Das Kaffeehaus - Falscher Glanz - Marie Lacrosse - E-Book
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Das Kaffeehaus - Falscher Glanz E-Book

Marie Lacrosse

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Beschreibung

Die junge Sophie von Werdenfels tritt ihre Stelle als Kaiserin Sisis Hofdame an. Doch im Hofstaat hat sie es schwer. Insbesondere die Gräfin Marie Festetics, Sisis Favoritin, verfolgt jeden ihrer Schritte mit Eifersucht und Argwohn. Sophie erlebt das vordergründig glamouröse, hinter den Kulissen jedoch zutiefst bigotte Leben am Kaiserhof mit. Als Hofdame muss sie auch an der Hochzeit ihrer großen Liebe Richard mit Amalie von Thurnau teilnehmen. Als sie selbst gegen ihren Willen mit einem viel älteren Adeligen verheiratet werden soll, flieht sie vom Hof ins Kaffeehaus ihres mittlerweile schwer kranken Onkels. Dort übernimmt sie die ersten Leitungsaufgaben …

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Buch

Die junge Sophie von Werdenfels tritt ihre Stelle als Kaiserin Sisis Hofdame an. Doch im Hofstaat hat sie es schwer. Insbesondere die Gräfin Marie Festetics, Sisis Favoritin, verfolgt jeden ihrer Schritte mit Eifersucht und Argwohn. Sophie erlebt das vordergründig glamouröse, hinter den Kulissen jedoch zutiefst bigotte Leben am Kaiserhof mit. Als Hofdame muss sie auch an der Hochzeit ihrer großen Liebe Richard mit Amalie von Thurnau teilnehmen. Als sie selbst gegen ihren Willen mit einem viel älteren Adeligen verheiratet werden soll, flieht sie vom Hof ins Kaffeehaus ihres mittlerweile schwer kranken Onkels. Dort übernimmt sie die ersten Leitungsaufgaben …

Autorin

Marie Lacrosse hat in Psychologie promoviert und arbeitete viele Jahre hauptberuflich als selbstständige Beraterin überwiegend in der freien Wirtschaft. Ihre Autorentätigkeit begann sie unter ihrem wahren Namen Marita Spang und schrieb erfolgreich historische Romane. Heute konzentriert sie sich fast ausschließlich aufs Schreiben. Ihre Trilogie „Das Weingut“ wurde ebenso wie der Beginn der »Kaffeehaus«-Saga zu einem großen SPIEGEL-Bestseller. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in einem beschaulichen Weinort.

Weitere Romane der Autorin sind bei Goldmann in Vorbereitung.

Mehr Informationen unter www.marielacrosse.de

Marie Lacrosse

Das KaffeehausFalscher Glanz

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe April 2021

Copyright © 2020 by Marie Lacrosse

Copyright der deutschsprachigen Erstausgabe © 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Laurence Winram/Trevillion Images

© akg-images/IMAGNO/Archiv Seemann

© FinePic®, München

Redaktion: Heike Fischer

BH · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25139-0V001

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz:

Onkel Ernst, dem mit 97 Jahren verstorbenen Onkel meines Mannes, gewidmet.Er kannte all meine Bücher und war damit wahrscheinlich mein ältester Leser.

Wien ist eine Stadt,die um einige Kaffeehäuser herum errichtet ist.

Bertolt Brecht

Eine Möwe bin ich von keinem Land,Meine Heimat nenne ich keinen Strand,Mich bindet nicht Ort und nicht Stelle,Ich fliege von Welle zu Welle.

Aus dem poetischen Tagebuch der Kaiserin Elisabeth: Nordsee Lieder, März 1885,zitiert nach Brigitte Hamann 1997

»Sie haben’s gut, Sie können ins Kaffeehaus geh’n!«

Franz Joseph I., Kaiser von Österreich

Dramatis Personae

Es werden nur die handlungstragenden Figuren aufgeführt. Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

Sophies Familie

Komtess Sophie von Werdenfels, genannt Phiefi, ältere Tochter des Freiherrn Nikolaus von Werdenfels

Freiherr Nikolaus von Werdenfels, ihr tödlich verunglückter Vater

Henriette von Freiberg, genannt Yetta, geb. Danzer, ehemalige Freiherrin von Werdenfels, Sophies wiederverheiratete Mutter

Arthur, Freiherr von Freiberg, ihr zweiter Ehemann und Sophies Stiefvater

Nikolaus, genannt Nikki, Sophies älterer Bruder, im Jahr 1881 umgekommen beim Brand des Ringtheaters

Emilia, genannt Milli, Sophies jüngere Schwester

Stephan Danzer, Henriettes älterer Bruder und Sophies Patenonkel; Besitzer des Kaffeehauses Prinzess

Richards Familie

Richard von Löwenstein, genannt Richie, einziger Sohn einer Nebenlinie der Familie; Offizier in der k. u. k. Armee und Freund des verstorbenen Kronprinzen Rudolf

Eduard von Löwenstein, Richards Vater

Aglae von Löwenstein, seineMutter

Charlotte und Bernadette, Richards jüngere Zwillingsschwestern

Graf Maximilian von Löwenstein, genannt Max, Richards Onkel und Majoratsherr der Familie von Löwenstein

Maximilian, genannt Maxi, dessen ältester Sohn; Leutnant in der k. u. k. Armee

Graf Adalbert von Thurnau, ein Cousin mütterlicherseits von Richards Vater

Komtess Amalie von Thurnau, genannt Ami, seine einzige Tochter

Die kaiserliche Familie

Kaiser Franz Joseph I.*, regierender Monarch und Familienoberhaupt der Habsburger

Kaiserin Elisabeth*, genannt Sisi, seine Frau

Kronprinz Rudolf*, ihr einziger Sohn, durch Selbstmord verstorben im Januar 1889

Kronprinzessin Stephanie*, Rudolfs Frau

Prinzessin Elisabeth*, genannt Erzsi, Rudolfs und Stephanies Tochter

Prinzessin Gisela*, älteste Tochter des Kaiserpaars

Prinzessin Marie Valerie*, jüngste Tochter des Kaiserpaars

Erzherzog Albrecht von Österreich-Teschen*, Onkel des Kaisers Franz Joseph und oberster Heerführer von Österreich-Ungarn; Richard von Löwensteins Vorgesetzter

Marie Therese von Braganza*, Gattin des jüngeren Kaiserbruders Karl Ludwig, Stiefmutter des Thronprätendenten und erste Dame bei Hofe in Abwesenheit Sisis

Erzherzog Franz Ferdinand*, Sohn des jüngeren Kaiserbruders Karl Ludwig und zukünftiger Thronprätendent nach Kronprinz Rudolfs Tod

Erzherzog Rainer*, Schwager von Erzherzog Albrecht und Großneffe Kaiser Franz Josephs; Kommandeur des 59. Infanterieregiments in Salzburg

Gräfin Marie Louise Larisch*, geb. Wallersee, Sisis Nichte

Die Familie Vetsera

Komtess Marie Alexandrine von Vetsera*, genannt Mary, zweitälteste Tochter der Familie und Sophies ehemals beste Freundin; Geliebte des Kronprinzen Rudolf, mit ihm gestorben im Januar 1889

Baronin Helene von Vetsera*, Marys Mutter

Johanna*, genannt Hanna, ihre ältere Schwester

Mitglieder des Hofstaats

Baron Franz Nopcsa*, Obersthofmeister der Kaiserin

Gräfin Maria von Goëss*, Obersthofmeisterin der Kaiserin

Gräfin Ida von Ferenczy*, ungarische Hofdame Sisis

Gräfin Marie von Festetics*, ungarische Hofdame Sisis

Charlotte von Majláth*, ungarische Hofdame Kaiserin Sisis bis zum Frühjahr 1890

Janka von Mikes*, ungarische Hofdame Sisis; fiktiv als Nachfolgerin Sophies von Werdenfels, real als Nachfolgerin Charlotte von Majláths

Fanny Feifalk*, Friseurin der Kaiserin

Friederike von Taxis, genannt Fredi, Hofdame der Marie Therese von Braganza

Personal

Franzi, Sophies Kammerzofe in der Hofburg

Ida, langjährige Mitarbeiterin in Stephan Danzers Kaffeehaus, später Mamsell im Haushalt von Werdenfels

Mina Löb, Aufseherin im Café Prinzess

Toni Schleiderer, Chefkonditor und langjähriger Mitarbeiter im Kaffeehaus Prinzess

Sanna, Serviererin im Café Prinzess

Gruber, erster Diener im Haus Werdenfels

Sieber, erster Diener im Haus Thurnau

Clemens, Richards Bursche

Josef Bratfisch*, Rudolfs ehemaliger privater Leibkutscher

Weitere Personen von Bedeutung

(in alphabetischer Reihenfolge)

Dr. Victor Adler*, Arbeiterführer und Mitgründer der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, Herausgeber der Zeitschrift Gleichheit

Ernestine von Breuner, eine junge Komtess

Mizzi Caspar*, ehemalige Luxusprostituierte und Geliebte Rudolfs

Irene Gerban, Arbeiterführerin, zukünftige Gräfin von Sterenberg

Theodor von Hirschstein, Textilfabrikant und Großaktionär der Wiener Tramway-Gesellschaft

Agnes Jahoda*, Mary Vetseras ehemalige Zofe

Joseph Jahoda*, Agnes Vater, ehemaliger Angestellter der Vetseras; im Roman fiktiv Tramway-Kutscher

Benjamin Löb, jüdischer Kleinkrämer und Minas Vater

Anna Nahowski*, langjährige Mätresse Kaiser Franz Josephs bis März 1889

Katharina Schratt*, Schauspielerin am Hofburgtheater; anfangs Freundin, später wahrscheinlich Mätresse Kaiser Franz Josephs

Graf Ferdinand von Sterenberg, Irene Gerbans Schwiegervater

Jakob Stern, Besitzer eines Zaubertheaters im Wurstelprater; entfernter Verwandter Mina Löbs

Graf Lajosz Szalay, reicher ungarischer Großgrundbesitzer; Verwandter der Hofdame Marie von Festetics

Gräfin Anna von Wilczek und ihre Tochter Annelie

Johanna Wolf*, Edelbordellwirtin in Wien

Angehörige des Militärs

Emil Schuster, Gefreiter im 59. Infanterieregiment in Salzburg

Leutnants Zimmerer und Nemec, Offiziere im 59. Infanterieregiment in Salzburg

Kadett-Offizier Holzinger*, Sohn des Richters Dr. Ferdinand Eduard Holzinger*; im Roman mit fiktiver Zugehörigkeit zum 59. Infanterieregiment

Hauptmann Bernhard von Gersfeld, Vorgesetzter der Leutnants Nemec und Zimmerer

Oberstleutnant Ferdinand Weiss*, Kommandant des 9. Dragonerregiments in Czernowitz; im Roman mit fiktiver Rolle

Weitere historische Personen von Bedeutung für die Handlung

(in alphabetischer Reihenfolge)

Graf Gyula Andrássy*, Führer der ungarischen Rebellen und späterer ungarischer Ministerpräsident

Graf Carl Albert von Bombelles*, Obersthofmeister des Kronprinzen Rudolf und stadtbekannter Lebemann

Dr. Ferdinand Eduard Holzinger*, Reichsritter von Janaburg; Richter am Wiener Ausnahmegericht

Fürstin Pauline von Metternich*, Grande Dame der Wiener Gesellschaft

Engelbert Pernerstorfer*, parteiloses Mitglied im Abgeordnetenhaus des österreichischen Reichsrats

Moritz Szeps*, persönlicher Freund Rudolfs, Herausgeber des Neuen Wiener Tagblatts

Graf Eduard von Taaffe*, konservativer Ministerpräsident Österreichs ab 1879

Dr. Hermann Widerhofer*, kaiserlicher Leibarzt

Prolog

Café Prinzess am Graben

Donnerstag, 28. Februar 1889

»Ach, Phiefi! Nun schau doch nicht gar so trübsinnig drein! Ich dachte, du freust dich, dass wir heute noch einmal alle gemeinsam hier sein dürfen.«

Sophie von Werdenfels schreckte aus ihren Gedanken auf und zwang sich, ihrer jüngeren Schwester Emilia zuzulächeln. »Du hast ja recht, Milli! Wer weiß schon, wann und ob …«

Sophie biss sich auf die Lippen. … wir uns überhaupt wiedersehen können, hatte es ihr schon auf der Zunge gelegen zu sagen.

»Schau, Phiefi!« Milli zeigte aufgeregt mit dem Finger auf einen großen, massigen Mann, der mit einem Tablett in den Händen und einem breiten Lächeln im runden Gesicht auf den Tisch zutrat, an dem Sophie mit ihrer Mutter Henriette und ihrer Schwester saß. »Onkel Stephan bedient uns heute sogar selbst!«

Stephan Danzer war der Besitzer des Kaffeehauses Prinzess, in dessen luxuriöserem Teil, dem Konditorei-Café, die drei Damen Platz genommen hatten.

»Servus, Yetta! Servus, ihr Madln!«, grüßte er. »Wie schön, euch hier alle zusammen zu sehen. Mina hat mir ausgerichtet, was ihr bestellt habt.« Er setzte das Tablett ab und küsste seine Schwester Henriette und ihre beiden Töchter nacheinander auf beide Wangen. »Über dich freu ich mich ganz besonders, Milli!« Er strich seiner jüngeren Nichte liebevoll über die blonden Haare. Dann zog er nachdenklich die Stirn kraus. »Bist du nicht sogar zum ersten Mal hier?«

Milli nickte strahlend. »Die Phiefi hat es beim Stiefvater durchgesetzt! Er hätte mich sonst nicht mitgehen lassen. Aber die Phiefi bekommt jetzt alles von ihm, was sie will!«

Danzer wechselte einen kurzen Blick mit Henriette. Die senkte den Kopf und griff nach Millis Hand.

»Als kleines Madl warst du schon einmal hier«, sagte sie leise. »Damals mit deinem Vater Nikolaus. Aber das weißt du sicher nicht mehr.«

Milli schüttelte den Kopf. Ihre Miene wurde ernst. Eine kurze Weile herrschte betretenes Schweigen.

Nikolaus von Werdenfels, Henriettes erster Mann und große Liebe, war vor fast zehn Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Schon ein Jahr später hatte sich die verzweifelte Henriette Trost und Halt von einer zweiten Ehe mit Arthur von Freiberg versprochen, was sich rasch als tragischer Irrtum herausstellte.

Schon unmittelbar nach der Hochzeit erwies sich Arthur als Familientyrann, der den ganzen Haushalt mit seiner despotischen Art beständig auf Trab hielt. Von Anbeginn an erhob er Anspruch darauf, seine ehelichen Rechte auch bei der Verwaltung von Henriettes beträchtlichem Vermögen, das ihr Nikolaus hinterlassen hatte, geltend zu machen. Dabei hielt er Frau und Stieftöchter äußerst knapp, sodass ihnen ein standesgemäßes Leben zeitweise kaum mehr möglich war.

Nachdem Sophies älterer Bruder Nikki dann auch noch im Dezember 1881 bei dem furchtbaren Brand des Ringtheaters ums Leben gekommen war, hatte sich Henriette jahrelang vollständig aus der Gesellschaft zurückgezogen.

Nur zwei Umstände bewahrten Sophie vor einer völlig beschwerten Jugend. Zum Glück der gesamten Familie hatte Arthur von Freiberg, der dem diplomatischen Dienst des Ministeriums des Äußeren angehörte, bis vor Kurzem mehrere Jahre lang in Kairo gearbeitet. Die ägyptische Hauptstadt lag weit genug entfernt, sodass Arthur nur wenige Urlaubswochen pro Jahr in Wien verbringen konnte.

Diese Freiheit hatte Sophie vor allem dazu genutzt, ihren Patenonkel Stephan so oft wie möglich in seinem Kaffeehaus zu besuchen, was Arthur ihr eigentlich streng verboten hatte. Dort blühte sie regelrecht auf und half eine Zeit lang sogar als Aufseherin aus, bevor das Schicksal erbarmungslos zuschlug.

Ihre beste, erst siebzehnjährige Freundin Mary Vetsera hatte sich, trotz Sophies Warnungen, in eine unglückselige Liebesaffäre mit Kronprinz Rudolf, dem einzigen Sohn des Kaisers Franz Joseph und seiner Ehefrau Elisabeth, gestürzt. Die Beziehung endete überaus tragisch mit dem Freitod der beiden. Das war erst knapp einen Monat her. Und damit war es auch mit Sophies unbeschwertem Leben vorbei gewesen.

Denn ihr fehlten jetzt nicht nur die fröhlichen Stunden in Gesellschaft Marys, die Sophie immer wieder zu allerlei Festlichkeiten mitgenommen hatte, welche sie selbst sich aufgrund des Geizes ihres Stiefvaters nicht leisten konnte. Oder zu denen sie aufgrund der schlechten Reputation Arthurs in der Wiener Gesellschaft gar nicht erst eingeladen wurde.

Viel schlimmer war, dass Sophie seit Marys Tod nahezu ununterbrochen Schuldgefühle plagten. Mary hatte sie von Anfang an in ihre verhängnisvolle Beziehung mit dem Thronfolger eingeweiht, allerdings unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit. Deshalb und weil Mary ihr immer wieder mit Selbstmord gedroht hatte, falls Sophie sie verriete, hatte sie es nicht gewagt, Marys Mutter Helene alles zu beichten.

Natürlich wäre ihre Freundschaft mit Mary dann zu Ende und damit der zweite Umstand dahin gewesen, der Sophies Leben in den letzten Jahren erträglich gemacht hatte. Doch wenigstens wäre Mary dann nicht tot und sie selbst nicht in dieser furchtbaren Lage.

»Phiefi! Du sagst ja gar nichts!«, riss Stephan Danzer sie aus den trüben Gedanken, denen sie erneut anheimgefallen war. »Deine Mandelmelange wird ganz kalt! Und magst du denn deine Torte gar nicht kosten?«

»Doch, doch, natürlich!«, schreckte Sophie auf. Obwohl ihr die Kehle wie zugeschnürt war, stach sie mit der Kuchengabel ein Stückchen der köstlichen Mokkaprinzentorte ab, dem Markenzeichen des Cafés Prinzess. Der vertraute, leicht bittere Geschmack des hochwertigen Arabica-Kaffees, den Danzer für das Rezept verwendete, das er hütete wie seinen Augapfel, lenkte Sophie ein wenig von dem ab, was ihr bald bevorstehen würde.

Einen Moment lang schloss sie genießerisch die Augen. »Das ist wirklich die beste Torte der Welt.« Sie ließ sich die Buttercreme mit ihrem feinen Aroma auf der Zunge zergehen.

Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf Millis etwas betretene Miene. Ihre Schwester hatte ebenfalls ein Stück Torte gekostet und ließ ihre Kuchengabel unwillkürlich auf den handbemalten, goldumrandeten Teller sinken. Auch das kostbare Geschirr war ein Markenzeichen des Cafés. Sophie schmunzelte.

»Doch mich dünkt, Milli ist noch ein wenig zu jung für die Torte«, schloss sie aus deren leicht verzogenem Mund. Sie hob lachend die Hand, als die Dreizehnjährige zu einem energischen Protest ansetzen wollte. »Als ich so alt war wie du, hat mir die Torte auch noch nicht so gut geschmeckt wie heute.«

Danzer musterte seine jüngere Nichte besorgt. »Magst du denn etwas anderes haben?«

»Komm, sag mir die Wahrheit!«, hakte er nach, als Milli zunächst den Kopf schüttelte. »Ich will, dass es euch allen heute so richtig gut geht!«

Milli lächelte zaghaft. »Könnte ich vielleicht eine Buchtel haben?« Das war eine mit Marmelade gefüllte und mit Vanillesoße übergossene Dampfnudel.

Danzer runzelte die Stirn. »Macht euch die Ida solche Buchteln denn nicht daheim?«

»O doch! Und sie sind ganz ausgezeichnet!«, mischte sich Henriette ein. Ida war eine ehemalige Angestellte Danzers und führte heute als Mamsell den Haushalt im Palais Werdenfels.

»Dann kannst du Buchteln doch alle Tage essen, Milli! Ich wollte dir etwas ganz Besonderes bieten«, wandte ihr Onkel ein. Als er ihren enttäuschten Blick sah, gab er nach. »Natürlich kannst du auch eine Buchtel haben, mein Schatzerl! Im Café Prinzess gibt es die zwar erst in der Fastenzeit, aber ich kann dir eine aus der Küche des Kaffeehauses kommen lassen.«

Das luxuriöse Café und das ihm angeschlossene traditionelle Kaffeehaus verfügten über verschiedene Küchen im weitläufigen Souterrain des Eckhauses an der Dorotheergasse zum Graben, zwei der belebtesten Straßen Wiens.

Schon winkte Danzer Mina Löb, der neuen Aufseherin, die erst seit einigen Wochen im Café arbeitete, als Sophie sich wieder einmischte.

»Warte, Onkel Stephan! Ich glaube, ich habe auch die herrliche Orangentorte in der Mehlspeisen-Vitrine gesehen, stimmt’s?«

Danzers Augen begannen zu strahlen. »Das hast du richtig bemerkt, mein Liebes.« In seiner Stimme lag Stolz. »Die Torte kommt bei der Kundschaft so gut an, dass ich sie jetzt ganzjährig anbiete. Obwohl Orangen im Winter sehr teuer sind und ich daran nur halb so viel verdiene wie im Sommer.«

»Dann solltest du einmal davon kosten, Milli!«, riet Sophie ihrer Schwester. Als die weiterhin skeptisch dreinblickte, insistierte sie. »Bitte tu mir den Gefallen! Der Onkel freut sich, und ich mich auch! Und du hast doch selbst gesagt, dass es hier heute fröhlich zugehen soll!«

Eine halbe Stunde später war die Stimmung rund um den Marmortisch mit seinen gedrechselten, weißgoldenen Beinen deutlich gelöster. Milli hatte die Orangentorte ganz ausgezeichnet geschmeckt, und sie war sowohl gegenüber ihrem Onkel als auch gegenüber Sophie des Lobes voll.

Wie schön wäre es, wenn es in unserer Familie öfter so heiter zuginge, seufzte Henriette von Freiberg innerlich.

Ihr Ehemann Arthur, der vor Kurzem wieder nach Wien versetzt worden war, duldete während der Mahlzeiten kaum ein Gespräch, geschweige denn Lachen und Scherzen. Die Stieftöchter hatten die Eltern mit »Sie« anzusprechen. Auch die Eheleute siezten einander, selbst wenn sie unter sich waren. Genauso wenig durften die Kurznamen Yetta, Phiefi und Milli in seiner Gegenwart benutzt werden.

Dabei waren solche Spitznamen paradoxerweise sogar ein Merkmal der feinen Wiener Gesellschaft. Arthur selbst hatte jedoch keinen solchen Kurznamen. Damit unterschied er sich auch von fast allen Gästen, die sich mittlerweile mit schöner Regelmäßigkeit an jedem Donnerstag im Palais Werdenfels zu Henriettes Jours fixes einstellten.

Vielleicht bessert sich seine Stimmung jetzt ja mit der Zeit, nachdem er endlich in den Freiherrenstand erhoben wurde.

Henriettes erster Ehemann Nikolaus hatte diesen Titel trotz seiner ebenfalls bürgerlichen Herkunft bereits in zweiter Generation getragen. Er war seinem Vater, einem erfolgreichen Glasfabrikanten, wie so vielen Großbürgern, vom Kaiser verliehen worden. Arthur hatte es dagegen bis zu ihrer Hochzeit nur zum »Ritter« gebracht. Das war der niederste Adelstitel und typisch für den sogenannten Beamtenadel, der bewährten Staatsdienern nach einer gewissen Anzahl von Dienstjahren verliehen wurde.

Dass ein Beamter auch noch zum Freiherrn aufstieg, war allerdings überaus selten. Arthurs Vorgesetzter in Kairo, der verstorbene Vater der unglücklichen Mary Vetsera, war eine solche Ausnahme gewesen. Angestachelt durch dessen Vorbild und wohl auch bemüht, den gesellschaftlichen Abstieg zu kompensieren, den ihre Heirat für Henriette bedeutete, hatte sich ihr zweiter Ehemann jahrelang vergeblich um den Titel bemüht. Bis es ausgerechnet nach dem Tod des Kronprinzen Rudolf endlich so weit gewesen war.

Immerhin hat mir Arthurs Ehrgeiz dazu verholfen, wieder mehr am Leben teilzunehmen, musste sich Henriette insgeheim eingestehen. In der Hoffnung, dass dies für seine Bewerbung von Vorteil wäre, hatte Arthur Henriette anfangs quasi dazu gezwungen, ihr Einsiedlerinnendasein aufzugeben und wieder in der Öffentlichkeit aufzutreten. Dazu gehörte auch, dass sie in ihrem Palais jede Woche an einem festgelegten Tag, dem Jour fixe, ihr Haus ab einer bestimmten Stunde für Gäste öffnete, die ohne Anmeldung erscheinen konnten. Gelegentlich lud sie darüber hinaus sogar zu Soireen und Diners ein.

Trotz anfänglicher Bedenken fand Henriette mittlerweile großen Gefallen an diesen Aktivitäten. Zumal damit auch Arthurs Geiz bezüglich ihrer Garderobe und der ihrer Töchter ein jähes Ende gefunden hatte. Denn nahezu nichts nahm die Wiener Gesellschaft übler als aus der Mode gekommene oder unpassende Kleidung.

Habe ich Sophie für ihre neue Aufgabe wirklich gut genug ausgestattet?, ging es Henriette jetzt erneut durch den Kopf. Sie musterte ihre Tochter, bemühte sich aber, sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen. Heute war Phiefi endlich ein wenig fröhlicher als in der letzten Zeit, genauer gesagt, seitdem sie erfahren hatte, dass sie von der Kaiserin in deren Hofstaat berufen worden war. Schon morgen würde sie diese neue Position antreten.

Warum macht ihr diese Ehre denn so gar keine Freude?, grübelte Henriette wie so oft, seit die Nachricht vor einigen Wochen im Palais Werdenfels eingetroffen war. An diesem jungen Mann, diesem Richard von Löwenstein, kann es nicht liegen. Es sah zwar eine Zeit lang für mich so aus, als ob er um Phiefi werben würde. Aber alle Welt weiß doch, dass er sich an Silvester mit Amalie von Thurnau verlobt hat. Also muss Phiefi in dieser Hinsicht wegen ihrer Berufung an den Hof ja auf gar nichts verzichten.

Hofdamen mussten grundsätzlich unverheiratet sein und ihren Dienst quittieren, sobald sie sich verlobten.

Ob es also doch etwas mit dieser höchst merkwürdigen Geschichte um den Kronprinzen Rudolf und Mary Vetsera zu tun hat?, grübelte Henriette ebenfalls zum wiederholten Mal. Aber was sollte Phiefi damit zu tun gehabt haben?

Sophie selbst schwieg über dieses Thema wie ein Grab. Henriette hatte mehrmals vergeblich versucht, diesbezüglich etwas aus ihr herauszubekommen. Sie wusste, dass Mary kurz vor dem Tod des Kronprinzen durchgebrannt war, und dass man munkelte, sie sei mit Rudolf in Mayerling gestorben.

Dafür, dass dies wahr sein könnte, sprach auch der Skandal, den Henriette auf dem Empfang in der deutschen Botschaft am Tag vor Marys Flucht mitbekommen hatte. Mary hatte die Kronprinzessin Stephanie vor aller Augen brüskiert und ihr sogar den Hofknicks verweigert, als sie ihr vorgestellt wurde. Doch was für eine Rolle spielte Phiefi bei alledem?

Marys Mutter, ihre alte Freundin Helene Vetsera, konnte Henriette auch nicht danach fragen. Dies zwar nicht, weil ihr Arthur, wie immer ohne jede Begründung, den Kontakt zu der Familie seines ehemaligen Förderers untersagt hatte. An dieses Verbot gedachte Henriette sich nämlich nicht zu halten.

Schon immer hatte sie die berufliche Abwesenheit ihres Gatten genutzt, um solche Weisungen unauffällig zu missachten. Damit nutzte sie eine der wenigen Möglichkeiten, sich gegen den Despotismus ihres Gatten zu wehren, die den rechtlosen Ehefrauen in der Habsburgermonarchie zur Verfügung standen.

Doch die Baronin war noch vor Rudolfs Beerdigung Anfang Februar mit den beiden ihr noch verbliebenen Kindern Hanna und Feri nach Venedig abgereist. Henriette wusste nicht, wann sie zurückkehren wollte.

»Yetta!« Die Stimme ihres Bruders klang etwas ungeduldig. »Verfällst jetzt etwa du in Gedanken, obwohl unsere Phiefi endlich etwas aufgetaut ist? Ich dachte, wir feiern heute alle gemeinsam. Schließlich haben wir uns seit vielen Jahren nicht mehr in dieser fröhlichen Runde getroffen!«

Ebenso wie Sophie, die sich allerdings mit Henriettes Einverständnis nicht daran hielt, hatte Arthur auch ihr und Milli bislang jeden Kontakt zu ihrem Bruder Stephan verboten. Danzer war zwar bereits vor vielen Jahren zum k.u.k Hoflieferanten aufgestiegen, aber genau wie sie selbst vor ihrer ersten Heirat von bürgerlicher Herkunft und daher »kein standesgemäßer Umgang«, wie Arthur es auszudrücken pflegte.

Schuldbewusst blickte Henriette auf. »Milli hat dich gerade etwas gefragt!«, ergänzte Danzer.

»Was denn, mein Schatzerl?«, wandte sich Henriette an ihre jüngere Tochter.

»Phiefi sagt, ihre Ausstattung für den Hof sei viel zu üppig. Sie würde das alles dort gar nicht brauchen.«

Henriette straffte den Rücken. Dieses Thema hatte sie in den letzten Tagen schon öfter mit Sophie diskutiert.

»Das sehe ich nicht so«, antwortete sie Milli eine Spur verärgert. »Zumal sich der Salon der Madame Spitzer selbst übertroffen hat, um all die Roben, die deine Schwester bei Hofe benötigen wird, in so kurzer Zeit anzufertigen. Es ist schließlich eins der feinsten Modeateliers in Wien! Dennoch arbeiteten sie dort rund um die Uhr und stellten sogar vorübergehend einige zusätzliche Schneiderinnen ein.«

»Was ist bei der Ausstattung denn so alles dabei?«, fragte Danzer Sophie.

Die machte eine wegwerfende Handbewegung. »Eine Menge Toiletten, sowohl für den Sommer als auch für den Winter. Für den Morgen, den Nachmittag und den Abend. Sogar zwei Ballroben sind darunter, obwohl es bei Hofe so schnell ja wohl keine Festlichkeiten mehr geben wird.«

»Du meinst wegen der Trauerzeit für Kronprinz Rudolf?«, warf Milli ein.

Sophie nickte. »Trotzdem gehört sogar eine Trauerrobe zur Ausstattung! Das ist so vorgeschrieben. Man weiß ja nie, wann es den nächsten Todesfall gibt«, endete sie vielsagend.

»Jedenfalls habe ich in den letzten Tagen stundenlange Anproben über mich ergehen lassen müssen«, fügte sie angesichts der irritierten Blicke rund um den Tisch rasch hinzu.

Danzer musterte Sophie verwundert. »Ich dachte, so etwas macht jungen Damen eher Spaß, als dass es ihnen Verdruss bereitet.«

Sophie zuckte mit den Achseln und erwiderte nichts.

Henriette war nun ernstlich gekränkt. »Arthur hat keine Kosten, und ich habe keine Mühen gescheut, um Sophie standesgemäß auszustatten«, wandte sie sich an ihren Bruder. »Alle Roben und Toiletten sind aus den wertvollsten Stoffen gefertigt: Seide, Taft, Crêpe de Chine, die Winterroben aus Samt und Brokat! Alles besetzt mit Brüsseler Spitze oder mit feinster Stickerei verziert. Das Budget dafür war dreimal so hoch wie für unsere gesamte Garderobe in der letzten Saison. Und damals hat Arthur sich schon nicht lumpen lassen.«

»Erstaunlich«, brummte Danzer. Die Abneigung, die er für den zweiten Mann seiner Schwester empfand, beruhte auf Gegenseitigkeit.

»Ich habe mich von meiner Freundin, der Gräfin Anna Wilczek, beraten lassen«, ging Henriette mit einem enervierten Unterton in der Stimme darüber hinweg. »Sie hat das mit sehr viel Contenance getan. Schließlich findet ihre eigene Tochter Annelie nicht einmal einen Bräutigam, geschweige denn, dass sie an den Hof berufen wird. Wahrscheinlich würde die Gräfin ihre rechte Hand dafür hergeben, könnte sie ihrer Tochter damit solch eine Chance verschaffen.«

Sophie öffnete schon den Mund, um trotzig etwas zu erwidern, als Danzers Blick sie zum Schweigen brachte.

Es war Milli, die die peinliche Stimmung fröhlich durchbrach. »Und es sind noch ganz viele andere Sachen dabei! Hüte, Schals, Fächer, Wäsche, Nachtgewänder, Seidenstrümpfe, Schuhe«, zählte sie auf. »Vier große Koffer voller Garderobe. Ach ja, und natürlich noch Jacken, Mäntel, Mantillen und sogar …«

»Lass es gut sein, Milli!«, unterbrach Sophie sie lächelnd.

»… Schmuck«, vollendete Milli dennoch ihren Satz. »Mama hat Phiefi Ketten, Broschen, Armbänder und Ringe aus ihrer eigenen Schatulle auswählen lassen! Als junge unverheiratete Komtess darf sie Schmuck nur als Mitglied des Hofstaats tragen! Sonst verbietet es der Anstand.«

»Besonders gut gefällt mir dein Abschiedsgeschenk, liebe Milli, der kleine silberne Wecker!«, fügte Sophie hinzu.

»Auch alles andere, was du erhalten hast, dünkt mich jetzt kein Anlass für Unmut zu sein, Phiefi!«, tadelte Danzer Sophie sanft. Die warf einen Blick auf die traurige Miene ihrer Mutter und sprang spontan auf.

»Verzeih mir, liebste Mama!« Sie legte Henriette die Arme um den Hals und küsste sie auf beide Wangen. »Ich wollte nicht undankbar sein und dich schon gar nicht kränken! Bitte verzeih mir!«

Henriettes Ärger schmolz dahin und wich der Rührung. »Dann ist es nur der Abschiedsschmerz, der dir so zu schaffen macht?«, fragte sie.

»Natürlich! Ich werde euch drei so sehr vermissen!« Sophies Antwort kam einen Moment verzögert, was ihrer Mutter ebenso wenig entging wie der Schatten, der kurz über die Züge ihrer Tochter glitt. Doch sie fragte nicht weiter nach.

»Dann sollten wir alle jetzt fröhlich weiterfeiern!«, schlug Danzer vor. »Schließlich scheint Phiefi mit ihrer zukünftigen Stellung selbst Arthur in die Schranken gewiesen zu haben. Immerhin hat sie durchgesetzt, dass ihr alle heute hierherkommen durftet.«

Und nicht nur das …, räsonierte Henriette.

Tatsächlich konnte sich Sophie an keine einzige Gelegenheit erinnern, bei der ihr Stiefvater ihr oder einem anderen Familienmitglied derart nachgegeben hätte. Anfangs gebärdete sich Arthur aufgrund ihrer Flucht zu ihrem Onkel, mit der Sophie spontan auf ihre Berufung an den Hof reagiert hatte, wie ein Wahnsinniger und drohte sogar damit, sie gewaltsam wieder nach Hause schaffen zu lassen. Im Vergleich dazu zeigte er sich geradezu lammfromm, als Sophie vor zehn Tagen aus freien Stücken wieder ins Palais Werdenfels zurückgekehrt war.

Immer wieder dachte sie seither an das Gespräch mit dieser seltsamen Frau aus dem Hause Sterenberg zurück, das ihrer freiwilligen Heimkehr vorausgegangen war. Die Dame nannte sich ganz bürgerlich Irene Gerban und war früher sogar als Dienstmädchen und Fabrikarbeiterin tätig gewesen, obwohl sie in ferner Zukunft einmal den Titel Gräfin führen würde. Diese harten Zeiten hatten aus Irene offensichtlich eine lebenserfahrene, wenn nicht sogar lebenskluge Frau gemacht. Die Unterredung mit ihr hatte Sophie im Erfrischungsraum des Cafés Prinzess geführt, in den sie sich zuvor in ihrer Verzweiflung, das Kaffeehaus wieder verlassen zu müssen, geflüchtet hatte.

In jenem Gespräch riet ihr Irene, nicht, wie einst sie selbst, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen und sich dabei überflüssige Blessuren zu holen. Stattdessen solle sie die Vorteile ihrer neuen Position nutzen und sogar gewisse Forderungen mit ihr verbinden.

Sophie hatte dies eingeleuchtet. Und so war sie daher, anstatt demütig für ihre Widerspenstigkeit um Verzeihung zu bitten, an jenem denkwürdigen Tag mit hoch erhobenem Kopf ins Palais Werdenfels zurückgekehrt.

»Ich werde mich Ihrem Willen und dem der Kaiserin fügen und in deren Hofstaat eintreten«, erklärte sie mit noch ungewohntem Selbstbewusstsein, genau wie Frau Gerban es ihr geraten hatte. »Doch ich erwarte, dass ich nicht nur die Pflichten einer Hofdame erfüllen muss, sondern auch alle Rechte, die mit dieser Stellung verbunden sind, selbst in Anspruch nehmen darf.«

Arthur fixierte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen, was seinem Gesicht, wie üblich, ein diabolisches Aussehen verlieh. »Was genau soll das heißen?«

Sophie holte tief Luft. »Ich verfüge allein über mein Gehalt von zweihundert Gulden monatlich. Da ich noch nicht volljährig bin, ist dazu erforderlich, dass Sie mir als Vormund eine entsprechende Vollmacht für die Hofkasse ausstellen.«

Ihr Stiefvater verzog keine Miene und sagte zunächst weder Ja noch Nein dazu.

»Und weiter?« Offensichtlich bemerkte er, dass Sophie noch nicht fertig war.

»Wenn mir die Obersthofmeisterin Urlaub gewährt, kann ich nicht nur das Palais Werdenfels ohne Ihre Erlaubnis aufsuchen, sondern jederzeit auch das Kaffeehaus meines Onkels Stephan.«

Jetzt zeigte Arthur von Freibergs Gesicht einen Ausdruck von Ärger.

»Und was tust du, wenn ich mich weigere?«

Mit dieser Frage hatte Sophie gerechnet und daher ihre Antwort parat. »Dann werde ich am Tag des Antritts meiner Stelle die Obersthofmeisterin, Gräfin von Goëss, darum bitten, unverzüglich wieder aus meinem Amt entlassen zu werden.«

Arthur sog empört die Luft durch die Zähne. »In diesem Fall würde ich dich sofort in ein Kloster sperren lassen!«, drohte er.

Aber auch damit hatte Sophie gerechnet. Gespielt gleichgültig hob sie die Schultern. »Ich werde im übernächsten Sommer volljährig, Vater.« Sie betonte die von Arthur geforderte Anrede spöttisch. »Ob ich diese Zeit nun in der Hofburg verbringe, die man einen ›Goldenen Käfig‹ schimpft, oder in einem Kloster, ist mir einerlei.«

Eine Weile starrten die beiden Kontrahenten einander an. Dann wandte ihr Stiefvater, zu Sophies Triumph, zuerst den Blick ab.

»Nun gut. Ich bin einverstanden«, knurrte er. »Allerdings mit einer Einschränkung. Du wirst jeglichen Kontakt zu diesen Vetseras unterlassen. In Wien machen die seltsamsten Gerüchte über die Verwicklung dieser Familie in den Tod unseres hochverehrten Kronprinzen die Runde. Weiterhin mit ihnen zu verkehren, könnte sowohl deiner Reputation bei Hofe als auch meiner Diplomatenlaufbahn erheblich schaden.«

Henriette, die dem Gespräch bislang schweigend beigewohnt hatte, zuckte zusammen. »Das gilt selbstverständlich auch für Sie, meine Liebe«, fügte Arthur, an Sophies Mutter gewandt, hinzu.

Sophie wollte schon auffahren, als sie nach der gespielt demütigen Zusage ihrer Mutter deren Augenzwinkern wahrnahm, das Arthur völlig entging.

Kommt Zeit, kommt Rat, dachte sie, während sie mit einem knappen Kopfnicken scheinbar ebenfalls Zustimmung signalisierte. Auf gar keinen Fall werde ich mich diesem Gebot fügen. Obwohl sie vermutete, dass auch die Kaiserin einen solchen Kontakt mit der Familie der letzten Geliebten ihres Sohnes nicht dulden würde. Schließlich hatte Sisi Sophie ja nur an den Hof berufen, um sich auf diese Weise ihres Schweigens über die Geschehnisse im Jagdschloss Mayerling zu versichern.

Schweigen über Mayerling. Die Erinnerung an ein erst kurz zurückliegendes Ereignis schoss plötzlich wie ein Geysir in ihr hoch und erfüllte sie mit heißem Zorn. Um die fröhliche Runde im Café Prinzess nicht schon wieder mit ihren Gefühlen zu trüben, entschuldigte sich Sophie, um sich eine Weile in den Erfrischungsraum für Damen zurückzuziehen. Dort schloss sie sich, wie schon vor zehn Tagen, in einer der Kabinen ein und ließ die Szene Revue passieren, die sie so sehr bewegt hatte.

Die Vetseras waren schon längst nach Venedig abgereist, als Marys Zofe Agnes Jahoda Sophie vor ein paar Tagen im Palais Werdenfels aufgesucht hatte. Agnes war, wie sie selbst, Marys Vertraute gewesen. Als Tochter des Portiers hatte sie dieser immer wieder dazu verholfen, sich in der Abwesenheit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Hanna unbemerkt mit Rudolf zu einem Schäferstündchen in der Hofburg zu treffen. Dazu entwendete sie jeweils den Schlüssel zum Eingangstor aus der Portiersloge ihres Vaters.

Obwohl Mary Agnes reichlich für ihre Dienste entlohnt hatte, musste zur Verteidigung der Zofe gesagt werden, dass auch sie Mary immer wieder vor den Folgen ihrer Affäre gewarnt hatte. Wie Sophie war Agnes nach dem Tod ihrer jungen Herrin am Boden zerstört.

»Die Gräfin Larisch hat mi scho am Tag nach der Beerdigung vom Kronprinzen in ihr Hotel bestellt«, teilte Agnes Sophie während ihres kürzlichen Besuchs mit. »Sie wollt’ wissen, ob jemand was über ihre Kuppelei in der Affäre von der Mary und dem Rudolf weiß.«

Sophies Puls beschleunigte sich. »Und was hast du ihr gesagt?«

»Gar nix.« Agnes schürzte trotzig die Lippen. »Sie weiß ned, dass wir beide der Baronin die ganze Wahrheit g’sagt haben. Und sie wollt’ mi zum Schweigen bringen. I sollt auf kein Fall verraten, dass sie auch drin verwickelt war.«

Marie Louise von Larisch, die Tochter aus der morganatischen Ehe von Sisis ältestem Bruder Ludwig, war ehemals die Lieblingsnichte der Kaiserin gewesen. Sophie hatte sie zuletzt in der Hofburg gesehen. Das war an jenem Tag gewesen, an dem Sisi sie selbst einbestellt hatte, um sie über die Geschehnisse in Mayerling auszufragen. Damals schien die Kaiserin, Marie Louise nicht empfangen zu wollen. Etwa, weil sie deren Rolle als Kupplerin schon kannte? Aber woher?, ging es ihr nun während ihres Gesprächs mit Agnes durch den Kopf.

»Hast du denn sonst noch jemandem über die Rolle, die die Gräfin in der Affäre gespielt hat, erzählt?«, fragte sie Agnes gespannt.

»Gar niemand außer der Gnädigen«, beteuerte Agnes.

Wenn die Kaiserin etwas weiß, muss sie das also aus einer anderen Quelle haben, wurde Sophie klar. Aber welche könnte das sein?

»Was wird denn nun aus dir und deinem Vater?« Sie vermutete, dass Agnes sie aus diesem Grund aufgesucht hatte.

Tatsächlich traten dem jungen Mädchen, es war kaum älter als Mary, Tränen in die Augen.

»Die Baronin wollt’ mein Vater und mi z’erst auf der Stell’ rauswerfen«, gestand sie. »Nur die Hanna hat sie dran g’hindert. Sie hat g’sagt, dass mei Vater und i ned dafür büßen sollen, dass die Mary mit dem Rudolf g’flohen is.«

»Aber Marys Mutter hält sich jetzt doch nicht daran«, schloss Sophie aus Agnes’ trauriger Miene. Die schluchzte auf.

»Na, des macht’s ned. Neulich is a Schreiben kommen, dass mei Vater und i aus’m Haus müssen, bevor’s aus Venedig z’ruckkommt. Der erste Diener hat’s uns g’sagt. Wir kriegen zwar noch a Abfindung von drei Monatslöhn, aba wir müssen weg. Und drum komm i heut zu Ihna.«

Sophie ahnte, was nun kam. »Haben S’ ned a Stellung für mi, gnä’s Fräulein? Mei Vater will sich bei die Tramway-Kutscher verdingen, aba da verdient man nur an Hungerlohn. Der reicht ned zum Leben und ned zum Sterben. Und er wird mir außerdem nie verzeih’n, dass er sei’ gute Stellung wegen mir verlor’n hat.«

Erst jetzt fielen Sophie Spuren von Misshandlungen in Agnes’ Gesicht auf.

»Er hat dich geschlagen!«, konstatierte sie voller Mitleid.

Nun rannen Agnes die Tränen über die bleichen Wangen. »So verdrosch’n wie am Tag von sei’m Rausschmiss hat er mi noch nie«, bejahte sie mit erstickter Stimme.

Sophie zog sich der Magen zusammen. Denn auch sie würde die junge Frau enttäuschen müssen.

»Leider kann ich gar nichts für dich tun, Agnes.« Dann erzählte sie der Zofe von ihrer Berufung an den Hof. Dort würde man ihr eine eigene Kammerzofe zur Verfügung stellen, hatte in dem Schreiben der Obersthofmeisterin an ihren Stiefvater gestanden.

Kurz überlegte sie, ob sie ihre Mutter bitten sollte, Agnes einzustellen. Doch womit hätte sie das begründen sollen? Ihrer Mutter die ganze Wahrheit zu enthüllen, kam nicht infrage. Sie wollte ihre Familie nicht in ihren eigenen Schlamassel hineinziehen. Und Henriette würde sicher wissen wollen, warum sie eine Zofe einstellen sollte, die ihre Freundin Helene entlassen hatte.

So drückte Sophie Agnes ihre ganze Barschaft von fünf Gulden in die Hand und ließ die Weinende mit wehem Herzen ziehen.

Ihre Hilflosigkeit verwandelte sich an jenem Tag zum ersten Mal in brennenden Zorn auf die Gräfin Larisch. Durch ihre Geldgier und Skrupellosigkeit hatte diese nicht nur Mary auf dem Gewissen. Nein, auch deren junge Zofe geriet dadurch nun ins Elend. Seither grübelte Sophie immer wieder ergebnislos darüber nach, wie sie sich an Marie Louise Larisch für all das Unheil, das sie mit angerichtet hatte, rächen könnte. Doch bislang war ihr nichts eingefallen.

Zumal die Kaiserin ja möglicherweise bereits Verdacht geschöpft hatte und ihre Nichte durch Missachtung strafte. Doch reichte das aus, um es der Larisch, dieser falschen Schlange, heimzuzahlen? Auf dem Mahagonideckel der Toilette sitzend, ballte Sophie jetzt hilflos die Hände zu Fäusten.

Jemand betrat den Erfrischungsraum. »Phiefi?«, hörte Sophie ihre Schwester Milli rufen. Wenig später klopfte es an ihrer Kabinentür. »Phiefi?« Nun klang Milli ängstlich. »Bist du da drinnen? Geht’s dir nicht gut? Ist dir übel geworden?«

»Nein, nein.« Zum Schein betätigte Sophie die Spülung und trat dann aus der Kabine. »Mit mir ist alles in Ordnung.«

Milli musterte sie forschend. Sie schien nicht überzeugt zu sein. »Dann komm jetzt mit, Phiefi. Onkel Stephans Landauer ist schon vorgefahren. Er soll uns rechtzeitig zum Nachtmahl nach Hause bringen.«

Mit einem Kloß im Magen betrat Sophie hinter Milli wieder das Café. Wehmütig ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen.

Trotz der Faschingszeit fehlte in diesem Jahr die bunte Dekoration. Wegen des Todes des Kronprinzen verzichteten die an sich faschingsbegeisterten Wiener auf fast alle Festlichkeiten.

Zwar hatte man im Café den Trauerflor eine Woche nach Rudolfs Beerdigung wieder entfernt, um die Gäste nicht dauerhaft melancholisch zu stimmen. Aber die wertvollen venezianischen Masken, die sonst zu dieser Jahreszeit an den Wänden hingen, waren ebenso in den Aufbewahrungsschränken geblieben wie die mit Karnevalsmotiven bemalten Väschen und die mit Faschingssymbolen bestickten Tischdecken.

Stattdessen war bereits die übliche Dekoration für die Fastenzeit angebracht worden. Buchsbaumzweige in schlichten weißen Gefäßen ohne jede Bemalung standen als einziger Schmuck auf den Tischen mit den blütenweißen, nur mit Lochstickerei versehenen Decken. Auch auf den Wandkonsolen befand sich keine der wertvollen, kostümierten Figurinen aus Meißner Porzellan, die ihr Onkel erst im vergangenen Jahr erstanden hatte. Sie stammten vom k.u.k Glaswarenhändler Lobmeyr, der neben seinen in der eigenen Manufaktur hergestellten, kostbaren Trinkservicen auch hochwertige Porzellanwaren ausländischer Firmen vertrieb. Bei Lobmeyr hatte ihr Onkel auch einst die kleine Figur gefunden, die ihn zu seinem Mokkaprinzen aus Marzipan, dem Markenzeichen seiner berühmten Torte, inspiriert hatte.

Anstelle der Figurinen standen verschiedene Grünpflanzen auf den Konsolen. Frühestens zu Ostern würden im Café Prinzess wieder bunte Frühlingsmotive vorherrschen.

Trotzdem erinnerte Sophie sich an eine andere Faschingssaison, zu der ihr damals Stephan Danzer ein Meerjungfrauenkostüm für einen Ball im Palais Vetsera geschenkt hatte. Ein Stich fuhr ihr durch die Brust. Auf diesem Ball war sie Richard von Löwenstein zum ersten Mal begegnet. War das erst drei Jahre her? Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.

Wann würde sie das nächste Mal hierher ins Café kommen können? Würde ihr die Obersthofmeisterin überhaupt ab und zu Urlaub gewähren, wenn die Kaiserin abwesend war? Oder müsste sie Sisi auch auf ihren zahlreichen Reisen begleiten und wäre dauernd weit weg von Wien?

Sophie spürte den forschenden Blick ihres Patenonkels auf sich ruhen. Jetzt trat er auf sie zu und nahm sie fest in die Arme.

»Kopf hoch, Phiefi!«, murmelte er. »Du wirst auch diese Herausforderung meistern. Ich schicke dir jede Woche ein paar Köstlichkeiten aus dem Café an den Hof. Wird dich das freuen?«

Sophie nickte. Es würgte sie in der Kehle. Aus Angst, jeden Moment in Tränen auszubrechen, brachte sie kein Wort hervor.

»Dann leb wohl, mein Schatzerl.« Danzer ließ sie los. Auch Mina Löb, die neue tüchtige Aufseherin, reichte Sophie zum Abschied die Hand und wünschte ihr Glück.

»Sie sind hier jederzeit von ganzem Herzen willkommen, Fräulein Sophie«, sagte sie. »Ich verspreche Ihnen, ich passe gut auf alles auf und halte Ihr Andenken in Ehren. Ich weiß, wie sehr Sie an alldem hier hängen!« Sie machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm, die den ganzen Caféraum umfasste.

Der Brief! Plötzlich durchfuhr es Sophie siedend heiß. Mina wird das Ankleidezimmer schon benutzt haben! Jetzt, wo ich es nicht mehr brauche. Hoffentlich findet sie das Geheimfach in der Kommode nicht.

Dort hatte Sophie Marys Abschiedsbrief an sie versteckt, von dessen Existenz außer ihr nur Richard von Löwenstein wusste. Es war ein gefährliches Dokument. Es enthielt kompromittierende Informationen über Rudolfs und Marys Pläne, auf welche Weise sie gemeinsam in den Tod gehen wollten. Da der Hof bislang offiziell Marys Anwesenheit in Mayerling verschwieg, hatte Sophie gegenüber der Kaiserin behauptet, den Brief vernichtet zu haben.

Was sie aber trotzdem nicht davor bewahrt hatte, als Hofdame berufen zu werden. An ihrer Person hatte Sisi dabei mit Sicherheit keinerlei Interesse. Es ging ihr nur darum, Sophie mit ihrem gefährlichen Wissen unter Kontrolle zu bekommen.

Wieder würgte es sie in der Kehle. Einen kurzen Moment lang war Sophie versucht, sich ins Ankleidezimmer zu schleichen, den Brief aus seinem Versteck zu nehmen und ihn am nächsten Tag der Kaiserin zu übergeben. Doch würde ihr das wirklich weiterhelfen?

Nein. Es würde lediglich beweisen, dass ich Sisi damals belogen habe, wurde Sophie klar.

Sie riss sich zusammen und straffte den Rücken. Plötzlich spürte sie mit untrüglicher Sicherheit, dass ihr der Brief eines Tages noch von Nutzen sein würde. Wann und unter welchen Umständen das wäre, wusste sie freilich nicht.

Doch der Tag wird kommen. Und so lange bleibt das Schreiben hier im Kaffeehaus. Ein besseres Versteck dafür gibt es nicht.

Teil 1 Im Schatten von Mayerling

Kapitel 1

Palais Thurnau in der Herrengasse

Freitag, 1. März 1889, am frühen Morgen

Richard erwachte unsanft, als ihm Amalie, die sich im Schlaf neben ihm rekelte, mit ihrem spitzen Ellenbogen ins Gesicht stieß.

»Autsch!« Er griff sich an die Nase und betastete sie. Natürlich war sie nicht gebrochen, so stark war Amalies Schlag nun auch wieder nicht gewesen. Aber sie schmerzte höllisch. Außerdem merkte er, dass seine Füße eiskalt waren, da ihm Amalie auch das dicke Federbett weggezogen hatte.

Sein Blick fiel auf die nur halb zugezogenen Vorhänge. Draußen war es noch stockfinster. Wahrscheinlich war der Kachelofen, der sein Schlafzimmer im Palais Thurnau beheizte, nur mehr lauwarm.

Richard lauschte in das noch stille Palais. Nur entfernt waren einige leise Geräusche zu hören. Die ersten Dienstboten standen auf, also konnte es nicht später als halb fünf Uhr früh sein. Dennoch höchste Zeit für Amalie zu verschwinden. Er rüttelte sie unsanft an der Schulter, erreichte aber lediglich, dass sie sich murrend auf die andere Seite drehte.

Seufzend zog er die Decke über seine Füße und streckte sich noch einmal auf dem Rücken aus. Wie jedes Mal, wenn er mit ihr geschlafen hatte, fühlte sich Richard danach schäbig und ekelte sich vor sich selbst.

Fast jede zweite Nacht schlich seine Verlobte sich mittlerweile in sein Zimmer, seitdem sie zum ersten Mal miteinander verkehrt hatten. Das war in einer der Nächte gewesen, in denen Richard sich sinnlos betrunken hatte, um seinen Schmerz über den Selbstmord des Kronprinzen, mit dem er eng befreundet gewesen war, aber vor allem über Sophies Zurückweisung zu betäuben. Berauscht, wie er war, hatte Ami ihn verführt, während er dabei von Sophie träumte. Erst als er im Morgengrauen aufgewacht war, fand er Amalie anstatt Sophie an seiner Seite.

Rasend vor Wut und Scham hatte Richard sie damals aus seinem Schlafgemach gewiesen und so lange geschnitten, bis seine Verlobte sich ihrem Vater anvertraute. Adalbert von Thurnau machte Richard unmissverständlich klar, dass er ihn für den Schuldigen an ihrem vorehelichen Beischlaf hielt, obwohl Richard Amalie dabei keineswegs ihre Unschuld geraubt hatte. Die hatte sie schon zwei Jahre vor der Verlobung mit ihm verloren, als sie eine Affäre mit einem Kammerdiener einging, von dem sie sogar schwanger wurde.

Obwohl Amalie von Thurnau zu den vermögendsten und hübschesten Komtessen des Hochadels gehörte, war sie damit »verdorbene Ware«, wie Richards Offizierskameraden es verächtlich ausgedrückt hätten. Die damals blutjunge Sechzehnjährige war nicht nur keine Jungfrau mehr, was ein erfahrener Ehemann in der Hochzeitsnacht sicherlich gemerkt hätte. Aufgrund einer Fehlgeburt, die überhaupt erst zur Entdeckung ihrer Liebschaft geführt hatte, war es sogar möglich, dass sie unfruchtbar geworden war.

Jedenfalls wollte Adalbert von Thurnau den Zorn des Kaisers nicht riskieren, indem er seine Tochter unter falschen Voraussetzungen einem hochadeligen Gemahl andiente, der womöglich die Scheidung verlangen würde, wenn dies alles herauskäme. Adalbert hätte damit auch seine Hoffähigkeit aufs Spiel gesetzt. Denn Kaiser Franz Joseph ahndete solche Verstöße gegen die guten Sitten selbst in seiner eigenen Familie gnadenlos.

Also traf es sich gut, dass Adalberts Cousin Max, der Majoratsherr der Löwensteiner, ihn bat, ihm das Geld für die Tilgung von Spielschulden zu leihen, die sein Neffe Richard leider gemacht hatte. Adalbert beglich zwar die Schulden und bewahrte Richard damit vor der unehrenhaften Entlassung aus der Armee, zwang ihm im Gegenzug dafür aber seine Tochter als zukünftige Gattin auf.

Zähneknirschend beugte sich Richard, da ihm gar keine andere Wahl blieb. Eine unehrenhafte Entlassung aus seinem in der Wiener Neustadt stationierten 2. Dragonerregiment, aus dem Richard zudem als Stabsoffizier des Kronprinzen abgeordnet worden war, hätte die mittlerweile verarmte, aber uralte Familie von Löwenstein die Hoffähigkeit kosten können. Und damit den Ausstoß aus der illustren Gesellschaft der dreihundert Familien, die sich zum Hochadel und damit zur Crème de la Crème der Habsburgermonarchie zählten.

Doch dann hatte Richard Sophie kennengelernt. Sie eroberte sein Herz zwar nicht im Sturm. Aber bei jeder Begegnung verliebte er sich mehr in sie.

Sophie war die beste Freundin Mary Vetseras gewesen, der Geliebten des Kronprinzen in jener fatalen Affäre, die beide vor knapp einem Monat das Leben gekostet hatte. Weder Richard noch Sophie hatten die Tragödie verhindern können. Aber diese brachte sie zunächst sehr eng zusammen.

Angesichts einer trostlosen Zukunft als Gemahl seiner seit jeher ungeliebten Cousine Amalie brachte Richard es nicht über sich, auf Sophies Liebe zu verzichten. Er wollte daher einen Ausweg wählen, wie er für viele unglücklich verheiratete Ehemänner in der Habsburgermonarchie typisch war, und bot Sophie an, seine heimliche Geliebte zu werden. Das lehnte sie empört ab. Als er sie bei ihrer letzten Begegnung im Kaffeehaus ihres Onkels diesbezüglich noch ein weiteres Mal heftig bedrängte, betonte sie sogar, dass sie in Zukunft nur noch formell mit ihm verkehren wolle, wie mit einem flüchtigen Bekannten.

So standen die Dinge, als sich Amalie vor einigen Wochen zum ersten Mal in sein Bett geschlichen hatte. Da ihre Hochzeit aufgrund des Hoftrauerjahrs um Kronprinz Rudolf, währenddessen sich jede größere Festlichkeit in Wien verbot, aufs nächste Frühjahr verschoben werden musste, hatte Adalbert in völliger Verkennung von Richards wahren Gefühlen für Amalie den beiden sogar die Fortsetzung ihres vorehelichen Verkehrs erlaubt. Vorausgesetzt, die Dienerschaft bekäme nichts davon mit und Richard behandelte Amalie respektvoll als seine zukünftige Ehefrau.

Seither kam Amalie nachts immer öfter in Richards Bett. Ihren Kniffen, ihm Lust zu bereiten, die er eher von einer professionellen Dirne erwartet hätte als von seiner achtzehnjährigen Braut aus vornehmem Hause, erlag er dabei immer wieder aufs Neue. Um sich danach selbst zu verachten und Amalie innerlich zu verfluchen. Zumal ihn diese an Olga erinnerte, die Kokotte, deretwegen er sich überhaupt so sehr verschuldet hatte, dass die Heirat mit Amalie sein letzter Ausweg gewesen war.

Nun kniff Richard die Augen zusammen und versuchte, im Dunkeln das Zifferblatt einer kleinen Standuhr zu lesen. Gerade in diesem Moment hörte er die Glocke des nahe gelegenen Stephansdoms fünfmal schlagen. Er rüttelte wieder an Amalies Schulter, diesmal so energisch, dass sie endlich wach wurde.

»So stürmisch, mein Geliebter?«, hauchte sie lasziv und drückte ihren nur mit einem hauchzarten Negligé bekleideten, geschmeidigen Körper enger an ihn.

Schon ließ sie ihre Hand erneut seinen Bauch hinabwandern, als er sie festhielt. »Für heute Nacht ist es genug, Ami«, knurrte er. »Du musst jetzt in dein Zimmer zurückkehren. Die Mägde werden jeden Moment kommen, um die Öfen anzuheizen und die Nachtgeschirre zu leeren.«

»Oooch!«, machte Amalie. »Du willst mich schon wieder wegschicken? Aber ich gehe erst, wenn du mir eine Frage beantwortet hast.«

Mittlerweile hatten sich Richards Augen an die Dunkelheit gewöhnt, zumal die Gaslaternen im Hof ein schwaches Licht durch den Spalt zwischen den Vorhängen warfen. Ami wirkte nun hellwach und blickte ihn mit einem Ausdruck an, den er mittlerweile zu fürchten gelernt hatte. So sah sie aus, wenn sie etwas im Schilde führte.

»Was für eine Frage?«, brummte er unwirsch.

»Stimmt es, dass die Gräfin Marie Louise Larisch diese Mary Vetsera mit dem Kronprinzen verkuppelt hat? Sie soll dieser halbseidenen Komtess angeblich sogar zur Flucht nach Mayerling verholfen haben. Deshalb hat die Kaiserin auch mit ihr gebrochen, obwohl die Gräfin ihre eigene Nichte ist.«

Richard fuhr auf, als hätte ihn etwas gestochen. »Wer behauptet denn so etwas?«, fragte er scharf.

Doch Amalie ließ sich, wie üblich, nicht einschüchtern. »Mein eigener Vater und dein Onkel Max«, erwiderte sie frech. »Ich habe gestern ganz zufällig ein Gespräch der beiden mit angehört, nachdem die Tür zum Rauchsalon offen stand.«

»So, so, ganz zufällig.« Richard versuchte, sarkastisch zu klingen, während ihm in Wirklichkeit der kalte Schweiß ausbrach. Pfiffen die Spatzen in Wien die Einzelheiten dieses tragischen Ereignisses denn mittlerweile schon von den Dächern?

Auf den zweiten Blick wunderte ihn das allerdings nicht. Er hatte Alexander Baltazzi, Marys Onkel und Vormund, im exklusiven Wiener Jockeyclub, dem sie beide angehörten, davor gewarnt, auch nur das Geringste darüber verlauten zu lassen.

Doch Alex hatte seine Warnungen in den Wind geschlagen. Die Empörung seiner Freunde, mit denen er vor allem die Liebe zum Reitsport teilte, tat Marys Onkel gut. Zumal nach dem Trauma von Marys würdeloser heimlicher Beerdigung, bei der ihm nur Richard tröstend zur Seite gestanden hatte. Vor diesem Hintergrund stimmte sogar er – trotz seiner Trauer um den Kronprinzen – ab und zu offen der Verurteilung von Rudolfs Verhalten zu, das verantwortungslos oder sogar erbärmlich und feige genannt wurde. Denn war es das nicht auch gewesen?

Rechtfertigte Rudolfs Angst vor einem einsamen Tod tatsächlich die Erschießung einer siebzehnjährigen naiven Komtess, die in ihrer Liebe zu ihm völlig verblendet gewesen war? Sooft sich Richard diese Frage stellte, so oft lautete die Antwort mit jeder Faser seines Körpers darauf: Nein.

Doch mit Ami hatte er noch nie über diese Angelegenheit gesprochen. Lieber hätte er sich die Zunge abgebissen.

»Also ist es wahr?«, hakte die nun nach. Die Sensationslust in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Sie griff nach dem Nachtlicht und knipste es an, offensichtlich, um Richards Miene im matten Schein besser deuten zu können.

»Was genau hast du denn gehört?«, wich er zunächst aus.

»Nun, man munkelt, dass diese Mary Rudolf …« Offensichtlich suchte Amalie nach den richtigen Worten, was bei ihr alles andere als oft vorkam.

»Du weißt schon«, fuhr sie fort. »Wie in dieser komischen Geschichte von diesem Abélard und seiner Geliebten, hieß sie nicht Louise?«

Richard war fassungslos. »Du willst damit sagen, dass Mary Rudolf …« Jetzt fehlten selbst ihm die Worte.

»Also ist es wahr!«, schlussfolgerte Amalie freudig. »Diese Vetsera war also in der Todesnacht bei Rudolf. Sie hat ihm aus Eifersucht den Pimmel abgeschnitten, worauf er sie aus Rache erschossen hat. Bevor er sich dann selbst entleibte. Wie hätte er auch weiterleben sollen als Kronprinz ohne Gemächt?«

Richards Fassungslosigkeit verwandelte sich in Wut. Er vergrub seine Fäuste im Deckbett, um der Versuchung zu widerstehen, Amalie in ihr hübsches, jetzt aber zu einer hämischen Grimasse verzerrtes Gesicht zu schlagen.

»Gar nichts weißt du und schwätzt jeden Unfug hirnlos nach, den du hörst«, schnauzte er sie an. »Woher kennst du eigentlich die unappetitliche Geschichte von diesem Philosophen Abélard und seiner Geliebten? Sie hieß übrigens Héloïse und hat ihren Verführer keineswegs entmannt. Das befahl ihr entrüsteter Onkel einigen Schergen, als er von dem Verhältnis seiner Nichte erfuhr …«, die ebenfalls erst siebzehn Jahre alt gewesen ist, hätte er fast schon hinzugefügt, unterließ dies aber im letzten Moment.

Er hatte ohnehin schon zu viel über seinen Gemütszustand preisgegeben, wie er an Amalies triumphierender Miene erkannte.

»Also hat Mary Rudolf wirklich entmannt!«, schloss sie aus seinen Worten.

Richard verfluchte sich innerlich. »Das ist absurd!«, fuhr er seine Verlobte noch einmal an. »Und nun scher dich hinaus! Wird’s bald?«, setzte er nach, als ihn Amalie vorwurfsvoll anschaute.

Die zog einen beleidigten Schmollmund und stieg endlich aus seinem Bett. Mittlerweile waren die Geräusche aus den Untergeschossen des Palais lauter geworden und zeigten an, dass die Dienerschaft tatsächlich dabei war, ihre Arbeit aufzunehmen.

»Ich sage es meinem Vater, wenn du weiter so unfreundlich zu mir bist«, drohte Amalie, als sie sich ihren mit weichem Pelz gefütterten Morgenmantel übergestreift hatte.

Diesmal zahlte Richard es ihr mit gleicher Münze heim. »Dann erzähle ich deinem Vater, dass du seine Unterhaltungen belauschst und dich Fantasien hingibst, die einer vornehmen Komtess völlig fremd sein sollten.«

Plötzlich völlig erschöpft, ließ er sich zurück in die Kissen sinken, nachdem Amalie sich endlich hinausgeschlichen hatte.

Wohin wird uns die Tragödie von Mayerling wohl noch führen? Plötzlich sah er Rudolfs Gesicht so deutlich vor seinem inneren Auge, als stünde er leibhaftig vor ihm. Wen wirst du noch mit dir in den Abgrund reißen, du unseliger, unglücklicher Mensch?

Zurück in der Stille ihres eigenen keuschen Jungmädchenzimmers ließ Amalie ihrer Wut und Enttäuschung über Richards harte Worte freien Lauf. Tränen des Zorns schossen ihr in die Augen, zumal sie ihr Ziel nicht erreicht hatte, mehr über die skandalösen Ereignisse von Mayerling zu erfahren.

Wen könnte ich denn sonst noch danach fragen?, grübelte sie. Ihr Vater würde sie in der Tat hart zurechtweisen. In dieser Hinsicht hatte Richard leider recht. Plötzlich kam ihr eine Idee.

Hektisch durchwühlte sie einen kleinen Zeitungsständer aus Nussbaumholz, in dem sie Modemagazine und Klatschblätter aufbewahrte. Unter diesen befand sich auch das jüngste Exemplar der Wiener Fremdenzeitung, das sie gestern mit auf ihr Zimmer genommen hatte.

Mit der Zungenspitze zwischen den Lippen fuhr ihr Zeigefinger eifrig die Liste der hochwohlgeborenen Gäste entlang, die sich zurzeit in der Hauptstadt aufhielten. Und diesmal war ihr das Glück hold. Sie fand genau die Person, die sie suchte.

Wiener Hofburg

Freitag, 1. März 1889, kurz vor acht Uhr

Sophie schlug das Herz bis zum Hals, als die brandneue Equipage ihres Stiefvaters über das Pflaster des Burghofs bis zum Haupteingang des Amalientrakts rumpelte, in dem die Wohnräume der Kaiserin lagen. Zuvor hatte das Gefährt, vom Josefsplatz kommend, den Schweizerhof und das prächtige Schweizertor mit seinen vergoldeten Reliefs auf rot gestrichenem Mauerwerk durchquert. Sophie hatte dafür ebenso wenig einen Blick wie für das pompöse Denkmal des Kaisers Franz I. in der Tunika eines römischen Imperators.

Die Kutsche und das ihr folgende Mietfuhrwerk mit Sophies zahlreichen Gepäckstücken wurden von zwei Leibgardisten begleitet. Vor der Einfahrt ins Burggelände musste Arthur von Freiberg ihnen den Passierschein vorweisen, den die Obersthofmeisterin Gräfin Goëss vor einigen Tagen zusammen mit der Weisung, wo Sophie sich um acht Uhr früh einzufinden habe, ins Palais Werdenfels gesandt hatte.

Anfangs ärgerte sich Sophie noch darüber, dass ihr Stiefvater sie unbedingt in die Hofburg begleiten wollte. Wohl auch, um sein neues Statussymbol, den gerade erst erstandenen Landauer samt dem neuen Kutscher in seiner noch makellosen Livree, vorzuführen.

Gestern hatte sich Arthur unter dem Vorwand, die Kutsche selbst zu benötigen, noch geweigert, seiner Frau und ihren Töchtern damit die Fahrt ins Café Prinzess zu ermöglichen. Stattdessen waren sie von der bereits etwas schäbig gewordenen Equipage ihres Onkels Stephan Danzer abgeholt worden.

Doch je mehr sich Sophie nun von ihrem Elternhaus entfernte, desto mehr schnürte ihr die Furcht vor dem, was sie gleich erwarten mochte, die Kehle zu. Jetzt kam der Landauer mit einem Ruck zum Stehen. Noch bevor der Kutscher von seinem Bock gestiegen war, öffnete einer der Leibgardisten bereits den Schlag. Vor Aufregung verhedderte sich Sophies Fuß beim Aussteigen im Saum ihres neuen hellbraunen Samtkleides. Fast wäre sie gestürzt und dem Leibgardisten, der ihr eine helfende Hand reichte, geradewegs in die Arme gefallen.

Kopfschüttelnd über ihr Missgeschick folgte Arthur ihr nach, verkniff sich in Gegenwart der Burgwachen und seines Kutschers jedoch jede tadelnde Bemerkung.

Diesmal wurde Sophie nicht, wie anlässlich ihrer Audienz bei Sisi vor knapp zwei Wochen, zur Adlerstiege geführt. Die ihr bereits von ihrem ersten Besuch in der Hofburg bekannte ungarische Hofdame, Ida von Ferenczy, erwartete sie stattdessen am Hauptportal. Sie war erneut ganz in Schwarz gekleidet.

»Guten Morgen, Komtess von Werdenfels«, begrüßte Ida Sophie mit einem freundlichen Lächeln. Sophie wusste, dass Ida ungefähr fünfzig Jahre alt war. Mit ihrem silbergrauen Haar und den vielen Fältchen um Mund und Augen wirkte sie jedoch deutlich älter. Sophie erwiderte den Gruß und deutete dabei einen Knicks an.

Dann wandte sich die Hofdame an Arthur. Ihr Lächeln wurde schmaler. »Und mit wem habe ich noch die Ehre?«, fragte sie förmlich. Jetzt war ihr ungarischer Akzent deutlich herauszuhören.

Auch Arthurs Lächeln gefror. Er zog seinen Zylinder und verbeugte sich steif. »Ich bin Freiherr Arthur von Freiberg, gnädige Frau. Sophias Vater und Vormund.«

Ida von Ferenczy streckte ihre behandschuhte Rechte aus, auf die Arthur einen angedeuteten Kuss hauchte. »Dann bedanke ich mich, auch im Namen der Obersthofmeisterin Gräfin Goëss, dass Sie Ihre Stieftochter«, sie betonte das letzte Wort deutlich, »hierher begleitet haben.« Sie stockte kurz. »Nach meiner Kenntnis sind alle Formalitäten bereits im Vorfeld erledigt worden. Oder irre ich mich?«

Arthur von Freiberg schüttelte verdutzt den Kopf. »Nein, gnädige Frau. Auch meines Wissens gibt es nichts weiter die neue ehrenvolle Stellung meiner Tochter betreffend«, er blieb bei dieser Bezeichnung, »zu klären.«

Ida nickte knapp. »Dann danke ich Ihnen noch einmal, Freiherr von Freiberg, und wünsche Ihnen einen guten Tag.« Zu Sophies klammheimlicher Freude beabsichtigte sie offensichtlich nicht, Arthur zur Gräfin Goëss mitzunehmen.

»Und was … was geschieht mit Sophias Gepäck?« Offenbar hatte Arthur nicht mit einer solchen Abfuhr gerechnet.

Ida winkte. Sofort traten zwei Diener aus dem Portal. »Schaffen Sie das Gepäck der Komtess in ihre zukünftige Wohnstatt im Fräuleingang.« Dann wandte sie sich zum Gehen. »Und Sie folgen mir bitte, Komtess. Die Obersthofmeisterin hat, wie an jedem Tag, einen straffen Zeitplan.«

Nur kurze Zeit später betrat Sophie hinter Ida von Ferenczy den opulenten Salon der Obersthofmeisterin. Neben etlichen reich geschnitzten Vitrinen und Kommoden war er mit einer brokatbezogenen Sitzgarnitur, die um einen runden Tisch mit polierter Mahagoniplatte gruppiert war, ausgestattet. Der Tisch war mit einem silbernen Teeservice für drei Personen gedeckt.

Weiche Perserteppiche bedeckten den Parkettboden, die mit grünen Seidentapeten bezogenen Wände waren über und über mit kleinen Gemälden und Fotografien in goldenen Rahmen bedeckt. Fotografien standen auch auf den Wandsimsen und Kommoden. Ein mächtiger weißer Kachelofen beheizte den Salon, es war sehr warm. Sophie spürte, wie ihr der Schweiß auszubrechen begann.

Aus einem ebenfalls brokatbezogenen, schweren Sessel mit gedrechselten Füßen erhob sich eine zierliche alte Dame mit einem trotz ihrer Falten noch immer hübschen Gesicht und sanften blassblauen Augen. Auch sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid mit einem Stehkragen und Manschetten aus Spitze als einzigem Schmuck.

Sophie hatte von den Gästen beim letzten Jour fixe ihrer Mutter, die sich natürlich lebhaft für ihre Berufung an den Hof interessierten, erfahren, dass die Gräfin Goëss schon fünfundsechzig Jahre alt war und seit fast zwanzig Jahren im Dienst der Kaiserin stand.

»So lange hat es noch keine österreichische Dame bei der Kaiserin ausgehalten«, äußerte sich die Gräfin Anna Wilczek ganz unverhohlen. »Aber Maria von Goëss hatte ja schon zuvor Erfahrung mit schwierigen Dienstherrinnen, als sie ihre Stellung bei Sisi antrat. Schließlich war sie vorher Hofdame bei der Erzherzogin Maria Annunziata.«

Das war die bereits vor langer Zeit verstorbene zweite Ehefrau des jüngeren Kaiserbruders Karl Ludwig, die Mutter des zukünftigen Thronprätendenten Franz Ferdinand. Obwohl dessen noch lebender Vater gemäß der Erbfolge der eigentliche Nachfolger Franz Josephs war, rechnete niemand damit, dass dieser jemals den Thron besteigen würde. Jedermann sprach daher zumindest inoffiziell von Karl Ludwigs ältestem Sohn als Thronfolger.

»Das ist wirklich bewundernswert«, warf Nora Fugger ein. »Zumal Maria seit vielen Jahren auch die einzige deutschstämmige Hofdame ist. Unter all diesen Ungarinnen«, fügte sie etwas abfällig hinzu.

»Allerdings hat Sisi Maria von Goëss ja auch von vornherein von einer ganzen Reihe ihrer Pflichten entbunden«, erklärte eine verwitwete Cousine der Gräfin Wilczek. »Die Gräfin muss Sisi auf keiner ihrer zahlreichen Reisen begleiten. Insofern nimmt Marie von Festetics bei diesen wahrscheinlich häufiger die Pflichten einer Obersthofmeisterin wahr, als es die offizielle Amtsinhaberin tun muss.«

Der Klatsch um Maria von Goëss hatte sich noch eine ganze Zeit lang fortgesetzt. Sophie erinnerte sich nur noch an wenige weitere Einzelheiten. Die Gräfin sei schon in jungen Jahren Witwe geworden, lange vor Antritt ihrer Stelle bei der Kaiserin. Sie galt als eine sanftmütige Frau, die allen Konflikten und Schwierigkeiten tunlichst aus dem Weg ging.

»Insofern müsstest du schon goldene Löffel von der Hoftafel stehlen, Phiefi, um mit der Gräfin von Goëss aneinanderzugeraten«, hatte die Gräfin Wilczek daher gescherzt.

»Und nicht einmal dann würde sich Maria einmischen«, fügte die Fürstin Fugger hinzu. »Das überließe sie Sisis Obersthofmeister, dem Baron Franz Nopcsa. Ebenfalls ein Ungar.«

All diese Informationen schwirrten nun wie ein Schwarm Bienen durch Sophies Kopf, als Maria von Goëss auf sie zutrat und ihr die Hand zum Gruß reichte. Sophie nahm sie und versank erneut in einen Knicks.

»Willkommen in der Hofburg, Komtess Sophie. Ich darf Sie doch bei Ihrem Vornamen nennen?« Die leise Stimme der Gräfin klang tatsächlich so sanft, wie man sie Sophie beschrieben hatte. Sie spürte, dass sich ihr Herzschlag langsam beruhigte.

»Möchten Sie eine Tasse Tee mit mir trinken? Sie auch, liebe Ida?«

Obwohl Sophie morgens Kaffee dem Tee vorzog, fand sie ihn heiß und gut, nachdem sie am Tisch Platz und den ersten Schluck genommen hatte, den ihr die Gräfin mit eigener Hand einschenkte.