Kristina, vergiss nicht - Willi Fährmann - E-Book

Kristina, vergiss nicht E-Book

Willi Fährmann

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Beschreibung

Kristina kommt mit ihren Angehörigen als Aussiedlerin in die Bundesrepublik. Herausgerissen aus ihrem Freundeskreis, machen ihr in der neuen Heimat vor allem Vorurteile und Ablehnung zu schaffen.

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Titel

Willi Fährmann

Kristina, vergiss nicht . . .

Der Autor

Willi Fährmann,1929 geboren, holte nach einer Maurerlehre das Abituran Abendschulen nach und studierte anschließendan der Pädagogischen Hochschule.Er arbeitete als Lehrer und als Schulrat.Er zählt zu den bedeutendsten deutschen Kinder- undJugendbuchautoren und erhielt zahlreiche Auszeichnungen,u.a. den Deutschen Jugendliteraturpreis für »Der lange Weg des Lukas B.«»Kristina, vergiss nicht . . .« wurde mit dem französischenJugendbuchpreis Grand Prix des Treize ausgezeichnet.

Impressum

Erstmals veröffentlicht als E-Book 2012© 1974 by Arena Verlag GmbH, WürzburgAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Frauke SchneidersISBN 978-3-401-80110-0www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

1

»Sie werden dich doch wieder abwimmeln, Großmutter«, sagte Kristina.

»Abweisen.« Großmutter achtete streng darauf, dass keine Abweichungen von der Hochsprache vorkamen. Sie liebte überhaupt keinerlei Abweichungen. Sorgfältig breitete sie die Antragsformulare auf dem Tisch aus. Viele Bögen hatte sie mit ihrer kleinen, zierlichen Schrift bedeckt.

»Lies die Anträge, Kristina«, sagte die Großmutter. »Es darf kein Fehler darin sein.«

Das Mädchen hockte sich auf die Bank hinter dem Tisch. Schon wieder dieser Mist, dachte sie.

»Du weißt genau, dass du keine Fehler schreibst, Großmutter.«

»Ich bin alt, Kristina. Eine fremde Sprache bleibt fremd.«

»Fremde Sprache! Seit dreißig Jahren hörst du polnisch, liest du polnisch, schreibst polnisch an die Behörden und sprichst oft genug polnisch.«

»Es bleibt polnisch«, beharrte die Großmutter.

»Für mich ist Polnisch keine fremde Sprache. Es ist meine Sprache.«

»Rede nicht dumm, Kind. Dein erstes Wort, das du vor fünfzehn Jahren gesprochen hast, war: Mama. Und das ist deutsch!«

»Und die Nachbarn, die Schule, meine Freundinnen!«

Die Großmutter presste die Lippen gegeneinander und schwieg. Kristina wusste, wo die Großmutter verwundbar war. »Und Janec?«, fügte sie hinzu.

»Du sollst ihn nicht Janec nennen! Es sind die Umstände in diesem Land, die den Jungen so machen. Hans wird schon gutes Deutsch sprechen, wenn wir erst drüben sind.«

Kristina wusste, dass sie nicht daran vorbeikam, die Formulare wieder einmal zu lesen. Sie kannte die Fragen und Antworten längst auswendig. Achtmal schon waren Großmutters Anträge auf eine Ausreisegenehmigung aus Polen abgelehnt worden. Allein im vergangenen Jahr 1969 hatte sie all die Formulare dreimal abgeschickt und dreimal hatte es »nein« geheißen. Warum sollte es 1970 gelingen? Sinnlose Arbeit.

Kristinas ganze Kindheit hatte unter der Überschrift gestanden: Wenn wir erst drüben sind. Alles war vorläufig. »Vorläufig musst du eben hier in die Schule gehen.« – »Vorläufig fragen wir die Jablonska, ob sie dir Flötenunterricht gibt.« – »Vorläufig werden wir diese Wohnung beziehen.« Diese Wohnung! Kristina schlief mit der Großmutter zusammen in einem kleinen Zimmer – vorläufig. Das Licht fiel durch ein winziges Fenster auf einen altersschwachen Kleiderschrank. Ihr Metallbett stand in der dunklen Ecke an der Wand, dem Eichenbett der Großmutter gegenüber. Auf der Kommode mit der gesprungenen Marmorplatte hatte zwar eine irdene Waschschüssel ihren Platz, aber sie wuschen sich – vorläufig – in der Küche, weil auf dem gewaltigen Herd ein Kessel mit heißem Wasser wenigstens einen Hauch von Luxus bot.

Großmutters Lieblingsplatz war der rötlich schimmernde Holzsessel zwischen Tisch und Herd. Kristina hockte meist auf der Bank hinter dem Tisch. Die weiß gescheuerte Herdplatte war groß genug, um Hefte, Bücher, Atlas und Zeichenpapier darauf zu verteilen. Sie hatte das alles gern griffbereit, wenn sie mit den Arbeiten für die Schule begann. Sie hätte auch die Sekretärplatte des schmalen Fichtenschrankes herunterklappen können, aber das sah Großmutter nicht gern. Dort war Großvaters Platz gewesen. In den meisten der vierzehn winzigen Schubladen lagen noch immer Rädchen, Federn, Bolzen, Gläser, Uhrengehäuse.

»Lass sie vorläufig darin«, sagte Großmutter jedes Mal, wenn die Rede darauf kam.

Das einzig wirklich unpassende Möbelstück war das Klavier. Schwarz und feierlich füllte es beinahe die gesamte Fensternische. Früher, als Mutter noch im Hause wohnte, wurde gelegentlich darauf gespielt. »Wir lassen es vorläufig hier stehen.« Diese zermürbende Vorläufigkeit.

Nichts war endgültig, nichts sicher.

Blatt um Blatt des Antrags sah Kristina durch. Keinen Fehler fand sie. Manchmal war Großmutters Ausdrucksweise ungewöhnlich. »Würden Sie die Güte haben . . .« Wer schreibt so etwas heute noch?

Die Großmutter öffnete die Tür, die aus der Küche hinab in den Keller führte.

»Was willst du im Keller, Großmutter? Hat Jan dir kein Holz heraufgeholt?«

»Doch, Kristina. Ich muss etwas suchen.«

Großmutter stieg langsam die steile Stiege hinunter. Wolf, der große Hund, der faul auf seiner Decke gedöst hatte, sprang auf, reckte sich, gähnte und zeigte sein starkes Gebiss. Er neigte seinen Kopf tief in das Kellerloch und sog die Witterung ein. Seine spitzen Ohren spielten und seine gelbgrünlichen Augen versuchten das Dämmerlicht des ihm unbekannten Kellers zu durchdringen. Er war nur wenig kleiner als ein Schäferhund, aber breiter in der Brust und der Schädel war flacher. Großmutter behauptete, er trage seinen Namen Wolf nicht zu Unrecht. Ein Schuss Wolfsblut sei unverkennbar.

Kristina legte gerade das letzte Blatt auf den Tisch, als Großmutter endlich wieder heraufkam. Sie trug ein flaches Holzkästchen in der Hand. Sorgfältig wischte sie es mit dem Staubtuch sauber.

»Was ist das?«, fragte Kristina. Sie sah das Kästchen zum ersten Male.

»Wart es ab«, sagte die Großmutter.

Sie setzte sich zu Kristina und versuchte den Schiebedeckel aufzuziehen. Die Kellerfeuchtigkeit hatte das Holz quellen lassen. Erst als Kristina ihr half, ließ sich der Deckel ruckweise öffnen.

Kleine Gegenstände lagen darin, eingeschlagen in fettgetränkte Stofffetzen. Die Großmutter wickelte vorsichtig winziges Metallwerkzeug aus und legte es auf den Tisch. Eine Lupe, ein Satz streichholzlanger Schraubenzieher, eine kleine Mikrometerschraube. Aber erst der ein wenig größeren Schieblehre, die auf dem Boden des Kästchens lag, schenkte Großmutter ihre Aufmerksamkeit. Sie versuchte die Messzangen auseinander zu ziehen. Mühelos glitt Stahl über Stahl. Die dicke Fettschicht hatte jeden Rostansatz verhindert.

»Was willst du mit dem Zeug?«

»Zeug? Das sind Großvaters Instrumente.«

»Ich denke, alles sei in den letzten Kriegswochen verloren gegangen?«

»Stimmt. Unser Haus ist zerschossen worden, damals, 1944. Wenn dein Großvater nicht so dickköpfig gewesen wäre, hätten wir den elenden Trümmerhaufen nie wieder gesehen. Ich wollte früh genug in den Westen. Wir hätten es machen sollen wie unsere Verwandten, die Bienmanns aus Ostpreußen, wie Johannes und Agnes. Aber dein Großvater war störrisch wie ein Schafbock. Er konnte seine Werkstatt, sein Haus nicht aufgeben. Bis uns dann die deutschen Soldaten zwangen den Ort zu verlassen. Es war zu spät. Die Front überrollte uns wenige Stunden später. Wir wurden von den Russen zurückgetrieben. Ins Elend wurden wir zurückgetrieben. Bekamen heimgezahlt, was dieser Hitler, was dieser Krieg angerichtet hat. Wir konnten froh sein, dass wir das nackte Leben retteten.

Unser Haus war ein Trümmerhaufen. Nur der Schornstein ragte hoch und oben im ersten Stock hing an der Installation noch die grüne, gusseiserne Badewanne, und der Wind schlug sie wie einen riesigen Gong gegen den Schornstein.

Großvater hat irgendwo eine Schaufel aufgelesen und eine Hacke und hat den Schuttberg durchwühlt. Tatsächlich fand er diese Werkzeuge. Er konnte wieder Uhren reparieren. Damit haben wir uns über die erste schwere Zeit hinweggeholfen.«

Großmutter blickte starr auf die Wand über dem gusseisernen Herd. Jedes Mal, wenn sie von früher erzählte, dann wurden ihre mausgrauen Augen groß und rund und schienen alles das genau zu sehen, wovon sie berichtete. Wäre Großmutters weißgraues Haar nicht gewesen, es wäre jedem schwer gefallen ihr mehr als fünfzig, fünfundfünfzig Jahre zuzutrauen. Ihre Haut spannte sich straff über den schmalen Jochbeinen, dünne Fältchen spielten um Augen und Mund, ihre kräftigen, dunklen Brauen, schmale, meist fest aufeinander gepresste Lippen, ihre zielbewussten, flinken Bewegungen, alles ließ erkennen: Großmutter wusste, was sie wollte.

Kristina hatte heute keine Lust, Großmutters alte Geschichten zu hören. Basia wollte diesen Nachmittag kommen. Kristina dachte daran, dass sie vorher noch flöten musste. Sie unterbrach Großmutter und fragte: »Und was willst du jetzt mit dem Zeug?«

»Werkzeug bitte«, sagte die Großmutter. Aber auf Kristinas Frage antwortete sie nicht. Sie wischte sorgfältig das Fett von der Schieblehre und wusch sich die Hände.

Kristina rückte den Notenständer an das Fenster und griff nach der Flöte. Wolf, der die ganze Zeit über neugierig das Kästchen und die Werkzeuge beschnüffelt hatte, verkroch sich. Kristinas Flöten schätzte er nicht. Er legte sich, wenn sie nur den Notenständer anfasste, in der entferntesten Zimmerecke auf den Boden, den Kopf zwischen den Pfoten, und schaute sie mit einem beleidigt-traurigen Blick an, ließ sich auch während der ganzen Zeit ihres Spiels nicht aus seiner Ecke locken und kam erst wieder hervor, sobald sie die Stoffhülle über ihren Flötenkasten streifte.

Großmutter suchte aus dem Stapel der Formulare den Umschlag mit den Passfotos heraus. Jedes einzelne maß sie mit der Schieblehre nach. Als Kristina ihre halbe Stunde geübt hatte und endlich die übliche Schlussmelodie spielte, war Großmutter noch immer dabei, mit Großvaters altem Rasiermesser winzige, sich ringelnde Millimeterstreifen von den Fotos abzuschneiden.

»Warum tust du das?«, fragte Kristina.

»Sie haben die Donatkas vor ein paar Tagen aus dem Amt weggeschickt. Alles sei in Ordnung, haben sie gesagt. Nur die Passbilder hätten nicht das vorgeschriebene Maß.«

Ein schriller Pfiff gellte von der Straße herauf. Wolf blaffte kurz. Kristina stand auf.

»Warum willst du nicht begreifen, dass es zwecklos ist? Sie werden deine Anträge nicht genehmigen.«

»Sie müssen! Es ist unser Recht.«

»Kein Mensch muss müssen«, orakelte Kristina. »Und der Staat erst recht nicht.«

Wieder ertönte der Pfiff. Wolf drängte seinen Kopf an das Fenster und bellte nun drei-, viermal.

»Was kläfft der Hund?«, fragte Großmutter. »Er wird immer verrückter.«

»Basia pfeift«, sagte Kristina. »Wir wollen noch für die Mathearbeit üben.«

»Ein Mädchen sollte nicht pfeifen«, tadelte Großmutter. Aber gegen das gemeinsame Lernen mit Basia hatte sie nichts. Basia war in Mathematik ein As.

»Nimm Wolf mit, Kristina, er war heute den ganzen Tag noch nicht draußen.«

»Das geht nicht, Großmutter.« Kristinas Stimme klang ärgerlich. Immer hatte sie den Köter an der Schleppe.

»Geht nicht, geht nicht!«, schimpfte Großmutter. »Damals als Onkel starb und niemand wusste, wohin mit dem Tier, da . . .«

»Ja, Großmutter. Ich weiß. Aber mit Wolf kann ich bei Basia zu Hause nicht landen. Dritte Etage. Zweieinhalb Zimmer. Du weißt doch.«

»Ja, ja, ich weiß alles. Aber dass der Hund an die Luft muss, das weiß ich auch.«

Wolf stand bereits an der Tür und jaulte leise. Kristina aber fuhr ihn an: »Geh auf deinen Platz, hörst du?«

Er schlich zurück, den Kopf gesenkt.

Sie ging.

»Wenigstens ›auf Wiedersehen‹ könntest du sagen«, rief Großmutter hinter ihr her.

»Na endlich«, sagte Basia. »Beinahe wäre ich ohne dich gegangen.«

»Hast du es so eilig mit der Mathe?«

»Ach, was redest du? Für Mathe ist heute keine Zeit. Wir müssen zum Jugendclub.«

»Wie stellst du dir das vor? Morgen steigt die Mathearbeit. Ich habe keine blasse Ahnung, wie ich es ohne deine Hilfe schaffen soll.«

»Aber wer sagt denn das? Morgen ist morgen. Ich werde dir schon Basias erste Hilfe zukommen lassen.«

»Ich weiß nicht, Basia. Wenn der Kupinski uns schnappt, dann bin ich geliefert.«

»Er wird niemand schnappen. Und nächste Woche erkläre ich dir genau, was der Faulpelz, der sich Lehrer nennt, nicht verständlich machen kann.«

»Mist. Wenn du wüsstest, wie aufgeregt ich jedes Mal bin, wenn wir eine Arbeit schreiben. Mein Magen sticht und mir wird richtig schlecht. Und warum paukst du nicht mit mir? Weil du in den öden Jugendclub willst.«

»Na, hör mal! Sag nur, du weißt nicht, was da heute los ist?«

»Vielleicht liest Andrzej Gedichte vor?«, spottete Kristina.

»Lass Andrzej in Ruhe. Seine Gedichte sind gut.«

Basia war eingeschnappt. Kristina gab insgeheim zu, dass Andrzej Gedichte erfand, die ihr gefielen. Aber sie war wütend auf Andrzej. Seit Basia Andrzej entdeckt hatte, war ihre Zeit eng bemessen.

»Ich habe fest damit gerechnet, dass wir heute arbeiten«, sagte sie verdrossen.

»Für morgen ist eine Fahrt in die Wälder geplant, Kindchen.«

Kristina horchte auf. »In die Wälder?«

»Ja. Der Tischtennisclub hat Gäste aus der Stadt. Sie wollen einen Abend am See verbringen. Wir werden eingeladen.« Kristina kam die Vorbereitung der Mathearbeit schon weniger dringend vor.

»Und morgen in der zweiten Stunde hilfst du mir?«

»Aber ja. Leocardia wird um zehn einen ihrer bewährten Schwindelanfälle bekommen. Und Kupinski stürzt zu ihr und schon ist Basias Notdienst in deiner Hand.«

»Und was verlangt Leocardia diesmal für ihre Dienste?«

»Sie wird allmählich unverschämt. Aber sie hat versprochen, dass sie für zehn Zigaretten einen ganz schönen Anfall bekommt.«

»Dass man auf so etwas angewiesen ist!«

»Na ja.«

Sie bogen von der Hauptstraße der kleinen Stadt ab. Über einen Schotterweg erreichten sie nach ein paar hundert Metern den Jugendclub, einen gelben, zweistöckigen Kasten, von dem der Verputz abzuplatzen begann. In der Eingangshalle hockten einige Jugendliche herum. Kristina entdeckte ihren Bruder Janec und winkte ihm zu.

»Na endlich«, wurden die Mädchen von einem lang aufgeschossenen jungen Mann begrüßt.

»Hej, Andrzej«, erwiderte Basia seinen Gruß.

»Alles klar mit der Fahrt morgen?«

»Beinahe alles.«

Er griff nach den Gläsern, die vor ihm auf dem niedrigen Tischchen standen, und reichte zwei davon den Mädchen. Kristina betrachtete misstrauisch die wässrige, trübe Brühe. »Sieht aus wie Mäuseblut«, sagte sie.

»Trink nur. Das ist meine Spezialproduktion. Schmeckt ausgezeichnet.«

Kristina nippte an dem Glas. »Saurer Apfelsaft«, stellte sie fest.

»Meine Mutter hat gestern einen großen Korb Äpfel aufgelesen. Ich werde noch mehr Saft daraus pressen und ihn bei unseren Clubabenden verkaufen.«

»Kapitalist!«, neckte ihn Basia.

Andrzej zog die Mädchen in eine Ecke.

»Stellt euch vor«, sagte er, »wir haben Pferdewagen aufgetrieben. Die bringen uns morgen zum See.«

»Das ist gut. Zehn Kilometer, das ist selbst für euch Sportler eine schöne Strecke zu Fuß.« Basia lachte. Sie stritt gern mit Andrzej und ließ keine Gelegenheit dazu aus.

»Lass das. Ich habe Sorgen.« Andrzej reichte ihr eine Karte hinüber.

Sie las. Die Popgruppe sagte ab. »Großartig. Ohne die Popgruppe, was werdet ihr machen?«, fragte Basia.

Andrzej zuckte die Achseln.

»Das Schlagzeug ist schnell gefunden.« Er wies zur Bühne hinüber, wo ein kleines Schlagzeug in einer Ecke aufgebaut stand. Witold konnte es leidlich bearbeiten.

»Gitarre spielst du doch selbst.«

»Gitarre und Schlagzeug, hej.«

»Du willst gleich das Krakower Sinfonieorchester, was?«

»Du hast ja keine Ahnung, Basia.«

»Von Musik nicht viel, mein Lieber. Aber vom Organisieren, da hast du so viel Ahnung wie ein . . .«

»Gedichtedrechsler«, warf Kristina bissig ein.

Sofort war der Streit zwischen Basia und Andrzej beendet. Gemeinsam fielen sie über Kristina her.

»Lass meine Gedichte aus dem Spiel!«, fauchte Andrzej und Basia stimmte ein: »Spotten, Täubchen, spotten kann jeder. Dabei weißt du doch selbst, wie das ist, wenn man in der Klemme sitzt. Magenschmerzen und so.«

»War doch nicht böse gemeint«, antwortete Kristina.

»Nicht so gemeint? Dann lass das!«

Kristina fasste sich an den Kopf. »Man meint, ihr wärt im Tollhaus. Was ist denn? Nehmt halt ein Transistorgerät mit, wenn es nicht anders geht.«

Basia schürzte verächtlich die Lippen. »Transistor! Wenn ich das schon höre! Nachrichten. Vortrag des Genossen XY über die Steigerung des Milchertrags. Und dann kriegst du aus dem Ding nur so viel Lärm heraus, dass nicht einmal die Enten am See auffliegen.«

»Lärm und Musik, das ist bei dir dasselbe. Das habe ich mir gedacht«, lachte Kristina.

»Täubchen, Musik, das ist für mich, wenn das Brustbein anfängt zu schwingen. Hier drinnen muss es dröhnen.«

Basia hatte sich zu Kristina gebeugt und schlug sich gegen die Brust.

Dann wandte sie sich ab.

»Aber was weißt du denn von solcher Musik? Flöte! Wenn ich das schon höre! ›Meiner Flöte süße Töne . . .‹«, rezitierte sie mit komisch gepresster Stimme.

Eine kleine Gruppe sammelte sich um die Streithähne.

»Jetzt hast du keine Ahnung, Basia. Ich flöte deinen Andrzej mit seiner Gitarre und Witold mit dem Schlagzeug an die Wand.«

»Gemacht, Schwester. Dann haben wir ja eine Band«, rief Janec. »Ich spiele die Mundharmonika dazu.«

Basia verschlug es die Sprache.

Andrzej aber war Feuer und Flamme. »Wir müssen uns einspielen. Ich hole meine Gitarre und laufe gleich bei Witold vorbei. Ich bringe ihn mit. Sagen wir«, er schaute auf die Uhr, »sagen wir in einer Stunde.«

»Unmöglich«, sagte Kristina.

»Kriegst Angst, Täubchen, vor deiner eigenen Courage, was?«, knurrte Basia.

»Angst?« Janec ergriff Kristinas Partei. »Angst vor euch Straßenmusikanten? Kristina spielt, dass nicht nur der Ton dir die Brust sprengt. Sie spielt so, dass dir die Sohlen brennen wie dem Tanzbären auf dem heißen Blech.«

»Ja, was ist dann? Angst hat sie nicht, aber sie sagt: unmöglich.«

»Die Alte«, antwortete Janec und verzog sein Gesicht gurkensauer.

»Großmutter denkt, ich pauke Mathe mit dir, Basia. Wenn ich jetzt komme und will die Flöte holen . . .«

»Wo liegt die Flöte, Kristina?«, fragte Janec.

»Auf dem Fensterbrett im Kasten.«

»Ich hole sie. Ich wollte die Alte längst mal wieder besuchen.«

»Sie wird die Flöte nicht rausrücken.«

»Ich werde nicht ›dzien dobry‹ sagen, sondern ›gutten Abbend‹. Sie wird hin sein, wenn sie mich deutsch erlebt.«

»Na, viel Glück.«

Janec schob sich durch die Halle. Kristina ging bis zur Tür neben ihm. Sie reichte ihm bis zum Kinn. Er war hellhäutig, blond, breit in den Schultern. Sie dunkel, zart. »Dünn wie ein Besenstiel«, pflegte Basia zu sagen.

»Sei lieb zu Großmutter«, sagte Kristina leise. Janec brummte leise vor sich hin. Es klang nach »stara baba«, alte Hexe.

2

Vor Großmutters Haus war Janec immer mutig. Er wusste ganz genau, was er ihr sagen wollte.

Dass sie eine herrschsüchtige Alte sei. Dass es ein Tick von ihr sei in den Westen zu wollen. Dass er polnisch spreche, wann es ihm gefalle. Dass er sich von ihr, der Alten, schon gar nichts sagen lasse.

Von alldem blieb jedoch im Hause unter ihrem ruhigen klaren Blick nur ein jämmerliches »dzien dobry«.

Selbst diese polnische Herausforderung verfehlte meist ihre Wirkung und wurde mit einem akzentfreien »Guten Tag« quittiert. Gelegentlich murmelte er dann »stara baba«, aber zwischen Murmeln und verständlichem Sprechen liegt ein beträchtliches Stück Mut.

Er trat zu ihr in das Haus. Wolf empfing ihn an der Haustür, legte ihm die Vorderpfoten gegen die Brust und versuchte sein Gesicht zu lecken. Janec kraulte ihm den Nacken und sprang mit ihm um die Wette die sechs Stiegen hinauf. Er klopfte kurz an die braune Tür mit dem fein ziselierten Messingschild: Thomas Bienmann.

Großmutter hatte die Lampe über dem Tisch eingeschaltet. Vor ihr lagen wieder die Formulare. Die Nickelbrille auf ihrer Nase zeigte, dass sie immer noch nach vielleicht übersehenen Mängeln forschte.

»Gutten Abbend«, sagte Janec.

Sie drehte sich halb um und schaute über den Brillenrand hinweg zur Tür. »Bist du es, Hans?«

Er trat zu ihr ins Licht.

»Setz dich, Junge. Schön, dass du unser Haus noch gefunden hast.«

Er hockte sich ihr gegenüber auf die Bank. Wolf legte den Kopf in Janecs Schoß und schloss die Augen halb. Mechanisch tätschelte der Junge den Hund.

»Ich habe viel Arbeit, Großmutter.«

»Du hast es nicht anders gewollt.«

»Ich beklage mich nicht.«

Sie schob die Formulare zur Seite. »Was für eine Arbeit, mein Junge?«

Er streckte die Handflächen über den Tisch zu ihr hinüber.

Sie betastete mit dem Finger die Schwielen. »Ich dachte gar nicht, dass Elektriker solche harten Hände bekommen.«

»Ich habe Schlitze in Mauern gestemmt, Großmutter. Vierzehn Tage lang habe ich mit dem Fäustel und dem Meißel gearbeitet.«

»Bald hört das auf, Hans.« Sie schlug mit der flachen Hand auf die Formulare. »Diesmal werden sie nicht Nein sagen können.«

Janec grinste.

»Den Donatka haben sie vorige Woche vom Amt zurückgeschickt. Er hatte extra einen Urlaubstag drangesetzt und war mit Stanek und Janina in die Stadt gefahren. Und weißt du, was los war?«

»Ich weiß, Hans. Die Fotos waren zu klein. Aber unsere Fotos sind nicht zu klein. Sie stimmen haargenau.«

»Dann werden sie etwas anderes finden, Großmutter. Sie können nicht alle weggehen lassen, die weggehen wollen. Der Donatka ist Spezialdreher. So schnell kann den niemand ersetzen. Der Staat zahlt für Kristinas Ausbildung im Lyzeum. Meinst du, der lässt sie ziehen? Überall gäbe es Lücken. Was macht Mutters Chef ohne Schreibkraft? Was macht Gronski, wenn ich ihm nicht mehr das Auto zusammenflicke? Die Produktion stockt, der Jahresplan kommt ins Schleudern. Das kann sich kein Staat leisten.«

»Du kannst von mir aus weiterreden wie einer von der Partei. Ich werde zu meinem Sohn kommen. Wir sind Deutsche und ich will nach Deutschland. Das ist unser Recht.«

»Ach, Großmutter. Was sollen wir streiten.«

Er dachte daran, wie oft er ihr schon gesagt hatte, dass auch der Staat Rechte habe und dass das sogenannte Recht des Einzelnen dagegen ein Nichts sei. Aber das führte nicht weiter. Sie rührte und rührte dann in ihrem Recht herum, bis es ein ganzer Berg war. Ein Berg aus Schaum, der jedes Mal zusammensank, wenn nach langen Wochen des Wartens wieder einmal der Bescheid der Behörde kam: Nein.

»Hast du Hunger, Hans? Es ist noch Bohnengemüse da.«

»Nein, Großmutter. Ich möchte nichts essen.«

»Junge Männer in deinem Alter sollten kräftig essen.«

»Ein andermal, Großmutter.«

»Mittwoch werden wir die Anträge in die Stadt bringen. Sag es deiner Mutter. Sie soll um Urlaub fragen.«

»Ja. Wie werdet ihr hinkommen?«

»Na, mit dem Bus werden wir uns durchrütteln lassen. Hoffentlich kommt er pünktlich.«

»Wir haben unsere Baustelle in der Stadt. Wenn ihr mitfahren wollt? Es geht um sieben Uhr los.«

»Das nehme ich gern an. Aber wird das dem Gronski recht sein?«

»Ich werde ihn fragen.«

»Schön, das kommt mir gut aus. Aber du bist doch sicher nicht gekommen, um mir den Wagen anzubieten?«

»Nein, ich wollte Kristinas Flöte holen.«

»Die Flöte? Ich denke, Kristina ist bei Basia?«

»Ja. Das stimmt. Aber es hat sich herausgestellt, dass sie morgen für jemand im Orchester einspringen soll.«

»Und da holst du bereits heute ihre Flöte?«

»Heute Abend wollen sie im Jugendclub üben.«

»Und was ist morgen?«

»Morgen am Spätnachmittag fahren wir raus zum See. Der Jugendclub hat Gäste aus der Stadt. Es soll Musik gemacht werden.«

»Ein Konzert?«

»Wenn du es so nennen willst.«

»Du weißt, wo die Flöte liegt. Pass auf, dass . . .«

»Ja, Großmutter, ich weiß. Sie ist empfindlich. Deshalb hast du über den Kasten ja noch die Stoffhülle gestreift.«

Sie schaute ihn verständnislos an. »Na und?«

»Das ist so wie Hosenträger und Gürtel«, sagte er. »Doppelte Sicherheit.«

Sie lachte.

Er stand auf, griff nach der Flöte und gab ihr die Hand. Er war schon an der Tür, als sie ihm nachrief: »Wart, wart!«

Er sah sich um. Sie lief zu dem schmalen Schrank, klappte die Sekretärplatte herunter und holte aus einem der vielen Schubfächer einen Riegel Schokolade. Ihn rührte das immer wieder. Nie ließ sie ihn ziehen, ohne ihm eine Kleinigkeit zuzustecken. Aber er verbarg seine Empfindungen hinter der Bemerkung: »Zigaretten hast du wohl keine, Großmutter, wie?«

Sie merkte, dass er sie necken wollte. »Bist du schon ein Mann?«, fragte sie.

»Na ja«, sagte er, »gestern habe ich mich zum ersten Mal rasiert.«

Wolf drängte sich an seine Knie. Janec fasste seinen Kopf, ließ die Schnurrbarthaare durch seine Finger gleiten und meinte: »So lang wie dein Bart, Hundevieh, ist meiner allerdings noch längst nicht.«

Er schlug die Tür ins Schloss. Das schmalgieblige Haus in der Altstadt hatten sie bis 1966 allein bewohnt, wenn man von der Aleksandrowicz in der Kellerwohnung absah. Dann war Vater verschwunden. Einfach weggegangen. Sie verloren die Wohnung bis auf zwei Zimmer. Monate voller Reibereien folgten. Sie fielen sich in dem engen Raum gegenseitig auf die Nerven. Endlich verschaffte Mutters Chef ihr eine kleine Wohnung im Neubaugebiet. Kristina blieb bei Großmutter, Janec zog mit seiner Mutter.

Der Jugendclub, bald nach dem Kriege gebaut, lag an der Grenze zwischen Altstadt und Siedlung. Janec lief mit schnellen Schritten dorthin zurück. Mit einem »Endlich« wurde er empfangen. Witold schlug bereits ein paar rasselnde Wirbel und Andrzej hatte die Gitarre gestimmt. Die ersten Takte klangen nicht schlecht. Aber Mundharmonika und Flöte hätten etliche Phon mehr hergeben können.

»Einen Namen braucht die Band«, rief Basia. Übermütig machten sie Vorschläge. Józef wollte sie »New Revolution« nennen, Ludmilla war aus unerfindlichen Gründen für »Tränen im Knopfloch«. Aber schließlich setzte sich Janecs Vorschlag durch, der den Namen »Mamas Classic Group« erfand.

Gegen neun drängte Kristina zum Aufbruch. »Wenn ich an die Mathearbeit denke, wird mir übel.«

»Auf Basia vertrauen heißt keine Arbeit verbauen.«

Ob solche Notwehr erlaubt ist?, fragte sich Kristina, als sie nach Hause ging. Der Pfarrer hatte ihr bei der letzten Beichte auch keine rechte Auskunft gegeben. »Wenn der Lehrer wirklich so unfähig ist . . .«, hatte er geflüstert, ihr aber doch drei Ave als Buße auferlegt. Zur Sicherheit, sozusagen.

3

Der nächste Morgen begann für Kristina wie üblich. Großmutter hatte Milch gewärmt. Kaffee ist nicht gesund. Sie hatte ihr einen Apfel zerschnitten und das Kerngehäuse entfernt. Obst ist sehr gesund, besonders mit Schale. Sie hatte ihr zwei Scheiben Brot dick mit Margarine und Honig bestrichen. Honig ist auch gesund.

»Bist du gut vorbereitet auf die Mathearbeit?«

»Na ja.«

Kristina machte sich während der Mathestunden stets Notizen. Aber der Teufel sollte den Kupinski holen. Vielleicht versteht er was von Mathematik. Wahrscheinlich sogar. Denn für ihn ist alles glasklar, völlig einsichtig, ohne Probleme, selbstverständlich. Aber nur für ihn. Er hatte wohl noch nie einen Gedanken darauf verwendet, wie er Mathematik einleuchtend machen könnte. Er redete die ganze Stunde lang. Kristina und fast alle aus der Klasse verstanden nichts. Ausgenommen Basia und vielleicht noch Krisek.

Klara bekam Nachhilfestunden bei einem Mathematikstudenten in der Stadt. Ihr Vater kann so etwas bezahlen. In der Mathe klappte es dennoch nicht. Wer weiß, was er ihr beibrachte. Einige besuchten einen Abendkurs. Die meisten waren auf unerlaubte Hilfe angewiesen. Kupinski machte es ihnen leicht. Ein guter Zensurendurchschnitt ist auch gut für den Lehrer.

Nur Andrzej schrieb stur seine Sechsen. Er konnte es sich erlauben. Er stand in allen anderen Fächern ganz oben. »Ich kann Ihre Mathematik nicht verstehen«, das war alles, was er bei der vorigen Arbeit in das Heft geschrieben hatte. Kupinski hatte eine Mordswut auf ihn.

»Es ist Nebel heute«, sagte die Großmutter.

Wie in meinem Kopf, dachte Kristina. Ich verstehe gar nichts. Warum kapiere ich das nicht, verdammt?

Sie würgte immer noch an der ersten Scheibe. Ihren Magen spürte sie wie einen harten Stein im Leib.

»Du solltest einen Schal nehmen.«

Verrückter Gedanke – im Sommer einen Schal, dachte Kristina. Aber jetzt nur keinen Streit mit Großmutter. »Wenn du meinst«, sagte sie.

Großmutter ging ins Schlafzimmer, um den Schal aus dem Schrank zu nehmen. Kristina warf Wolf den Rest ihres Brotes zu. Der Hund verschlang es gierig. Hoffentlich merkte Großmutter nicht, dass Wolf sich den Honig mit langer Zunge aus dem Bart leckte. Die zweite Scheibe schlug Kristina behände in ein Stück Papier und ließ sie in der Schultasche verschwinden. Die Milch schüttete sie in den Topf zurück.

»Nimm diesen«, sagte Großmutter und reichte ihr den Winterschal.

Na ja. In der Tasche war ja genug Platz.

»Genug Tinte im Füller?«

»Ja.«

»Auch das Lineal und den Zirkelkasten?«

»Ja, Großmutter, alles ist da.«

»Und streng dich an.«

»Klar. Mach ich.«

»Du weißt ja, du lernst nicht für mich.«

»Ja, ja, Großmutter, ich weiß.«

Kristina gab ihr den üblichen flüchtigen Kuss und Wolf einen Klaps zwischen die Ohren. »Tschau«, sagte sie.

»Lass diese Modewörter! Sprich deutsch. Auf Wiedersehen.«

In der Schule ging es gleich los. Bis halb elf hatten sie Zeit. Als es Leocardia mit dem Glockenschlag zehn schlecht wurde, hatte Kristina noch keine einzige Aufgabe gelöst. Basias Zettel kam. Aber Abschreiben ist auch eine Kunst. Kristina würde es nie so perfekt lernen wie Klara. Die machte zunächst ein ratloses, zergrübeltes Gesicht, Schweiß stand ihr auf der Nase. Dann erhellte sich plötzlich ihre Miene. Sie schlug sich gegen die Stirn und schrieb. Ab. Aber der Lehrer hatte jede Phase des Brütens, Dämmerns und der Erleuchtung eindrucksvoll miterleben können. Schließlich sammelte Kupinski die Hefte ein.

»Jetzt erst mal rauchen«, seufzte Leocardia und ging mit Basia und Kristina über den Hof zum Toilettengebäude. Die Mädchen hatten eine einfache und sichere Methode entwickelt das strenge Rauchverbot zu umgehen und nicht aufzufallen. Vom Hof aus gelangte man zunächst in den Waschraum. Eine automatisch schließende Tür führte in den schmalen, langen Flur mit den Toilettenkabinen. War nun die Hausmeisterin auf der Jagd nach Rauchsündern, dann wurde sie bereits im Waschraum von allen gerade anwesenden Mädchen mit einem lauten »Guten Tag, liebe Frau Warczak« begrüßt. Dieser Warnruf ließ den Raucherinnen in den Kabinen genügend Zeit die blauen Dunstwolken wegzufächeln und die Zigarettenreste abzuspülen.

»Strengt an, so ein Anfall, was?«, spottete Basia.

»Macht mir gar nichts aus.«

»Dann sind zehn Zigaretten eine gute Bezahlung.«

Sie traten in den Waschraum. Leocardia riss die Packung auf und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Lungenzüge zeigten die geübte Raucherin.

»Brauchst ja nicht zu zahlen«, sagte sie und ging durch die Tür. Sie lief der Frau Warczak genau in die Arme. »Endlich habe ich eine erwischt!«, rief sie.

Basia lachte und verschwand.

»Komm, du!«, sagte Frau Warczak und griff Kristina beim Ärmel. »Komm du als Zeugin. Sonst bestreitet die noch alles.«

»Aber werte Frau Warczak«, sagte Leocardia und knipste die Glut von der Zigarette. »Sie müssen doch verstehen . . .«

»Nichts will ich verstehen! Dauernd die Asche hier auf dem Boden, ich bin das leid.«

»Aber ich war von der Mathematikarbeit total fertig, werte Frau Warczak. Sie als gebildete Frau wissen doch, wie das ist.«

Kristina verkniff sich das Lachen. Leocardia wusste genau, wie Frau Warczak herumzukriegen war. Schon wurde sie weich. Leocardia wollte die Entwicklung beschleunigen und fügte hinzu: »Ich hatte wieder einen Anfall. Da brauchte ich das.« Doch der dezente Hinweis auf ihre »Krankheit« bewirkte genau das Gegenteil.

»Anfall? Der Pan Direktor hat gesagt, er will dich beim nächsten Anfall zum Arzt schicken. Er glaubt, dass du eine gute Schauspielerin bist.«

Leocardia wurde einen Ton blasser und ihr verschlug es die Sprache. Kristina versuchte ihr Glück.

»Aber liebe Frau Warczak, sehen Sie doch, so etwas bringt die Leocardia nur in große Schwierigkeiten. Das können Sie doch nicht wollen. Sie raucht auch niemals wieder.«

Vielleicht wäre es gelungen das Herz der Warczak zu rühren, aber da rief von draußen jemand: »Was ist, Halina, hast du eine erwischt?«

Gegen den alten Warczak war kein Kraut gewachsen.

»Na, dann kommt, Kinderchen«, seufzte die Hausmeisterin.

»Der Satan!«, zischelte Leocardia und ergab sich in ihr Schicksal. Draußen feixte die ganze Klasse. Der alte Warczak hatte offenbar die Raucherfalle ausgedacht, denn in der Jungentoilette waren auf die gleiche Weise Krisek und Jerzy erwischt worden.

Im Halbkreis standen sie vor dem Pan Direktor.

Immer dasselbe Theater, dachte Kristina. Gleich wird er den Stuhl zurückschieben, die Beine übereinander schlagen und sie bedeutungsvoll ansehen. Dann wird er fragen . . .

Kristina kannte diese Situation. Sie hatte wiederholt vor dem Pan Direktor gestanden, meist mit Janina Donatka, der Schwester von Stanek. Dann ging es allerdings nicht um so harmlose Sachen wie Rauchen.

»Ihre Eltern haben Anträge gestellt. Sie wollen unsere Republik verlassen. Äußern Sie sich dazu!« Und genau das sprach der Pan Direktor auch jetzt: ». . . äußern Sie sich dazu.«

»Jaja«, begann Jerzy, »ich hab nicht daran gedacht.«

»Woran hast du nicht gedacht?«

»Dass er erwischt werden kann«, sagte Krisek und alle mussten lachen. Außer dem Pan Direktor natürlich.

»Antworten Sie nur auf Fragen«, sagte er streng. Er wandte sich an Kristina: »Der Geschichtslehrer sagt, er hätte Sie schon in der Stadt mit einer Zigarette gesehen.«

»Das kann nicht sein. Ich rauche nicht.«

»Außer eben in der Toilette«, sagte der Pan Direktor sarkastisch.

»Nein, auch eben nicht.«

»Was, Herr Warczak, sagen Sie dazu?«

»Na ja, Pan Direktor, es ist ja verboten für Männer.«

»Was ist verboten?«

»Na, auf die Damentoilette zu gehen.«

»Sie haben die Mädchen gar nicht rauchend angetroffen?«

»Nein, weil sie doch verboten ist für männliche Personen. Die Damentoilette. Wie konnte ich da etwas sehen?«

»Ja, warum haben Sie mir dann die Mädchen hergebracht?«

»Meine Frau, Pan Direktor, die Halina, die hat die Mädchen erwischt. Auf frischer Tat, sozusagen.«

»Nur die eine, Pan Direktor, die Leocardia hab ich erwischt«, warf Frau Warczak ein.

»Und was soll Kristina hier?« Der Pan Direktor war leicht verwirrt.

»Als Zeugin ist sie da. Nur als Zeugin«, murmelte Frau Warczak.

»Was haben Sie gesehen, Kristina?«

»Gar nichts, Pan Direktor. Ich war im Waschraum. Die Tür zum Toilettenraum war geschlossen.«

»Stimmt das, Frau Warczak?«, fragte der Pan Direktor.

»Ja«, antwortete der Hausmeister statt seiner Frau, »das stimmt, Pan Direktor. Aber Sie können doch nicht, Pan Direktor, meiner Frau Vorwürfe machen, weil die Tür geschlossen war. Sie selbst haben doch . . .«

»Aber wer macht denn Ihrer Frau Vorwürfe? Was hat das überhaupt mit der ganzen Sache zu tun?«, rief der Pan Direktor und sprang wütend auf.

»Gestatten Sie, Pan Direktor, ich wollte ja nur erklären, dass Sie es veranlasst haben. Das mit dem automatischen Schließer an der Tür. Sie erinnern sich doch? Ich war dagegen.«

»Ja, Teufel, ich erinnere mich. Aber hier geht es doch um Rauchen auf der Toilette und nicht um Türschließer.«

»Den Teufel, Pan Direktor, muss ich zurückweisen, sozusagen. Wenn Sie damals auf mich gehört hätten! Kein Schließer, hat der Warczak gesagt. Die Türen bleiben offen, hat der Warczak gesagt. Dann hätte dieses Mädchen heute«, er wies mit der ausgestreckten Hand auf Kristina, »dann hätte sie alles genau sehen können, nicht wahr, Halina?«

Seine Frau wusste nicht mehr, was sie sagen sollte, und nickte nur. Der Pan Direktor ließ sich erschöpft auf seinen Stuhl fallen. »Sie wissen, das Rauchen ist nicht gut für die Gesundheit«, sagte er matt.

»Und die Umwelt wird verschmutzt«, ergänzte Krisek.

»Der ganze Boden!« Frau Warczak hob ihre Stimme, doch der Pan Direktor schnitt mit einer ärgerlichen Handbewegung ihren Redefluss ab.

»Ich wollte doch nur, wegen der Asche«, stammelte sie.

»Rauchen ist hier verboten, klar?«

»Jawohl, Pan Direktor.«

Sogar Kristina hatte laut im Chor mitgesprochen.

»Und Ihre Haare, Krisek, die sind mal wieder zu lang. Gehen Sie zum Friseur und zeigen Sie mir bis Mittwoch das Ergebnis vor.«

»Jawohl, Pan Direktor«, maulte Krisek. Die Sekretärin im Vorzimmer hob erstaunt den Kopf, als sie ihn halblaut schimpfen hörte: »Scheiße. Wie kleine Kinder behandelt man uns.«

4

Der See spiegelte den klaren Sommerhimmel. Die alten Kiefern säumten rings das Oval und die gelbrötlichen Stämme schlugen um das Bild einen reizvollen Rahmen. Kein Hauch kräuselte die Wasserfläche, kein Lüftchen wiegte die Nadelbüschel in den Wipfeln. In geringer Höhe zog ein Fischadler seine weiten Kreise. Erst als Hufgestampf und Rädermahlen in die Stille einbrachen, regte er seine Schwingen, schlug sie kräftig bis unter das weißbraun gesprenkelte Brustgefieder und hob sich in größere Höhen, bis er, von Lärm und Lachen gescheucht, zu den Wäldern hin fortsegelte.

Dort, wo Buschwerk und Bäume am Westufer eine Lichtung ausgespart hatten und die gelbe Sandzunge weit in den See hineinleckte, hielten zwei Gespanne. Junge Leute sprangen von den flachen Wagen, schirrten die Pferde aus und pflockten sie am Waldrand an. Die Männer klappten die Seitenbretter der Wagen herunter, schoben sie dicht nebeneinander und kurbelten die Bremsblöcke fest.

»Soll ich dir helfen, Witold?«, fragte Andrzej den Schlagzeuger, der damit begann sein Gerät aufzubauen.

»Niemand lasse ich an mein Instrument. Stimme du nur deine Gitarre.«

Kristina blies wiederholt das A. Witold straffte das Kalbfell der großen Trommel, Andrzej zupfte die Saiten und drehte die Wirbel.

»Janec, hör auf mit deiner Mundharmonika. Bei dem Katzengejammer kann ja kein Mensch eine Gitarre stimmen.«

Janec antwortete: »Schaff dir endlich eine Mundharmonika an, dann hast du das Stimmen gespart!«

»Mundharmonika!«, schnaufte Andrzej verächtlich. »Ist das überhaupt ein Instrument?«