Das ist einer, der lebt! - Manuel Niedermeier - E-Book

Das ist einer, der lebt! E-Book

Manuel Niedermeier

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Beschreibung

Wie schafft man es, nicht das Leben der Eltern zu leben?

Wie schafft man es, nicht das Leben der Eltern zu leben? Wie gelingt der Sprung aus deren langem Schatten? Als Ralf, Sohn einer genialischen Schauspielerin, die polnische Austauschschülerin Małgorzata kennenlernt, scheint für den sprachverliebten 17-Jährigen plötzlich alles möglich. Gemeinsam lassen sie die Vorstellungen der Eltern hinter sich und arbeiten an ihren Träumen, Ralf als Autor, Małgorzata als Wissenschaftlerin. Doch dann geschieht ein Unglück und Ralf droht jeden Halt zu verlieren. Nur die Flucht in die Biografie von Arthur Cravan kann ihn noch retten. Genau einhundert Jahre vor Ralf geboren, ist der eigenwillige Schriftsteller und Boxer, ein Neffe Oscar Wildes, seit Kindertagen sein großes Vorbild. Ein Mann, der nie aufgab, sich mit Witz und Chuzpe aus jeder Notlage befreite und zu dem sich in Ralfs Leben erstaunliche Parallelen finden.

So berührend wie humorvoll erzählt Manuel Niedermeier von der lebenslangen Suche nach dem eigenen Weg. Vom Aufgeben alter und dem Finden neuer Vorbilder. Und nicht zuletzt von einer großen Liebe.

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Wie schafft man es, nicht das Leben der Eltern zu leben? Wie gelingt der Sprung aus deren langem Schatten? Als Ralf, Sohn einer genialischen Schauspielerin, die polnische Austauschschülerin Małgorzata kennenlernt, scheint für den sprachverliebten 17-Jährigen plötzlich alles möglich. Gemeinsam lassen sie die Vorstellungen der Eltern hinter sich und arbeiten an ihren Träumen, Ralf bald als Autor, Małgorzata als Wissenschaftlerin. Doch dann geschieht ein Unglück, und Ralf droht jeden Halt zu verlieren. Nur die Flucht in die Biografie von Arthur Cravan kann ihn noch retten. Genau einhundert Jahre vor Ralf geboren, ist der eigenwillige Schriftsteller und Boxer, ein Neffe Oscar Wildes, seit Kindertagen sein großes Vorbild. Ein Mann, der nie aufgab, sich mit Witz und Chuzpe aus jeder Notlage befreite und zu dem sich in Ralfs Leben erstaunliche Parallelen finden.

So berührend wie humorvoll erzählt Manuel Niedermeier von der lebenslangen Suche nach dem eigenen Weg. Vom Aufgeben alter und dem Finden neuer Vorbilder. Und nicht zuletzt von einer großen Liebe.

Manuel Niedermeier, geboren 1984 in Regensburg, studierte Germanistik, Sprachwissenschaften und Komparatistik in Regensburg und Wien. Neben dem Schreiben arbeitet er als Bühnentechniker und Dozent für Kreatives Schreiben. Für seinen Debütroman Durch frühen Morgennebel erhielt er 2014 den Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur. Manuel Niedermeier lebt in Berlin.

Pressestimmen zu Durch frühen Morgennebel

»Den Stimmungen des Romans kann man sich kaum entziehen.« KulturSpiegel

»Eine famose Erzählung, die in dichter und eindringlicher Sprache starke Bilder in der Fantasie des Lesers heraufbeschwört.« Münchner Merkur

»Eine fesselnde Lektüre.« Kieler Nachrichten

Manuel Niedermeier

Das ist einer, der lebt!

Roman

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Copyright © 2023 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Coverabbildung: © arcangel images / Nikki Smith

Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-641-30016-6V001

www.penguin-verlag.de

Für Julia

I.

Jeder Aufbruch ist eine Ankunft im Ungewissen

November 1918, Salina Cruz, Mexiko & November 2018, Berlin, im 11. Stock einer Platte

Wahrscheinlich waren die Wellen nicht besonders hoch, als Arthur Cravan mit einem Segelboot auf den Pazifik hinausfuhr. Es war November, es war Nacht, muss Nacht gewesen sein, niemand durfte ihn sehen. Seine Spur sollte sich hier verlieren wie die eines entflohenen Häftlings, der durch einen Fluss watet, um die Bluthunde abzuschütteln, die ihn verfolgen, so zumindest war der Plan, nur ist der Pazifik kein seichter Fluss.

Gerade hatte seine Verlobte Mina Loy ihm geholfen, das Boot über den Kies ins Meer zu schieben, nun blieb sie am Ufer zurück, bis zu den Oberschenkeln im Wasser, und schaute ihm hinterher.

Cravan wollte nach Chile segeln, etwa bis auf Höhe von Santiago, von dort aus würde er schon sehen, wie er weiter nach Argentinien käme. Per Anhalter, auf einem Pferd, zu Fuß … Alles schien möglich, er war schließlich nicht zum ersten Mal allein unterwegs. Er war durch Kanada getrampt und hatte in Kalifornien Bäume gefällt, er hatte in Los Angeles Straßenbahnschienen verlegt und war anschließend als Heizer auf einem Dampfer nach Japan gefahren … Ja, Cravan wusste auf sich aufzupassen. Die Jahre im Exil hatten ihm zwar zugesetzt, aber er war noch immer in exzellenter körperlicher Verfassung: exakt zwei Meter groß, Pferdelunge, und Muskeln haben bekanntlich ein Gedächtnis. Zuletzt hatte er in einem Studio in Mexico City Boxen unterrichtet. Den Titel »Champion der Amateure im Halbschwergewicht englischen Stils« trug er, auch wenn der Kampf Jahre her war, nach wie vor mit Stolz. Cravan, der Boxer und Provokateur, der Dichter mit dem kürzesten Haarschnitt der Welt, nur echt mit weißem Hemd und halsfreiem Schillerkragen … Die Liste seiner selbst gewählten Namen ist lang.

Mina würde auf dem Landweg nach Argentinien reisen und in Buenos Aires auf ihn warten. Natürlich hatte Arthur sie gefragt, ob sie auf dem Boot mitkommen wolle, aber mit dem ungeborenen Kind war ihr die Fahrt zu riskant; außerdem war ihr ja so schon ständig übel. »Entiendo«, hatte er gesagt, verstehe, sie aber hatte gemerkt, dass das Kind in ihm gekränkt war. In dieser Hinsicht war Arthur manchmal schwierig. Umso wichtiger, dass sie bereits dort war, wenn er ankam.

Gleich würde sie aufbrechen, gleich, wenn sich die Silhouette des Bootes nicht einmal mehr einbilden ließ … Ein Sturmvogel tauchte aus dem Nichts auf; schoss an Mina vorbei und verschwand wieder im Nichts … Wie angenehm die von den Gezeiten abgerundeten Kiesel unter ihren nackten Füßen waren, vor allem im Kontrast zum hektischen Strampeln in ihrem Bauch, das immer plötzlich auftauchte – wie der Sturmvogel, dachte Mina und musste lachen. Trotzdem, irgendetwas versetzte sie in Unruhe, es war ein nervöses Lachen. Wahrscheinlich ebendieses unvorhersehbare, erstaunlich kräftige Treten gegen ihre Bauchwand. Es war ja gleichzeitig sie und nicht sie, und damit war es umso verwirrender, wenn sie (sie selbst!) etwas für sie Unvorhersehbares machte, gruselig, und während sie das dachte, ließ sie ein besonders heftiger Tritt zusammenzucken und auf ihren Bauch blicken, und als sie wieder aufsah, war Arthur verschwunden.

Ein kurzer Moment der Panik, Haltlosigkeit.

Die Kiesel unter ihren Füßen waren in Bewegung geraten, ihr wurde schwindlig. Auch das passierte in letzter Zeit häufig, deswegen wusste sie, dass es gleich vorbei sein würde. Sie wartete also, bis der Schwindel vorüber war, und wartete, vielleicht könnte sie Arthur doch noch einmal sehen, aber da draußen war nur Dunkelheit, Salz und Wind und Tosen und einmal, über das Tosen der Wellen hinweg, der schrille Schrei des Sturmvogels, den Arthur ebenfalls hörte, während er ins gesättigte Schwarz über dem Pazifik starrte.

Zum ersten Mal wurden Zweifel in ihm wach.

»Mina«, sagte er zärtlich. Er sagte es so leise, neben dem Tosen der Wellen konnte selbst er es nicht hören. Gischt spritzte ihm ins Gesicht. Er griff nach einem Knoten in der hinteren Vertäuung des Segelmastes, von dem er dachte, er könnte sich gelockert haben. Er wusste nicht, weshalb –

Und Mina drehte sich um.

Sie machte sich auf den Weg.

Ich fühle die Ungewissheit, die beide empfunden haben müssen in dieser Nacht, jene Getriebenheit, die die Ränder des Gehirns unmittelbar mit der Außenwelt in Kontakt treten lassen – ein beständiges Schleifen –, und die daraus resultierende Überreizung, die allmählich zu einem Jucken wird, einem Jucken, dem man mit Kratzen keinen Einhalt gebieten kann, weil dann doch wieder die Schädeldecke im Weg ist, und alles, was man macht, ist, sich die Haare raufen; ich spüre aber auch die Hoffnung, dass er, wenn diese Fahrt vorüber wäre, endlich nicht mehr flüchten müsste. Selbst hier in meiner Wohnung in Berlin kann ich auf meinen Lippen das Salz schmecken, das der Wind mit sich trägt. Ich höre das Rauschen des Ozeans (es klingt wie der Verkehr in der Allee zehn Stockwerke unter mir; gerade im Herbst, wenn es feucht ist, ist es laut), und ich weiß, wie das alles ausging. Vergangene Leben haben etwas Unausweichliches, und da ich mein Leben so eng mit dem Arthur Cravans verbunden habe, spüre ich diese Unausweichlichkeit ebenfalls. Tottrinken hatte Cravan es genannt, 1914 im Kabarett Noctambules in Paris. Nur mit einem Suspensorium bekleidet, wollte er vor einer versammelten Menge über Literatur reden und sich währenddessen mit Absinth zu Tode trinken.

Ich schließe die Fenster.

Sie sind gut gedämmt, augenblicklich ist es leise. Ich justiere das Blickfeld der Kamera und bereite alles vor, damit ich gleich ohne Umschweife live gehen kann. Ich streue das weiße Pulver auf die glatte Oberfläche und zerhacke mein Spiegelbild mit der Karte meiner Krankenkasse. Das hier, das ist ein Abschluss, denke ich.

Es hat mir zu gut gefallen.

Nein, gefallen ist nicht das richtige Wort.

Manchmal ist es nicht einfach, die richtigen Worte zu finden, und trotzdem sind sie oft das Einzige, was mir bleibt. Halten Sie sich am besten an Ihrer Sprache fest, hat Doktor Jänner gesagt … Ja … Vertrau der Syntax: Subjekt, Verb, Objekt, und dann … irgendwann … folgt der Rest.

In einer Viertelstunde ist es neun, dann ist es endlich so weit. Ich habe die Uhrzeit so gewählt, weil die Leute da von der Arbeit zurück sind und schon etwas gegessen haben. Mit leerem Magen ist man nicht besonders aufnahmefähig.

Außerdem schlafen die Kinder um diese Zeit bereits.

Vielleicht war es ja auch der nagende Hunger, der Cravan letztendlich zum Verhängnis geworden ist auf dem Pazifik? Oft reichte das Essen nicht, um beide satt zu bekommen, Mina und ihn, und da war es Cravan lieber gewesen, beim Boxen Prügel von seinen Schülern zu beziehen, anstatt zu riskieren, dass das Strampeln und Boxen in Minas Bauch schwächer werden und schließlich womöglich ganz verschwinden würde.

Hoffentlich schlafen Bartosz und Hannes durch. Sie sind unglaublich unruhig zurzeit. Als würden sie es spüren. Ich drehe Małgorzatas Foto auf dem Schreibtisch um. In mir krampft sich alles zusammen, aber der Gedanke, dass sie mir zusehen wird, ist wesentlich schlimmer.

Sie hat mich nie so erlebt.

Małgorzata hat nur das Beste in mir zutage gefördert.

Ich verdecke die Kamera, schalte den Ton aus, den Livestream an. Innerhalb weniger Minuten drängen sich über dreihundert Leute auf meinem Kanal. Es hat Jahre gedauert, bis ich genügend Follower hatte, um mein Vorhaben in die Tat umsetzen zu können. In der Kommentarspalte schreiben sie sich die Finger wund. Sie beschimpfen mich oder loben mich in den Himmel. Die meisten glauben nicht, dass ich es machen werde. Sie kennen diese Facette von mir noch nicht, den Cravan in mir, den Meister des Extremen. Meine größte Sorge ist, dass mein Kanal gesperrt wird oder Bartosz und Hannes plötzlich im Schlafanzug neben mir stehen und wissen wollen, was ich da tue. Dabei mache ich das hier für sie.

Vierhundert.

So viele Leute kommen auf keine Lesung. Allerdings verspricht eine normale Lesung auch nicht, was ich verspreche. Nervös, ich bin nervöser, als ich erwartet habe, ich trommle mit den Fingern auf der Tischplatte herum, einen irren Jazzgroove, den ich mir gerne merken würde, aber dann wäre es kein Jazz mehr, zumindest nicht die Variante, die ich mag, und unter dem Trommeln meiner Fingerkuppen tanzt das Pulver aus den Bahnen. Hastig schiebe ich es wieder zu akkuraten Linien zusammen, zwinge mich, nicht mehr zu trommeln … Subjekt, Verb, Objekt … Ich lege den Papierstapel zur Seite. Frei gesprochen wirkt der Text besser, erst frei gesprochen beginnt er zu leben. Die ersten zehn Seiten kenne ich auswendig. Ich rezitiere sie beim Spazierengehen oder auf dem Spielplatz und kassiere dafür Blicke, die eigentlich den Wahnsinnigen vorbehalten sind; wahrscheinlich könnte ich im Ton des Textes tagelang erzählen.

Alles fließt ineinander. Meine Söhne lieben das.

Anders bringe ich sie nicht mehr zum Schlafen. »Cravan!«, rufen sie, »Cravan!, Cravan!, Cravan!«, die Decke bis zum Kinn gezogen. Sie reden von ihm, wenn ich nicht im Raum bin, ich höre vom Flur, wie sie über seinen Verbleib mutmaßen, als wäre er ein verschollener Onkel, der jederzeit zur Tür hereinschneien könnte. Verblüffend, wie schlau sie bereits sind … Wahrscheinlich erkennen sie die Verbindung und gieren deshalb so nach Cravans Geschichten; weil sie spüren, dass auch sie Teil dieser Geschichte ist … Manchmal merke ich, dass sie von Małgorzata weniger wissen als von Cravan, dass Cravan für sie realer ist als ihre eigene Mutter, und spüre ein Stechen im Herz, ein Krampfen, wenn es besonders schlimm ist. Als würde sich eine eiskalte Hand ums Herz schließen, und mit jedem Atemzug erhöht sie den Druck. Herzinfarkt, dachte ich beim ersten Mal, jetzt verreckst du, du Idiot, weil du mit dem weißen Pulver übertrieben hast … Ich hatte mehr Mitleid mit meinen Kindern, als Angst zu sterben. Vor ein paar Monaten hat mich meine Mutter so gesehen, aschfahl und schwitzend. Sie hat ihre Enkel abgeholt, weil ich wegen der Arbeit nach Düsseldorf musste, zumindest habe ich das gesagt. Sie sah mich und meinte nur: »Kein Wunder, dass du Panik schiebst.«

Das Wort war also Panik, nicht Herzinfarkt. Panik, weil Małgorzata tot ist und ein Leben ohne sie unvorstellbar. Panik, weil meine Kinder von ihrer Mutter weniger wissen als von Cravan. Panik, weil ich von ihr nicht erzählen kann. Jedenfalls nicht ihnen und nicht so, wie ich müsste. Nicht so, wie sie es verdient hätten, Małgorzata und unsere Söhne.

Das muss sich ändern; deswegen bin ich hier.

Oh … nur noch drei Minuten. Hin und wieder verschwinden ein paar Leute, wahrscheinlich ist in ihrer Welt der Fünfzehnsekundentaktung zu lange nichts passiert, insgesamt werden es aber immer mehr.

21 Uhr.

Ich schalte den Ton an, ziehe das Tuch von der Kamera.

»Arthur hatte Fieber«, beginne ich und setze dann, den Blick gesenkt, meine einstudierte Pause. Nach meiner Erfahrung empfinden die meisten Menschen Stille nach sieben Sekunden als unangenehm, deshalb warte ich vierzehn … … … acht, sieben … … … und schüttle schließlich wie in tiefster Resignation den Kopf. Ich tue so, als würde ich es mir unvermittelt anders überlegen – und alles nimmt seinen Lauf.

Kurz vor Heiligabend 1899, St. Gallen & Eine Kindheit in den 90ern, Berlin

Also, wenn ihr das wirklich hören wollt, dann wollt ihr wahrscheinlich als Erstes wissen, warum ich euch von Arthur Cravan erzähle, statt einfach zu sagen, wer ich bin, also wer ich wirklich bin. Für gewöhnlich beginnt man da bei der frühen Kindheit, den ersten Erinnerungen, sprich dort, wo es anfängt, spannend zu werden, weil sich der Charakter zu formen beginnt … Bei den ersten Stunden auf dem Spielplatz, dem ersten Gewitter und der Furcht vor Blitz und Donner … Beim ersten Nachmittag, den man bei einem Kindergartenfreund verbringt, und bei der Hoffnung, dass die Eltern einen vergessen, weil gerade alles so schön ist. Leider geht das bei mir nicht. Meine frühe Kindheit besteht selbst für mich nur aus Erzählungen, und ich habe keine Ahnung, was davon tatsächlich wahr ist. Ich will nicht behaupten, dass meine Erinnerungen mit Arthur beginnen, aber sehr viel Vorlauf gab es nicht. Drei Jahre vielleicht.

Als ich fünf war, lag ich für mehrere Wochen mit Grippe und fragilem Bewusstsein im Bett. Ich kann mich nicht daran erinnern und seltsamerweise an kaum etwas zuvor; die Ärzte konnten es sich nicht erklären … Ein Grund, warum ich mit Arthur beginne, ist also, dass für mich mit Arthur (fast) alles begonnen hat und dass ich zu Wenigem einen intuitiveren Zugang besitze als zu einer stark erhöhten Körpertemperatur. Ich – also ich, wie ich jetzt vor euch sitze und spreche, ich, wie ich mich selbst begreife –, ich wurde aus dem Feuer meines eigenen Körpers geboren, und auch meine Verbindung zu Arthur entstammt (neben anderen Unglaublichkeiten) direkt dem Abwehrmechanismus unserer Immunsysteme: Fieber. Ihr werdet sehen, was ich meine, denn Arthur hatte Fieber.

Wie die anderen, mit denen er ein Zimmer teilte, deren Namen heute aber kein Mensch mehr kennt, hatte er sich eine schwere Erkältung eingefangen, die seit einigen Wochen im Internat grassierte. Bei einem schwächlichen Deutschen sollte sie sich sogar zu einer Lungenentzündung auswachsen, an der er später auch starb, Arthur hingegen war schon immer zäh gewesen, bereits als kleiner Junge, deswegen hatte es bei ihm länger gedauert. Letztendlich erwischte es aber auch ihn – kein Wunder, bei diesem pausenlosen Geschniefe und Gehuste. Von all dem ausgespuckten grüngelblichen Schleim der Kinder sah die Schneefläche vor dem Institut auf dem Rosenberg aus, als würde sie schimmeln. 1899, Arthur ist zwölf. 1899, das letzte Jahr des 19. Jahrhunderts, wir befinden uns in einer Zeit, in der Hygiene in weiten Teilen der Bevölkerung denselben Ruf genießt wie Homöopathie heute in Medizinerkreisen, spätestens die Spanische Grippe sollte das ändern, aber als die sich zur Pandemie auswuchs, war Cravan möglicherweise bereits in Chile, möglicherweise bereits auf dem Grund des Pazifiks.

Arthur war also krank, er fühlte sich aber nicht krank genug, um nicht aus einem Fenster im zweiten Stock zu klettern und den Hügel hinab durch schneebepuderte Gassen zur Post zu stapfen. Er wollte die beiden Briefe aufgeben, die er am Vormittag beendet hatte, bis Heiligabend waren es nur noch wenige Tage. Dass er Ärger bekommen würde, war ihm egal. Gerade begann es wieder zu schneien, große feuchte Flocken segelten lotrecht vom Himmel und schmolzen auf Arthurs erhitzter Stirn. Die Briefe durften keinesfalls nass werden, deshalb steckte er sie rasch unter seinen Pelzmantel, sie durften aber auch nicht verknittern, darum ging er die rutschigen Straßen mit steifem Oberkörper entlang. Hoffentlich wirken meine glatte Brust und der Dampf des Fiebers wie ein Bügeleisen, dachte Arthur, das wäre perfekt für die Briefe. Sloppiness, wie sein Vater, ein Anwalt aus Oxford mit Faible für altgriechische Literatur, es nannte, war Arthurs Handschrift vorbehalten, da war sie notwendig, da war sie Kalkül.

Bisher hatte Arthur nur zwei Leser, eben seinen Vater und seine Mutter. Er schrieb ihnen wöchentlich und behielt von jedem Brief eine Kopie in makelloser Schrift, die er in einer Box aus japanischem Zedernholz aufbewahrte. Das war das Gute daran, dass seine Eltern getrennt lebten: Er konnte immer zwei Briefe schreiben, zwei Versionen erfinden, die im Orbit einer Wahrheit kreisten. Für Arthur war alles wahrhaftig, was er schrieb, da gibt es keinen Zweifel. Nur seine Eltern bezichtigten sich in den seltenen Gelegenheiten, in denen sie korrespondierten, gegenseitig der Lügen, weil sie Unterschiedliches von ihrem jüngeren Sohn gehört hatten.

Letztens hat er beispielsweise, je nachdem, welchem Brief man Glauben schenkte, Hausarrest bekommen, weil er einem anderen Jungen (eineinhalb Jahre älter) eine Ohrfeige verpasst hatte, beziehungsweise haben drei Jungen Hausarrest bekommen, weil sie ihn, Arthur, verprügelt hatten, und er lief seitdem mit einem geschwollenen Auge umher, dem rechten, weil einer der Jungen Linkshänder gewesen war.

Wahr war, dass alles stimmte.

Arthur hatte sich dazu genötigt gefühlt, gegen den Jungen vorzugehen, einen hochnäsigen Franzosen (angeblich ein Nachfahre Voltaires), nachdem der sich über ihn, den barbarischen Briten aus einer Kolonie in Lausanne, lustig gemacht hatte, genauer: über seinen englischen Akzent. Daraufhin hatten die Freunde des Franzosen Satisfaktion verlangt, aber nicht so, wie Arthur es später noch öfters erleben sollte, nicht so, wie es unter Gentlemen der Upperclass üblich war, mit einer inbrünstig vorgetragenen Aufforderung und Sekundanten und einem Treffen auf einer Lichtung irgendwo im Wald, im stumpfen Licht des Morgengrauens. Nach der Abendandacht hatten sie Arthur in einem der dunklen Korridore aufgelauert und sich gerächt. Auch wenn er vor Kurzem zu boxen begonnen hatte und Talent erkennen ließ, mit dreien auf einmal war er nicht fertiggeworden. Insbesondere dieser Linkshänder hatte ihm zu schaffen gemacht. Wenn Arthur jetzt vor dem Spiegel stand und merkte, dass das Blau zu verblassen drohte, drückte er in der Hoffnung, dass es noch etwas länger sichtbar wäre, an den Rändern seines rechten Auges herum. Zu sagen, dass er den Schmerz genossen hätte, wäre zu viel, ausschließlich schlecht fand er ihn aber nicht.

Arthur durfte das Institut gerade also nicht nur nicht verlassen, weil Nachmittagsruhe herrschte, sondern auch, weil er Hausarrest hatte, und so grinste er diebisch, als er in die Zwinglistrasse einbog, die in diesem Abschnitt reichlich steil war. Für Arthur gab es keine größere Freiheit, als sich über Regeln und Verbote hinwegzusetzen, oh, er hoffte beinahe, erwischt zu werden. Während er ging, schaute er über die Schulter zurück zur hellgelben Jugendstilvilla, einem Bau, der, wie das Institut, vor wenigen Monaten zehn Jahre alt geworden war, eine erstaunlich pompöse Feier war das gewesen, bei der Arthur zum ersten Mal Champagner getrunken hatte (anders wären diese hirntoten Reden auch nicht auszuhalten gewesen), er erinnerte sich gerne an diesen ersten perlenden Rausch, der ihm den Tag versüßt hatte, er schaute also in Gedanken zurück zu den herbstlich entflammten Ahornen im Park des Instituts, deren Blätter sich im Wind ineinander wanden wie die Ornamente der bunten Bleiglasfensterscheiben der Villa, und auch in Wirklichkeit schaute er zurück, über die linke Schulter, mit dem rechten Auge sah er schließlich noch schlecht, vielleicht lief ihm ja jemand im Schnee hinterher. Und tatsächlich, huschte da nicht etwas im abnehmenden Licht des späten Nachmittags die Straße entlang?

Hoppla!

Das wäre fast schiefgegangen. Schwer, nicht zu stürzen, wenn es derart glatt ist und man den Oberkörper pedantisch starr halten muss, der Briefe wegen. Wahrscheinlich besser, ich nehme Anlauf und gleite den Hang hinunter, wer gleitet, der rutscht nicht, dachte Arthur, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht Cravan hieß, sondern so, wie es trotz Trennung auf beiden Couverts stand, nämlich Lloyd. Eigentlich hieß Arthur damals auch noch nicht Arthur, sondern Fabian. Fabian Avenarius Lloyd. Wir nennen ihn aber weiter Arthur, denn das ist, wer er war.

Punkt 16 Uhr gingen die Straßenlaternen an, eidgenössisch pedantisch, und augenblicklich war der Schnee nicht mehr gräulich-weiß und bieder, sondern gelb, wild und diabolisch wirkte er, man kann den Schwefel fast riechen. Ein guter Schwefelgeruch war das, thermal, das Erdinnere in sich tragend; riecht ihr ihn auch?

Arthur nahm das als Zeichen.

Mit drei, vier Schritten beschleunigte er, Schneeflocken stoben an ihm vorbei, er überholte mehrere schimpfende Passanten und sogar ein eben anrollendes Automobil (das einzige in St. Gallen), was ihn ganz besonders entzückte, hatte er nicht gerade die Zukunft überholt?, schneller und schneller wollte er werden, wie die neue Zeit, dieses neue, vielversprechende Jahrhundert, das in wenigen Tagen beginnen würde, und so schoss er, in Gedanken Aeronaut, im Scheinwerferkegel des Daimlers den vereisten Hügel hinab.

Cravan war niemand, der ans Bremsen dachte oder daran, dass ein Weg jemals enden könnte – oder eine Straße. Wie beispielsweise die Zwinglistrasse am Blumenbergplatz. An einem Nachmittag so kurz vor Weihnachten war der natürlich voller Menschen. Halb St. Gallen flanierte zwischen den Verkaufsständen und trank wohlig dampfenden Glühwein, während man sich zunehmend erregt in dieser merkwürdig kehligen Sprache unterhielt, die Arthur verabscheute, weil sie klang, als würde jede Silbe die Ketten der Vergangenheit hinter sich herschleifen. Englisch und Französisch, das strebte nach vorne!, es war also nicht schlimm, dass er immer den Akzent einer dieser beiden Sprachen übers Deutsche legte, war sogar notwendig, Voltaire hin oder her, und selbst wenn Arthur irgendwann doch realisierte, auf was er da zuraste, die Stände kamen schließlich unbestreitbar näher, lange konnte er nicht darüber nachdenken, weil etwas von rechts auf ihn zuschoss und ihn rammte und –

Wumm!

Arthur wurde zu Boden geschleudert. Dunkel. Alles drehte sich, er schmeckte Blut. Wie er es beim Boxen gelernt hatte, versuchte er sofort, sich aufzurichten. Erst aufgeben, wenn dich lückenloses Schwarz umgibt!, aber das tat es bereits, und so sank er wieder zurück auf die Straße und ließ es, für ihn seltsam schicksalsergeben, dabei bewenden.

Wie müde sein Körper plötzlich war.

Er lag auf dem eiskalten Kopfsteinpflaster, und irgendetwas in ihm dachte oder erinnerte, nachmittagsträumte, verwob Reales mit Irrealem und Unwahrscheinliches mit Wahrscheinlichem zu seinem Erlebten und lieferte so Stoff für neue Briefe. Die zukünftigen Briefe schrieben sich gerade wie von selbst. Arthur ahnte, dass er seine Leserschaft bald erweitern würde. Ewig … Er wollte ewig liegen bleiben, er fühlte sich wohl, ungestört, in ihm eine unvergleichliche Genesis, ja, da war etwas im Entstehen, passend zum Geruch des geschmolzenen Erdkerns, der mehr und mehr Raum in ihm einnahm, bis er irgendwann spürte, wie sich sein Mantel öffnete.

Sofort wurde ihm klamm um die Brust.

Hatte er das Getuschel der Leute, die sich offenbar um ihn versammelt hatten, noch wunderbar in seine Geschichten einbinden können, dass jemand seinen Mantel öffnete, ging entschieden zu weit, und so sagte er: »Wer am Boden liegt, kann höher hinaus. Und ich muss sehr hoch hinaus, also lasst mich gefälligst liegen.«

Vielleicht sagte er das auch nicht, hauchte es eher, aber ohne dabei die Augen zu öffnen, denn es fühlte sich tatsächlich an wie Schlafen: Solange die Augen geschlossen blieben, blieb alles fantastisch und im Werden. Morpheus ist ein verständiger Gastgeber, wie sein Vater zu sagen pflegte, und dann, immer nach einer kurzen Pause, Morpheus und Morphin, Fabian, fällt dir etwas auf?, aber da hörte Arthur, ja, was hörte er da neben dem Getuschel noch?

Ein Ratschen oder Reißen war das.

Und ein Rascheln.

Viel zu nahe, viel zu nah!

Warum ließ man ihn nicht in Ruhe … Moment … Schnitt man ihm da den Mantel auf, den guten Mantel? Um zu operieren? War die Kälte, die seinen Körper betäubte, nicht mehr die des Winters, sondern das wärmefressende Metall einer Bahre im Hospiz, und die Stimmen bellten Befehle, verlangten nach exaktesten Millilitermengen, die es zu injizieren galt? Sicherlich eine interessante Erfahrung, trotzdem hatte Arthur jetzt fest vor, seine Augen zu öffnen. Er wollte protestieren, der Mantel war ein Geschenk seines älteren Bruders gewesen und ihm ans Herz gewachsen (Otho hatte ihn ihm vermacht, weil er angeblich besser zu ihm passte), außerdem wollte Cravan nun doch wissen, was passiert war und ob er womöglich gerade Morphin bekommen hatte, so in etwa stellte er sich das nämlich vor, Schwärze und was sich aus der Schwärze schält, wird übernatürlich klar und präsent, beängstigend in seiner Unausweichlichkeit. Arthur schlug also die Augen auf, konnte aber nur kristallines Weiß erkennen, bizarr scharfkantige Eisberge unmittelbar vor seinen Pupillen, so dicht dran, sie durchfurchten seine Augäpfel, und im Hintergrund, in der Unschärfe hinter den Eisbergen, entfernten sich da nicht einige düstere Schemen und gingen in die Finsternis über?

Ja, was ist passiert?, fragte Arthur sich 1899 neugierig, jedoch in keinster Weise alarmiert, und ich frage mich das etwas über neunzig Jahre später auch, und jetzt ihr, da sank Arthur, beziehungsweise Fabian, dieser Junge, der bereits so vieles in sich trug, zurück in den Dämmer, der seinen Geist umhüllen wollte.

Armer Arthur.

Um zu erklären, weshalb ich mich bereits Mitte der Neunzigerjahre gefragt habe, was ihm zugestoßen ist, muss ich etwas ausholen – ich hoffe, ihr habt Zeit. Ich kam am 22. Mai 1987 zur Welt, exakt einhundert Jahre nach Arthur Cravan, wofür ich meiner Mutter an dieser Stelle sehr herzlich danken möchte. Leider gibt es Weniges, das ich ihr ansonsten zugutehalten könnte (meine Mutter und ich sind nicht geboren, um uns zu verstehen), insofern ist es nur fair, ihr Dank zukommen zu lassen, wo ihr Dank gebührt. Sie ist durch und durch Schauspielerin, und wenn ihr nicht hinterm Mond aufgewachsen seid, kennt ihr sie aus dem Kino und damit so gut wie ich.

21:27 Uhr.

Gleich könntet ihr sie in einer ihrer Paraderollen bestaunen, irgendwo im Öffentlich-Rechtlichen; ich nenne keine Namen. Der Film ist schon etwas älter und mittlerweile ein Klassiker des Arthaus. Als Kind kam ich damals oft mit zum Set in Babelsberg. Manchmal war das gar nicht so schlecht, vor allem, wenn aus irgendwelchen Gründen Stillstand herrschte, denn dann hatten die Leute aus der Maske Zeit, und ich verbrachte Stunden vor dem Spiegel und konnte dabei zusehen, wie ich mich in eine Maus verwandelte, in ein Gespenst, in einen alten Mann. Ich habe viel über Menschen gelernt in Babelsberg, beispielsweise dass die äußere Erscheinung eben nur das ist, eine Erscheinung. Ich war ja nach wie vor ich, unabhängig davon, ob mich aus dem Spiegel eine kecke Maus anstarrte oder ein schmieriger Medienmogul (mit Perücke aus der Blütezeit Hollywoods), der Angst vor dem körperlichen Niedergang hat. Nicht zuletzt deswegen ist mir Mode egal. Solange Kleidung monochrom ist, ist sie in Ordnung. Bei meiner Mutter war das nicht so – sie ist, was sie anhat –, und wahrscheinlich ist sie darum so verflucht gut: Ein neuer Schal macht aus ihr einen neuen Menschen. Ja, man muss wohl anerkennen, dass sie eine exzellente Schauspielerin ist, ein Ausnahmetalent, aber vertraut mir, wenn ich sage: Hier bei mir bleibt es bedeutend interessanter, denn hier erwartet euch das wahre Leben, gelebtes Leben, das keinem Drehbuch gehorchen muss. Hier gibt es viel Licht und viel Dunkelheit, sowohl bei Cravan als auch bei mir, und hin und wieder ein paar Reflexionen … Unglaublich, wie unschuldig und beruhigend fünf Lines Kokain wirken können; wie die Rechenspur in einem Zengarten. Da auf dem Spiegel, das ist kein Puderzucker.

Ihr wisst, was Tschechow über Gewehre gesagt hat, nicht wahr?

Nein?

Kommt schon, nicht so schüchtern … Ich verstehe das schon. Aus einer so großen Menge hervorzutreten, ist immer etwas schwierig, aber wenn ich Tschechows Satz nicht bald durch die Kommentarspalte huschen sehe, muss ich leider abbrechen. Nein, liebe Kaja, der macht keinen Joke, und ironisch meint er es garantiert auch nicht. Meine Mindeststandards müssen aufrechterhalten werden, das habe ich von Małgorzata gelernt, und da bin ich strikt. Hier herrscht ohnehin ein unauflösliches Ungleichverhältnis: Während ihr mich ausgesucht habt (jede und jeder Einzelne von euch ist ganz bewusst hier und könnte gerade auch Netflix gucken, Sex haben oder sich wegen der Hässlichkeit der Welt in den Schlaf heulen), habe ich mir euch nicht ausgesucht. Ich finde es toll, dass ihr meiner Einladung so zahlreich gefolgt seid, the more the merrier, trotzdem muss es für mich ebenfalls befriedigend sein, und das ist es nicht, wenn ich das Gefühl habe, dass wir uns nicht auf Augenhöhe begegnen.

Noch immer nichts?

Machen wir ein Spiel daraus, einen Countdown. Zehn Sekunden gebe ich euch, ist schließlich kein übertrieben komplizierter Satz.

Zehn.

Neun.

Acht.

Sieben.

Sechs.

Fünf.

Vier.

Drei.

Zwei … Ja! Genau! Danke ToniSurf 23. Und wie schön du es auch noch formulieren konntest: Man darf kein Gewehr auf die Bühne stellen, wenn niemand die Absicht hat, einen Schuss daraus abzugeben. Jetzt habt ihr mich aber erschrocken, ich war mir so sicher, dass die Antwort wie aus der Pistole geschossen käme, dass ihr wüsstet, worauf ich hinauswill, aber wegen eures Zögerns habe ich nun glatt vergessen, wo ich war … kein Puderzucker … Tschechow und das Gewehr … Ach genau, warum ich mich Mitte der Neunziger gefragt habe, was dem armen Arthur 1899 im verschneiten St. Gallen passiert ist und was das alles mit meiner Mutter zu tun hat.

Richterin, Gemüsehändlerin, Hure oder Nonne und gelegentlich auch liebende Mutter zweier Söhne, die von ihrem Mann verlassen worden war, ich konnte mir bei ihr nie sicher sein, mit wem ich es gerade zu tun hatte. Selbst die flackernde Flamme einer Kerze beim Abendessen konnte sie zum Rampenlicht umfunktionieren, und uns zu Statisten: Der Sohn möchte sich ein Brot schmieren, erster Take. Und stell dir dann noch vor, dass deine Katze gestorben ist, während du in der Schule gewesen bist, das ist sie nämlich … Ralf, es tut mir schrecklich leid. Du hättest das Fenster nicht offen lassen sollen. Fünf Stockwerke sind dann doch etwas hoch, selbst für eine Katze wie Nero.

Meine Mutter missbrauchte ihn oft für ihre Geschichten, und so hatte Nero unzählige Leben, und als er irgendwann tatsächlich und wohlverdient das Zeitliche segnete, konnte ich es anfangs nicht glauben. Wie auch, wenn deine notorisch lügende Mutter behauptet, Nero wäre angezündet worden, und das nur wenige Augenblicke nachdem du ihr von deiner Geschichtsstunde erzählt hast und dem, was dieser irre Kaiser angeblich mit Rom gemacht hat. Als sich herausstellte, dass sie tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte – ein fanatischer Vogelfreund und Katzenhasser hatte in heiliger Vergeltung zum Benzinkanister gegriffen –, gab ich mir die Schuld, wie es sich für ein Kind meiner Mutter gehört.

Ja, sie kann immens verunsichern.

Meinen Bruder warf sie vollkommen aus der Bahn. Nach Neros Tod sprachen wir kein einziges Mal mehr über den Kater. Gregor geht bis heute davon aus, dass es unsere Mutter gewesen ist … O ja, das tut er … Er ist sofort nach dem Abitur nach Kanada geflogen, Work & Travel, und gleich dortgeblieben. Wir schreiben uns brav und wie es sich gehört Karten. Ich aus den unterschiedlichsten Ecken Europas, er immer aus seiner neuen Heimat. Leider sind seine nicht sonderlich interessant, dafür ein zuverlässiger Spiegel seines Lebens, aber lass los, was du liebst. Heißt es nicht so? Und mach kaputt, was dich kaputtmacht. Das Beste, was Gregor passieren konnte, ist ein ereignisarmes und undramatisches Leben. Er wohnt mit seiner Freundin Clara (einer, wenn auch ungemein schlauen und grazilen, Expertin für Langeweile) und ihrem Neufundländer in einem Vorort von Vancouver. Von Montag bis Freitag stellt er in einer Fabrik Papier her, am Wochenende geht er Angeln oder in die Berge. Zumindest war das lange so. Mein Bruder fehlt mir, also mein dreizehnjähriger Bruder, der, der irgendwann anfing, meine Mutter mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, weil er mich in Schutz nehmen wollte, mein lieber Bruder, der ihr mit tausend Gesichtern frech in die Visage lachte und mich mit dem immer selben aufmunternd anlächelte – bis er ihr irgendwann unterlag.

Es war und ist einfach ihr Terrain.

Dieser Bruder, der für mich kämpfte, der fehlt mir wirklich sehr.

Wahrscheinlich hätte ich letztendlich darüber hinwegsehen können, dass Mutter immer in Dialogfetzen mit uns sprach und ständig neue Facetten ihres Pandämoniums offenbarte, und selbst den vielfachen Mord an Nero und die Vertreibung meines Bruders nach Kanada hätte ich ihr wohl irgendwann verziehen, ich kann und will nur nicht darüber hinwegsehen, dass mir wegen ihr beinahe Cravan durch die Lappen gegangen wäre. Es wäre ein völlig anderes Leben geworden, eines, das ich mir gar nicht ausmalen möchte … Wahrscheinlich neben meinem Bruder in einer Papierfabrik in Kanada, und am Wochenende ab in die Berge.

Arthur flog mir zu, im wahrsten Sinne des Wortes.

In Form einer Postkarte, die von einem Windstoß ergriffen worden war und nach der ich reflexartig griff. Auch wenn ich das erst sehr viel später herausgefunden habe: Es ist nicht zu bezweifeln, dass die Karte von Cravan ist. Glücklicherweise begegnet man allen Menschen, die wichtig sind, zweimal im Leben, man kann die erste Chance also getrost vergeigen, zumal die meisten Menschen ohnehin nicht wichtig sind – und dann ist es besser, du stößt sie bei der einzigen Gelegenheit, die sich dir bietet, vor den Kopf. Bei Cravan ergriff ich die erste Gelegenheit: Unverkennbar, Cravans Stil, der bereits in seinen kindlichen Texten angelegt ist, und sein Witz, dem Oscar Wildes nicht unähnlich, aber roher, die Panthervariante, die dir an die Kehle springt und zuschnappt und den Atem raubt, während Wilde als betörendes Kätzchen in liegenden Achten um deine Beine herumschnurrt, all das spricht dafür, dass die Karte von Cravan ist.