Der lange Weg des Lukas B. - Willi Fährmann - E-Book

Der lange Weg des Lukas B. E-Book

Willi Fährmann

4,2
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Um 1870 bricht Lukas Bienmann zusammen mit seinem Großvater nach Amerika auf. Er will dort das Geld verdienen, das zur Deckung der Schulden seines verschwundenen Vaters nötig ist. Schon auf dem Schiff entdeckt Lukas Spuren vom Vater. Er beschließt, ihn zu suchen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 556

Bewertungen
4,2 (18 Bewertungen)
10
2
6
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel

Willi Fährmann

Der lange Weg des Lukas B.

Deutscher Jugendbuchpreis

Österreichischer Staatspreis für Jugendliteratur

Katholischer Jugendbuchpreis

Preis der Leseratten des ZDF

»Buch des Monats« der Deutschen Akademiefür Kinder- und Jugendliteratur

»Buch des Monats« der Ju-Bu-Crew Göttingen

Der Autor

Willi Fährmann,1929 geboren, holte nach einer Maurerlehre das Abitur an der Abendschule nachund studierte anschließend an der pädagogischen Hochschule.Er arbeitete als Lehrer und als Schulrat.Er zählt zu den bedeutendsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorenund erhielt zahlreiche Auszeichnungen,u.a. den Deutschen Jugendliteraturpreis für»Der lange Weg des Lukas B.«

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012© 1980 by Arena Verlag GmbH, WürzburgAlle Rechte vorbehaltenCovergestaltung: Frauke SchneiderISBN 978-3-401-80111-7www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

1

»Die Hechte werden bald beißen«, sagte der alte Mann. Sein Wort lockte die Männer aus den warmen Häusern. Noch vor Sonnenaufgang luden sie sich die Geräte auf die Schultern und zogen los. Unter ihren Stiefeln knirschte der Schnee. Das erste Licht stand kalt zwischen den Fichtenspitzen. Wenn sich die frühe Sonne groß und rotfarben über den Waldsaum schob und sich ihr Bild in dem blinden Spiegel des Sees abmalte, hatten die Männer bereits mit schweren Beilen Löcher in die dicke Eisdecke geschlagen und sie legten ihre Schnüre aus. Weit über den See gestreut, hockten sie da, regungslos, schwarze Gestalten, die Köpfe tief in die Pelze geduckt, Katzen vor Mauslöchern. Später füllten sie aus den Säcken Kohle in kleine Eisenkäfige und zündeten Feuer an. Es war, als habe die Sonne helle Glutfunken über den See geworfen. Den Plan für die Käfige hatte der alte Mann, als er noch jung war, mit einem Stift auf einen breiten Holzspan gezeichnet. Der Schmied hatte nach diesem Plan, kopfschüttelnd über den neumodischen Kram, aus dünnen Eisenstangen geschmiedet, was der alte Mann sich ausgedacht hatte. Heute schüttelte kein Schmied in der ganzen Gegend mehr seinen Kopf darüber. Die Feuerkäfige hatten sich weit verbreitet und es gab kaum einen Eisfischer an den Seen, der ohne ein solches Holzkohlengitter zum Fange auszog.

»Die Glut lockt die Fische an«, mutmaßten viele. Sicherer jedoch und wohlig für jeden war die Wärme, die das gefangene Feuer ausströmte, und angenehm war es, dass sich die Männer ein paar Fische über der Glut rösten konnten. Würziger Bratgeruch wehte dann über das Eis und die Reifkristalle in den Schnurrbärten der Männer tauten ab, wenn sie sich die heißen Fischstücke in den Mund schoben.

In diesem Jahr blieb der große Fang lange aus.

»Er wird alt«, spotteten die Männer, aber der alte Mann hörte darüber hinweg.

Bevor sie schließlich heimgingen, warfen sie die wenigen Fischchen, die ihnen während der langen Stunden an den Haken gegangen waren, zornig auf das Eis. »Lieber gar nichts als so was«, riefen sie verächtlich und spuckten auf die handlangen Weißfische, die doch nur Spott im Dorfe herausfordern würden. Lieber kamen sie mit leeren Händen.

Der alte Mann fürchtete keinen Spott und kein hämisches Lachen, wenn er nach Hause kam. Seine Frau kannte die unberechenbaren Launen der Fische, denen jeder Fischer ausgeliefert ist. Sie wusste, dass der alte Mann mit den Fischen große Geduld hatte und sich nicht entmutigen ließ. Auch an diesem Tag waren die anderen Männer längst auf dem Heimweg, als er endlich dem Jungen das Zeichen gab die Schnüre einzurollen.

Der alte Mann schritt von Eisloch zu Eisloch und sammelte die kleinen Fischchen, spülte sie sorgsam ab und steckte sie in einen engmaschigen Netzsack. Als er die letzten Löcher erreichte, zog sich schon ein faltiges, sprödes Eishäutchen über das Wasser.

»Wird kalt heute Nacht, Luke«, sagte er zu dem Jungen.

»Warum sammelst du die Mistfische, die die anderen weggeworfen haben?«, fragte der Junge und er schämte sich für den alten Mann.

»Man muss sie nehmen, wie sie kommen«, antwortete der alte Mann und stapfte los. Stumm und trotzig ging der Junge hinter ihm her. Er wusste noch nicht, warum der alte Mann jeden Pfennig zweimal umdrehte, und ahnte nicht, dass er die Fische mitnahm, um am Abendessen zu sparen.

Aber der alte Mann wusste, dass ein zusammengesuchtes Abendessen wieder ein paar Groschen von der Schuldenlast abtrug, Schulden, die ihm sein Sohn auf den Buckel geladen hatte, Schulden, die den alten Mann zu Boden drücken wollten. Von all dem wusste der Junge noch nichts.

Bald musst du ihm alles sagen, dachte der alte Mann, als er später beim Abendessen bemerkte, wie der Junge die gebratenen Fischchen verächtlich beiseite schob und auf einem Kanten trockenen Brotes herumkaute.

Der alte Mann hatte es immer wieder aufgeschoben, dem Jungen alles zu sagen. Er sah, dass der Junge stolz war, und er war nicht sicher, ob er stark genug sein würde alles zu wissen. Der alte Mann wollte, dass der Junge seinen freien Blick behielt und die Augen nicht niederschlug, wenn er alles gehört hatte. Der älteste Sohn des Mannes war der Vater des Jungen und es war dem alten Mann selbst schwer gefallen, den Blicken derer standzuhalten, die alles wussten.

Seit gestern gingen sie nun allein zum See, der alte Mann und der Junge. »Heute hat er nicht einmal Köderfische mitgebracht«, spotteten die Männer, als der alte Mann mit dem Jungen in der Abenddämmerung des ersten Tages zurückkam.

Der alte Mann erwiderte kein Wort und ging in sein Haus. Die Männer versuchten den Jungen auszuhorchen.

»Gar nichts gefangen?«, fragten sie.

»Nein«, antwortete der Junge einsilbig.

»Nicht mal ‘nen Köderfisch gefangen?«

Der Junge zögerte, antwortete aber dann: »Nein, wir haben heute nichts gefangen.«

Da lachten die Männer und schüttelten ihre Köpfe über den alten Mann. »Seit der Karl weg ist«, sagten sie leise, »seitdem ist mit dem Bienmann nichts mehr los.«

Doch der Junge hörte das nicht. Er hatte sich daran gewöhnt, dass hinter seinem Rücken getuschelt wurde, seit sein Vater fortgegangen war.

Der Junge dachte daran, dass der alte Mann der listigste und erfahrenste Eisfischer im ganzen Dorfe war. Tagelang hatte er mit den Männern auf dem Eis gesessen und sich wie sie mit den mageren Köderfischen begnügt, die der Zufall ihm an den Haken spießte. Aber an dem Tage, als sie zum ersten Mal den See für sich allein hatten, hackte der alte Mann das Eis hinter der Landzunge unter einem trockenen Erlengebüsch auf. Schon dachte der Junge, der alte Mann sei nun wirklich verrückt geworden und wolle dicht unter dem Ufer sein Glück versuchen, da sah er, wie er unter die Eisdecke griff, einen dort verborgenen Strick fasste und einen großen, gelöcherten Holzkasten hervorzog. Der Junge packte zu, denn der Kasten war schwer. Endlich hatten sie ihn auf das Eis gehoben. Der Kasten hatte einen verriegelten Deckel. Den öffnete der alte Mann und sagte: »Schau hinein, Luke.« Der Junge spähte in den Kasten. Das Wasser schoss durch die Löcher auf das Eis. Bald sah der Junge, dass es in dem Kasten von Fischen wimmelte.

»Köderfische! Karauschen!«, jubelte der Junge und umarmte den alten Mann so heftig, dass dieser schwankte.

»Karauschen sind die besten, Luke«, sagte der alte Mann. »Sie haben ein zähes Leben.«

Sie griffen einige etwa viertelpfündige Fische heraus, steckten sie in den Netzsack und versenkten den Kasten wieder unter dem Erlengebüsch. Mit den Fischen zogen sie zu dem Eisloch des alten Mannes und der Junge half ihm beim Ködern der Schnüre.

»Wenn du willst, Luke«, sagte der alte Mann, »dann mach dir auch eine Schnur fertig.«

Der Junge schlug, nicht weit von dem alten Mann entfernt, ein Loch ins Eis und senkte seine Schnur hinein. Sie warteten den ganzen Tag, aber sie fingen nichts.

»Morgen«, sagte der alte Mann, als der Junge ihn am Nachmittag fragte, ob die Hechte aus dem See weggeschwommen seien. »Morgen fangen wir Fische. Ich spüre es in den Knochen. Das Wetter wird bald umschlagen. Wenn es anderes Wetter gibt, dann werden die Fische beißen.«

Was der alte Mann vorausgesagt hatte, traf ein. Gegen elf Uhr am nächsten Morgen hatte er schon vier schöne Barsche und zwei Hechte gefangen, jeder Hecht an die fünf Pfund schwer. Dem Jungen waren zwei Barsche an den Haken gegangen. Einmal war ein mächtiger Ruck durch seine Schnur gefahren, aber er war aufgeregt gewesen und hatte zu schnell den Arm mit der Schnur hochgerissen. Da ließ der Fisch den Köder fahren. Geduldig erklärte ihm der alte Mann, was er falsch gemacht hatte. »Komm ganz leise zu mir und schau«, sagte er, »bei mir hat einer gebissen.« Der Junge band seine Schnur an einen Stecken und legte den quer über das Eisloch. Dann schlich er zu dem alten Mann hinüber. Der hielt die Schnur ganz locker zwischen Daumen und Zeigefinger und der Junge sah, wie die fein geknüpften Pferdehaare gleichmäßig ins Wasser glitten.

»Ein Barsch«, sagte der alte Mann. Die Schnur hing eine Weile still und locker im Wasser.

»Schlag an«, sagte der Junge. »Er wird dir sonst abgehen.«

»Wart es ab, Luke. Er schmeckt gerade die Karausche. Wenn er sie fest gefasst hat und jetzt noch einmal loszieht, dann schlage ich an.«

Es dauerte ein, zwei Minuten und der Junge dachte schon, der Fisch sei längst mit der Beute davon, da straffte sich die Schnur wieder und glitt weiter ins Wasser hinein. Der alte Mann saß in der Hocke, jeden Muskel gespannt. Zwei Meter Schnur ließ er noch weggleiten, dann schnellte er hoch und riss sie empor. Mit ruhigen Zügen holte er den Fang ein. Der Junge sah im Wasser des Eislochs die goldene Bauchseite des Fisches aufschimmern, schob den Käscher unter die Beute und hob sie aufs Eis.

»Ein herrlicher Barsch«, jubelte er. »Und schwerer als die anderen ist er auch.«

Der alte Mann säuberte den Fisch und sagte: »Ich vertrete mir ein bisschen die Beine, Luke. Später bringe ich neue Köderfische mit. Sieh zu, dass du etwas fängst. Wo ein Barsch ist, da sind auch mehrere.«

Er ging über das Eis dem Ufer zu.

Der Junge kehrte zu seinem Eisloch zurück und löste die Schnur von dem Stock. Seine Mutter hatte ihm dicke Wollhandschuhe gestrickt. Nach seiner Anweisung fehlten die Spitzen des Daumens und des Zeigefingers. »Ich habe dann mehr Gefühl für die Angelschnur«, hatte der Junge gesagt. Er hielt die Pferdehaare ganz lose zwischen den Fingern. In großen Schlingen sorgfältig ausgebreitet, lag das Ende der Schnur auf dem Eis. Wenn der Junge am Eisloch saß, dann hatte in seinem Kopf kein anderer Gedanke Platz als der an den Fisch, nicht einmal der an Lisa Warich. Er nahm kaum wahr, was um ihn herum geschah, sah nur den Wasserspiegel und sein Gerät. So entging ihm auch ein leises, ungewöhnliches Zucken nicht, das fremd durch die Schnur zitterte. Er wagte kaum zu atmen. Das war nicht die Bewegung der geköderten Karausche. War es ein Fisch? Ein großer Fisch vielleicht? Doch nicht das geringste Zupfzeichen deutete in den nächsten Minuten an, dass ein Fisch angebissen hatte.

Vielleicht hat sich nur die Karausche wild bewegt, dachte der Junge. Aber dann glitt ihm die Schnur schnell durch die Hand und er wusste, das war ein Anbiss.

Es dauerte lange, bis die Schnur für einen Augenblick zur Ruhe kam. Dann wurde sie weiter von der unsichtbaren Kraft ins Wasser gezogen, schnell und ohne Zuckeln. Besorgt sah der Junge, wie Schlaufe um Schlaufe der Schnur ablief und es bis zu ihrem Ende nur noch wenige Meter waren.

Er reißt mir die ganze Leine weg, dachte der Junge. Ich muss bald anschlagen. Er drehte die Schnur zweimal um seinen Handschuh und schleuderte seinen Arm so hoch er konnte. Es war ihm, als habe er den Haken auf dem Grunde des Sees in einen Baumstamm gerammt.

»Großvater«, schrie der Junge. Doch von dem alten Mann war ­weit und breit nichts zu sehen. Er war hinter der Landzunge ver­schwunden.

Die Schnur straffte sich. Die Wassertropfen zerstoben zu kleinen Perlen und sprühten von den Pferdehaaren. Wie eine Bogensaite spannte sich die Schnur. Es kam dem Jungen wie eine Ewigkeit vor, wie er dort stand, die Beine weit gespreizt, unfähig die Schnur auch nur zehn Zentimeter herauszuziehen, ohne sie zu zerreißen. Am anderen Ende der Schnur rührte sich nichts. Hatte sich der Haken irgendwo auf dem Grunde des Sees festgespießt? Es dauerte eine Weile, bis der Junge aus der Ungewissheit befreit wurde. Die Schnur wurde mit einem Male schlaff und er konnte sie Zug um Zug einholen. Er achtete darauf, dass sie in großen Schleifen auf das Eis fiel, und das war gut so; denn plötzlich zog der Fisch wieder davon und es brannten dem Jungen die Finger von der hindurchschießenden Schnur. Er vermochte den Fisch nicht zu halten. Da wusste der Junge, dass er einen großen Fisch am Haken hatte. Alle Aufregung fiel von ihm ab und das Zittern in seinen Knien verebbte. Er war jetzt froh, dass der alte Mann nicht in der Nähe war. Mit kühlem Kopf tat er, was er schon hundertmal im Halbschlaf und in Träumen getan hatte. Er kämpfte mit dem Fisch, zog die Leine ein, wenn sie schlaff wurde, gab geschmeidig nach, wenn der Fisch zerrte, achtete darauf, dass die Schnur der Eiskante fernblieb und sich an den scharfen Bruchstellen nicht durchscheuern konnte, schob mit dem Fuß den großen Käscher näher heran, fühlte, als der Fisch sich eine Weile ruhig gegen seine Kraft stemmte, mit der Hand nach dem Messer im Gürtel, spähte nach dem Beil, das er benutzen wollte, wenn es ein ganz großer Fang war. Allmählich spürte er, wie der Fisch ermattete. Seine Züge wurden kürzer, die Pausen länger. Schließlich holte der Junge Armlänge um Armlänge die Schnur ein und es war ihm, als ob der Fisch mit einem Male alle Kraft verloren hätte. Nur das Gewicht spürte der Junge in den Armen.

Er machte große Augen, als er den Fisch dicht unter die Oberfläche des Wassers gezogen hatte. Noch niemals zuvor hatte der Junge einen so gewaltigen Hecht gesehen. Er legte die Schnur auf das Eis und trat mit seinem Stiefel darauf. Die weiße Bauchseite nach oben gekehrt, schwebte der Fisch im schwarzen Kreisrund des Eisloches. Der Junge fasste den Käscher fest mit beiden Händen und stülpte den Netzsack über den Kopf des Fisches. Ein letzter, harter Schlag des Schwanzes peitschte das Wasser und warf den Jungen beinahe in sein eigenes Eisloch. Er glitt aus, gewann aber wieder festen Fuß, zerrte den Fisch heraus und schleifte ihn weit auf das Eis, griff nach dem Beil und schlug die Schneide durch das Netz hindurch dem Fisch hinter dem Kopf ins Rückgrat.

Die durchgeschlagenen Maschen ließen den Käschersack zerfallen. Frei lag der Hecht, das Beil im Genick, den Weidenring des Käschers rund um den Leib.

»Was für ein Fisch«, sagte der alte Mann. Der Junge fuhr herum. Er wusste nicht, wie lange der alte Mann schon in seiner Nähe gestanden und ihm zugeschaut hatte. Er stürzte auf ihn zu und verbarg sein Gesicht im Pelz des alten Mannes.

»Du hast ganz allein einen riesigen Fisch gefangen«, sagte der alte Mann. Er klopfte mit seiner Hand immer wieder leicht auf den Rücken des Jungen. Er ist ein Mann, dachte er. Morgen will ich ihm alles erzählen.

2

Nach so einem Fang erscheint dir jeder andere Fisch wie ein Nichts«, sagte der alte Mann. Sie packten ihre Geräte zusammen, obwohl die Sonne noch hoch über den Fichten stand. »Du trägst deinen Fisch selbst«, sagte der alte Mann und lud sich zu seinem eigenen Angelzeug die Sachen des Jungen auf den Rücken. Der Junge schüttelte den Kohlenstaub aus dem Sack, in dem er die Holzkohle hergetragen hatte, breitete sich das Tuch über Schulter und Rücken und der alte Mann half ihm den Fisch so darauf zu legen, dass er nicht herunterrutschen konnte. »Greif ihm nicht ins Maul«, mahnte er. »Du weißt, so ein alter Bursche hat dort Rasiermesser statt der Zähne.«

Das hatte der Junge längst gespürt; denn als er dem Fisch einen Strick durch die Kiemen gezogen hatte, war er mit seiner Hand an die scharfen Hornzacken geraten und aus den Kratzern quer über dem Handrücken quoll immer noch das Blut. Er hatte die Hand schnell in seinem Handschuh versteckt.

Das freie Ufer des Sees hatten sie bald hinter sich gelassen und gingen durch die Wälder. Sie schritten hintereinander, der alte Mann voraus und der Junge in seiner Spur. Der Schnee lag in diesem Jahr nur wenig über einen halben Meter hoch und der Pfad war von den vielen Männerfüßen, die in den Tagen vorher zum See gelaufen waren, festgetreten. Unter dem Gewicht des Fisches begann der Junge trotz des scharfen Frostes zu schwitzen und er schnürte sich den Pelz am Halse auf. Aber er spürte keine Müdigkeit. Der Wald lichtete sich. Sie erreichten die Straße, die vom Dorfe zur Kreisstadt führt. Sie konnten jetzt nebeneinander gehen. Die Pferdeschlitten hatten den Schnee festgefahren. Waren die Schritte des Jungen, wenn er in den letzten Tagen die eingesammelten Köderfischchen zu tragen hatte, langsamer geworden, je näher sie dem Dorfe kamen, so schienen ihm heute neue Kräfte zu wachsen, als er in der Ferne die lang gestreckte Doppelzeile brauner Holzhäuser ausmachen konnte. Am Eingang des Dorfes verbreiterte sich die Straße. Zu beiden Seiten waren die Wohnhäuser aufgereiht. Die Giebel zeigten zur Straße hin. Sie mussten an der Schule vorbei und an der Kirche und durch das ganze Dorf; denn das Haus des alten Mannes lag am Ende der Straße. Es war, wenn man von der Kirche absah, das größte Haus im Ort und bei weitem das schönste. Der alte Mann hatte es selbst geplant und gezimmert. Überhaupt hatte er die meisten Häuser im Dorfe aufgerichtet, zuerst mit seinem Vater und seinen Brüdern, später mit Gesellen und Arbeitern. Seine Häuser waren solide gebaut und aus dicken, sauber geschlagenen Balken fest gefügt, alle dunkelbraun gebeizt und mit dichten, spitzen Dächern versehen. Die Holzhäuser hatten nach und nach die drei Dutzend Lehmhütten verdrängt, die ursprünglich im Dorf gestanden hatten. Das Haus des alten Mannes ragte hervor, hatte mit Brettern kunstvoll vertäfelte Giebel, ein ausgebautes Dachgeschoss, größere Fens­ter mit klaren Scheiben und eine aus reich verzierten Balken zusammengefügte Laube vor der Haustür.

Nachrichten laufen schneller als Menschen. So kam es, dass die Mutter des Jungen und seine Großmutter ihnen schon im Hofe entgegeneilten, die schwarzen Wolltücher flüchtig um Schultern und Leib geschlagen.

Anna und Katinka, die beiden jüngsten Töchter des alten Mannes, kaum älter als der Junge, hatten nicht einmal Zeit gefunden ihre Pelze überzuwerfen. Sie standen in der Kälte und zitterten und bestaunten den Fisch. Der Junge ließ ihn von der Schulter gleiten und hängte ihn an den eisernen Haken, der in den Pfosten der Laube geschlagen war.

Nachbarn liefen im Hof zusammen.

»Was für ein prächtiger Fisch!«

»Einen größeren Hecht habe ich nie gesehen.«

»In das Maul passt ein Männerkopf glatt hinein.«

Sie klopften dem alten Mann auf den Rücken und ihre Augen funkelten, als ob sie selbst den Fisch an der Leine gehabt hätten. »Lasst die Waage holen«, rief Lenski, einer der Männer, die all die Tage vergebens mit aufs Eis gelaufen waren. »Wir wollen sehen, ob er schwerer ist als der Hecht, den Gustav Krohl vor Jahren aus dem See gezogen hat.«

»Ja, wir wollen die Waage holen«, stimmte der alte Mann zu.

Anna und Katinka liefen ins Haus. »Aber zieht euch den Pelz an und auch die Stiefel«, schrie die Mutter ihnen nach.

Die Lammfellmäntel übergehängt, kamen sie wenig später wieder in den Hof. Anna trug die große Waage, zwei mächtige Messingschalen an einem Doppelarm. Katinka hielt das Brett mit den Gewichten.

Der alte Mann hängte die Waage an den Querbalken über dem Laubeneingang. Ganz genau über der Marke, die das Gleichgewicht anzeigte, pendelte sich die Zunge ein. Er packte den Fisch und legte ihn vorsichtig auf die eine Schale. Weit hing der Schwanz über den Rand und auch der gewaltige Kopf des Fisches fand keinen Platz in dem Schalenrund. Tief sank die Last. Der Arm, an dem die andere Waagschale hing, schlug bis unter den Balken. Der alte Mann legte die Gewichte hinein, zuerst das Fünfkilostück, dann das Dreikilogewicht, auch das von zwei Kilo und schließlich die beiden Einkilosteine. Aber noch hob sich die Schale mit dem Fisch nicht.

»Ich hole die Küchengewichte aus dem Haus, Vater«, sagte die Mutter des Jungen. Der alte Mann musste noch einige kleinere Gewichte auflegen, bis endlich der Waagenarm zu zittern begann und sich ins Gleichgewicht hob.

Der Junge hatte jeden Stein mitgezählt und rief: »28 Pfund und ein halbes wiegt mein Fisch. Er ist mehr als drei Pfund schwerer als der von Gustav Krohl.«

Die Männer lachten und Lenski fragte den alten Mann: »Was meint der Angeber, Friedrich Bienmann, wenn er sagt ›mein Fisch‹?«

»Nun«, antwortete der alte Mann, »es ist sein Fisch.«

Die Männer wollten ihn nicht verstehen und Lenski fragte ihn wieder: »Du hast dem Jungen diesen großen Fisch geschenkt?«

»Nein. Er hat den Fisch gefangen. Ganz allein hat er den Hecht aus dem See gezogen. Ich habe nicht einmal gesehen, wie er es geschafft hat. Ich war fortgegangen und kam erst zurück, als er ihn aufs Eis stieß.«

Einen Augenblick verschlug es den Männern die Sprache. Dann aber bildete sich ein Halbkreis um den Jungen. Sie hatten tausend Fragen und merkten gar nicht, dass der alte Mann den Fisch ins Haus trug und die Frauen die Waage wieder an ihren Platz in der Stube hängten.

»Kommt herein«, lud der alte Mann die Nachbarn ein. »Drinnen ist es warm.« Bald hatten sie ihre Pelze im Flur auf die Haken gehängt, die Stiefel ausgezogen und ihre Pelzmützen ins Genick geschoben. Sie saßen auf der Bank am Kachelofen, der von der Stirnwand des großen Zimmers weit in den Raum hineingebaut war und eine wohlige Wärme ausströmte. Der Junge musste immer wieder ausführlich berichten, wie der Fisch gebissen und gekämpft und wie er ihn schließlich aus dem Loch herausgezogen und mit dem Beil erschlagen hatte. Immer mehr Menschen kamen. Der Fisch war auf den langen Tisch gelegt worden. Die Gäste, die später kamen, betasteten ihn, hoben seine Kiefer voneinander, und als der Fisch steif zu werden begann, klemmten sie ihm ein Holzscheit zwischen die Zähne, damit die Höhle des gewaltigen und mit vielen hundert Hornzacken ausgestatteten Rachens bewundert werden konnte.

Auch der Lehrer trat in die Stube. Er war ein lang aufgeschossener, hellblonder Mann von etwa 25 Jahren.

»Ein ungewöhnlich großer Hecht«, lobte er. »Was macht ihr damit?«

»Was macht man schon mit einem Hecht? Die Bienmanns werden ihn kochen und essen«, antwortete Grumbach, ein junger Zimmergeselle. »Mir läuft bei dem Gedanken an den Fisch das Wasser im Munde zusammen.«

»Du hast’s nötig«, rief Hugo Labus und tätschelte mit der flachen Hand Grumbachs beträchtlichen Bauch.

»Ist nur Winterspeck«, verteidigte Grumbach gutmütig seine Leibesfülle.

»Friedrich Bienmann«, sagte der Lehrer und wandte sich dem alten Mann zu, »was halten Sie davon, wenn Sie den Kopf des Fisches der Schule schenken?«

»Müssen die Lehrer schon Fischköpfe kochen? Zahlt man ihnen so wenig Gehalt?«, rief Lenski und alle lachten.

»Nein«, sagte der Lehrer. »Ich will den Kopf nicht essen, sondern präparieren. Ich weiß, wie man das macht. Die Kinder können noch jahrelang den Fisch sehen, den der Lukas gefangen hat.«

»Was meinst du selber dazu, Luke?«, fragte der Großvater.

»Was soll ich dazu sagen?«, antwortete der Junge unbestimmt.

»Ich rate dir, verschenke den Kopf nicht.«

»Und warum, wenn ich Sie fragen darf, Friedrich Bienmann, soll der Junge den Fischkopf nicht an die Schule verschenken? Sie sind doch sonst immer dafür, wenn es um eine gute Schule geht.«

»Schon, schon, Herr Lehrer, aber wissen Sie, wenn der Hechtkopf erst an der Wand hängt, dann ist es aus mit dem Fisch. Kein Zentimeterchen wird der Hecht dann noch wachsen in den nächsten Jahren. Jeder kann genau sehen, wie groß er gewesen ist, und jeder wird wissen, dass er 28 Pfund gewogen hat und ein halbes dazu.«

»Er wird nicht mehr wachsen? Friedrich Bienmann, haben Sie je einen Fisch gesehen, der tot auf dem Tisch gelegen hat und doch noch gewachsen ist?«

»Aber ja«, sagte der alte Mann. »Denkt an den Karpfen, Männer, den Pilar vor zehn Jahren gefangen hat. Moos hatte der auf dem Rücken und talergroße Schuppen. Jedes Jahr ist der Fisch ein Stückchen gewachsen. Und wenn die Leute im Dorf heute von Pilars Karpfen erzählen, dann ist er schwer wie ein Seehund und seine Schuppen sind groß wie Untertassen gewesen. Und solch ein Fisch«, er zeigte mit der ausgestreckten Hand auf den Hecht, »solch ein Fisch ist das auch. Dem Karpfen und dem Hecht geht es wie den Königen. Je länger sie tot sind, umso größer werden sie.«

Nun versuchte der Lehrer den Hecht kleiner zu machen. Er erzählte davon, dass in jener Gegend, aus der er stammte, weit weg von Ostpreußen, am Niederrhein, die Fischer Salme fingen von 50 und mehr Pfund Gewicht, ja, dass noch in dem Jahre, als er weggegangen war, ein Stör ins Netz gegangen sei, der an die 90 Pfund auf die Waage gebracht habe.

»Wie lange sind Sie schon weg?«, fragte ihn der alte Mann.

»Sie wissen es doch. Seit drei Jahren bin ich hier Lehrer.«

»Für drei Jahre ist Ihr Stör aber ganz schön gewachsen«, lachte der alte Mann. »Sie sehen, wie es mit den toten Fischen geht.«

»Ich habe ihm kein Pfund dazugegeben«, verteidigte sich der Lehrer. »Wenn einer von euch mal an den Niederrhein kommen sollte, dann fragt doch danach. Jeder kann euch bestätigen, dass die Salme und die Störe so schwer und noch schwerer sein können, wenn sie den Rhein hinaufziehen.«

»Warum sind Sie dann hergekommen, wenn es in Ihrer Heimat so große Fische gibt, wenn Sie in einem Steinhaus gewohnt haben und wenn Ihr Dom so groß ist, dass mehr als tausend Leute in den Bänken sitzen können?«, fragte Lenski hämisch. »Was waren das für Sünden, die Sie aus dem Paradies vertrieben haben?«

Der Lehrer verstummte. Schließlich sagte er: »Kinder gibt es überall. Lehrer werden überall gebraucht.« Dann zog er sich den Pelz über und ging hinaus.

»Irgendetwas steckt dahinter, dass er hier Lehrer ist«, vermutete Lenski. »Warum kommt solch ein Mensch sonst zu uns in den Osten, in ein Dorf an der Grenze?«

Inzwischen hatten die Frauen auf dem großen Herd am anderen Ende der Stube aus den Barschen und den kleineren Hechten eine Fischsuppe gekocht.

Jeder probierte davon und Lenski sagte: »Solltest deine Alte mitnehmen, Meister, wenn wir im Sommer auf den Bau gehen. Oder doch wenigstens deine Schwiegertochter, die Marie. Dann bekäme der ganze Trupp gutes Essen zwischen die Rippen und nicht immer nur den Fraß, den die Lehrlinge kochen.«

»Ein fetter Ochse arbeitet nicht gern«, wehrte der alte Mann ab. »Und außerdem, weiß der Kuckuck, ob wir im Frühjahr überhaupt losziehen. Die Zeiten sind schlecht. Die Ernte war mager. Wer kann sich in solchen Tagen schon ein Haus bauen lassen? Jedenfalls habe ich noch nicht einen einzigen Auftrag.«

»Wir müssten in die Staaten gehen«, sagte Gerhard Warich, ein kleiner Mann, dessen blasses Gesicht beinahe ganz unter der Pelzmütze verschwand. »Mein Bruder Bruno hat mir geschrieben. Gute Zeiten sind dort für Zimmerleute. Sie hatten Krieg dort. Viele Häuser sind abgebrannt. Da haben Zimmerleute alle Hände voll zu tun.«

»Dem Krieg folgt der Hunger, Gerhard Warich. Das weiß doch jeder. Was sollen wir in einem Land, in dem der Krieg erst gerade zu Ende ist?«, sagte der alte Mann.

»In Amerika ist alles anders«, ereiferte sich Warich. »Mein Bruder Bruno schreibt, ich könnte mir keine Vorstellung davon machen, wie reich das Land ist. Fruchtbare Erde, so weit das Auge schauen kann. Laubwälder, herrliche Stämme, Bauholz, so viel du nur willst. Und du kannst es einfach schlagen, brauchst niemand zu fragen. Der Wald ist für alle da. Wir sollten es wagen. Wir sind doch die beste Zimmerkolonne weit und breit.«

»Ich würde vielleicht gehen, für ein, zwei Jahre«, meinte Lenski. »Ich würde gehen, wenn der Friedrich Bienmann mitgeht.«

»Was sind wir ohne dich, Friedrich Bienmann?«, sagte Lenski. »Du hast die Konstruktionen im Kopf. Du reißt die Balken an und machst die Pläne. Weißt du noch, wie du die Kirche in Leschinen gebaut hast? Keiner hat geglaubt, dass du den Turm je aufrichten könntest, als das Gewirr der Balken da auf dem Bauplatz ausgebreitet lag, behauen und gekerbt. Und dann, als auch das letzte Holz fertig war, haben wir den Turm zusammengebaut. Nicht ein Holz hat nachgeschlagen werden müssen. Gepasst hat alles auf den Zentimeter. Und als wir nachher das Lot von der Galerie herabgelassen haben, da stand der Turm wie eine Eins.«

»Ja, ja, so war das«, bestätigten die Männer. »Wir würden schon rübergehen, wenn du, Friedrich Bienmann, mit uns gingst.«

Doch der alte Mann antwortete nicht. Er dachte, dass er all seine Zimmermannskünste seinem Sohne Karl hatte zeigen wollen. Und der hatte einen hellen Kopf und kapierte schnell. Aber es war anders gekommen. Karl war verschwunden. Und er musste nun auch noch die Sorgen für seine Schwiegertochter und den Jungen tragen. Er schaute auf die junge Frau, die klein und zart am Feuer stand und doch Willenskraft und Zähigkeit genug besaß den großen schweren Eisentopf ganz allein vom Herd zu nehmen.

Er hat eine solche Frau nicht verdient, dachte der alte Mann. Ich hätte den Mund halten sollen. Aber ich habe das Unglück selbst herbeigeredet. Er hob seine Suppentasse vom Boden und rief: »Marie, schenk mir noch von der Fischsuppe ein.«

Seine Schwiegertochter kam und füllte seine Tasse.

»Kannst stolz sein auf deinen Luke. Er ist fast schon ein Mann.«

Sie blieben an diesem Abend noch lange beieinander. Lenski hatte eine Flasche Kartoffelschnaps spendiert. Sie erzählten von großen Fischen, von den Wölfen, die in diesem Winter noch nicht gekommen waren, vor allem aber von Amerika, und es schien ihnen ein Land voller Wunder zu sein, in dem ein geschickter Zimmermann das Gold auf der Straße finden konnte. Es ging schon auf Mitternacht zu, als Mathilde, eine Tochter des alten Mannes, die an die zwanzig war und tagsüber auf dem Gutshof arbeitete, nach Hause kam.

»So spät heute?«, fragte der alte Mann.

»Sie hatten ein Fest drüben. Der Baron ist gekommen. Er will dich morgen um zehn sprechen, Vater.« Sie schaute sich in der Stube um. »War der Lehrer nicht da?«, fragte sie.

»Hast ein Auge auf den Lehrer geworfen, wie?«, versuchte Lenski sie zu necken.

Aber sie ging nicht darauf ein. »Ich bin müde, ich gehe ins Bett. Wir können morgen zusammen zum Gut gehen, Vater. Ich muss auch um zehn Uhr dort sein.«

»Ist gut.« Der alte Mann versank ins Grübeln. In zwei Jahren hatte er nicht mehr als 325 Taler zurückzahlen können von der Schuld seines Sohnes. Der Baron schickte nach ihm. Er hatte nur 180 Taler in den letzten drei Monaten zusammengekratzt. Für 2000 Taler hatte er damals für seinen Sohn Karl gebürgt. Was sollte nur werden, wenn er dem Baron wieder nicht genug zurückzahlen konnte? Ein anderer Herr hätte ihm wahrscheinlich schon Haus und Hof und Geschäft unter den Hammer gebracht. Aber die Geduld des Barons hatte auch ihre Grenzen. Schon im Sommer hatte er viel von seiner Freundlichkeit verloren, als der alte Mann nur 150 Taler auf den Tisch zählen konnte. »Die Zeiten sind schlecht, Bienmann, ich weiß es«, hatte er gesagt. »Aber für mich sind sie nicht besser als für dich. Denke daran und sieh zu, wie du das Geld zusammenbekommst.«

»Ja, Herr«, hatte er geantwortet und es war ihm schwer gefallen, die Augen nicht niederzuschlagen.

»Schluss jetzt«, brummte er und stand auf. »Es ist genug gefeiert für 28 Pfund Fisch. Geht nach Hause, Leute.«

Der Junge war eingeschlafen und schreckte von dem Gepolter der Füße und vom Stühlerücken auf.

»Eins wollte ich noch fragen, Luke«, sagte Lenski, »hat der Fisch tatsächlich auf ein mickriges Rotauge angebissen?«

»Nein«, antwortete der Junge schlaftrunken. »Eine Karausche habe ich ihm an den Haken gesteckt, eine fette Karausche.«

Der alte Mann lachte. »Du bist ein raffinierter Mann, Lenski. Hast es aus dem Jungen herausgelockt. Aber ich will euch allen sagen, wo ihr die Karauschen findet. Ich habe sie in einem Fischkasten unter dem Eis verborgen. An der Landzunge haben wir heute Morgen das Loch geschlagen. Nehmt von den Köderfischen, das heißt, wenn ihr überhaupt noch zum Fischen geht.«

»Und ob wir zum Fischen gehen«, sagte Lenski. »Und danke für die Köderfische.«

3

Der alte Mann hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan. Unruhig wälzte er sich in dem breiten Bett von einer Seite auf die andere, vorsichtig, damit er seine Frau nicht aufweckte. Sie schliefen allein in der kleinen Stube. Das Haus war groß geworden, seit die ältesten Kinder fort waren. Karl hatte sich davongemacht und kein Mensch konnte sagen, wohin. Weit weg im Elsass wohnte seine Tochter Paula. Sie wollte unbedingt einen Zollbeamten heiraten, der wenige Monate nach der Hochzeit versetzt worden war. Und Martin, sein zweiter Sohn? Gegen seinen väterlichen Rat war er in den Westen an die Ruhr gezogen und hatte dort Arbeit gefunden. Früher hatte der alte Mann keine schlaflosen Nächte gekannt.

»Du schläfst wie ein Klotz«, hatte Hedwig, seine Frau, gesagt. Aber seit sein Ältester, der Karl, herangewachsen war, gab es viele Gründe für schlaflose Stunden. In solchen Nächten machte sich der alte Mann Vorwürfe. Tausend Gedanken quälten ihn. Vielleicht, so sagte er sich, wäre alles anders gekommen, wenn er Martin in die Zimmermannslehre genommen hätte und nicht den Karl. Aber es sah alles so vernünftig aus. Martin nach Ortelsburg in die Schmiedelehre, Karl sollte Zimmermann werden. Sie würden gemeinsam das Geschäft vergrößern. Martin ist ein guter Handwerker geworden. Aber Karl hätte doch wohl besser auf die Kunstschule nach Königsberg gepasst. Schon als Junge hatte er den Zimmermannsstift lieber zum Malen in die Hand genommen statt nach der Säge oder der Axt zu greifen. Niemals hatte er gerade Linien von Schwellen und Balken, Pfosten und Pfetten gezeichnet. Immer waren ihm unter der Hand höchst nutzlose Bilder entstanden, Bilder von Vögeln und Pflanzen, von Pferden und Kühen. Das alles mochte in den Kindertagen noch hingehen. Aber als Karl aus der Schule kam und mit dem alten Mann und mit der Zimmerkolonne als jüngster Stift loszog, da wurde es schlimm. Was hätte er alles lernen können von dem alten Mann, der als der beste Zimmermeister in der ganzen Gegend bekannt war und der schon gleich nach dem Tode seines Vaters voll Respekt »der alte Mann« genannt wurde, obwohl er damals erst knapp über vierzig gewesen war. Was hätte sein Sohn alles lernen können!

Stattdessen ging der Lehrling Karl dem Holz aus dem Wege. Tausend Ausreden und Vorwände fielen ihm ein, um sich von der Baustelle wegzustehlen. Meist fand ihn der alte Mann dann in der Hütte der Zimmerleute sitzen, den Stift in der Hand. Oft genug bekritzelte er das teure Zeichenpapier. Vielleicht, dachte der alte Mann, vielleicht bin ich damals zu nachsichtig gewesen.

Aber es hatte ihn fasziniert, wenn er sah, wie der Junge malte. Da skizzierte er den Altgesellen hoch oben auf dem aufgebockten Eichenstamm, die große Säge mit beiden Händen gefasst, und unter dem Baume stand der Lehrling, mit Sägmehl bestäubt, und riss das Sägeblatt herab. Nicht irgendwelche Gestalten wuchsen da auf dem Papier, sondern jeder konnte auf den ersten Blick den hageren Lenski und den dicklichen Grumbach erkennen. Später hatte er den Jungen härter angefasst. Als sie den Kirchturm von Leschinen aufgerichtet hatten und den letzten Sparren einfügten, war das ein großer Augenblick für die Zimmerleute.

Der Junge aber war nicht zu finden. Er hockte im Kirchenschiff mit Stift und Papier vor einem Seitenaltar und malte den heiligen Laurentius nach. Da hatte sich der alte Mann vergessen, achtete nicht auf den Kirchenraum, sondern zerriss das Blatt und gab dem Sohn eine Ohrfeige. Damals war Karl für viele Stunden in die Wälder gerannt und erst in die Hütte zurückgekrochen, als es schon stockfinster geworden war. Dem alten Mann hatte die Ohrfeige Leid getan. Aber er verschloss seinen Mund. Er hatte Angst, dass aus dem Jungen niemals ein Zimmermann werden würde, wenn er immer nur brotlose Kindereien im Kopfe habe.

Bei den Gesellen war Karl beliebt. Er war stets heiter und liebenswürdig. Als Lehrling im ersten Lehrjahr hatte er für die Gesellen zu kochen. Und das konnte Karl wie kein Lehrjunge zuvor. Abends, wenn sie noch bei trübem Licht in der Hütte saßen, gab er nicht eher Ruhe, bis sie ihn beim Kartenspiel mitmachen ließen. Er war einer der wenigen, die beim Spiel kein Lehrgeld bezahlen mussten, denn er spielte gut und meistens war das Glück auf seiner Seite.

Tausendmal hatte der alte Mann sich ausgemalt, wie es geworden wäre, wenn Karl auf dem vorgezeichneten Weg vorwärts gegangen wäre. Aber er wusste, dass jedes »Wenn« und »Aber« zu spät kam. Karl war verschwunden und der alte Mann saß da mit den Schulden seines Sohnes, Schulden, die genau 2000 Taler betrugen. 2000 Taler waren für das Zimmergeschäft selbst in guten Jahren eine große Summe. Aber es war wie verhext. Seit Karl weg war, hatte ihn das Glück verlassen. Die Kartoffelfäule und drei verregnete Getreideernten hintereinander hatten die Leute arm gemacht. Vom Gut kamen nur kleine Aufträge. Die ausstehenden Gelder waren nicht einzutreiben. Was sollte er dem Baron am Morgen sagen, wenn er wieder einmal die vereinbarten 500 Taler nicht zurückzahlen konnte? Vielleicht sollte ich doch mein Glück in den Staaten versuchen, dachte der alte Mann.

Fast die Hälfte aller Männer im Dorf trug stolz den goldenen Ring im rechten Ohr, das Zeichen der Zimmerleute, und alle hatten das Handwerk bei ihm oder bei seinem Vater gelernt. Jeden Sommer zogen sie auf den Bau, manchmal bis weit nach Russisch-Polen hinein. Aber durfte er die Kolonne für zwei Jahre oder länger aus dem Dorf in eine unbekannte, gefährliche Ferne führen? Es fielen ihm auch die Frauen ein, die dann ohne Männer auf Jahre allein wirtschaften mussten, und er schob diesen Gedanken gleich wieder von sich. Gegen Morgen sank er in einen flachen Schlaf. Niemand brauchte ihn zu wecken. Als Marie in der Küche zu hantieren begann, stand er auf, versorgte die beiden Pferde, die Kuh, die Schweine, rasierte sich sorgfältig und nahm seinen schwarzen Rock aus dem Schrank. Er öffnete das Schlafzimmerfenster und hängte den Anzug an die Luft. Der Geruch des Mottenpulvers war ihm widerlich.

Zum Frühstück gab es wie immer trockenes Brot, Milch und ein Stück Speck.

»Nimmst du mich wirklich mit zum Gutshof?«, fragte der Junge. »Versprochen ist versprochen, Luke«, stimmte der alte Mann zu. Mathilde ermahnte ihn eifrig: »Willst du nicht üben, wie man sich im Gutshaus benimmt?«

»Wie soll ich mich benehmen?«

»Nun, du machst es wie die Knechte vom Gut, wenn der Baron aus der Stadt kommt. Du klopfst leise an die Tür. Wenn dann drinnen der Baron ›Herein‹ schreit, dann öffnest du langsam die Tür, gehst auf ihn zu, ohne dich im Zimmer umzuschauen, verneigst dich und wartest, bis er dich anspricht.«

»Ist das alles?«

»Nun, wenn du seine Hand erwischst, dann musst du die küssen«, neckte ihn Mathilde.

»Macht man das wirklich so?«

»Alle Leute vom Gut tun das.«

Ärgerlich fuhr der alte Mann dazwischen: »Ich habe noch niemals einem Menschen die Hand geküsst. Sage nur deutlich und laut ›Guten Morgen, Herr Baron‹ und alles andere wird sich dann finden.«

»Und wenn er mir die Hand gibt?«

»Dann fasse nur kräftig zu und schüttle sie.«

Jedenfalls beschloss der Junge sich die Hand sauber zu bürsten; denn immer noch fanden sich winzige Fischschuppen vom vergangenen Tag, die fest auf der Haut klebten.

»Wo ist eigentlich mein Fisch, Mutter?«, fragte er.

»Ich habe ihn in der Nacht in den Frost gehängt«, antwortete sie. »In der Kälte hält er sich am längsten.«

»Richtig, der Fisch«, sagte der alte Mann. »Was machen wir mit dem Fisch?«

»Wir könnten ihn für Sonntag spicken und braten«, sagte die Großmutter.

»Und wenn wir ihn im Gut verkaufen würden? Ich denke, dass sie uns wenigstens zwei Taler zahlen für solch ein Prachtexemplar.«

»Alles willst du zu Geld machen, Friedrich Bienmann. Ich kenne dich kaum wieder.«

»Alles will ich nicht zu Geld machen, Hedwig. Dieses Haus nicht und nicht das Geschäft. Aber ob es uns je gelingt, dies alles zu behalten, das weiß der Himmel.«

»Lass den Himmel, Friedrich Bienmann. Die Zeiten, in denen die Sterntaler vom Himmel gefallen sind, die sind längst vorbei. 2000 Taler, Friedrich, die solltest du schon schaffen. Die hast du in guten Jahren in einem einzigen Sommer verdient.«

»Die guten Jahre sind dahin, Hedwig. Ich bin nun wirklich ein alter Mann geworden und die Zeiten sind schlecht.«

»Ein alter Mann bist du mit deinen 57 Jahren?« Die Großmutter lachte bitter auf. »Dein Vater hat mit 70 noch auf dem Dachfirst gestanden und den Richtkranz aufgehängt. Was ist bloß aus dir geworden, Friedrich? Du glaubst vielleicht, der Karl hat dir das Mark aus den Knochen gesogen. Schau deine Schwiegertochter an. Marie hätte allen Grund den Kopf hängen zu lassen. Eine junge Frau ist sie und sitzt allein hier, ohne Mann. Aber sie rackert und schuftet von früh bis spät und keiner von uns hat sie je klagen hören. Hör auf dich selbst zu bemitleiden, Friedrich. Nicht überall sind die Zeiten schlecht.«

»Was willst du von mir, Frau?«, sagte der alte Mann verdrießlich. »Soll ich etwa nach Amerika gehen und dort mein Glück ver­suchen?«

»Ja, das sollst du.«

Einen Augenblick schwiegen alle verblüfft.

»Du willst wirklich, dass ich . . . «, stammelte der alte Mann.

»Du kannst Vater doch nicht wegschicken«, sagte Mathilde.

»Du glaubst, Frau, ihr könntet ohne mich, ohne Mann, zwei Jahre oder länger hier fertig werden mit Haus und Hof?«

Der alte Mann beugte sich über den Tisch und starrte seine Frau an, als habe er sie schon lange nicht mehr gesehen.

»Ja, Friedrich. Marie ist mir eine gute Tochter. Mathilde ist im Gut versorgt. Unsere Mädchen gehen mir hier zur Hand. Und schließlich kommt der Junge auch im Frühjahr aus der Schule.«

»Ein starkes Weib, wer wird es finden?«, schrie der alte Mann. »Wenn ich auch nur einen einzigen glücklichen Griff im Leben tat, dann war es der, mit dem ich dich packte. Es war ein Glückstag für mich, an dem ich zu euch aufs Gut kam und dich fragte, ob du mich heiraten willst.«

Er sprang auf, umfasste seine Frau von hinten und küsste sie. »Wir werden dem Baron den Fisch nicht verkaufen«, rief er übermütig. »Wir werden ihm den Fisch schenken. Was sagst du dazu, Luke, mein Enkel?«

»Mir ist es gleich, was mit dem Fisch geschieht, Großvater. Ich habe ihn ja gefangen. Mehr will ich nicht von ihm.«

»Warum willst du ihn verschenken, Vater?«, fragte Mathilde. »Der Baron hat genug Geld. Er kann dafür bezahlen.«

»Ich will, dass der Baron zufrieden lacht. Dann werde ich ihn fragen, ob er etwas dagegen hat, wenn ich ihm die Schulden in goldenen Dollars bezahle.«

»Musst du ihn fragen, wenn du übers Meer fahren willst, Groß­vater?«

»Eigentlich nicht. Aber weißt du, Luke, Schulden können einen Mann fesseln. Er soll mir versprechen, dass er zwei Jahre lang das Haus und den Hof nicht anrührt. Und die 180 Taler, die ich ihm heute zurückzahlen wollte, die muss er mir auch noch lassen, damit die Überfahrt bezahlt werden kann.«

»Du hast dich also entschlossen nach drüben zu gehen?«

»Ja, Frau, was bleibt mir anderes übrig, wenn du mich aus dem Hause jagst?«, lachte der alte Mann und er war fröhlich wie seit Wochen schon nicht mehr.

»Weißt du eigentlich, dass dir trotz all deiner Jahre noch kein einziger Zahn fehlt?«, fragte die Großmutter.

»Warum sagst du das?«

»Zeig dem Baron die Zähne, Friedrich Bienmann. Zeig ihm, dass du die Zähne noch aufeinander beißen kannst.«

Er zog sich die schwarze Tuchjacke über. Sie stammte von seinem Hochzeitsanzug. Nie hatte er Gelegenheit gehabt Fett anzusetzen. Die Jacke spannte sich nur in den Schultern ein wenig. Seine Frau half ihm in den Pelz.

Er rief nach Mathilde und dem Jungen, doch die hatten den Fisch bereits vom Ast geschnitten, an den er in der Nacht gehängt worden war. Er war steif gefroren. Sie legten ihn auf ein sauberes Tuch, packten die Enden und trugen den Fisch zwischen sich. Mathilde war nicht größer als der Junge, den sie oft im Scherz »Neffe« nannte, was er mit einem spöttischen »Tante« quittierte. Wenn sie ihn gar zu sehr ärgerte, rief er ihr auch »Rotkohl« nach. Aber das konnte er nur aus sicherer Entfernung wagen, denn Mathilde hatte gelernt sich zu verteidigen, wenn sie einer wegen ihrer flammroten Haare neckte.

Als sie sich verabschiedeten, flüsterte die Mutter dem Jungen zu: »Achte auf das Bild, wenn du in das Zimmer des Barons kommst.«

Es war eine reichliche halbe Stunde Weg bis zum Gutshof. Vom Herrenhaus her bimmelte die Glockenuhr halb zehn, als sie in die lange, schnurgerade Birkenallee einbogen, die genau auf die Freitreppe des Gutshauses zuführte.

»Viel Glück«, sagte Mathilde und betrat durch den Nebeneingang den Wirtschaftsflügel des Herrenhauses. Der Junge trug den Fisch allein die Treppenstufen hinauf.

Sie öffneten die große Flügeltür. Ein helles Glockenspiel schlug an. Eine ältere Magd im schwarzen Kleid und weißer Schürze schaute in die Halle. »Ach, Bienmann, Sie sind’s. Guten Morgen. Gehen Sie nur hinauf, Sie kennen sich ja aus. Der gnädige Herr ist in seinem Büro. Er erwartet Sie heute.«

»Guten Morgen, Nelly«, erwiderte der alte Mann den Gruß. »Siehst so feierlich aus, heute.«

»Na, wenn schon der Herr Baron im Haus ist.«

Der alte Mann ging über die schön geschwungene Holztreppe ins Obergeschoss.

»Du, Lukas, kommst besser mit in die Küche«, sagte Nelly, als sie sah, dass der Junge dem alten Mann folgte.

»Nein, Nelly, Luke geht mit mir. Er hat ein Geschenk für den Herrn Baron.«

»Man riecht’s«, knurrte Nelly und rümpfte die Nase. »Nimm wenigstens die Mütze vom Schädel, Jungchen.«

Der alte Mann klopfte an eine der vielen Türen, die vom langen Flur aus in die Zimmer führten.

»Herein!«, schallte es von drinnen.

Der alte Mann öffnete die Tür und ließ dem Jungen den Vortritt. Ein grobschlächtiger Riese mit einem schlohweißen Schnurrbart und rotem Gesicht saß hinter einem Schreibtisch, der über und über mit Papieren bedeckt war.

»Aha, der Zimmermeister«, rief der Baron. »Und wenn er schon das Geld nicht bringen kann, dann bringt er wenigstens seinen Sohn.«

»Mein Enkel ist er, nicht mein Sohn. Der Junge ist von meinem Karl.«

»Soso.« Der Baron schien einen Augenblick verlegen.

Da schritt der Junge auf ihn zu, ohne sich im Zimmer umzusehen zwar, aber auch ohne den Rücken zu beugen, und sagte laut: »Ich habe, Herr Baron, den stärksten Hecht gefangen, der seit Menschengedenken aus unseren Seen gezogen worden ist. Ich möchte Ihnen, Herr Baron, den Fisch schenken.« Dabei legte er den Fisch auf den Boden vor den Schreibtisch und zog das Tuch glatt, in dem er ihn hergetragen hatte. Der Baron schob den Stuhl zurück, kam um den Schreibtisch herum und schaute sich den Fisch an.

»Kolossales Biest«, sagte er. »Ob der noch zu genießen ist?«

»Er muss gut gespickt werden«, meinte der alte Mann.

Der Baron ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Guten Morgen, Friedrich Bienmann.«

Er küsst ihm die Hand nicht, dachte der Junge. Der Baron schien das auch nicht zu erwarten. Vielmehr bot er dem alten Mann einen Stuhl vor einem runden Kirschholztischchen an und setzte sich selbst so dazu, dass er den Fisch genau betrachten konnte. Er ließ sich von dem Jungen berichten, wie er den Fisch gefangen habe. Der Junge tat das, knapp und mit klarer, lauter Stimme. »Ich möchte auch lieber mit der Angel los oder auf die Jagd. Aber der Papierkram bringt einen noch um.« Er zeigte auf den Schreibtisch.

»Lukas Bienmann, Enkel des Friedrich Bienmann, komm zu mir.« Der Junge trat nahe an ihn heran. »Du sollst nicht sagen, der Baron von Knabig sei ein alter Knausersack. Hier, ich schenke dir ein Goldstück. Zehn Mark mit dem Bild des Königs. Und der Deibel soll dich holen, wenn du es nicht sorgfältig aufhebst.«

»Danke, Herr Baron.«

»Und nun zu Ihnen, Meister Bienmann. Ich kann mir Ihren Spruch schon denken. Es war ein nasser Herbst. Der Sommer hat auch nicht viel eingebracht. Sie können nicht alles zahlen, was Sie mir schuldig sind.«

»So ist es, Herr Baron«, bestätigte der alte Mann. »Genau gesagt wollte ich Ihnen nicht einmal die 180 Taler zahlen, die ich bei mir habe.«

»Nicht einmal 180 Taler? Wie soll ich das verstehen?« Der Baron erhob sich schroff, ging mit wuchtigen Schritten zu seinem Schreibtisch, zog eine Schublade auf und holte einen dünnen, breiten Holzspan hervor.

»Kennen Sie diesen Ihren Schuldschein, Friedrich Bienmann?«

Der alte Mann nickte.

»Sie schulden mir, Mann, noch 1525 Taler. Woher, sagen Sie mir, woher soll das Geld kommen, wenn ich nicht Ihr Haus und Ihren Hof in Zahlung nehme?«

»Aus Amerika«, antwortete der alte Mann.

»Aus Amerika?« Der Baron setzte sich wieder an den Tisch. »Amerika. Gar kein übler Gedanke. Wollen Sie unter die Goldgräber gehen?«

»Zimmerleute werden in Amerika gesucht. Ich nehme meine Kolonne mit und fahre für zwei Jahre in die Staaten.«

»Amerika. Das mag gehen, Meister Bienmann. Ich bin einverstanden. Aber eins müssen Sie wissen, wenn Sie mir nach zwei Jahren die Taler nicht auf den Tisch des Hauses legen, dann muss Ihr Hof dran glauben.«

»Die Dollars«, sagte der alte Mann.

»Wie?«

»Na, Dollars werd ich Ihnen zahlen, keine Taler.«

»Gold ist Gold«, brummte der Baron, schritt durch das Zimmer, riss die Tür auf und schrie in das Treppenhaus: »Nelly! Komm herauf und schaff den verdammten Fisch in die Küche. Der teuerste Fisch, den ich je bekommen habe. Und er stinkt.«

Nelly brachte die Mamsell aus der Küche mit. Die tippte mit dem Finger auf den Hecht und schaute sich die Fischaugen an. »Wie können Sie, Herr Baron, sagen, das Tierchen stinkt? Es ist ein hervorragender Fisch. Ich werde ihn spicken, Herr Baron, mit angeräuchertem Speck. Ein Festbraten wird das.«

»Schon gut. Schaff das Monstrum endlich fort.« Er öffnete ein Glasschränkchen, holte eine Flasche und zwei Gläser heraus, sagte »Trinken wir auf Amerika, Meister Bienmann« und goss die Gläser randvoll.

Während die Männer tranken, schaute sich der Junge im Zimmer um. Es hingen viele gewichtige Gemälde an den Wänden. Auf dunklem Hintergrund waren die Halbgestalten der Vorfahren des von Knabig dargestellt und blickten ernst ins Leere. Das Bild, das sein Vater gemalt hatte, erkannte der Junge auf den ersten Blick. In glühenden Farben war ein Hornist dargestellt, der wohl das Signal »Jagd aus« blies, denn viele Stücke Wild, Hasen, Tauben und Rebhühner lagen ausgestreckt am Boden. Der Baron sah, dass der Junge das Bild anstarrte, seufzte und sagte: »Es ist eine Schande mit dem Karl. Er ist der größte Filou, der mir je über den Weg gelaufen ist.«

4

Sie ließen das Herrenhaus hinter sich, schritten durch die Allee und bogen in die Landstraße ein. Dem Jungen ging das Bild nicht aus dem Kopf, das der Baron hinter seinem Schreibtisch an der Wand hängen hatte. Er hatte das Gemälde gelobt. Aber was meinte er, als er sagte »Dein Vater, das ist der größte Filou, der mir je über den Weg gelaufen ist«?

»Was ist mit meinem Vater?«, fragte er schließlich den alten Mann.

»Ich will dir heute alles von deinem Vater erzählen, Luke. Du weißt ja, er kann gut malen. Er ist überhaupt ein geschickter Mann. Aber er und ich, wir haben nicht zusammengepasst. Alles ist schief gegangen, was ich mit ihm angefangen habe. Ich nahm ihn in die Lehre. Was ein Zimmermeister können muss, das hätte er von mir lernen können. Es wurde nichts Gutes daraus. Er konnte das frische Holz nicht riechen. Ich habe es im Guten versucht und mit Strenge. Vielleicht zu sehr mit Strenge. Er ist mir zwischen den Händen weggeschlüpft. Ich habe ihn, als es nicht gehen wollte mit der Lehre, zu einem anderen Zimmermeister nach Allenstein geschickt. Ich habe mir gedacht: Vielleicht ist es nicht richtig, wenn der Vater zugleich der Lehrmeister ist. Nach einem halben Jahr, mitten im Winter, ist Karl von Allenstein zu Fuß zu uns zurückgelaufen. Das sind 70 Kilometer. Er war mager geworden und sah abgerissen aus. Kein Zeugnis hat er mitgebracht, keine Erklärung. Sogar sein Werkzeug hat er in der Stadt zurückgelassen. Aber eine Mappe voller Bilder und seine Pinsel und Farben in einem Sack, die hat er mitgeschleppt. Ein alter Maler habe ihm viel beigebracht, hat er gesagt. Ich bin dann nach Allenstein geritten und habe mich für meinen Sohn bei dem Meister entschuldigt. Bevor ich mir das Werkzeug aufgepackt habe, hat der Meister mir gesagt: ›Das Lehrgeld, Friedrich Bienmann, das du mir gezahlt hast, das ist für dich ja nun verfallen. Denn dein Karl hatte keinen Grund ohne ein Wort wegzugehen. Aber der Rat, den ich dir gebe, der ist das Geld wohl wert. Aus deinem Jungen, Friedrich Bienmann, wird nie ein Zimmermann. Der hat was Größeres in den Händen. Aus dem kann ein Maler werden. Schick ihn nach Königsberg in die Malschule.‹ Er ist dem Karl nicht böse gewesen, obwohl er auf der Baustelle viel Ärger mit ihm gehabt hat. Ich habe nicht auf ihn gehört. Schließlich hatte ich ganz andere Pläne mit Karl und dachte nicht daran, ihn nach Königsberg zu den Farbklecksern zu schicken.

Karl ist dann mit mir auf den Bau gezogen und hat getan, was ich ihm gesagt habe. Wenn er aber einen Balken aus dem Stamm schlagen sollte, dann musste Lenski oder ein anderer Geselle hinterher die Scharten aushauen. Nicht mal die große Säge konnte er gerade herunterziehen, wenn’s ans Bretterschneiden ging, und es gab nie eine glatte Schnittfläche. Schließlich murrten die Gesellen und wollten ihn nicht unter dem Stamm an der Säge dulden. Im Sommer blieb er oft tagelang fort. Sein Malzeug nahm er mit. Wenn er dann wieder da war und schlief, habe ich mir heimlich angesehen, was er gemalt hat, und ich habe zugestehen müssen, es waren Bilder, die mir gefielen. Zugleich aber wurde meine Angst um Karl immer größer. Was sollte aus ihm werden? Ich kenne keinen, der durch Malen sein Brot verdienen kann. Als Karl dann 18 Jahre alt wurde, da hatten wir einen schweren Streit. Danach schien es mit seinem Drang zu malen nachzulassen. Er begann in Wirtshäusern herumzusitzen, ging oft nach Ortelsburg hinüber, verkaufte ab und zu ein Bild und machte auf den Kirchweihfesten den Scherenschneider. Die Leute mussten sich fünf Minuten still vor ihn hinsetzen und schon hatte er aus schwarzem Papier ihr Profil geschnitten. Fünf Groschen kostete so ein Bild. Obwohl er diesen hohen Preis verlangte, lief sein Geschäft an solchen Tagen gut. Abends im Wirtshaus spielte er dann Karten. Der Einsatz war so hoch, dass viele Mitspieler rote Köpfe bekamen. Manchmal verlor Karl in einer halben Stunde, was er den ganzen Tag über verdient hatte, aber meistens hat er den Leuten das Geld abgenommen. Mit der Zeit ist er immer häufiger betrunken nach Hause gekommen. Einmal hat unser Hund jämmerlich gejault. Ich habe nachgesehen, was da los war. Karl lag zwanzig Meter von unserem Haus entfernt wie tot im Schnee. Großmutter und ich haben den schweren Kerl ins Haus getragen, ich habe ihm die Glieder mit Schnee abgerieben, damit wieder Leben hineinkam. Ich sah ihn schon im Suff enden, sein Leben vergeudet, verspielt. Der Ärger stieg in mir auf, wenn er mir nur unter die Augen kam.

Da lernte er deine Mutter kennen. Sie arbeitete in der Küche auf einem Gut bei Lindenort. Du hättest sie als Mädchen sehen sollen, goldgelbes Haar, ein fein geschnittenes Gesicht, zierlich und klein. Sie reichte deinem Vater gerade bis an die Schulter.«

Der alte Mann unterbrach sich. Es schien, als ob er den Jungen für eine Weile vergessen hätte.

»Na, sieh sie dir an, Luke, deine Mutter ist eine schöne Frau.«

Der Junge wurde verlegen. Der alte Mann kümmerte sich nicht darum und fuhr fort: »Dein Vater war wie ausgewechselt. Er malte wie ein Verrückter. Der fahrende Händler Nathan hat ihm kleinere Bilder abgekauft und ist sie auf seinen Rundreisen gut losgeworden. Damals ist Karl mit seinen Bildern auch aufs Gut gegangen und hat sie dem Baron gezeigt. Du hast heute gesehen, dass er leicht zu begeistern ist. Er war von Karls Malerei angetan und hat das Bild, das er über dem Schreibtisch hängen hat, für 15 Taler gekauft. Alle anderen Bilder hat er im Herrenhaus behalten. Er wollte sie seinen Freunden zeigen, wenn sie zur großen Herbstjagd kamen. Damals hat Karl gut verdient. Sein Saufen und Spielen gab er beinahe ganz auf. Ich begann weniger mit meinem Schicksal zu hadern und ab und zu gefiel mir der Gedanke einen Maler zum Sohn zu haben. ›Bist doch ein richtiger Kerl‹, sagte ich ihm, als er mir ein Bild zeigte, auf dem unser Haus zu sehen war. Er hat sich über mein Lob mehr gefreut, sagte Großmutter, als über alle verkauften Bilder zusammen.

Zwei Jahre ist er der Marie, deiner Mutter, nachgelaufen. Aber die Steinwalds wollten so einem Luftikus ihre Marie nicht geben. Sie war erst siebzehn und der alte Steinwald meinte, das wachse sich schon noch aus.

›Wenn ich erst mündig bin‹, hat die Marie dann zu mir gesagt, ›dann heirate ich den Karl, ganz gleich, was sie bei uns zu Hause dazu sagen.‹

Ich hatte mich bei der Gutsherrin, bei der Marie im Dienst stand, nach ihr erkundigt. Die Frau lobte das Mädchen und sagte, was die Marie anfasse, das gelinge ihr auch. Und wenn der alte Steinwald denke, sie würde von dem Karl ablassen, dann habe er sich so geirrt wie Jonas seinerzeit im Fischbauch, als er glaubte, er könne sich vor Gott verstecken. Was die Marie erst einmal in die Hand nehme, das lasse sie nicht mehr los.

Das hast du übrigens von ihr geerbt, Luke«, lachte der alte Mann.

»Wie meinst du das?«

»Ich denke an gestern, an den Fisch. So manchem ausgewachsenen Mann wäre der Schreck in die Glieder gefahren und er hätte bei solch einem Anbiss den Fisch verloren. Aber du hast ihn sicher aufs Eis gebracht.

Genau das habe ich von der Marie erhofft, nämlich, dass sie deinen Vater aufs sichere Eis bringt. An ihr, Junge, kannst es ruhig glauben, hat es nicht gelegen, dass dem Karl das Eis unter den Füßen eingebrochen ist. Ich habe die Heiratspläne von Karl gefördert, wie ich nur konnte. Ich wusste genau, wenn aus dem Jungen noch ein ordentlicher Mann werden konnte, dann schaffte das die Marie. Mit ihren kleinen Händen konnte sie ihn vielleicht leiten.

Damals habe ich in Friedrichshoff einen neuen Dachstuhl auf die Kirche gesetzt. Ich habe den Pfarrer gefragt, ob er die Kirche nicht frisch ausmalen lassen wollte. Denn unter dem alten, schadhaften Dach hatte der Anstrich sehr gelitten. Das wollte der Pfarrer wohl. Vierzehn Tage später hat der Karl ihm eine ganze Mappe voller Skizzen und Entwürfe vorgelegt und der Pfarrer hat ihm den Auftrag gegeben.

Wir haben ein Fest gefeiert. Denk dir, der alte Steinwald ist gekommen, hat seine Frau mitgebracht und hat gemeint, jetzt, wo die Kirche ihren Segen dazugegeben habe, scheine die Malerei von Karl ja Hand und Fuß zu haben. Er jedenfalls werde nicht länger im Wege stehen, wenn die Marie den Karl heiraten wolle. Und ob die Marie wollte. Vier Wochen später schon war in Lindenort die Verlobung. Hätte ich nur alles dabei belassen. Aber dann hörte ich die verdammte Nachricht, dass in Leschinen der Kaufmann gestorben war. Ein Mann in den besten Jahren. Wurde von einem tollwütigen Hund gebissen und war nach ein paar Wochen tot. Der Laden stand zum Verkauf. Es war ein gutes Geschäft gleich der Kirche gegenüber, eine Schankstube gehörte auch dazu. Weil man bei einem solchen Haus die Lage mitbezahlen muss, verlangte die Witwe 3800 Taler für Anwesen, Gebäude und Inventar. Ich dachte mir, das sei genau das Richtige für Marie und Karl. Mit dem alten Steinwald habe ich es beredet. Die jungen Leute waren Feuer und Flamme, besonders die Marie. ›Ich werde das Geschäft schon leiten‹, sagte sie. ›Der Karl kann dann an seinen Bildern malen, so lange er will.‹

Es sah alles gut aus. Aber die 3800 Taler waren nicht zur Hand. Rund 500 Taler hatte der Karl auf die hohe Kante gelegt, seit er hinter der Marie her war. 1000 wollte ich vorschießen. Der alte Steinwald blieb zugeknöpft. Seine Marie habe eine gute Aussteuer zu erwarten, und damit basta. Dabei blieb es. Schließlich habe ich es geschafft, das Geld zusammenzukratzen. Ich hatte von meiner Mutter ein paar kostbare Schmuckstücke geerbt, die sie aus dem Herzbergschen Elternhaus mitgebracht hatte. 200 Taler hat mir ein Goldschmied in Königsberg dafür ausgezahlt. 100 hatte die Marie gespart. Die restliche Summe von 2000 Talern hat Karl von dem Baron geliehen bekommen.