Das Jahr der Wölfe - Willi Fährmann - E-Book

Das Jahr der Wölfe E-Book

Willi Fährmann

4,9
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Jahr 1944/45 muss die ostpreußische Familie Bienmann vor der heranrückenden Front fliehen. Der 12-jährige Konrad erlebt die bittere Wahrheit des Krieges: brennende Dörfer, Tiefflieger, Artilleriefeuer. Der Autor zeigt menschliche Größe und Schwäche, Hilfsbereitschaft und Selbstsucht bei Freund und Feind.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 234

Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
15
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Autor

Willi Fährmann,1929 geboren, holte nach einer Maurerlehre das Abitur anAbendschulen nach und studierte anschließend an derPädagogischen Hochschule.Er arbeitete als Lehrer und als Schulrat.Er zählt zu den bedeutendsten deutschen Kinder- undJugendbuchautoren und erhielt zahlreicheAuszeichnungen, u. a. den Deutschen Jugendbuchpreis für»Der lange Weg des Lukas B.«.

Willi Fährmann

Das Jahr der Wölfe

Auf der Auswahlliste zumDeutschen Jugendbuchpreis

Impressum

1. Veröffentlichung als E-Book 2012© 1962 by Arena Verlag GmbH, WürzburgCovergestaltung: Frauke SchneiderISBN 978-3-401-80109-4www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

1

»Hier ist es.«

Der Junge verharrte und hob seine Angel wie einen spitzen Speer.

Der Sommer reichte heiß und hoch bis in den blauen Himmel. Drei dicke, weiße Wolken segelten faul im flauen Wind, der vom anderen Ufer des Flusses her dann und wann über das Wasser sprang. Der träge Strom erzitterte leise und schob seine krause Gänsehaut weit in die Bucht hinein. Die Weiden regten sich und fächelten müde mit ihren lanzenschmalen Blättern, und ihr Bild im Spiegel des Wassers hüpfte und glitzerte im prallen Licht der Sonne.

Konrad beugte sich über das Ufer und stand steif und starr. Er kniff die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen. Der Schatten zeichnete eine schwarze Falte in die Stirn. Sein Blick flog über die stille Wasserfläche bis zur Strömung hin. »Hier war es«, bestätigte er leise. Er spähte zum niedrigen Erlengebüsch hinüber. Dort im tiefen Wasser hatte er ihn springen sehen. Hoch hinaus schoss er. Der schwere Leib glänzte in der roten Abendsonne auf und zerriss platschend die Wasserfläche. Das klang hart und spritzte, als hätte er mit seiner Holzpantine in den Schlamm geschlagen. Die Wellenkreise leckten bis ans Ufer. »Mein Karpfen«, sagte Konrad seitdem. Er zitterte, sooft er an den Fisch dachte. Und heute wusste er: Er würde ihn fangen.

Er wandte sich um und rollte die Angelschnur von der Rute.

»Die Gerte ist richtig für dich«, lächelte er und bog ihre Spitze.

»Kein Bambus, kein Pfefferrohr. Aber zäh. Das hat der alte Janosch gesagt. Zäh bis in die Spitze. Sechs Jahre alt und im Dickicht gewachsen. Leicht und schlank und zäh. Fichten, die sechs Jahre im Dickicht hochschießen, sind zähe Angelruten. Zäh genug für dich, mein Karpfen. Und erst meine Schnur!«

Er prüfte sie zwischen den Fingerspitzen.

»Von Kostrachs Schimmel. Einzeln aus dem Schweif gezupft mit spitzen Fingern. Neununddreißig lange, silbrige Pferdehaare. Bei jedem Haar hat das Tier die Ohren an den Kopf gepresst und viermal nach mir geschlagen, mein Karpfen, alles für dich. Es schmerzt den Schimmel nicht mehr, als wenn ich mir selbst das Haar auszupfe, hat Janosch gesagt. Es ist fast nichts, weißt du. Ich habe es vorher bei mir versucht. Neununddreißig schimmernde, seidendünne Haare zu einer Schnur gedreht, wie Großvater es mir verraten hat. Es ist eine geheime Kunst. Aber Großvater versteht sich auf Künste. Er hat mir gezeigt, wie die Haare geschlungen werden. Für dich, mein Karpfen, alles für dich.«

Konrad legte die Rute ins hohe Gras und schob sich das Ende der Schnur zwischen die Lippen.

Mit einem leisen Wind flog ferner, dumpfer Donner über den Fluss. Die Russen? Hört man sie schon? Oder zieht ein Gewitter herauf? Scharf blickte er zum großen Wald hinüber. Keine dunkle Wolke war zu sehen. Also doch die Russen?

Er griff in die Tasche und schrie leise auf. Der Haken hatte sich in seine Fingerkuppe gespießt. Vorsichtig zog er ihn heraus und sah neugierig auf die Kuppel roten Blutes, die sich durch die Haut drängte.

»Tut weh, so ein Haken. Sehr weh.«

Behände schlug er die Schnur durch die Öse. Aus der ledernen Patronentasche an seinem Gürtel nahm er eine gekochte Kartoffel, schob die Schale ab und zog geschickt den Haken in den gelben Köder, bis keine Spur mehr vom blanken Eisen zu sehen war.

»Die wird dir schmecken.«

Er fasste die Gerte mit der rechten Hand und hielt den weichen Köder in der linken. Vorsichtig hob er die Spitze an. Sie bog sich ein wenig. Wie ein dicker Regentropfen schlug der Köder auf das Wasser und versank. Der lange Schwimmer, den Großvater ihm aus brauner Rinde geschnitzt hatte, stellte sich auf.

Die Wellen hatten sich verlaufen. Konrad stand noch eine Weile regungslos. Dann setzte er sich ins Gras. Er stellte die Füße mit den Holzpantinen ins brackige Uferwasser. Die Sohlen sanken ein wenig in den Schlamm und das braune Deckleder sog sich voll Wasser. Es wurde schwer und schwarz. Locker hielt er die Rute in den Händen. Nur seine Augen verrieten Spannung und Achtsamkeit. Unablässig waren sie auf den Schwimmer gerichtet.

»Beiß nur. Ich werde dich schon zwingen. Albert meint ja, ich schaffe es nie. Karpfen seien misstrauisch und erfahren. Ohne Käscher und Netz gelinge es nicht, selbst wenn du beißen würdest. Aber beiß nur erst. Ich weiß schon, wie ich es dann mache. Ich habe doch die pfündige Plötze gezogen und auch den Blei von fast einem Kilo. Ich werde dich schon ans Ufer bringen. Beiß nur fest zu.«

Eine Libelle sirrte vor dem Schwimmer. Ihr Hinterleib glänzte blauschwarz. Die dicken Stielaugen prüften das Rindenstück lange, bevor das Insekt es mit den Beinen fasste. Einen Augenblick ruhten die Flügel gläsern in der Luft. Schon schoss sie wieder davon.

»Ob sie von deinem Zupfen verscheucht wurde, mein Karpfen?«

Doch kein Wellenkräuseln bestätigte Konrads Hoffnung. Fernes Grollen rollte wieder über das Wasser, lauter jetzt und heller.

»Doch ein Gewitter. Gewitter machen die Fische toll. Also komm, lass mich nicht so lange warten. Beiß zu.«

Wenn Konrad schärfer in die Ferne lauschte, dann vernahm er hinter dem Donnerrollen des Wetters, das sich jenseits des großen Waldes zusammenbraute, ein tiefes, unbestimmtes Gemurmel. Das schwand nur selten.

»Die Russen werden kommen«, hatte der Großvater gesagt. Aber Konrad glaubte ihm nicht recht. Olbrischt musste es besser wissen. Der kannte den Gauleiter aus Königsberg persönlich und hatte drei Söhne an der Front.

Großvater war alt. Was wusste der?

Und wenn sie doch kommen? Dröhnen die Kanonen schon bis hierher? Konrad hob vorsichtig den Köder aus dem Wasser. Die Kartoffel pendelte unberührt. Lediglich die Hakenspitze hatte sich ein wenig herausgehoben.

»Du bist erfahren und misstrauisch. Wart nur.«

Er zog den Haken zurück und drehte ihn halb. Genau an der Stelle sank der Köder in die Tiefe, an der der Karpfen sich im Sprung gezeigt hatte, golden und schwer.

Über die Wipfel der hohen Fichten schob sich ein schweflig gelber Wolkenrand.

»Beiß, mein Karpfen. Es sind zwanzig Minuten bis ins Dorf. Beiß. Ich habe keine Angst vor Blitz und Donner. Ich kenne doch ein Stoßgebet. Das hilft immer, sagt Janosch. Ich habe keine Angst.«

Die Libelle war wieder da und stand in der Luft vor dem Schwimmer. Plötzlich versank er schnell und gerade in das schwarze Wasser. Konrads Muskeln strafften sich.

»Mein Karpfen!« Er wusste es, noch bevor er anschlug. »So beißen nur große Fische, ruhig und fest. Ich warte noch. Ich kenne dich. Du hältst die Kartoffel nur lose im Maul. Ich kenne dich.«

Ruhig wanderte die Schnur eine Armlänge dem offenen Strom zu.

»Jetzt gilt es.«

Konrad schnellte den Stab empor. Die Spitze bog sich. Die Schnur sirrte. Heftig ruckte der Fisch. »Reiß nur. Ich gebe nach. Jetzt habe ich Zeit. Ich weiß schon, wie ich es schaffe.«

Konrad war aufgesprungen. Er hielt die Schnur stramm, folgte aber weich jedem Ruck.

»Ja, meine Schnur ist gut. Zieh nur. Neununddreißig Schimmelhaare. Und ich bin auf der Hut! Nicht unter die Erlen ins Gestrüpp, mein Karpfen. Dort verwickelt sich die Schnur. Hüh!« Konrad verstärkte den Zug und brachte den Fisch wieder in die Mitte der Bucht.

»Komm an die Oberfläche. Ich schleudere dich ans Ufer wie die pfündige Plötze oder, wenn du es lieber willst, schleife ich dich durch den Schlick her zu mir wie den schweren Blei. Oder ich mache es noch ganz anders. Komm nur, komm.«

Doch vorerst schien der Karpfen nicht daran zu denken, das tiefe Wasser zu verlassen. Er ruckte und zuckte. Der Haken saß tief in seinem Gaumen und war neu und aus gehärtetem Stahl.

»Auch ohne Käscher, komm!«

Konrad zog jetzt. Die Fichtenspitze war stark und geschmeidig und bog sich. Der Schwimmer, schon einen halben Meter über dem Wasser, kreiste um die straffe Schnur.

Jetzt ließ das Reißen plötzlich nach. Die Schnur wurde schlaff und die Spitze schnellte zurück.

»Vorsicht! Was hast du vor? Ich werde dir keinen Gefallen tun. Ich ahne, was du willst!«

Konrad nahm nur zögernd den Stock höher, bereit, beim ersten Anzeichen eines harten Schlages nachzugeben. Kaum spürte der Fisch den Widerstand, da quirlte seine breite Schwanzflosse das Wasser, und er schoss kopfüber in die Tiefe. Konrad folgte mit der Gerte, bis sie mit der Spitze fast die Wasserfläche berührte.

Wind war aufgesprungen und warf höhere Wellen in die Bucht.

»Siehst du, mein Karpfen. Ich werde dich ans Ufer bringen. Du bist schon müde. Hab Acht!«

Er zog stärker an der Schnur. Schon musste der Fisch der größeren Kraft ermattet folgen.

»Pass auf, wenn er nahe am Ufer ist«, hatte Albert gewarnt. »Dann wird er noch einmal wild.«

»Ist nicht Paul Funk vor ein paar Wochen ein Hecht kurz vor dem Ufer durchgebrannt? Aber ich werde dich nicht mehr loslassen. Komm endlich, komm.«

Schweißperlen rannen Konrad aus den Haaren, verfingen sich in den Brauen und krochen über die Nase. Seine Pantinen waren ganz im Schlamm versunken. Hoch zeigte die Rute jetzt in die schwarzen Wolken, die den Himmel mehr als halb überzogen hatten und den Wald finster und das Grün der Fichten dunkler machten.

Da sah Konrad den Karpfen deutlicher als beim Sprung. Er erschrak vor dem großen Fisch, der mit offenem Maul, ein wenig auf der Seite, dicht unter der Oberfläche dahergezogen wurde. Zittern schoss ihm in die Knie. Fester krampften sich seine Hände um den Angelstock.

»Pass auf, wenn er nah am Ufer ist, pass auf!«, hämmerte Alberts Warnung in seinem Kopf.

»Hätte ich doch nur einen Käscher. Aber wart nur!«

Noch zwei Meter.

»Soll ich dich schleudern? Nein, du bist zu schwer. Neununddreißig Pferdehaare können auch reißen.«

Da schwamm der Karpfen dicht unter dem Ufer, seitwärts von Konrad. Jetzt berührte er mit dem goldenen Leib den Grund, ein letztes Aufbäumen. Weiße Gischt peitschte auf.

»Jetzt ziehe ich durch!«

Nur halb hob er den Fischleib aus dem seichten Wasser, dann riss die Schnur. Konrad warf sich auf den Fisch und bekam ihn zu fassen. Wasser und Fisch! Endlich spürte er seinen Kopf. Konrad wollte ans Ufer, doch die Pantinen, festgesaugt vom zähen Schlamm, blieben stecken. Er stürzte, schluckte schmutziges Wasser, aber er hielt die Beute fest; kam auf die Knie, rutschte ans Ufer, ins Gras. Hoch hinauf.

Er keuchte. Der Fisch wehrte sich nicht mehr. Konrad öffnete sein Taschenmesser, senkte die blanke Klinge hinter die Kiemenklappe und stieß zu. Rot quoll das Blut heraus und lief dem Jungen über die Hand. Er ließ den Fisch sinken. Der Gegner war tot.

Freude und Mattigkeit, Trauer und Tränen stiegen in Konrad auf. Er sah auf den Fisch, auf seine blutbesudelte Hand und wusch sie schließlich im Fluss. Seine Pantinen zog er aus dem Schlamm und überspülte auch sie.

Da klatschten die ersten, schweren Tropfen ins Wasser. Schnell versteckte er die Angel im Ufergebüsch, wog den toten Fisch in der Hand und schätzte ihn auf fünf Pfund. Ein Blitz zuckte und gleich darauf krachte der Donner.

»Steh mir bei, heilige Jungfrau, hilf mir und halt mich heil«, betete Konrad, wie Janosch ihn gelehrt hatte. Er rannte das Ufer hinauf und den Pfad entlang dem Dorf zu. Er spürte das Gewicht des Fisches bald in den Schultern. Doch das freute ihn. Was würde die Mutter sagen? Wie würde Albert staunen! Und Hedwig erst! Helle blendete ihn. Prasselnd schlug der Blitz irgendwo in die Erde.

2

Aber nicht Mutter, Albert oder Hedwig begrüßten ihn und auch nicht der kleine Franz. Vater kam aus der Scheune, nahm ihn wortlos beim Kragen und ließ ihm kaum Zeit, die Pantinen abzustreifen. Da fiel es Konrad heiß ein. Der Roggen musste ja herein, bevor der Regen kam. Er hob Vater den Fisch entgegen. Doch er wollte ihn nicht sehen.

»Da, du Lorbass!«, schimpfte er und gab Konrad eine Ohrfeige.

Der Junge lief in den Stall, den Fisch immer noch in der Hand. Er rannte an den Kühen vorbei und warf sich ins Stroh. Weinen schüttelte seine Schultern. Vater wollte seinen Fisch nicht sehen, seinen großen Fang. Und er hatte den Roggen über dem Fisch vergessen. Konrad ließ den Karpfen ins Stroh gleiten. Er drängte die Tränen zurück. Der Regen schlug hart gegen die kleinen Scheiben. Konrad begann plötzlich zu zittern. Er fror. Die nassen Kleider klebten ihm am Leib. Durch das Sommerhemd zeichneten sich seine Rippen. Starke Rippen und wenig Fleisch für einen Jungen von zwölf. Er schlich über den Hof zurück und betrat die Küche. Mutter stand allein am Herd. Franz krabbelte in der Ecke. Vater, Bruder und Schwester arbeiteten in der Scheune.

»Mutter.«

»Na, Junge.«

»Mutter, sieh, mein Fisch!«

»Junge, warum hast du uns vergessen?«, antwortete die Mutter leise. »Du weißt doch, wie nötig wir jede Hand brauchen.«

Konrad schnürte es die Kehle ab. Er ging auf sie zu, Tränen in den Augen. Den Fisch hielt er ihr entgegen.

»Ein sehr schöner Fisch, Junge.«

»Ich – ich … Ach, Mutter.« Konrad tupfte mit dem Finger auf die wenigen Schuppen, die so groß wie Markstücke in einer doppelten Reihe auf dem Rücken des Fisches glänzten.

»Wir werden ihn braten. Es trifft sich gut. Karl Olbrischt ist auf Urlaub. Er kommt später herüber.«

»Ein Festmahl für Karl«, sagte Konrad.

»Schnell jetzt, lauf in den Stall und versorg das Vieh.«

Eilends schüttete Konrad den Kühen drei Eimer Wasser in den Trog und streute Kleie darüber. Quietschend drängten sich die Schweine und stießen einander zur Seite. Er goss das Futter in die Tröge und schlug ihnen mit der flachen Hand leicht auf die Schnauzen, die sich anfühlten wie feuchte Lappen. Lotter, der braune Hengst, bekam Hafer mit Häcksel gemischt. Konrad rieb mit einem wolligen Lappen dem Vierjährigen das nasse Fell trocken und bürstete ihn.

Die Tür knarrte. Vater schaltete das Licht ein.

»Ich bin schon fertig, Vater.«

»So. Ist das Pferd abgerieben?«

»Ja. Vater, ich wollte noch von eben …«

»Schon gut. Du bist der Älteste. Mit zwölf der Älteste. Merk dir das.«

»Ja, Vater.«

Vater tätschelte Lotter die samtweichen, grauen Nüstern.

»Hast du die Artillerie gehört, Konrad?«

»Ja, Vater. Erst dachte ich, es sei das Gewitter.«

»Noch sind es die Unseren.«

»Großvater meint, bald hören wir auch die Russen, Vater.«

»Er mag wohl Recht behalten, Junge.«

»Aber Brennschere …«

»Du sollst das Wort nicht immer sagen, Junge. Was kann er für seine Haare? Olbrischt spricht, was er sich wünscht. Bald wird er seine braune Uniform wohl wegwerfen müssen. Hoffentlich kann er am Martinstag seine Leute noch auszahlen.«

»So bald kommen die Russen?«

»Wer weiß, Junge.«

Sie gingen über den Hof. Der Regen hatte nachgelassen. Aus der Küche zog würziger Bratduft.

»Es war ein sehr großer Fisch«, knurrte Vater und setzte sich auf den Stuhl neben den Herd. Doch dann reizten die Küchendünste seinen Husten, den er seit dem letzten Winter nicht mehr losgeworden war. Er hielt sich am Türpfosten und presste sein Taschentuch gegen den Mund.

»Mach die Fenster weit auf, Junge«, befahl die Mutter.

»Wie hast du das geschafft, Konrad?«, flüsterte ihm Albert zu. Doch der lächelte nur.

Hedwig stellte die blau-weißen Teller und Tassen auf den Tisch. Die Tür öffnete sich. Großvater trat in die Küche. Er bückte sich nicht, als er hereinschritt, obwohl sein weißes Haar die Oberschwelle streifte. »Guten Abend«, sagte er und hängte den Stock an den Haken. Dicht hinter ihm kam Karl Olbrischt in den Raum. Das blanke Koppelschloss seiner Uniform blinkte im Abendlicht. Die Bienmanns begrüßten ihn.

»Nun zum Essen, ihr alle«, drängte Vater.

Er stand auf der Stirnseite des weiß gescheuerten Tisches, Großvater gegenüber. An seiner Seite saß die Mutter, schmal und klein. Hedwig war zu den Jungen auf die Bank gerutscht und hatte ihren Platz dem Gast geräumt. Großvater faltete die Hände und betete vor. »Amen«, schlossen alle und rückten die Stühle.

Knusprig und braun lag auf dem großen Fleischteller der Fisch. Albert lief das Wasser im Mund zusammen. Alle lobten den fetten Bissen und wurden satt.

Konrad hielt sich mehr an das Brot. Ein gebratener Fisch ist ein armseliger Fisch, dachte er, und das saftige Stück wurde ihm trocken im Mund.

3

Die kleinen Kinder waren ins Bett gesteckt worden. Später stopften die Männer ihre Pfeifen. Eine Weile schwatzten sie vor der Tür. Konrad blieb bei ihnen. Aus der Küche klapperte das Spülgeschirr. Die Luft war angenehm kühl und frisch. Der Regen hatte sie sauber gewaschen.

»Was ist mit dir, Karl?«, fragte der Großvater.

»Ja, zehn Tage habe ich Urlaub, Großvater Lukas. Deswegen«, erklärte er und tippte mit dem Finger gegen seinen Ärmel. Dort war ein Schild aufgenäht, auf dem ein Panzer zu sehen war.

»Und trotz Abschuss kein Eisernes Kreuz erster Klasse?«

»Ich pfeife auf das Eiserne Kreuz«, antwortete Karl heftig.

»Na, lass das nicht deinen Vater hören«, spottete Großvater.

»Ich pfeife auf jeden Orden«, knurrte Karl.

»Aber euer Hauptmann, der hat bei so tapferen Leuten doch sicher ein Kreuzchen bekommen, wie?«, neckte der Vater den jungen Soldaten, dem kaum der Bart über die Lippen wuchs.

Karl brummte nur vor sich hin. Großvater wollte ihn reizen.

»Na, was ist denn? Ich kenne dich ja gar nicht mehr wieder. Du warst doch so stolz, als du vor acht Monaten ins Feld rücktest.«

Der alte Olbrischt war hinzugetreten und lehnte sich gegen den Baum. Seine weißen, gewellten Haare leuchteten im Mondlicht.

»Hier steckt also unser Soldat«, sagte er.

»Hör auf, Vater«, bat Karl.

»Wieso? Warum willst du mir das Maul verbieten? Zwei Panzer abgeschossen aus nächster Entfernung? Wenn nur alle deutschen Soldaten so rangingen. Dann sähe es anders aus in Russland.«

»In Polen, meinst du wohl«, berichtigte der Großvater.

Olbrischt stellte sich breitbeinig vor die Bank. Sein Körper, klein, untersetzt, zeichnete sich wie ein grober Scherenschnitt vor dem Nachthimmel ab. »Polen oder Russland, Lukas«, sagte er laut, »wir werden schon noch siegen.«

»Na ja«, zweifelte der Vater.

»Sei still, Johannes«, mahnte Mutter und lehnte sich in das Fenster.

Sie wusste nur zu gut, wohin ihr Vetter Viktor geschleppt worden war, als er Hitler einen Dummkopf nannte und den Krieg ein Verbrechen.

»Warum still sein?« Karls Stimme klang hart und zerborsten. »Wer glaubt denn noch an den Endsieg? Keiner jedenfalls, der an der Ostfront gerannt ist.«

»Schweig still!« Olbrischt stemmte die Fäuste in die Hüften. »Du willst mein Sohn sein? Du verrätst ja deine Brüder an der Front.«

Er drehte sich heftig um und verschwand in der Dunkelheit. Konrad konnte sich gut vorstellen, wie Brennscheres Augen böse funkelten und seine Backen sich röteten bis in die braune Uniform hinein.

»Du musst ihn nicht so kränken«, mahnte der Großvater. »Er ist nun mal wie verrückt. Wer ist das heutzutage nicht? Die meisten schwören doch auf den Sieg.«

»Wann sind dir die Augen aufgegangen, Karl?«, fragte Vater.

»Es ist eine schreckliche Geschichte.«

»Erzähl sie.«

»Sie hat eigentlich mit Sieg und Niederlage nichts zu tun. Und doch hat sie mich zum Nachdenken gebracht.« Karl sog heftig an seiner Pfeife. »Wir hatten ein paar Tage Ruhe und waren bei Minsk in ein Dorf zurückgenommen worden. Das lag wohl fünfzig Kilometer hinter der Front. Tags zuvor hatten Partisanen drei deutsche Soldaten in der Nähe im Wald hinterrücks erschossen. Da kam der Befehl, wir sollten Geiseln ausheben. Ich fand einen Mann in einem Heuschober. Er zitterte und schrie immerfort, er sei Ukrainer. Denn Ukrainer werden geschont. Schon wollte ich ihn laufen lassen, da trat der Feldwebel hinzu und verlangte seinen Ausweis. Dokumenta, dokumenta, rief der Mann und durchwühlte aufgeregt seine Taschen. Doch er fand nichts.

Wütend trieb ihn der Feldwebel in die Reihe der Geiseln. Vierundzwanzig Personen, darunter Frauen, Kinder. Sie wurden auf einen flachen Hügel geführt.

›Was geschieht mit ihnen?‹, fragte ich Kremers, den alten Gefreiten aus meinem Zug. Er schaute mich nachsichtig an und krümmte nur den Zeigefinger.

›Erschossen?‹, rief ich.

›Hast du die drei Soldaten gestern gesehen? Schüsse im Rücken. Krieg ist kein Kinderspiel, mein Lieber.‹

›Aber die Frauen, die Kinder?‹

Er zuckte mit den Achseln. ›Wenn wir zu zart sind, Knabe, dann knallen sie dich morgen ab, oder mich. Schüsse in den Rücken. Deshalb, weißt du.‹

Der Zug hatte den Hügel erreicht. In einer Reihe standen die Russen. Der dritte Zug nahm die Karabiner von den Schultern. Die Stimme des Feldwebels schnarrte die Befehle. Da plötzlich schrie der Mann laut, den ich im Schober aufgestöbert hatte, und er riss seinen Ausweis aus der Tasche.

›Dokumenta, dokumenta, Ukrainer!‹

›Gerettet.‹ Ich atmete auf.

Aber der Feldwebel brüllte nur: ›Quatsch, du hättest den Wisch eher finden müssen‹, und kommandierte: ›Feuer!‹

Der Ukrainer reckte seinen Arm mit dem weißen Blatt hoch und brach zusammen; tot. ›Das ist ein Schwein, der Feldwebel‹, sagte der alte Kremers.«

Karl schwieg. Konrad schmiegte sich eng an den Vater. Die Pfeifenköpfe glühten hastig und hell auf.

»Sind das Männer? Unsere Männer? Was müssen wir ertragen, bis dieses Blut nicht mehr zum Himmel schreit!«, sagte der Großvater, erhob sich und stapfte zu seinem Häuschen hinüber.

»Gute Nacht«, sagte Karl bedrückt und gab dem Vater die Hand. Das Grollen der Geschütze wurde vom Wind herübergetragen.

»Vergiss nicht dein Abendgebet, Konrad«, mahnte Vater.

Er selbst betete lange und schloss: »Und gib, Herr, dass unsere Flucht nicht in den Winter falle.«

»Amen«, sagte die Mutter und fügte leise hinzu: »Ziehe deine Hand nicht weg von den Frauen, die in dieser Zeit ein Kind erwarten.«

»Amen«, klangen ihre Stimmen. Der Vater streichelte der Mutter die Hand.

4

Karl stand längst wieder an der Front. Olbrischt war stiller geworden, seit Szakawski, der Postbote, ihm zwei Briefe gebracht hatte. Einen hatte Friedrichs Hauptmann geschrieben, der Olbrischt kurz mitteilte, dass sein Sohn tapfer im Kampf das Leben für Führer, Volk und Vaterland gelassen habe. Der andere war von einem Freund seines Sohnes. »Wir rannten nebeneinander aus dem Dorf hinaus«, schrieb er. »Es war furchtbar. Schwere Panzer waren vor dem Dorf aufgefahren und schossen. Wir hatten nicht einmal mehr genügend Munition für unsere Karabiner. Und die Angst! Ich hatte mein Gewehr verloren. Da schlug neben Fritz eine Granate ein. Ich fand nicht einmal mehr seine Erkennungsmarke.«

Die Uniform aber zog Olbrischt nach wie vor an.

»Opfer müssen gebracht werden«, hatte er zu Großvater gesagt. Großvater hatte ihn traurig angeschaut und geantwortet: »Selbst mit Abraham und Isaak hatte Gott Erbarmen«, hatte sich umgedreht und war davongestapft.

Das alles ging Konrad durch den Kopf, als er zur Schule lief. Mutter hatte ihm zum ersten Mal in diesem Jahr die Schuhe herausgestellt. Er ging allein. Die knappe Stunde bis zur Schule behielt er meist für sich. Der Tag wurde klar. Konrads Blick reichte bis zum spitzen Kirchturm hinter dem Hügel. Fast alle Felder lagen nackt und kahl. Auf ein paar Kartoffeläckern faulte das Kraut. Die schlappen Blätter der Rüben leuchteten in krankem Grün und modrigem Gelb. Die Stoppelfelder lagen schmutzig und ungepflügt. Gute Felder. Mit Blut gedüngt. Mit Polenblut und deutschem Blut.

»Die Männer fehlen und die Pferde.«

Er erreichte die ersten Häuser. In Kuhns Krämerladen gab er einen Zettel von Mutter ab.

»Gegen eins komme ich alles abholen.«

»Ist gut, Jungchen«, sagte die Krämersfrau und legte den Zettel beiseite. Aus alter Gewohnheit griff sie in das Bonbonglas. Doch es war leer. Seit Tagen schon leer.

»Nuscht«, knurrte sie. »Nuscht.«

Konrad war als Erster in dem dämmrigen Klassenzimmer. Es roch nach Kreide und ranzigem Öl. Der hohe Kanonenofen mit der gusseisernen Tür bullerte. Konrad legte Holzkloben nach.

Allmählich füllte sich die Klasse. Der Lehrer trat ein, gebeugt, mager.

»Heil Hitler!«, grüßte er matt. »Schließ das Fenster, Gunwald.«

Konrads Nachbar erhob sich und versuchte den Fenstergriff zu drehen. Er war der größte Junge in der Schule, seitdem der achte Jahrgang nach Polen befohlen worden war. Zum Schanzen. Schmale Gräben sollten sie ausheben. Um die Panzer aufzuhalten, hieß es.

»Nimm den Stuhl, Junge«, mahnte der Lehrer.

Das Donnern und Grollen der Geschütze drüben hinter dem Wald war nun nicht mehr so stark zu hören. Der Lehrer malte für die Großen Bruchzahlen an die Tafel und ging zum dritten und vierten Jahrgang hinüber. Konrad hatte schnell seine Aufgaben gelöst und starrte auf die bunte Europakarte an der Wand. Rote und weiße Papierflächen waren in den ersten Kriegsjahren jeden Tag neu gesteckt worden. Damals hatte Konrad noch vorn in den kleinen Bänken gesessen. Die Fähnchen zeigten die Fronten an. Inzwischen war Konrads Platz in der letzten Reihe. Der Krieg dauerte zu lange. Die verstaubten Fähnchen berührte niemand mehr. Am großen Wolgaknie steckte ein spitzes, rotes Zeichen. Stalingrad. Eine ganze deutsche Armee war dort vernichtet worden.

»Das erste sichtbare Zeichen vom Ende«, hatte Großvater gesagt.

»Schlaf nicht, Bienmann«, mahnte der Lehrer.

»Ich bin fertig, Herr Störm.«

»Bitte, hilf Karin. Sie kommt mit dem schriftlichen Abziehen nicht zurecht.«

Bevor Konrad aufgestanden war, wurde nach kurzem Klopfen die Tür aufgestoßen.

»Brennschere«, flüsterte Bruno Warczak. Olbrischt spähte in die Klasse. Er trug die Uniform. Die rote Armbinde glühte im Halbdunkel.

»Heil Hitler«, rief er. Der Lehrer fuhr erschreckt zusammen, riss seinen zittrigen Arm viel höher als sonst und erwiderte den Gruß.

»Der Konrad Bienmann soll heimgehen. Mit dem alten Lukas Bienmann steht es schlecht. Den Pfarrer soll er benachrichtigen.«

»Los, Bienmann, lauf!« Der Großvater! Konrad rannte los.

»Was ist mit ihm?«, fragte der Pfarrer hinter dem Schreibtisch her, und ohne eine Antwort abzuwarten, mahnte er: »Junge, nimm die Mütze vom Kopf.«

Das Blut färbte Konrads Backen.

»Ich komme mit, Junge. Wart auf mich. Du kannst die Schelle tragen.« Der Pfarrer schlüpfte in sein Rochett, beugte mühsam das Knie und barg die Hostie an seiner Brust. Konrad nahm die Schelle und lief voraus. Die Leute im Dorf knieten in den Staub nieder. Selbst Katharina wich dem Pfarrer nicht mehr aus, seit die Geschütze grollten.

»In der Not wird selbst der Teufel fromm«, spottete der Pfarrer. Doch dann brummelte er lateinische Gebete und mahnte: »Langsam, langsam, Junge. Ich bin ein alter Mann.«

Drüben, unter dem Wald, arbeitete Janosch mit den Pferden. Er war leicht zu erkennen, weil er mit seinem hölzernen Bein nicht recht fertig werden konnte und hinkte.

Schon von weitem sah Konrad die Mutter über die Straße eilen, ein weißes Tuch in den Händen. Sie lief schnell. Konrad blieb an der Tür vor Großvaters Häuschen stehen und ließ den Pfarrer eintreten. Die silbrige Schelle hielt er fest umklammert und stand noch so, als der Pfarrer nach zwanzig Minuten herauskam. Er hatte das Rochett abgestreift.

»Du hast einen Großvater, wunderbar wie …« Der Pfarrer stockte eine Weile, weil ihm niemand so recht vergleichbar schien, und sagte dann fest: »Wunderbar wie Jakob.«

Konrad fühlte sich getröstet, obwohl ihm von Vater Jakob nur einfiel, dass er zwölf Söhne gehabt hatte, während der Großvater fünf Söhne und sechs Töchter großgezogen hatte.

»Es sind immerhin auch fast zwölf«, sagte er zu sich selbst.

»Wie?«, fragte der Pfarrer.

Konrad reichte ihm verwirrt die Klingel. »Darf ich hinein?«, bat er die Mutter, die sich aus der Tür drängte.

»Natürlich. Er hat schon nach dir gefragt.«

Schnell schlüpfte Konrad in den Raum, der als Küche, Wohnstube und Schlafzimmer zugleich diente, und spähte zu dem mächtigen Bett hinüber. Mutter hatte über die blau-weiß karierten Bezüge ein weißes Tuch gebreitet. Auf dem kleinen Nussbaumtisch flackerten noch die beiden Kerzen. Auch Stehkreuz, Schälchen und Watte standen dort.

Großvaters gebogene, große Römernase stach scharf aus dem Kissen. Er hielt die Augen geschlossen. Auf Zehenspitzen trat Konrad an das Bett. Als ob er auf ihn gewartet hätte, suchte Großvaters Hand die des Enkels. Er schlug die Augen auf. Der Schimmer eines Lächelns vertrieb den blassen Schein des Todes von seinem Gesicht. »Wirst du sterben, Großvater? Du musst mir doch noch von deiner Amerikafahrt erzählen und von den Eulen im Wald, von deinem großen Hecht und von dem Marsch nach Moskau, und …« Konrad schwieg. Das Lächeln war gewachsen.

»Ich werde jetzt viel Zeit haben. Jeden Tag kann ich dir erzählen. Bis die Flucht beginnt.« Großvaters Stimme war so klar und fest wie je zuvor.

»So viel Zeit, Großvater?«

»Ja, Junge. So viel Zeit mir Gott noch schenkt. Denn die letzten Tage meines Lebens soll ich wohl in diesem Bett zubringen. Ein Schlaganfall, weißt du.«

»Die Beine?«, fragte Konrad.