, die mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts den Ort des Jenseits suchen, in den Synapsen des Gehirns, dort, wo sich Informationen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit vernetzen.

Schließlich werden wir auch von den Erfahrungen moderner Reisender hören, die im Rhythmus der Trommel in die jenseitigen Welten aufbrechen, so wie es die sibirischen Völker und die Bewusstseinspioniere des amerikanischen Kontinents seit Menschengedenken tun.

 

Wohin führt die Reise der Sterbenden, der Schamanen und ihrer modernen Schüler? Erreichen alle dasselbe Ziel, oder verlieren sich ihre Wege in den verzweigten Regionen individueller Schöpfungen? Ist die Wirklichkeit der Seele eine unendliche Vielfalt persönlicher Bilder ohne Sinn oder kommt die Seele aus einem großen Ganzen, das alle eint und an dem jeder Einzelne mit seinen eigenen Erfahrungen weitermalt wie an einem gemeinsamen Bild, das wir die »Allumfassende Seele« nennen könnten? Sind wir also Individuen, die der Zufall an einen Ort gestellt hat und die sich die verwirrende Welt in mythischen Bildern erklären, auch im modernen Mythos des sinnlosen Zufalls? Oder reisen wir durch das Leben, um der »Allumfassenden Seele« und damit auch uns selbst Erfahrungen, Gefühle, neue Bilder zu schenken?

Am Ende des Lebens wird jeder der Wirklichkeit der Seele begegnen, je nach persönlichem Glauben für eine kurze Zeit, bis zum unwiderruflichen Ende, oder für immer, weil nach dem Tod die Seele in sich selbst zurückkehrt. Auch wenn wir an diese älteste Vorstellung der Menschheit vielleicht nicht glauben können, so ist doch sicher, dass wir für eine gewisse Zeit, die uns unendlich erscheinen mag, in der Welt der inneren Bilder verweilen werden. Möglich, dass uns diese Vorstellung ängstigt wie die Phantasie über ein fernes gefährliches Land, in das wir reisen müssen, obwohl wir nur wenig darüber wissen. Aber gerade deshalb ist es hilfreich, schon vorher einen Blick auf das Ziel zu werfen, erste Bilder des Unbekannten zu betrachten, den Berichten von Pionieren zu lauschen, deren Neugier größer war als die Angst. Ihre Erzählungen machen es leichter, das Fremde zu begreifen.

Keineswegs wollen wir behaupten, dass der Tod oder die Erfahrungen in seiner Nähe ohne Schrecken seien; jeder Abschied ist schmerzhaft, zumal, wenn er ein Abschied ins Ungewisse ist. Aber mit einer Landkarte in der Hand können wir auch Menschen ohne Hoffnung ein Stück auf ihrem Weg begleiten, können ihnen helfen, selbst und bewusst erste vorsichtige Schritte ins Zentrum der Seele zu setzen.

 

Betreten wir also vorsichtig das weite Innere Land. Lassen wir uns von denen führen, die es lange vor uns bereist haben, auch wenn ihre Erzählungen vielleicht nicht mehr sind als ein Abglanz der Wirklichkeit. So oft wie möglich werden wir sie selbst sprechen lassen und mit ihren Worten und aus ihrer Sicht Bilder malen, farbige Geschichten voller Dramatik und Schönheit.

Reisewege

Die frühen Wissenschaftler des Geistes, die Schamanen aller Völker, gingen empirisch vor, sie ließen nur gelten, was sie selbst erfahren hatten. Jeder Schritt in die weiten Landschaften der Seele war der vorsichtige, neugierige Schritt des Forschers, der nur seiner eigenen Wahrnehmung vertraut und seinem eigenen Weg folgt. Im Austausch, auch im Wettstreit und bisweilen im Kampf mit anderen Forschern stellten die Bewusstseinsreisenden ihre Sicht auf die Probe. Am Ende zählte nur, welcher Weg sich als hilfreich, als heilsam für die Lebenden erwies. So entdeckten die ersten Schamanen neue Pfade und lernten die Gefahren einzuschätzen, die jede Reise begleiten.

Für die Pioniere der frühen Zeit waren die Reisen ins Innere Land immer Reisen auf Leben und Tod, die Rückkehr war nicht gewiss. Tatsächlich erlebten sie die andere Wirklichkeit als gefährliche, vor allem aber unendlich verzweigte Region, in dem sich eine reisende Seele leicht verirren kann, für alle Zeit. Dann würde der Körper verloren sein, den sie auf dem Boden der Hütte, des Zeltes oder der Jurte zurückgelassen hatten. In den Landschaften der anderen Welt warteten aber auch Angreifer, die Seelen fremder Zauberer oder unberechenbare Geister, die den Weg versperrten. Tatsächlich begegneten viele Schamanen auf ihren ersten Reisen dem Tod, aber indem sie ihn als überwältigende Macht annahmen, kehrten sie als veränderte Menschen zurück ins Leben.

Für den Psychologen sind die Berichte von Tod und Wiedergeburt der Schamanen nur symbolisch, die Schamanen dagegen erlebten das Ende als wirklich, sie fanden sich, zerstückelt von Ungeheuern, in die Leere des Nichts geworfen, verirrt in fernen Welten ohne Wiederkehr, und am Ende doch gerettet, wiedergeboren, als neue Menschen zurückgekehrt. Für die archaischen Stämme aller Zeiten bis in unser Jahrhundert sind Schamanen deshalb Bezwinger des Todes, Menschen, die eine Grenze überschritten und Dimensionen jenseits der Vorstellungskraft erreicht haben. Wer vom Tod ins Leben zurückkehrt, ist ein Mensch mit besonderen Aufgaben für die Gemeinschaft, ein Wanderer zwischen den Welten, der künftig eine verirrte Seele im Jenseits aufspüren und dem Schwerkranken zurückbringen kann. Und er kann als Wissender die Seelen der Toten in die andere Welt geleiten.

 

Als die christlichen Missionare und später die Ethnologen das Universum der letzten Stämme erkundeten – die einen mit dem Ziel, es zu zerstören, die anderen, es zu sezieren –, fanden sie eine vollständige Kosmologie voller ähnlicher Erfahrungen, ganz gleich, welches Volk sie trafen. Aber erst im 20. Jahrhundert verstanden einzelne Ethnologen, dass hier kein Aberglaube seltsame Phantasien hervorbrachte, Zauberergeschichten, komponiert aus Wünschen, Ängsten und dem Willen zur Macht. Sie nahmen die Berichte ihrer Informanten als wirkliche Erfahrungen ernst. Und sie fanden einen Schlüssel für das Geheimnis, weil sie ihre Rolle als Beobachter aufgaben und bereit waren, Schüler zu werden. Statt die Berichte der Schamanen mit dem Fallbeil der Psychiatrie oder dem Messer der Psychoanalyse zu zerlegen, erklärten sie sich bereit, von den Zauberern zu lernen. Indem sie sich öffneten, erfuhren sie in kurzer Zeit mehr über das Innere Land als alle ihre analytischen Vorgänger zusammen. Sie verstanden, dass Wissen mehr ist als die Sammlung von Berichten über Erfahrungen, dass es vielmehr nur in der Erfahrung selbst wachsen kann. Einer dieser Pioniere ist der amerikanische Anthropologe Michael Harner, der in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Position des überlegenen Wissenschaftlers aufgab und in den Dschungeln Südamerikas Regionen des Bewusstseins betrat, die seit Jahrhunderten im Westen vergessen waren. Die Reise Harners war gefährlich, denn sein Fahrzeug war eine psychedelische Droge, ein Zaubertrank aus einer Liane des Regenwaldes. Der Ayahuasca-Trank, einmal eingenommen, schleudert den Geist aus dem Körper und überlässt ihn für viele Stunden den Gefahren der anderen Welt. Harners Experiment war also riskant, vielleicht sogar ein Risiko auf Leben und Tod. Er hatte keine Möglichkeit, die Zusammensetzung der Stoffe vorher zu prüfen, die richtige Dosierung zu erproben, die Nebenwirkungen zu studieren. Er vertraute seinen Reiseführern, Indianern vom Stamm der Shipibo-Conibo im Regenwald von Peru, an der Lagune Yarinacocha, dem See der ragenden Palmen.

Es war Nacht im Dorf, das nur aus wenigen Hütten bestand, Pfahlbauten ohne Wände, mit Palmblättern gedeckt. Die Zeremonien der Schamanen finden stets in völliger Dunkelheit statt, denn wer nach innen sieht, den stört das Licht der dreidimensionalen Wirklichkeit. Die Helligkeit des Tages lässt die Bilder verblassen, auch deshalb, weil der heute längst chemisch entschlüsselte Trank die Lichtempfindlichkeit des Auges steigert. Michael Harner berichtet:

Als ich in die Dunkelheit blickte, erschienen schwache Bänder aus Licht. Sie wurden langsam schärfer und verzweigter und explodierten in strahlenden Farben. Ein Geräusch kam aus weiter Ferne, wie ein Wasserfall, der immer stärker wurde. Dann sah ich zwei seltsame Schiffe, die durch die Luft auf mich zu schwebten. Sie vereinigten sich langsam und formten ein einziges Boot mit einem riesigen drachenköpfigen Bug.

Ich wurde mir des schönsten Gesanges bewusst, den ich jemals in meinem Leben gehört hatte, in hoher Tonlage und ganz ätherisch. Er kam von Myriaden Stimmen an Bord der Galeere. Als ich das Deck genauer betrachtete, erkannte ich eine große Zahl von Wesen, die menschliche Körper hatten und blaue Vogelköpfe, den Göttern der alten ägyptischen Grabmalereien ähnlich. Zur gleichen Zeit begann Lebenskraft aus meiner Brust in das Boot zu fließen. Obwohl ich mich für einen Atheisten hielt, war ich absolut sicher, dass ich starb und die vogelköpfigen Wesen gekommen waren, um meine Seele abzuholen. Während sich immer mehr von der Essenz meiner Seele aus meiner Brust löste, spürte ich, dass meine Körperteile gefühllos wurden.

Nun war ich wirklich sicher, dass ich im Sterben lag. Als ich mich bemühte, mein Schicksal anzunehmen, begann ein noch tieferer Teil meines Gehirns, neue Visionen und Informationen zu übermitteln. Mir wurde »gesagt«, dass dieses neue Material mir gereicht würde, weil ich im Sterben begriffen und deshalb berechtigt sei, diese Offenbarungen zu empfangen. Es seien die Geheimnisse, die für die Sterbenden und Toten aufbewahrt würden. Ich konnte die Wesen, die mir diese Gedanken schickten, nur sehr schwach wahrnehmen: riesige reptilienartige Geschöpfe, die träge in den finstersten Tiefen meines Gehirns ruhten. Plötzlich projizierten sie eine sichtbare Szene in den Raum vor mir. Zuerst zeigten sie mir den Planeten Erde, wie er vor Äonen war, als es noch kein Leben darauf gab. Ich sah ein Meer, ödes Land und einen strahlend blauen Himmel. Dann fielen schwarze Flecken vom Himmel und landeten vor mir in der Landschaft. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass diese Flecken in Wirklichkeit große, leuchtende, schwarze Geschöpfe mit kurzen, flugsaurierähnlichen Flügeln und riesigen walfischähnlichen Körpern waren.

Sie zeigten mir dann in der Sprache der Gedanken, wie sie auf dem Planeten Leben hervorgebracht hatten, um sich unter den vielfachen Formen zu verstecken und dadurch ihre Anwesenheit zu verschleiern. Sie seien in jeder Lebensform gegenwärtig, sie seien die wirklichen Meister der Menschheit und des ganzen Planeten, sagten sie mir.[3]

Die fremden Wesen wurden ihm unheimlich, Michael Harner begann, sich mit aller Kraft gegen die »Rückkehr zu den Urformen« zu wehren. Die Indianer, die seine Reise begleiteten, gaben ihm in diesem Moment ein Gegengift, und langsam verschwanden die Visionen.

Der junge Anthropologe kehrte von seiner Jenseitsreise mit vielen Fragen zurück. Hatte er Bilder gesehen, die in seinem eigenen Unbewussten verborgen lagen? Was würden die Experten des Regenwaldes von seinen Visionen halten? Er suchte einen blinden Schamanen auf, der als einer der mächtigsten Heiler der Shipibo galt. Harner wählte den Begriff »Riesenfledermaus«, um das Bild jener Reptilien zu beschreiben, die sich als Herren der Welt bezeichnet hatten. Der blinde Schamane lächelte und meinte: »Oh, das sagen sie immer. Doch sie sind nur die Herren der äußeren Finsternis.«[4]

Es war wohl dieser Moment, der das Weltbild des jungen Anthropologen veränderte und ihn auf neue Weise über die Natur der Wirklichkeit nachdenken ließ. Der blinde Schamane am Rio Ucayali war mit den Bildern vertraut, kannte die handelnden Figuren, er hatte sie selbst gesehen, immer wieder. War Harners Reise in das Innere Land also ein Blick in eine andere Ebene der Realität, so objektiv, wie uns die Alltagswirklichkeit erscheint? Oder löst die Droge bei allen Menschen dieselben Bilder aus, weil die chemischen Stoffe dieselbe Region des Gehirns verändern? Wenn dies so ist: Sind dann die Reisen der Schamanen nur Kunstbilder eines manipulierten Gehirns – oder öffnet der Trank mit chemischen Mitteln eine Pforte, die in denselben Ausschnitt einer anderen Wirklichkeit führt?

Tatsächlich sind viele Reisen in das Innere Land voller persönlicher Bilder, phantastische Schöpfungen des Geistes. Aber obwohl diese besonderen Bilder keine objektive Welt zeigen, wie sie im Alltag für jeden erkennbar scheint, sind sie doch nicht unbedingt nur subjektiv: Sie könnten eine allen Seelen gemeinsame grundlegende Wirklichkeit zeigen. Ist das Innere Land also für alle Menschen gleich, auch wenn es jeder aus unterschiedlichen Blickwinkeln und gefärbt durch unterschiedliche Vorerfahrungen, aus der Sicht seiner Kultur und seiner Herkunft wahrnimmt?

Urbilder

Eine große Ähnlichkeit der Erfahrungen bei gleichzeitiger Unterschiedlichkeit der Bilder begegnet uns auch in den Berichten moderner Rückkehrer von der Grenze des Todes. Es gibt heute in den Büchern und Archiven viele tausend Aufzeichnungen jener weiten Reise, die »Todesnähe-Erfahrung« genannt wird.

Im Zeitalter der High-Tech-Medizin haben Millionen Menschen unfreiwillig die Pforte geöffnet und einen Blick in Dimensionen geworfen, deren Existenz sie zuvor nicht für möglich hielten. Was sie sahen, waren verzweigte Landschaften von ungeheurer Tiefe, viele Rückkehrer trafen helfende Gestalten, oft eigene Verwandte oder Freunde, die schon lange verstorben waren.

Irgendwann – wenn ihre Reise sehr weit führte – kamen sie an eine Grenze, eine Barriere, die sie nicht überwinden konnten oder wollten, denn dahinter lag das Land ohne Wiederkehr. Bisweilen mussten sie auch Gefahren überwinden, wie die Schamanen des Regenwaldes und der sibirischen Steppen. Und vor allem erlebten sie die Gegenwart einer Kraft, die sie als Licht beschrieben – ein abstraktes, gleichwohl wie von Bewusstsein erfülltes Licht, wärmende Strahlen für die Seele.

Die Gefühle von Frieden und Glück, die Wahrnehmung des Lichtes, die Gegenwart gewaltiger Landschaften, das alles waren Elemente dieser Reise ins Jenseits, von der viele übereinstimmend berichten. Und doch sah jeder unterschiedliche Bilder: majestätische Wüsten, Berge und Täler, Seen oder das Meer, ferne Inseln und weite, mit Blumen bedeckte Wiesen. Landschaften von erhabener Schönheit, paradiesisch. So groß die Unterschiede im Detail, so groß sind die Gemeinsamkeiten in der Empfindung.

Die erste Reise des Anthropologen Michael Harner unterscheidet sich von den »klassischen« Todesnähe-Erfahrungen – er erreichte offenbar eine andere Region des Inneren Landes, weil der Lianentrank ein anderes Tor öffnete. Aber die Erzählungen der alten Schamanen, wie sie uns Forschungsreisende aus Nordamerika und dem Sibirien des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts überlieferten, zeigen viele Elemente, die den Berichten aus den Kliniken des 21. Jahrhunderts ähneln.

 

Dass sich Tod und Leben auf der Ebene des Bewusstseins durchdringen, daran lassen die Schamanen wenig Zweifel. Weil das Wachbewusstsein nur ein Fokus auf einen kleinen Bereich der Seele ist, aus dem sich das Ganze formt, ist auch das Jenseits für sie stets gegenwärtig. Wir sind also Bewohner zweier Welten, gleichzeitig im Raum der Alltagswirklichkeit und, wahrscheinlich mit dem größten Teil unseres Selbst, in der fernen Region, die von analytischen Psychologen »das Unbewusste« genannt wird. Moderne Pioniere der transpersonalen Psychologie finden hier auch den Bereich, der alle Individuen miteinander verbindet, die Regionen einer übergeordneten Gemeinsamkeit aller denkenden und fühlenden Wesen, jenseits der subjektiven, individuellen Welt mit ihren von Gegensätzen und Widersprüchen durchzogenen Erfahrungen.

C. G. Jung hat diesen Bereich das »kollektive Unbewusste« genannt, die Welt der Archetypen, die gemeinsame Quelle also, aus der alles Unterscheidbare entsteht und mit der jedes Individuum verbunden bleibt. Das persönliche wie auch das kollektive Unbewusste sind aber nur ein – wenn auch wichtiger – Teil des großen Inneren Landes, in dessen Kern die Mystiker das All-Eine suchen. Es bleibt die Frage nach dem Charakter der Wirklichkeit dieser Landschaften der Seele. Unbestritten ist nur die Existenz der Erfahrungen. Umstritten ist die Frage, ob all diesen Reisen eine Bedeutung zukommt, die über den einzelnen Menschen hinausweist. Als Menschen des 21. Jahrhunderts, aufgewachsen im materialistisch geprägten Westen, erscheint uns die Trennung von subjektiver Wahrnehmung und objektiver Wirklichkeit zwangsläufig: Nur die objektive Wirklichkeit hat Bedeutung, die subjektive Erfahrung sagt nur etwas über das Individuum, niemals kann sie hinweisen auf eine größere Wirklichkeit hinter dem sichtbaren Schein. Dieses Paradigma der materialistischen Weltsicht, das wir alle wie eine unverrückbare Wahrheit in uns tragen, wird aber seit fast 100 Jahren mehr und mehr von den Theorien der neuen Physik erschüttert, die dem Beobachter eine entscheidende Rolle im Entstehen der Wirklichkeit zuweist. In der Beobachtung der subatomaren Teilchen entscheidet der Versuchsleiter mit seiner Messung, ob sich ein materielles Objekt oder eine Welle zeigt. Als Welle ist der Gegenstand der Beobachtung vollständig immateriell, und statt einer klaren Ortsbestimmung im Raum findet der Physiker diffuse Wahrscheinlichkeitswolken, die jede präzise Voraussage unmöglich machen. Entscheidet sich der Versuchsleiter für die Messung des materiellen Objektes, findet er präzise Koordinaten im Raum, aber jetzt ist die Welle nicht mehr nachweisbar. Beides zugleich wahrzunehmen ist nicht möglich – und doch existiert das »Teilchen« jederzeit in seiner Doppelnatur.

Könnte es sein, dass unser Blick auf die Welt den Charakter der Wirklichkeit erst erschafft? Für die Mikrowelt der Quanten gilt diese Aussage als gesichert. Aber auf die Makrowelt unserer Alltagswirklichkeit ist sie nicht ohne weiteres zu übertragen. Wo liegt die Grenze für die Gültigkeit dieser rätselhaften Phänomene der Neuen Physik? Welche Rolle spielt das Bewusstsein bei der Stabilisierung der dreidimensionalen Realität? Und welche Konsequenzen hat die Macht des Beobachters, Wirklichkeit zu erschaffen, für die Welt der inneren Bilder?

Fragen nur, an dieser Stelle, Gedankenspiele, die deutlich machen, dass die Unterscheidung von Wirklichkeit und Schein nicht so leicht zu treffen ist, wie wir als späte Schüler Newtons leichthin annehmen (auch wenn Newton selbst durchaus an eine Welt jenseits seiner Versuchsanordnungen glaubte).

Der Ratgeber

Kehren wir vorerst zurück in die Welt der Schamanen. Einer der größten, von denen wir wissen, der Eskimo Aua, schilderte dem Polarforscher Rasmussen Anfang des 20. Jahrhunderts seine Erlebnisse. Obwohl Aua viele Reisen in die Regionen der anderen Welt unternommen hatte, blieb er bescheiden und staunend vor dem Geheimnis der Wirklichkeit, des Lebens und des Todes. Er wusste und sah doch, dass er nicht wusste – ein Philosoph der Arktis. Aua sagt:

So geheimnisvoll, wie der Tod ins Leben kam, so geheimnisvoll ist der Tod selbst. Wir wissen nichts darüber mit Gewissheit, einzig dass jene, mit denen wir leben, plötzlich von uns gehen, manche auf einem natürlichen und begreiflichen Weg, weil sie alt und müde geworden sind, andere jedoch auf geheimnisvolle Weise, denn wir, die wir mit ihnen lebten, können keinen Grund dafür sehen, warum gerade sie sterben sollen. Der Tod allein bestimmt, wie lange wir in diesem Leben auf Erden, an das wir uns klammern, verbleiben dürfen, und er allein trägt uns hinüber in ein anderes Leben, das wir nur aus den Berichten von Schamanen kennen, die schon lange tot sind.[5]

Aua bleibt hier zurückhaltend, erwähnt nicht seine persönliche Kenntnis jenes anderen Lebens, das er gleichwohl für selbstverständlich hält.

Der Tod erscheint in seinen Worten wie eine Person – und für die Wahrnehmung der Seele hat der Tod auch tatsächlich Gestalt. Carlos Castaneda, bis heute auf dem ethnologischen Parkett umstritten, aber sicher ein Pionier schamanischer Selbsterfahrung, lässt seinen Lehrer Don Juan sprechen, wenn er dem Tod eine Gestalt gibt – eine mythische, also tief in der menschlichen Seele angelegte Sicht der Wirklichkeit:

Der Tod ist unser ewiger Begleiter. Er ist immer zu unserer Linken, eine Armeslänge entfernt. Wende dich nach links und frage deinen Tod um Rat. Ungeheuer viel Belangloses fällt von dir ab, wenn dein Tod dir ein Zeichen gibt, wenn du einen Blick auf ihn werfen kannst oder wenn du einfach das Gefühl hast, dass dein Begleiter da ist und dich beobachtet.[6]

Das Bild des Begleiters erinnert an Darstellungen des Mittelalters, aber auch an Gemälde späterer Jahrhunderte, und an viele Märchen und Geschichten: der Tod als knöcherner Sensenmann, der den Sterbenden abholt, aber auch als Mahner, der den Lebenden an seine Sterblichkeit erinnert. Im modernen Schamanismus ist der Tod bisweilen als Gestalt in den Reisen gegenwärtig, in der Trance kann ihn der Schamane treffen und um Rat fragen, er kann die Rolle eines spirituellen Lehrers übernehmen und damit erschreckend und liebevoll zugleich erscheinen. Auf einer Reise in das Innere Land traf ein junger Mann seinen spirituellen Lehrer, der wie in einer Doppelbelichtung als zwei sich überlagernde Personen erschien: mit dem Gesicht eines alten weisen Mannes und als personifizierter Tod. Der Schädel schimmerte unter der Haut, wurde deutlicher, bis die normale Gestalt kaum noch zu erkennen war, und in dem Moment, als die knöcherne Gestalt vollständig präsent war, begann sie wieder zu verblassen, und die Züge des alten Weisen wurden erneut sichtbar; ein sanftes Pulsieren, wie die Bewegung zwischen zwei holographischen Bildern. Der Reisende wollte wissen, welche Bedeutung die Erfahrung des Todes hat, wie sie Schamanen erleben. Der alte Weise sagte:

Das Wichtigste ist die Erfahrung, dass der Tod seine Bedeutung verliert, wenn du dich der Angst vollständig aussetzt und tief in dir dein Lied spürst. Dann weißt du: Ohne Tod kein Leben und ohne Leben kein Tod. Der Tod ist das Leben und das Leben der Tod. Es ist wie ein Kreis, der alles verbindet. Erinnere dich immer daran. Es genügt, wenn du diese Wahrheit in dir klingen hörst.[7]

Die Personifizierung des Todes ist eine Antwort der Seele auf das Unfassbare, die Begegnung mit dem Tod nimmt ihm einen Teil seines Schreckens. Das ist keine Verharmlosung, wie schon der erfahrene Reisende Aua seinem Informanten deutlich machte, nur eine andere Sicht derselben Wirklichkeit. Menschen, die völlig unerwartet in das Grenzland des Todes geraten, erleben weniger häufig den Tod als Person, wenn auch – zum Beispiel in Indien – am Sterbebett häufig Todesboten erscheinen und auch in den Todesnähe-Erfahrungen des Westens Personen auftreten, die den Übergang erleichtern. Aber es gibt auch Erlebnisse, die enden, bevor sich helfende Gestalten zeigen, Erlebnisse eines plötzlichen und dramatischen Übergangs. Wie die Geschichte eines Mädchens, das während eines schweren Autounfalls in die Nähe des Todes geriet. In diesem Beispiel findet sich das Bewusstsein in einer völlig neuen Situation: herausgerissen aus dem Körper, im Kampf zwischen Diesseits und Jenseits, und das alles bei völlig klarer Wahrnehmung der alltäglichen Realität:

Ich schwebte in der Luft, genau über der Unfallstelle. Das Auto hatte sich überschlagen und war völlig zerstört. Zuerst verstand ich nicht, was geschah, dann erkannte ich unten im Wagen unsere leblosen Körper.

Plötzlich sah ich, dass meine Mutter über mir schwebte. Ich griff ihre Hand und hielt sie fest. Meine Mutter wurde von einer starken Kraft nach oben gezogen. Ich wollte sie nicht gehen lassen, aber die unsichtbare Kraft war stärker, und nach und nach spürte ich, dass ich meine Mutter nicht länger halten konnte. In diesem Moment sagte sie: »Du musst zurück, du bist hier noch nicht fertig.« Dann löste sie sich von mir und verschwand aus meinem Gesichtsfeld. Im nächsten Augenblick wurde ich hinabgezogen in meinen Körper. Als ich erwachte, wusste ich sofort, dass meine Mutter tot war.[8]

Ein seltenes Beispiel für den Übergang in die Welt der Bilder, gesehen von einer Beobachterin, die selbst in einem veränderten Bewusstseinszustand war. Mit diesem Bericht sind wir wieder ganz nah an der Frage, wie real solche Erlebnisse sind. Im Unterschied zu den schamanischen Reisen, die viele mythische Elemente enthalten (was uns leicht zu der Einschätzung bringen könnte, sie seien weniger wirklich), zeigt dieser Bericht eine doppelte Wahrnehmung der inneren und der äußeren Welt. Ein Teil des Bildes ist unbestreitbar und nachweisbar wirklich, im Sinne des alltäglichen Begriffes von Wirklichkeit: das Bild der Unfallstelle mit den leblosen Körpern, auch die Tatsache, dass die Mutter starb, denn sie war bereits tot, als die Tochter wieder in der dreidimensionalen und äußerst schmerzhaften Realität erwachte. Mit der Rückkehr ins Alltagsbewusstsein oder in den Körper, wie es das Mädchen erlebte, verschwand das Bild der Welt hinter der Welt – ein Beleg für ihre Nicht-Existenz? Oder eher ein Zeichen dafür, dass nur besondere Umstände die doppelte Wahrnehmung von normaler und über-normaler Realität möglich machen? Die »Doppelbelichtung« zweier Wirklichkeitsebenen ist ein starkes und wirksames Bild der Seele für die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher Welten, aber kein wissenschaftlicher Beweis.

 

Wenn wir die Wirklichkeit präziser erfassen wollen, müssen wir genauer hinsehen, müssen im eigentlichen Sinne des Wortes wissenschaftlich vorgehen, indem wir den Erfahrungsberichten der Schamanen und ihrer modernen Schüler folgen, gleichzeitig aber auch den Erzählungen der Rückkehrer von der Grenze des Todes. Wissenschaftlich vorzugehen heißt auch, die unterschiedlichen Wahrnehmungen unvoreingenommen zu registrieren und in eine Gesamtsicht einzuordnen. Alle diese Berichte von vornherein als Ausdruck eines menschlichen Geistes zu interpretieren, der in der grauen Masse des Gehirns gefangen ist und von dort aus verzweifelt eine unverständliche Welt mit Sinn füllt, hat mit wissenschaftlicher Objektivität nichts zu tun. Auch wäre es vermessen, all die seltsamen Parallelen, die Synchronizitäten, wie es C. G. Jung ausdrückte,[9] oder die nachweisbaren Entsprechungen innerer Bilder in der äußeren Realität zu ignorieren. Umgekehrt dürfen wir auch nicht von vornherein innere und äußere Wirklichkeit zu ein und derselben Sache erklären.

Für die Schamanen stand immer außer Zweifel, dass es unterschiedliche Realitäten gibt und dass ein geübter Reisender das Tor zu anderen, parallelen Welten öffnen kann. Weil sie Träumen und Visionen die gleiche Bedeutung beimaßen wie Erlebnissen in der Alltagswirklichkeit, oft sogar eine größere Bedeutung, denn in den Bildern der anderen Wirklichkeit erkannten sie die Weisheit verborgener Kräfte, machten sie keinen Unterschied zwischen »inneren« und »äußeren« Bildern.

Tatsächlich ist ja das Bild, das wir uns von unserer alltäglichen Welt machen, immer ein inneres Bild, obwohl wir es außen wahrnehmen, denn es formt sich in unserem Gehirn. Weil sich dieses innere Bild mit dem inneren Bild anderer Menschen zu decken scheint, nehmen wir es als unveränderliche Wirklichkeit wahr. Genau so erleben die Schamanen auch das Innere Land: als eine Welt, die sie in den Erzählungen anderer Reisender wiedererkennen, als eine zweite Wirklichkeit.

Wanderer zwischen den Welten

Bevor wir betrachten, wie die letzten Schamanen der alten Zeit, die ihrer Linie noch ohne den Einfluss des westlichen analytischen Denkens folgten, die Geheimnisse des Inneren Landes erkundeten, und auf welche Weise sie sich Eintritt verschafften in dieses schwer zugängliche und von gewaltigen Kräften bewachte Gebiet, sollten wir über einige Begriffe nachdenken, mit denen wir die Grenzen abstecken. Wen genau rechnen wir zu den Schamanen? Tatsächlich ist diese Bezeichnung im Westen oft schon zum Synonym für »Spirituelle Heiler« geworden. Aber diese Sichtweise macht den Begriff unscharf, und wir laufen Gefahr, den Weg zu verlieren, kaum dass wir den ersten Schritt gesetzt haben.

Schamanen sind Frauen und Männer, die im Kontakt mit Geistern stehen, die ein persönliches, geradezu freundschaftliches, aber von gegenseitigem Respekt bestimmtes Verhältnis zu diesen Wesen pflegen und die aus diesem Kontakt Kraft und Hilfe für sich und die Menschen ihrer Umgebung gewinnen. Die Geister erscheinen als Helfer und werden deshalb überall auf der Welt Schutz- oder Hilfsgeister genannt (wobei es auch Unterschiede, geradezu eine Hierarchie zwischen schützenden und helfenden Kräften geben kann). Wenn Schamanen heilen, dann tun sie das stets durch diese machtvollen Wesen, niemals aus eigener Kraft. Wenn der Kontakt abbricht, aus welchen Gründen auch immer, verlieren sie ihre Kraft, in manchen Fällen auch ihr Leben.

Der Kontakt zu den Geistern ist ein wichtiges Element, das den Schamanen aller Völker gemeinsam ist, keineswegs aber das wichtigste. Was sie vor allem von anderen Heilern unterscheidet, ist ihre Fähigkeit, das Innere Land zu betreten. Auf ausgedehnten Reisen in diese geheimnisvollen Sphären lernen sie die Landschaften und ihre Bewohner kennen, spüren den Kräften der Heilung nach und kämpfen, wenn es sein muss, gegen düstere Mächte, die den Weg versperren und flüchtigen Seelen der Menschen die Rückkehr ins Leben verweigern.

Für die Schamanen ist es lebenswichtig, das Innere Land zu kennen, sichere Wege zu erkunden und die Gefahren vorauszusehen, um sie für sich und ihre Patienten zu überwinden. Wenn auch ihre Reisen vor allem der Hilfe und Heilung von Menschen dienen, die um Unterstützung gebeten haben, so sind doch oft Jahre der Vorbereitung nötig, um diese Aufgabe erfüllen zu können.

Immer wieder reisen die Novizen in die Welten jenseits der Vorstellungskraft, um Meister des Seelenfluges zu werden. Es sind Bewusstseinsreisen, und das meint auch, dass sie im vollen Bewusstsein, also mit einem klaren Ziel, einer makellosen Absicht unternommen werden. Zu keinem Zeitpunkt können sich die Reisenden erlauben, nur den Bildern zu folgen, sich den Szenen passiv zu überlassen. Wenn sie dies tun, geht es ihnen wie den nächtlichen Träumern, die ihre Bilder stets für wahr halten und glauben, dass all dies ihnen eben unabänderlich geschieht, die aber nach dem Erwachen die Geschichten der Nacht verächtlich wegwischen wie die Erinnerung an eine unangenehme Entgleisung.

Die Schamanen bleiben sich stets ihrer selbst bewusst, wenn sie das Reisen erst einmal zur Meisterschaft entwickelt haben, auch wenn sie ihre Träume als Eingang ins Innere Land nutzen. Ein Teil ihres Wachbewusstseins bleibt gegenwärtig, wie ein Licht, mit dem sie den Weg ausleuchten, der vor ihnen liegt, oder besser: wie eine Erinnerung an jene anderen Welten des Alltags, die nicht verschwinden, wenn sie die Brücke über den Fluss betreten, der oft das Innere Land begrenzt.

Für die Novizen, die den Weg noch nicht kennen, ist diese Haltung ein fernes Ziel. Sie fühlen sich bisweilen ins Unbekannte geworfen, ohne Chance, die eigenen Ziele, die eigenen Träume durchzusetzen. Aber auch sie verwechseln die Landschaften der Seele nicht mit denen des Alltags, wenn sie auch der Realität ihres Dorfes keine größere Bedeutung beimessen als der jenseitiger Städte. Dieser Unterschied ist wichtig, denn er hilft uns, die Reisen der Schamanen von den bizarren Geschichten des Schlafes abzugrenzen.

 

Schamanen sind also Reisende in beiden Wirklichkeiten, und sie pflegen engen Kontakt mit helfenden Geistern. Beides hängt miteinander zusammen, denn das Innere Land ist nicht unbewohnt, sondern bisweilen dicht bevölkert mit Wesen aller Schattierungen, auch mit menschlichen und tierischen. Die Geister der Tiere spielen im Schamanismus der alten Völker eine große Rolle, sicher auch, weil die Völker der Jäger, die den Seelenflug entdeckten, zwangsläufig mit der Natur verbunden oder genauer: ihr ausgeliefert waren. Im Leben der Stämme war der Tod gegenwärtig, und deshalb kam den Schamanen die Aufgabe zu, ihm gegenüberzutreten.

Wer sich diesem größten aller Gegner stellt, um das Leben seines Stammes, seiner Gruppe zu retten, muss ein Mensch sein, der den Tod schon einmal überwunden hat. Und so steht am Beginn der Initiation der traditionellen Schamanen oft eine lebensbedrohliche Krankheit, zumindest aber schicksalhaftes oder gar selbst auferlegtes Leiden, der Gang in die Einsamkeit, körperlicher Schmerz, Angst und Verzweiflung.

Die Schamanen des alten Weges hatten in der Mitte des 20. Jahrhunderts nur noch an wenigen Orten ihr Wissen gegen die Macht der modernen Medizin und der materialistischen Weltsicht verteidigt. Inzwischen erleben wir aber eine Wiedergeburt ihrer Traditionen, weil immer mehr Menschen des Westens bei den Heilern der Stämme Hilfe suchen oder von den alten Erfahrungen lernen wollen. Jenseits des strengen Pfades der Tradition, den wir unter dem Begriff »Ethnoschamanismus«[10] zusammenfassen können, gibt es aber auch einen anderen Weg, die schamanische Weltsicht zu erfahren. Der amerikanische Anthropologe Michael Harner hat diesen Weg geöffnet. Nach seiner ersten Reise in das Innere Land suchte er viele Jahre lang neue Pforten, die ohne Halluzinogene in die andere Welt führen. Seine Forschung zeigte ihm, dass der Reiseweg der Seele jedem offen steht, der jenes »Fahrzeug« nutzt, das die Völker Sibiriens, Nordeuropas und Nordamerikas über Jahrtausende bewahrt hatten: die Trommel. Der monotone Rhythmus tiefer, gleichförmiger Klänge, 220 Schläge pro Minute, bringt den Geist in eine tiefe Ruhe und macht die Seele bereit für den Sprung in andere Ebenen der Wirklichkeit.

Es genügt natürlich nicht, nur die Trommel zu schlagen. Manche Forscher wie der Ethnopharmakologe Christian Rätsch vertreten sogar die Ansicht, nur ein starkes Halluzinogen, dass den frei beweglichen Teil der Seele aus dem Körper peitscht, könne wirklich eine tiefe schamanische Erfahrung auslösen. Aber die Völker des Nordens haben ihre eigenen Methoden entwickelt (wenn auch viele Kulturen zusätzlich bisweilen halluzinogene Pilze einsetzen, keineswegs aber immer und ausschließlich), und der westliche Schamane Michael Harner, versehen mit den Weihen mehrerer halluzinogener Reisen, fand in der Trommeltrance ein wirksames Mittel, die Welt des alltäglichen Bewusstseins zu verlassen, ohne die Rituale fremder Stämme stehlen und dann nachahmen zu müssen. Core Shamanism, »Kern-Schamanismus«, nennt er diesen Weg, weil seine Methode die weltweiten Erfahrungen der Schamanen auf ihren wesentlichen Kern reduziert und – nur scheinbar paradox – gerade dadurch schamanische Erkenntnis auf bisher nie gekannte Weise erweitert.

Die Reise ins Innere Land ist ein spiritueller Weg, eine Möglichkeit, andere Wirklichkeiten zu erleben, jenseits von Spekulation und Glauben. Es war ja ein großes Missverständnis der christlichen Missionare, das Weltbild der Schamanen als archaische Religion zu sehen, die in Konkurrenz zu anderen Religionen stehe. Tatsächlich hingen die alten Völker unterschiedlichen Glaubensvorstellungen an, auch die Schamanen der Stämme. Glaube ist die eine Seite, Erfahrung die andere. Und so gibt es auch heute Menschen, die in die andere Wirklichkeit reisen und gleichzeitig an den christlichen Gott glauben, wie sie auch anderen Religionen folgen können. Den asiatischen Schamanen zeigen sich Götter und Dämonen ihrer Kultur, den christlichen Schamanen des mittleren und südlichen Amerika erscheinen Engel oder Heilige. Diese »himmlischen Geister« bieten sich als Mittler zwischen Gott und den Menschen an, verehrt in den Kathedralen der Welt, und so erleben auch die Schamanen die Wesen des Inneren Landes, die ihnen in gleicher oder unterschiedlicher Gestalt begegnen können.

Jenseits der Sphären, in denen die Begegnung mit den Geistern möglich ist, liegt das, was die Indianer Nordamerikas den »Großen Geist« nennen, ein anderes Wort für Gott, wenn auch ein Begriff, der weniger körperlich erscheint und das Unfassbare nur andeutet. Denn in Wahrheit kann das rationale Ich niemals erfassen, was die letzte große Kraft, die der Welt ihren Rahmen gibt, wirklich bedeutet. In tiefer Meditation erahnen wir bisweilen einen Hauch dieses Lichts, von dem Menschen, die an der Grenze des Todes standen, aus eigener Erfahrung berichten.

Die großen christlichen Mystiker des Mittelalters, Hildegard von Bingen und Meister Eckhart zum Beispiel, folgten diesem Bild des verborgenen Gottes und strebten nach Vereinigung mit ihm, so wie es auch heute noch Menschen tun, die auf christlichem, islamischem oder buddhistischem Weg die Verbindung mit dem Urgrund des Seins suchen. Die Schamanen der alten Völker wussten um die Existenz einer hinter allem Sein verborgenen Macht, aber sie erwarteten nicht, das Unfassbare zu erreichen. Deshalb folgten sie ihrer Berufung und taten das, was ihnen ihre Vision auferlegt hatte: Sie begannen, kranke Menschen zu heilen und die Welt ihrer Gemeinschaft im Lot zu halten.

Das Ich und das Selbst

Der Begriff der Seele spielt im Schamanismus eine wichtige Rolle, aber auch in der Philosophie und Psychologie, die unser westliches Denken prägen. Wir sollten uns deshalb jetzt ansehen, in welchem Netz wir die flüchtigen Bilder des Geistes fangen können, um sie besser zu verstehen. Begriffe formen immer nur ein Modell und zeigen nie die Wirklichkeit. Aber der menschliche Verstand kann das große Ganze nicht auf einen Blick überschauen und ist deshalb auf Metaphern angewiesen.

Was uns am nächsten erscheint, wenn wir über uns nachzudenken beginnen, ist das Ich. Es steht im Gegensatz zum Du, ohne das Gegenüber existiert es nicht. Das Ich unterscheidet sich mit einer ganzen Palette von Eigenschaften und Denkweisen von jedem anderen Ich. Es gibt Übereinstimmungen, erstaunliche Parallelen, aber auch unüberbrückbare Gegensätze. Das Ich ist jener Teil von uns, der wir zu sein glauben und vor dessen Vernichtung wir so viel Angst haben. Aber dieses Ich ist in Wirklichkeit nicht fest, es ändert sich ständig, gewinnt neues Wissen und neue Eigenschaften hinzu und verliert andere, verkehrt sich bisweilen vollständig in sein Gegenteil, kurz: ist ein wandelbares und kaum greifbares Wesen. Und doch empfinden wir es zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens als ein und dasselbe, von der Minute der Geburt (oder besser vom Zeitpunkt der ersten Erkenntnis des Ich) bis zum Moment des Todes, vielleicht sogar darüber hinaus, wie viele glauben. Zwar wissen und erinnern wir, wie sehr wir uns im Laufe des Lebens verändert haben – aber wir sind uns sicher, dass ein letztlich unwandelbares Ich neues Wissen sammelte und dieses unwandelbare Ich damit ein anderer Mensch geworden sei.

Was uns die Sicherheit gibt, bei aller Veränderung doch immer eine uns vertraute Person zu bleiben (und was uns gleichzeitig ängstigt wie ein Schatten, dessen wir gewahr sind, ohne ihn greifen zu können), bezeichnen wir als das Selbst, den eigentlichen Kern jedes Menschen, der den Verlauf des Lebens beeinflusst und über die Stabilität der Persönlichkeit wacht.

Bisweilen spüren wir, dass das Selbst andere Wege gehen will und die Welt anders sieht. Aber das Ich lässt sich im Alltag nicht aus der Bahn lenken und hält mit intellektueller Kraft störende Kräfte fern. Das Selbst allerdings lässt sich nicht auf Dauer unterdrücken, immer wieder fordert es sein Recht und zwingt das Ich zu kleineren und größeren Umwegen, die es unmerklich verändern, bis es sich weit von dem Weg entfernt hat, den es einmal mit so sicherem Schritt ging und den es für den einzig möglichen gehalten hatte.

Jetzt geht das Ich mit derselben Überzeugung einen anderen Weg und lächelt über die Verirrungen der Vergangenheit. Leider ist der neue Weg nicht immer näher an den Wünschen des Selbst, manchmal sogar sehr weit entfernt und führt also leicht in die Irre.