Montmartre - Traum und Schicksal - Marie Lacrosse - E-Book

Montmartre - Traum und Schicksal E-Book

Marie Lacrosse

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Beschreibung

Stimmungsvoll, packend, leidenschaftlich: Band 2 der großen Montmartre-Saga der SPIEGEL-Bestseller-Autorin

Paris 1889: Elise Lambert und Valérie Dumas wurden am selben Tag geboren. Sonst haben die beiden Frauen nicht viel gemeinsam. Nach der Eröffnung des Moulin Rouge steigt Elise Lambert rasch zum Star des Tanz-Ensembles auf. Darunter leidet ihre Freundschaft mit der Tänzerin La Goulue. Obwohl der Maler Toulouse-Lautrec sie durch seine Werke immer bekannter macht, betrachtet La Goulue Elise zunehmend als Konkurrentin. Die Situation eskaliert, als sich ein reicher Adeliger für Elise interessiert. Unterdessen heiratet die aus gutem Hause stammende Valérie Dumas auf Drängen ihres Vaters den konservativen Künstler Baptiste Germain. Sie findet sich nur mühsam in den engen Schranken dieser Ehe zurecht und kämpft weiter um ihre eigene Zukunft als Malerin. Können Elise und Valérie ihre großen Träume verwirklichen?

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Seitenzahl: 695

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Paris 1889: Elise Lambert und Valérie Dumas wurden am selben Tag geboren. Sonst haben die beiden Frauen nicht viel gemeinsam. Nach der Eröffnung des Moulin Rouge steigt Elise Lambert rasch zum Star des Tanz-Ensembles auf. Darunter leidet ihre Freundschaft mit der Tänzerin La Goulue. Obwohl der Maler Toulouse-Lautrec sie durch seine Werke immer bekannter macht, betrachtet La Goulue Elise zunehmend als Konkurrentin. Die Situation eskaliert, als sich ein reicher Adeliger für Elise interessiert. Unterdessen heiratet die aus gutem Hause stammende Valérie Dumas auf Drängen ihres Vaters den konservativen Künstler Baptiste Germain. Sie findet sich nur mühsam in den engen Schranken dieser Ehe zurecht und kämpft weiter um ihre eigene Zukunft als Malerin. Können Elise und Valérie ihre großen Träume verwirklichen?

Weitere Informationen zu Marie Lacrosse sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Marie Lacrosse

MONTMARTRE

Traum und Schicksal

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe November 2025

Copyright © 2025 by Marie Lacrosse

Copyright © dieser Ausgabe 2025 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Umschlaggestaltung: punchdesign

Umschlagmotive: Shutterstock

Redaktion: Marion Voigt

BH · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30788-2V001

www.goldmann-verlag.de

Für meinen Vater Wilhelm Spang, mit 89 Jahren wahrscheinlich mein ältester Leser, und Frau Sigrid Lorbeer-Wirges, mit 85 Jahren eine meiner ältesten Leserinnen all meiner bislang erschienenen Bücher

»Sie hat ein Vertrauen in sich, das niemand sonst besitzt, mal lächelnd, mal schüchtern, kühn oder katzenhaft, geschmeidig wie ein Handschuh.«

HENRIDETOULOUSE-LAUTRECÜBERLAGOULUE, THEMOULINROUGE

»Sie tanzt mit ruckartigen Bewegungen. Sie ist von geringer Intelligenz,

ungehobelt, reizbar und zänkisch mit ihren Kolleginnen.«

GUSTAVECOQUIOT, FRANZÖSISCHERKUNSTKRITIKER, ÜBERLAGOULUETHEMOULINROUGE

»So bin ich doch jeden Tag dankbar für mein jetziges Leben, in dem ich gerade das tun darf, ungehindert, frei, nach Herzenslust, was mir am meisten Freude bereitet, und ich bereue keinen Tag, nach hier […] gegangen zu sein, denn die Einrichtung der Akademie und die Lehrkräfte sind so ausgezeichnet, wie man es besser nicht wünschen kann.«

IDAGERHARDI, KUNSTMALERIN, ÜBERIHRENAUFENTHALTINPARISAB 1891, STÄDEL | FRAUEN, KÜNSTLERINNENZWISCHENFRANKFURTUNDPARISUM 1900

»Malweiber: Sehen Sie Fräulein, es gibt zwei Arten von Malerinnen: die einen möchten heiraten und die anderen haben auch kein Talent.«

SIMPLICISSIMUS (1901), UMBACH, K./GUTBROD H., DIEMALWEIBERVONPARIS

Dramatis Personae

Es werden nur die für die Handlung bedeutsamen Figuren aufgeführt. Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

ELISELAMBERTSFAMILIE

Elise Lambert, älteste Tochter

Jeanne Lambert, ihre Mutter

Simone Lambert, ihre jüngere Schwester

Luc Colbert, Zuhälter und Simones Ehemann

Marianne, Jeannes Ziehmutter

VALÉRIEDUMAS’ FAMILIE

Valérie Dumas, einzige Tochter

Alphonse Dumas, ihr Vater, Inhaber einer Kunstgalerie

Amélie Dumas, ihre Mutter

Cecile und Bernard Valbert, Valéries Großeltern mütterlicherseits

Baptiste Germain, Valéries Ehemann, Kunstmaler

(Figur in Anlehnung an den Maler Jean-Léon Gérôme*)

Eleonore und Albert Germain, Valéries Schwiegereltern

PERSONALIMSTADTPALAISVONBAPTISTEGERMAIN

Marie, Valéries Kammerzofe

Gilbert, Hausdiener

Gervaise, Köchin

Clement, Kutscher

(HISTORISCHE) PERSÖNLICHKEITENAUSDEMMOULINROUGE

Louise Weber*, genannt La Goulue, Tänzerin

Valentin*, genannt der Knochenlose, Tanzpartner von La Goulue

Lucienne Beuze*, genannt Grille d’Égout, Tänzerin

Jane Avril*, Tänzerin

Aicha*, Tänzerin

Nini Patte-en-l’air*, Tänzerin

Sabine, genannt La Gazelle, Tänzerin

La Tonkinoise*, Bauchtänzerin

Joseph Oller*, Besitzer des Moulin Rouge

Charles Zidler*, erster Direktor des Moulin Rouge

Jean Oller*, zweiter Direktor und Bruder des Eigners

Yvette Guilbert*, Sängerin

(HISTORISCHE) PERSÖNLICHKEITENAUSDERKUNSTMALER/INNENSZENEINUNDUMMONTMARTRE

Pascal Didier, Kunstmaler und Valéries Geliebter

(Figur in Anlehnung an den Maler Émile Bernard*)

Henri de Toulouse-Lautrec*, Kunstmaler, Mitglied des Hochadels

Vincent van Gogh*, niederländischer Kunstmaler

Suzanne Valadon*, Kunstmalerin

Pierre-Auguste Renoir*, Kunstmaler

Edgar Degas*, Kunstmaler

Theo van Gogh*, Leiter der Galerie Goupil und Vincents jüngerer Bruder

Maurice Joyant*, Theo van Goghs Nachfolger und Jugendfreund von Toulouse-Lautrec

Fernand Cormon*, Kunstmaler und Leiter der gleichnamigen Kunstakademie

(HISTORISCHE) PERSÖNLICHKEITENAUSDERKUNSTMALER/INNENSZENEINUNDUMMONTPARNASSE

Louise Catherine Breslau*, schweizerische Kunstmalerin

Ottilie Roederstein*, deutsche Kunstmalerin

Ida Gerhardi*, deutsche Kunstmalerin

Madeleine Smith*, französische Kunstmalerin

Henri Gervex*, Kunstmaler und Inhaber eines Damenateliers

Émile Auguste Carolus-Duran*, Kunstmaler und Inhaber eines Damenateliers

WEITEREFIKTIVEPERSÖNLICHKEITENMITBEDEUTUNGFÜRDENROMAN

André Renard, Elises ehemaliger Verlobter

Sandrine, seine Ehefrau

Perceval de Chambières, bretonischer Graf

Georges de Cluny, sein Cousin

Père Zacharie, Amélie Dumas’ Beichtvater und Priester in Sacré-Coeur

Pierre Lombard, sein Neffe

Madame Béatrice, Leiterin des Bordells Fleur Blanche

Brigitte, eine Prostituierte

Denise, Dienstmädchen von La Goulue, später von Elise und Lucienne

Tante Albertine, Denises Tante

WEITEREHISTORISCHEPERSÖNLICHKEITENMITBEDEUTUNGFÜRDENROMAN

(in alphabetischer Reihenfolge)

René Bérenger*, Gründer der Liga für die Einhaltung der guten Sitten

Alfred Dreyfus*, französischer Offizier

Blanche d’Egmont*, Leiterin eines Bordells

Nāser ad-Din Schāh*, Kaiser von Persien

Liane de Pougy*, Kurtisane

Père Tanguy*, Farbenhändler, Förderer avantgardistischer Malerei

Gabriel Tapié de Céleyran*, Toulouse-Lautrecs Cousin

Auguste Vaillant*, Anarchist

WICHTIGE, IMROMANGENANNTEHISTORISCHEPERSÖNLICHKEITENOHNEAKTIVEROLLE

(in alphabetischer Reihenfolge)

Alphonse Allais*, französischer Schriftsteller

Georges Ernest Jean Marie Boulanger*, französischer General und Aufrührer

Aristide Bruant*, Chansonnier

Alexandre Cabanel*, Kunstmaler

Jean Casimir-Perier*, französischer Politiker, Nachfolger von Dupuy als Ministerpräsident

Paul Cézanne*, Kunstmaler

Édouard Drumont*, Herausgeber des Blatts La Libre Parole

Charles Dupuy*, französischer Politiker, zeitweise Ministerpräsident

Gustave Eiffel*, Erbauer des Eiffelturms

Paul Durand-Ruel*, Kunsthändler

Paul Gauguin*, Kunstmaler

Georges-Eugène Haussmann*, bis 1870 Präfekt des Département Seine; Stadtplaner und Umgestalter von Paris

Jean-Jacques Henner*, Kunstmaler und Inhaber eines Damenateliers

Rodolphe Julian*, Gründer der gleichnamigen Kunstakademie

Madeleine Lemaire*, französische Kunstmalerin

Ferdinand de Lesseps*, Erbauer des Suez- und des Panamakanals

Édouard Manet*, Kunstmaler

Camille Pissarro*, Kunstmaler

Ravachol*, Anarchist

Charles Frederick Worth*, Modedesigner, Begründer der Haute Couture

Prolog

INEINERLUXUSKAROSSEDESGRAND-HÔTELDELAPAIX

MITTWOCH, 30. OKTOBER 1889

»Nu mach doch nicht so ’n sauertöpfisches Gesicht!«, fuhr Louise Weber, genannt La Goulue, Elise an. »Du siehst ja aus, als ging’s zu deiner eigenen Beerdigung.«

Sie lehnte sich genüsslich in die mit rotem Samt bezogenen Polster der Luxuskarosse zurück. Die stammte aus dem Grand-Hôtel de la Paix und hatte sie pünktlich um vier Uhr am Nachmittag vor dem Haus am Boulevard de Rochechouart, in dem La Goulue wohnte, abgeholt. »Meine erste Privatvorführung ist das ja nicht«, betonte sie. »Doch mit so ’nem prächtigen Gefährt hat mich noch nie einer kutschiert.«

Elise unterdrückte ein Seufzen. Erst nach einigem Zögern hatte sie La Goulues Drängen nachgegeben, sie zu einer privaten Vorstellung beim Kaiser von Persien zu begleiten. Er residierte anlässlich der noch bis zum 31. Oktober dauernden Weltausstellung in diesem vornehmsten Hotel von Paris. Das Haus war seinerzeit von Kaiserin Eugénie, der Gattin Napoleons III., persönlich eröffnet worden, ebenso wie das dazugehörige Café de la Paix.

»Der Kaiser heißt in Persien Schah«, hatte Louise Elise nach deren Genesung und der Rückkehr ins Moulin Rouge belehrt, als sie ihrer Freundin die Offerte unterbreitete. »Er ist extra zur Weltausstellung nach Paris gekommen, und wegen dir bleibt er sogar länger. Aber nur, bis die Ausstellung zumacht!«

Als Elise nicht gleich zustimmte, bedrängte Louise sie weiter: »Denk dir nur, dieser Schah hat uns schon am Eröffnungsabend tanzen gesehn und wollt uns beide gleich engagieren. Da hab ich sogar für dich gelogen und behauptet, du hättst dir den Knöchel verstaucht. Seither ist er jeden Abend im Moulin Rouge aufgetaucht, und als du wieder aufgetreten bist, hat sein Abgesandter mich gleich noch mal angesprochen. So ’ne Chance kriegst du nicht alle Tage!«

»Was will er denn zahlen?«, fragte Elise schließlich.

»’ne Menge. Der Kerl ist stinkreich. Deshalb reist er sogar mit ’nem eigenen Zug und haust in diesem sauteuren Schuppen. Da war ich zwar auch schon mal, aber nicht in der Königssuite. Die soll tausend Francs für ’ne einzige Nacht kosten«, plapperte Louise. »Kein Wunder, dass der Kerl zwanzig Louis springen lässt. Das sind immerhin zweihundert Francs für jede von uns. So viel, wie du im Moulin Rouge für ’ne ganze Woche kriegst. Und das Geld kannste doch sicher gut brauchen«, fügte sie bedeutungsvoll hinzu.

Elise fühlte sich aufgrund der Ereignisse in der letzten Zeit zu schwach, um dem etwas entgegensetzen zu können. Denn mit dem Geld hatte Louise recht. Deren unverhohlene Anspielung darauf, dass sie fünfzig Francs mehr pro Woche im Moulin Rouge verdiente als ihre Tanzpartnerin, berührte Elise diesmal nicht. Ihre Probleme waren ganz anderer Art.

Seit jenem unglückseligen Spagat bei der Eröffnungsvorstellung, der vor mehr als drei Wochen eine Fehlgeburt ausgelöst hatte, war ihr Leben nicht mehr das gleiche gewesen.

Die ersten fünf Tage nach dem Unfall hatte sie in der Wohnung ihrer Mutter Jeanne und deren langjähriger mütterlicher Freundin, der Hebamme Marianne, verbracht, wo die Alte sie gepflegt hatte.

Als Marianne befand, dass die Patientin weitgehend genesen war, kehrte Elise zunächst in die gemeinsame Wohnung mit ihrem Verlobten André Renard zurück. Doch die Beziehung zu ihrer »ehemals großen Liebe«, wie Elise heute traurig an die Anfangsjahre mit André zurückdachte, war schon vor der Fehlgeburt immer spannungsgeladener geworden. Während ihrer Genesung hatte André sie nicht ein einziges Mal besucht. Er hatte sie nicht einmal grüßen lassen.

Am Tag ihrer Rückkehr machte er ihr zunächst bittere Vorwürfe. »Wie konntest du nur so leichtsinnig sein! Das Kind war doch auch meins. Und erzähl mir nicht, du hast nicht gewusst, dass du schwanger bist«, kam er ihrem Einwand zuvor. »Du wolltest unbedingt bei dieser Gala auftreten! Dabei hast du das Leben des Kleinen und unser gemeinsames Glück aufs Spiel gesetzt!«

Da André recht hatte, versuchte Elise erst gar nicht, ihm in dieser Hinsicht zu widersprechen. Anders verhielt es sich mit seiner Forderung, ihr Engagement im Moulin Rouge auf der Stelle zu kündigen.

»Warum soll ich das tun? Nur um hier untätig rumzusitzen und drauf zu warten, dass ich bald wieder trächtig bin? Dafür hab ich all die Jahre zu hart gearbeitet und geübt.«

Das wütende Funkeln in Andrés braunen Augen verfolgte Elise nach dieser Auseinandersetzung noch tagelang. »Also willst du lieber Tänzerin bleiben als meine Ehefrau werden?« Seine Stimme klang gefährlich ruhig.

»Erst mal ja!« Die Worte waren heraus, bevor Elise darüber nachgedacht hatte.

»Dann scher dich zum Teufel!«, brüllte André und wies auf die Tür. Im ersten Moment war Elise zu Tode erschrocken. Doch schnell begriff sie, dass André trotz seiner Grobheit im Grunde recht hatte. Ihre Beziehung hatte keine Chance mehr. Sie wollte Tänzerin bleiben, das war ihr bereits am Abend des verunglückten Spagats klar geworden.

Also hatte sie ohne ein weiteres Wort ihre Sachen gepackt und war wieder in die Wohnung ihrer Mutter eingezogen. Seither hatte sie André nicht wiedergesehen.

Schließlich hatten andere Sorgen die Erinnerung an das traurige Ende ihrer jahrelangen Beziehung sogar zeitweise verdrängt. Denn als sie knapp zwei Wochen nach dem Unfall bei Joseph Oller vorsprach, dem Besitzer des Moulin Rouge, stellte der ihr ein Ultimatum. »Ich gebe Ihnen noch eine Woche Zeit zur Rekonvaleszenz, Mademoiselle Lambert. So lange vertritt Nini Patte-en-l’air Sie noch in den Duos und dem Trio mit La Goulue und Grille d’Égout. Wenn Sie am nächsten Samstag, dem 26. Oktober, nicht gesund genug sind, um wieder aufzutreten, muss ich Sie leider entlassen. Also beginnen Sie lieber noch heute mit dem Üben. Denn ich erwarte außerdem, dass Sie Ninis Cancan-Figur bis dahin erlernen. Zumal Sie mir gerade gesagt haben, dass Sie vorerst keinen Spagat zeigen können.«

Elise schluckte schwer. Ihrer Figur verdankte Nini den Spitznamen »Pfote in der Luft«, weil sie den Fuß hoch über dem Kopf im Kreis herumwirbelte. Bislang beherrschte das außer ihr nur La Goulue. Für Elise stellte Ollers Ultimatum eine neue unerwartete Herausforderung dar. Erst recht in ihrem noch geschwächten Zustand.

Nur Elises Ausfall hatte dazu geführt, dass Nini die Tanzfigur jetzt während der Aufführungen zeigen durfte. Zuvor hatte La Goulue dies verhindert. Aber wenn Nini Elise in ihrer Abwesenheit auch im Trio vertreten hatte, musste Grille d’Égout, die Dritte im Bunde, diese Figur inzwischen ebenfalls erlernt haben.

Noch ganz in Gedanken über diese neue Situation, empfand Elise Ollers letzten Satz, den er ihr hinterherrief, als weit weniger bedrohlich als den über ihr mögliches Scheitern: »Und sollten Sie noch einmal schwanger werden, muss ich Sie gleichermaßen auf der Stelle entlassen.«

Nun, da bestand im Augenblick keine Gefahr mehr. Viel wichtiger war es Elise, Ninis Figur so rasch wie möglich zu beherrschen. Es war ihr Glück, dass sowohl Lucienne, wie Grille d’Égout wirklich hieß, als auch Louise Nini auf den Tod nicht ausstehen konnten.

»Das Weibsstück hat es drauf angelegt, dich rauszuekeln«, kommentierte La Goulue Elises Bericht über ihr Gespräch mit Oller. »Aber das werden wir verhindern«, fügte Grille d’Égout entschlossen hinzu.

Und so hatten es die beiden in seltener Einigkeit geschafft, die komplizierten Bewegungsabläufe mit Elise so gründlich zu trainieren, dass sie bereits am ersten Aufführungstag ohne ein Stolpern oder sogar Hinfallen damit aufgetreten war.

Einen Preis mussten die drei jedoch zahlen. Nini bestand darauf, dass die Figur ihr geistiges Eigentum sei, da sie sie selbst kreiert habe. Sie verstieg sich sogar dazu, dem Eigner mit ihrer Kündigung zu drohen, verbunden mit dem Verbot, diese Figur jemals wieder im Moulin Rouge zu zeigen, falls sie selbst nicht mehr damit auftreten dürfe.

Überraschenderweise lenkte Joseph Oller ein. Wahrscheinlich vor allem, weil die Nummer sehr gut beim Publikum angekommen war. Also gab es seit dem vergangenen Samstag neben den Soli von Louise, Lucienne und Elise, den Duos in wechselnder Besetzung und ihrem Auftritt als Trio auch eine Nummer zu viert, an der Nini mitwirkte.

Elise und Lucienne machten sich über Ninis Absichten keine Illusionen. Sobald sich die Gelegenheit ergäbe, stünde Nini bereit, die Stelle einer der beiden im Moulin Rouge einzunehmen. Nur La Goulue musste nicht um ihre Position als Startänzerin fürchten.

Auch deshalb hatte Elise Louise schließlich nachgegeben. Ihr fehlte der Lohn von fast drei Wochen, außerdem wollte sie so rasch wie möglich weg aus der Butte von Montmartre und wie La Goulue am Fuß des Hügels eine Wohnung an einem der großen Boulevards beziehen.

Noch war ihr Verbleib im Moulin Rouge aber nicht gesichert. Nicht auszudenken, wenn Oller sie entlassen würde …

»Was grübelst du denn jetzt schon wieder vor dich hin?«, riss Louise Elise aus ihren Gedanken. Sie wies mit großer Geste zum Fenster der Kutsche. »Wir sind da! Sieh zu, dass du mir heut ja keine Schande machst!«

WOHNUNGVONALPHONSEDUMASAMBOULEVARDDECLICHY

30. OKTOBER 1889, AMGLEICHENTAGZURGLEICHENZEIT

Traurig betrachtete Valérie ihr Gesicht im Spiegel der Frisierkommode. Um ihre grauen Augen lagen tiefe Schatten, ihre Wangen waren bleich. Ihr rötlich braunes Haar wirkte stumpf.

Wieder hatte das Dienstmädchen Marie keinen Brief ihres Geliebten Pascal Didier bei Valéries Freundin Suzanne Valadon vorgefunden. Bislang hatte Pascal ihr jede Woche geschrieben. Jetzt hatte er bereits seit über zwei Wochen nichts mehr von sich hören lassen.

Schon vor ihrer von den Eltern erzwungenen Verlobung mit dem Kunstmaler Baptiste Germain vor fast vier Wochen hatte Valérie sich entschlossen, Marie zu ihrer Verbündeten zu machen. Marie hatte für die Familie Dumas schon vor Valéries Geburt gearbeitet und war ihr daher seit frühester Kindheit vertraut.

Obwohl sich Valérie ab und zu noch immer Illusionen machte, wusste sie im Grunde ihres Herzens, dass sie der Heirat mit dem weitaus älteren Baptiste Germain nicht entgehen konnte. Aber sie war zumindest fest entschlossen, den Hochzeitstermin so weit wie möglich hinauszuschieben. Vielleicht geschah ja noch ein Wunder.

Bis auf Marie und Suzanne Valadon war Valérie allerdings völlig auf sich allein gestellt. Ihre große Liebe Pascal hatte Paris schon im April dieses Jahres verlassen, weil ihm die Einberufung zum Wehrdienst drohte. Er würde mindestens fünf Jahre außer Landes bleiben müssen.

Als Baptiste immer hartnäckiger um sie zu werben begann, hatte Valérie verzweifelt überlegt, ob sie nicht auf eigenen Füßen stehen und sich als Malerin durchbringen könnte. Doch als junger unverheirateter Frau aus gutbürgerlichem Hause stand ihr diese Möglichkeit nicht offen. Obwohl sie mit dreiundzwanzig Jahren längst volljährig war, hätte dies allen Konventionen widersprochen.

Selbst Suzanne, die sich in Montmartre als alleinerziehende Mutter mit einem unehelichen Sohn durchschlug, hatte ihr davon abgeraten. »Obwohl ich malen kann, was und wie ich möchte, und Edgar Degas mich weiterhin fördert, verdiene ich damit keinen Centime«, sagte sie und machte Valéries Hoffnung rasch zunichte.

Dass sie trotz ihres Studiums an der Akademie Cormon je eine Zukunft als Künstlerin haben würde, war für Valérie mehr als ungewiss. Denn obwohl ihr Abschlussgemälde Raub der Sabinerinnen die zweitbeste Note der Klasse erhalten hatte und noch immer in der Galerie ihres Vaters ausgestellt war, wollte sie in diesem Stil auf keinen Fall weitermalen. Der sogenannte akademische Realismus, wie er noch immer an den renommierten Pariser Kunstschulen gelehrt wurde, gehörte ihres Erachtens der Vergangenheit an.

Es war daher eine Ironie des Schicksals, dass ihr Verlobter Baptiste in Paris einer der erfolgreichsten Vertreter dieser Kunstrichtung war, die sich ungebrochener Beliebtheit erfreute. Aber durch ihre ehemaligen Studienkollegen Henri de Toulouse-Lautrec und Vincent van Gogh hatte Valérie neue avantgardistische Malstile kennengelernt, die sie weit mehr ansprachen.

In der Akademie Cormon hatte sie auch Pascal Didier kennengelernt, ebenfalls Anhänger der modernen Kunst. Er hatte sogar eine eigene Stilrichtung erschaffen und zusammen mit Paul Gauguin weiterentwickelt. Er und Valérie waren schon zu Beginn ihres Studiums ein Paar geworden.

Doch jetzt war Pascal fort. Er war durch die Vermittlung ihres ehemals gemeinsamen Freundes Henri de Toulouse-Lautrec nach Brüssel gegangen. Obwohl er vor Ort von einer Künstlergruppe unterstützt wurde, schlug er sich noch immer mehr schlecht als recht als Maler durch. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, arbeitete er, wie vormals in Paris, als Kellner.

Doch sie hatten ein Paar bleiben wollen! Warum schrieb er ihr nicht mehr? War ihm am Ende ein Unglück zugestoßen? Oder begann er sie bereits zu vergessen? In Valéries Sorge mischte sich Groll. Denn ihre Trennung war für sie aus heiterem Himmel gekommen. Fast bis zum letzten Tag hatte Pascal ihr verschwiegen, dass seine Abreise aus Frankreich unmittelbar bevorstand.

Kurz kam ihr der unwillkommene Gedanke, dass auch sie ihre Verlobung vor Pascal bislang verheimlicht hatte. Aber warum sollte sie ihn unnötig beunruhigen? Noch war sie nicht verheiratet, noch gab es Hoffnung.

Wider besseres Wissen läutete sie nach Marie. »Lauf noch einmal zu Suzanne Valadon! Es ist zwar erst kurz nach vier, aber vielleicht ist sie schon daheim. Womöglich hat sie einen Brief für mich mit der Nachmittagspost bekommen.«

Wie in ihrer Kindheit duzte sie Marie mit deren Einverständnis, wenn sie allein waren. Valéries Angebot, sie ebenfalls zu duzen, hatte Marie jedoch abgelehnt. »Es ist mir lieber, wenn ich Sie durchgängig sieze, Mademoiselle Valérie. Sonst passiert mir am Ende noch ein Fauxpas vor den Ohren Ihrer Mutter, die mich streng dafür tadeln würde.«

Einen Moment lang überlegte Valérie jetzt, ob sie Marie bitten solle, auch bei Henri de Toulouse-Lautrec in Suzannes Nachbarhaus vorbeizuschauen und ihn zu fragen, ob er binnen der letzten Tage Nachricht von Pascal bekommen hätte.

Doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Ihre Beziehung zu Henri war völlig zerrüttet. Er würde Marie keine Auskunft erteilen, selbst wenn er etwas wüsste.

GRAND-HÔTELDELAPAIX

MITTWOCH, 30. OKTOBER 1889, WENIGSPÄTER

Als Elise hinter dem livrierten Portier die Eingangshalle des Grand-Hôtel de la Paix betrat, blieb ihr vor Erstaunen der Mund offen stehen. Zwar hatte sie schon häufig von prächtigen Schlössern gehört, sich aber nie recht vorstellen können, wie es darin aussah.

Auf jeden Fall konnte kein Schloss prunkvoller sein als dieses Hotel. Überall glitzerte und funkelte es im Licht der zahlreichen Kronleuchter. Der Boden sowie die Säulen zu beiden Seiten der Halle bestanden aus einem mehrfarbigen polierten Stein. Elise widerstand der Versuchung, mit der Hand über eine der Säulen zu streichen.

»Das ist echter Marmor«, raunte Louise ihr zu, die Elises Blick gefolgt war. »Irgend so ’n kostbares Zeug aus Italien.«

In der Mitte der Halle lag ein runder Teppich mit einem aufwendigen bunten Muster, auf dem ein Tisch mit einem riesigen Blumenstrauß stand. Der Teppich war so fein gewebt, wie Elise noch keinen gesehen hatte. Weder in der Akademie Cormon noch in der Wohnung von Henri de Toulouse-Lautrec oder im Moulin Rouge.

Fast geblendet von all dem Glanz, folgte Elise einem ebenfalls livrierten Diener, dem der Portier ihre Tasche mit den Kostümen übergeben hatte. Sie betraten eine mit Teppich belegte Treppe mit vergoldetem Geländer. Der Mann drehte sich kurz zu den Tänzerinnen um: »Ich bitte um Entschuldigung, Demoiselles. Aber der ascenseur kann leider erst nächste Woche wieder in Betrieb genommen werden. Ein bedauerlicher technischer Defekt, der noch nicht behoben wurde.«

»C’est absurde«, hörte Elise La Goulue neben sich murren. »Der Mensch meint den Dienstbotenaufzug. Der war letztes Mal auch kaputt. Für den Aufzug mit den feinen Herrschaften sind wir dem Kerl nicht vornehm genug.«

Da Elise den Eindruck hatte, dass der Diener Louises Bemerkung gehört hatte, verzichtete sie auf eine Entgegnung. Sie stiegen die gewundene Treppe ohnehin nur bis ins erste Stockwerk empor. Dann bogen sie in einen ebenfalls mit Teppich belegten Gang ein. Mit wertvollen Stoffen bezogene Sitzmöbel luden vor den hohen Fenstern zum Verweilen ein. Ihre dunkelblauen und cremefarbenen Polster passten zu den Mustern und Farben des Teppichs. Wie das Treppengeländer waren auch die Ständer und Halter der zahlreichen Steh- und Wandlampen vergoldet.

Dabei wohnt doch hier gar keiner, ging es Elise durch den Kopf. Wie prachtvoll mag es wohl in der Königssuite aussehen?

Sie musste nicht lange auf die Antwort warten. Der Diener hielt vor einer zweiflügeligen geschnitzten Tür an und klopfte. Sofort öffnete ein Mann, der ein langes orientalisches Gewand und einen Turban trug.

Er verneigte sich vor den Damen. »Ich begrüße Sie herzlich im Namen seiner Kaiserlichen Hoheit von Persien, Nāser ad-Din Schāh.« Das Französisch des Mannes war einwandfrei, wenn auch mit deutlichem Akzent. »Der Erlauchte erwartet Sie bereits ungeduldig, daher mögen Sie mir unverzüglich folgen.«

»Der da hat uns im Moulin Rouge engagiert«, flüsterte Louise.

Wie Elise erwartet hatte, erwies sich die Suite als noch luxuriöser eingerichtet als die öffentlichen Räume des Hotels. Bevor sie Zeit genug hatte, um die zahlreichen Türen zu beiden Seiten des Flurs zu zählen, öffnete der persische Bedienstete bereits eine zu ihrer Rechten. Es war ein kleiner Raum, an dessen Seiten mit rotgrundigem Brokatstoff bezogene Sessel mit geschwungenen vergoldeten Beinen standen. Die Wände waren mit aufwendigen Gemälden bedeckt, die verschiedene Landschaften zeigten.

»Das Wartezimmer für Audienzen«, kam der Mann möglichen Fragen zuvor. »Zuerst möchte ich Sie über die Art und Weise aufklären, wie Sie sich gegenüber Seiner Majestät zu verhalten haben.«

Verblüfft erfuhr Elise, dass man den persischen Herrscher niemals von sich aus ansprechen durfte. Ergriff er selbst das Wort, dürfe man ihm nur mit gesenkten Augen antworten, ohne seinen Namen Nāser ad-Din Schāh zu nennen. Jeden Satz müsse man dagegen mit ehrerbietigen Begriffen wie »Erhabener«, »Erlauchter« oder zumindest »Eure Kaiserliche Hoheit« oder »Eure Majestät« beenden.

Er selbst werde im Auftrag des Schahs das Zeichen für den Beginn der einzelnen Nummern der Vorführung geben, denen der Erhabene nur wortlos zuzusehen geruhe.

Wie erschlagen von all diesen fremden Eindrücken, folgte Elise dem Perser und La Goulue schließlich in ein weiteres Zimmer. Der Mann wies auf eine Tür. »Dort geht es ins Bad. Hier mögen die Damen sich frisch machen und umziehen. Ich hole Sie dann in einer halben Stunde ab.«

»Zwanzig Minuten reichen auch«, rief La Goulue dem Mann hinterher. Dann wandte sie sich achselzuckend zu Elise um. »Wie gut, dass wir schon um vier losgefahren sind. Sonst kämen wir ganz schön in die Bredouille mit dem Beginn der Abendveranstaltung im Moulin Rouge um acht.«

»Wie kommst du denn darauf? Selbst für alle unsere Solo- und Duonummern bräuchten wir nur ungefähr eine Stunde.«

La Goulue grinste. »Na ja, dafür schon. Aber für das, was danach kommt …« Sie ließ den Satz unvollendet.

»Wie meinst du das?« Elises Herz begann, schneller zu schlagen.

»Nun stell dich nicht blöder an, als du bist.« La Goulues Grinsen wurde anzüglich. »Ich frag mich allerdings, ob dieser Schah« – sie betonte das Wort spöttisch – »im Bett genauso etepetete ist, wie während wir tanzen.« Mit diesen Worten ging sie ins Badezimmer.

Elise wurde es heiß und kalt. Also stimmten ihre Vermutungen, dass viele dieser Privatvorführungen mit einem Schäferstündchen endeten. Mit mir nicht, wollte sie gerade einwenden, als ein entzückter Schrei von Louise sie innehalten ließ.

»Komm mal her! So was hast du noch nie gesehn!«

Als Elise den ganz in cremefarbenem Marmor gehaltenen Raum betrat, erkannte sie sofort, was La Goulue meinte. Anstatt eines Wasserhahns beugte ein goldener Schwan seinen Hals über das Waschbecken. »Guck mal, wenn ich hier dran drehe, kommt da Wasser raus.« Louise betätigte einen ebenfalls goldenen Hebel auf dem Rücken des Schwans, um zu demonstrieren, was sie meinte.

Dann ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. »Vielleicht reichts ja noch für ein Bad hier in der Wanne. So was gibts auch nicht alle Tage. Und da ist auch so ’n Schwan dran. Aber da muss man das Wasser erst aufheizen.« Sie zeigte auf einen runden, weiß lackierten Metallbehälter, der am Kopfende der Wanne stand. »Das braucht ’ne Weile.«

»Woher weißt du denn so was?«, wunderte sich Elise. Sie selbst hatte bisher nur in der Wohnung von Toulouse-Lautrec ein Badezimmer gesehen, das jedoch weit bescheidener ausgestattet war. Zu Hause wusch sie sich in einer irdenen Waschschüssel und nahm nur alle paar Wochen ein Bad in der Zinkwanne. Das warme Wasser dazu musste sie vorher mühsam in einem großen Topf auf dem Herd erwärmen.

Wieder grinste La Goulue anzüglich. »Ich war schon mal hier in dem Hotel. Nicht in der Suite, aber in so ’nem Badezimmer. Erinnerst du dich an den Rumänen, der mich in dem maurischen Café auf der Weltausstellung angequatscht hat? Den hab ich besucht, als ich am Abend freihatte. Der hat auch hier gewohnt und hatte son ähnliches Bad. Aber ohne die goldenen Schwäne. Aber jetzt sollten wir uns sputen!« Hektisch riss sich La Goulue ihr wollenes Kostüm samt Bluse und Unterröcken vom Leib. Darunter trug sie bereits die schwarzen Strümpfe und – Elise stockte der Atem – eine Unterhose aus Batist, die ihr zwar bis zu den Knien reichte, aber völlig durchsichtig war. Während Elise noch nach Worten suchte, drehte sich Louise um und präsentierte ihr Hinterteil. Auf den Stoff war ein rosafarbenes Herz gestickt.

»Na, was sagst du? Die ist viel besser wie die mit den Knöpfen zwischen den Beinen.«

Erst jetzt fand Elise ihre Sprache wieder. »Wegen diesem Schlüpfer hat uns Vater Anstand damals vor Gericht gebracht, weil du die Knöpfe aufgemacht hast. Weißt du das nicht mehr?«

»Pah«, machte Louise. »Die Unterhose hier trag ich nur zu Privatvorführungen. Dem Rumänen hat sie jedenfalls gefallen.«

»Also willst du wirklich mit dem Schah schlafen?«

La Goulue zuckte die Achseln. »Na klar! Dafür lässt er wahrscheinlich mindestens zehn Louis extra springen.«

INVALÉRIESZIMMER

30. OKTOBER 1889, AMGLEICHENNACHMITTAG

Ungefähr eine Stunde später war Valérie so schlau wie zuvor. Marie war ergebnislos zurückgekommen. Sie hatte Suzanne nicht angetroffen.

»Ich habe nur den Monsieur gesehen, der früher recht oft hier zu Besuch war. Den Comte de Toulouse-Lautrec«, berichtete sie. »Doch der Herr hat mich nicht wiedererkannt, obwohl ich ihn gegrüßt habe.«

Oder er wollte dich nicht wiedererkennen, dachte Valérie erbittert. Henri war für sein ausgezeichnetes Personengedächtnis bekannt. Er zeichnete Gesichter sogar aus der bloßen Erinnerung heraus. Wieder übermannte sie der Groll. Henri blieb unversöhnlich. Er ignorierte sogar ihr Dienstmädchen.

Ein Grund für das Zerbrechen ihrer jahrelangen Freundschaft war, dass Henri im Gegensatz zu Valérie seit Pascals Einberufungsbescheid gewusst hatte, dass ihr Geliebter außer Landes gehen müsse. Während sie über drei Monate ahnungslos geblieben war, hatte er Pascal nach Brüssel vermittelt und ihm das Geld für die Reise gegeben.

Das war allerdings nicht der Hauptgrund dafür gewesen, dass sich Valérie wenig später mit Henri überworfen hatte, obwohl er ihr und Pascal seit ihrer Studienzeit ein treuer Freund gewesen war. Nur durch Henris Einsatz war es ihnen überhaupt möglich gewesen, ihre Liebe zu leben.

Denn Henri deckte gegenüber Valéries strenger Mutter Amélie ihre häufige Abwesenheit von zu Hause mit immer neuen Vorwänden. Allein wäre es für Valérie nicht einmal möglich gewesen, das Haus tagsüber zu verlassen. Geschweige denn an den Abenden, an denen sie sich mit Pascal traf. Frauen aus gutem Hause durften sich nur in männlicher Begleitung in der Öffentlichkeit sehen lassen, wollten sie nicht ihren Ruf riskieren.

Deshalb gab Henri vor, selbst mit Valérie auszugehen. Auch als sich die Hoffnungen ihrer Mutter zerschlugen, dass er um Valéries Hand anhalten und ihre Tochter zur Comtesse machen würde, ließ sie aus Ehrfurcht vor seiner Abstammung aus uraltem Adel weitere Treffen zu.

Dann hatte Valérie eines Abends ihren Vater Alphonse in Begleitung einer der teuersten Pariser Kurtisanen im Cabaret Le Mirliton erwischt. Ihre Drohung, dies der Mutter zu verraten, hatte ihr eine Zeit lang noch größere Freiheiten verschafft. Das war ihre schönste Zeit mit Pascal gewesen.

Doch dann hatte die Glücksgöttin Fortuna Valérie ihre Gunst entzogen. Noch vor Pascals Entscheidung, Frankreich zu verlassen, war der ungebetene Bewerber Baptiste Germain auf den Plan getreten. Ausgerechnet durch ihr Gemälde Raub der Sabinerinnen war er in der Galerie ihres Vaters auf sie aufmerksam geworden. Kurz danach hatte Alphonse begonnen, Valérie zur Heirat mit ihm zu drängen. Das war ihr anfangs umso unverständlicher gewesen, als ihr der Vater zuvor geholfen hatte, den ersten unliebsamen Bewerber um ihre Hand loszuwerden.

Vor ungefähr zwei Monaten hatte Alphonse ihr aber eingestanden, dass er kurz vor dem Bankrott stand. Bereits zehn Jahre davor hatte er den größten Teil seines damals beträchtlichen Vermögens in den Bau des Panamakanals investiert. Dieses Geld war nun verloren, wie Alphonse von Baptiste Germain, der aus einer wohlhabenden Pariser Bankiersfamilie stammte, unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfahren hatte. Denn noch hielt die Pariser Regierung das Scheitern ihres ehemaligen Prestigeprojekts geheim.

Darüber hinaus hatte Alphonse in jüngster Zeit viel Geld für seine Kurtisane ausgegeben und war auch geschäftlich nicht mehr so erfolgreich wie früher. »Baptistes Versprechen, mir über das Bankhaus seines Vaters unbegrenzten Kredit zu gewähren, wenn du seine Frau wirst, ist meine letzte und einzige Hoffnung!« Die Worte ihres Vaters klangen Valérie bis heute in den Ohren.

Obwohl nur sie und ihr Vater von der finanziellen Misere wussten, war der Rest ihrer Familie begeistert über diese Verbindung gewesen. Ihre Mutter genauso wie ihre beiden Großeltern. »Was für eine Ehre! Was für ein Aufstieg für uns alle durch deine Einheirat in diese reiche und überaus angesehene Bankiersfamilie!«, war bis heute der einhellige Tenor.

Der Einzige, der ihr hätte beistehen können, wäre Henri de Toulouse-Lautrec gewesen. Er hatte ihr und Pascal früher oft großzügig unter die Arme gegriffen und hätte ihr mit seinem immensen Vermögen vielleicht sogar in dieser verzwickten Situation geholfen.

Doch schon kurz nach Pascals Abreise entdeckte Valérie, dass er ihre Freundin Suzanne Valadon ohne deren Wissen und Einverständnis in entwürdigender Weise als Säuferin gezeichnet hatte. Das zweifelhafte Werk La Buveuse war im Courrier français, einem Blatt mit hoher Auflage, veröffentlicht worden.

Natürlich begriff Valérie sofort, dass dies Henris Vergeltung für die überaus schmutzige Trennung von Suzanne war, die ihm früher oft Modell gestanden hatte. Zwei Jahre lang waren die beiden ein Paar gewesen. Obwohl auch Suzanne sich nach dem Ende der Liaison nicht fair gegenüber Henri verhalten hatte, ergriff Valérie uneingeschränkt für sie Partei und machte Henri die heftigsten Vorwürfe für diese öffentliche Erniedrigung ihrer Freundin.

Schon unmittelbar danach hatte Valérie ihr aggressives Verhalten bereut. Doch da war es bereits zu spät gewesen. Henri galt als nachtragend. Bis heute wies er all ihre Versöhnungsversuche zurück.

Ist das etwa der Grund, dass Pascal mir nicht mehr schreibt?, durchfuhr Valérie der Gedanke jetzt wie ein Stich. Sie hatte ihm auch das Zerwürfnis mit Henri verschwiegen und darauf vertraut, dass Henri zumindest Gentleman genug war, um sie gegenüber Pascal nicht anzuschwärzen.

Mitten in ihre trüben Grübeleien hinein pochte es an der Tür. Wieder war es Marie. »Ihre Mutter bittet Sie, sich binnen der nächsten Viertelstunde ausgehfertig zu machen. Sie möchte mit Ihnen ins Atelier von Monsieur Worth fahren.«

»Was soll ich denn da?«, fuhr Valérie auf.

Marie hob die Schultern. »Das müssten Sie die Gnädige selbst fragen, Mademoiselle. Mir hat sie es nicht gesagt.«

INDERSUITEDESSCHAHSVONPERSIEN

30. OKTOBER 1889, GEGEN 17 UHR

Pünktlich zur vereinbarten Zeit holte der herrschaftliche Diener Elise und La Goulue ab. Elise folgte dem Mann mit einem mulmigen Gefühl.

Noch während des Anziehens ihrer Cancan-Kostüme hatte Louise Elise erzählt, der Schah habe angeblich fünfundzwanzig Gattinnen und darüber hinaus einen Harem mit weiteren achtzig Frauen. »Das stand so im Courrier français. Also denk ich, er will es mit uns zwei treiben. Er ist ja das Liebemachen mit ’n paar Frauen auf einmal gewöhnt.«

Hätte ich mich nur nicht hierauf eingelassen, bedauerte Elise nun ihre Zusage zu dieser Privatvorführung. Sosehr sie das Geld auch brauchte, befürchtete sie nun, gar keine Bezahlung zu erhalten, wenn sie sich den speziellen Wünschen des persischen Herrschers verweigerte.

Der Bedienstete führte sie in den Salon der Suite, der tatsächlich die Größe eines kleinen Tanzsaals hatte. Die prunkvollen Möbel hatte man zur Seite geräumt, den Teppich aufgerollt. Der Parkettboden darunter wirkte glatt und schlüpfrig. Hoffentlich rutsche ich nicht aus, dachte Elise. Eine weitere Befürchtung neben dem, was ihr bereits zu schaffen machte.

Entgegen den Anweisungen des Dieners betrachtete sie ihren Auftraggeber zumindest von fern. Der Schah saß auf einem bequemen Lehnsessel an der Stirnseite des Raums. Anders als sein Lakai war er nicht in ein orientalisches Gewand, sondern in eine über und über mit edelsteinbesetzten Orden geschmückte schwarze Uniform gekleidet. Auf dem Haupt trug er einen Fez. Elise erinnerte sich an diese Kopfbedeckung aus ihrem Besuch im Café Maure der Weltausstellung vor wenigen Wochen.

Auch der Fez des Schahs war mit Edelsteinen geschmückt: Eine große Diamantbrosche über der Stirn des Herrschers hielt eine perlenbesetzte Feder.

Der Schah winkte Elise und La Goulue zu sich heran. Unwillkürlich sanken beide in einen tiefen Knicks.

»Schauen Sie mich an!«, befahl der Herrscher zu Elises Erstaunen mit sonorer Stimme in ebenfalls gutem Französisch. Ganz im Gegensatz zu der Anweisung, die sein Bediensteter den Frauen nach der Ankunft gegeben hatte.

Während der Schah Elise eindringlich musterte, nutzte auch sie die Gelegenheit, sich einen Eindruck von ihm zu verschaffen. Von Louise wusste sie, dass er Ende fünfzig war und zum dritten Mal Europa bereiste. Sein Gesicht mit der vorspringenden Nase, den dicht über den braunen Augen liegenden buschigen Brauen und dem gezwirbelten Schnurrbart, der ihm zu beiden Seiten bis weit über die Wangen stand, gefiel Elise nicht. Um seinen Mund glaubte sie außerdem einen grausamen Zug wahrzunehmen. Hatte La Goulue ihr nicht auch erzählt, dass er bereits mehrere hohe Würdenträger in seinem Heimatland Persien »um die Ecke gebracht« hatte, wie sie das ausdrückte?

Hoffentlich lässt er mich überhaupt wieder ungehindert gehen, wenn ich ihm nicht zu Willen bin. Elise begann, sich nun wirklich zu fürchten.

Bevor dieses Gefühl jedoch größeren Raum einnehmen konnte, machte der Schah eine auffordernde Handbewegung. Daraufhin gab der Diener einer dreiköpfigen Kapelle, die neben der Tanzfläche auf einem kleinen Podest saß, ein Zeichen. Es waren offenbar Franzosen, denn sie trugen westliche Abendkleidung.

Schon stimmten sie die bekannteste Cancan-Melodie an, den Galop infernal aus Jacques Offenbachs Operette Orpheus in der Unterwelt.

Wie Elise es von früheren Auftritten kannte, löschte die mitreißende Musik all ihre trüben Gedanken aus. Die Schritte und Figuren, die sie bereits unzählige Male darauf getanzt hatte, gelangen ihr wie von selbst. Entgegen ihrer Sorge rutschte sie auch kein einziges Mal aus.

Und so ging es weiter. Elise vergaß sogar, dass Louise diesen durchsichtigen Schlüpfer mit dem aufgestickten Herz auf dem Hintern trug, den sie bei den entsprechenden Figuren freizügig zeigte.

Die Vorstellung kam sehr gut an. Der Schah richtete zwar nicht mehr das Wort an sie, klatschte aber nach jeder Nummer ausgiebig und forderte offenbar auch seinen Bediensteten dazu auf. Vage hatte Elise den Eindruck, dass der Applaus des Herrschers nach ihren beiden Solonummern besonders laut und anhaltend war. Aber da konnte sie sich auch irren.

Nach über einer Stunde und einer Wiederholung der Einstiegsnummer zur Melodie des Galop infernal als Zugabe sank sie neben La Goulue erschöpft, aber zufrieden in einen abschließenden Knicks.

Nachdem er zu klatschen aufgehört hatte, sprach der Schah Elise an. »Mademoiselle Lambert möge sich nähern!« Seine Stimme duldete keinen Einwand.

Plötzlich wieder ängstlich, trat Elise mit gesenktem Blick vor, wie es der persische Diener nach ihrer Ankunft in der Königssuite befohlen hatte. Diesmal forderte der Schah sie nicht auf, ihn anzusehen. Stattdessen nannte er sich selbst bei seinem Namen.

»Nāser ad-Din Schāh ist sehr über Ihre Vorstellung erfreut. Er bereut es nicht, seinen Besuch der Weltausstellung deswegen verlängert zu haben. Er würde sich glücklich schätzen, Mademoiselle Lambert auch noch in seinen privaten Gemächern empfangen zu dürfen.«

Also waren ihre Befürchtungen richtig gewesen. Elise fühlte sich wie gelähmt. Noch ehe sie sich von ihrer Schockstarre erholt hatte, mischte sich La Goulue ein. »Uns zwei gibt’s nur im Doppelpack, Majestät – äh – Erlauchter.«

Was … Was redet sie da? Elise musste sich verhört haben. Sie riss sich gewaltsam zusammen.

»Nein … nein … Kaiserliche Hoheit … Erhabener«, stammelte sie. »Das möchte ich nicht.«

»Es ist auch nicht der Wunsch von Nāser ad-Din Schāh.« Elises kurze Erleichterung schlug unmittelbar in neue Bestürzung um.

»Mademoiselle Lambert möge Nāser ad-Din Schāh ohne Begleitung mit ihrem Besuch beehren. Sie wird reich dafür belohnt werden.«

»Das möchte ich auch nicht«, entfuhr es Elise instinktiv. Dann holte sie tief Luft. Plötzlich kehrte ihr Mut zurück. Sie richtete trotz des Verbots wieder den Blick auf das Gesicht des Monarchen. »Eure erhabene Majestät waren so freundlich, mich zum Tanzen einzuladen. Dabei möchte ich es bewenden lassen.«

Noch bevor sie den Gesichtsausdruck des Herrschers – war es Bedauern, war es Respekt – deuten konnte, ertönte erneut La Goulues Stimme an ihrer Seite.

»Ich würds machen, Erlauchter. Ich komm auch allein.«

Die Reaktion des Schahs überraschte Elise zutiefst. Energisch schüttelte er den Kopf.

»Ich habe Mademoiselle La Goulue nur eingeladen, da sie erklärte, Mademoiselle Lambert habe dies zur Bedingung für ihren Auftritt gemacht. Doch selbst wenn ich an einem anschließenden Tête-à-Tête mit beiden Damen interessiert gewesen wäre, ist mir die Lust dazu jetzt vergangen. Mademoiselle La Goulue möge sich zuerst einmal pflegen lassen, wie es sich für eine Frau geziemt, die des Schahs von Persien würdig ist.«

IMSCHNEIDERSALONVONCHARLESWORTH

30. OKTOBER 1889, EINEDREIVIERTELSTUNDESPÄTER

Valérie zitterte noch immer vor Zorn, als sie das Schneideratelier von Charles Worth in der Rue de la Paix erreichten. Schon in der elterlichen Wohnung war es zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Mutter gekommen.

»Was soll ich bei Worth?«, hatte Valérie gefragt.

Zuerst hatte sich ihre Mutter mit dem Vorwand, dort warte eine Überraschung auf sie, herausreden wollen. Erst als Valérie drohte, nicht mitzufahren, hatte sie ihr den Grund gesagt.

»Baptiste hat mich gebeten, den Stoff für dein Brautkleid auszusuchen. Das habe ich schon vor einiger Zeit getan. Denn er als Bräutigam darf das Kleid ja erst am Tag der Trauung sehen. Bei dieser Gelegenheit hat mir das Atelier den heutigen Termin eingeräumt, um zum ersten Mal deine Maße nehmen und die benötigte Stoffmenge reservieren zu können.«

Valéries Puls beschleunigte sich. »Wann hast du den Stoff ausgesucht?« Ihre Stimme klang schneidend. »Meines Wissens hat Worth eine Vorlaufzeit von mehreren Monaten für neue Kundinnen. Und eine neue Kundin bin ich ja wohl, oder nicht?«

»Das spielt doch jetzt keine Rolle«, versuchte ihre Mutter auszuweichen. »Du könntest dich glücklich schätzen, dass dein zukünftiger Ehemann dein Hochzeitskleid im teuersten Atelier von Paris bestellt hat.«

»Wenn du mir nicht sagst, wann du diesen Termin vereinbart hast, fahre ich nicht mit.«

Valérie war schon auf dem Rückweg in ihr Zimmer, als ihre Mutter nachgab. »Es war in der Woche, in der du mit Baptiste die Weltausstellung besucht hast.«

»Also bevor ich der Verlobung überhaupt zugestimmt habe?« Valérie konnte es nicht fassen.

Auf den Wangen ihrer Mutter bildeten sich rote Flecken. »Wir sind doch alle davon ausgegangen, dass du seinen Antrag an jenem Abend im Café Riche annimmst, wohin er dich einladen wollte. Woher hätten wir denn wissen sollen, dass du das erst Wochen später beim Eröffnungsabend in diesem unsäglichen Moulin Rouge tust?« Mit jedem Wort wurde die Stimme ihrer Mutter schriller.

Während Valérie noch nach Luft schnappte, fuhr ihre Mutter hastig fort: »Hätte ich den Termin bei Worth etwa absagen sollen? Wo er doch so schwer zu bekommen war! Baptiste musste sogar seine Beziehungen spielen lassen, damit er heute zustande kam.«

Schließlich drohte sie: »Also kommst du jetzt mit oder nicht? Sonst fahre ich allein. Denn auch ich habe dort noch etwas zu erledigen. Aber Baptiste wird darüber nicht erfreut sein.«

Es war eher die Neugierde darauf, was ihre Mutter bei Worth zu tun hatte, als ihre Sorge, Baptiste zu verärgern, die Valérie schließlich bewogen hatte, mitzukommen. Aber sie war fest entschlossen, den Stoff für ihr Hochzeitskleid nicht zu akzeptieren.

Im Vorraum des Ateliers begrüßte sie eine Empfangsdame, die ein kostbar aussehendes schwarzes Seidenkleid trug. Die Frau war dezent geschminkt, ihre Frisur entsprach der neuesten Mode.

Nachdem sie Amélies Termin in einem großen, in rotes Leder eingebundenen Buch gefunden hatte, führte sie die Frauen in den Salon. Er war prächtig ausgestattet mit Gobelins an den Wänden, Perserteppichen auf dem Fußboden und Sitzmöbeln, deren Polster glänzender Samt überzog.

»Sie müssen entschuldigen, Madame Dumas. Aber wir sind auf Monate hinweg ausgebucht. Deshalb muss ich jeden Gast überprüfen, damit es nicht zu unwillkommenen Engpässen bei der Anfertigung unserer Modelle kommt.«

Ganz entgegen ihrer sonst hochfahrenden Art, mit Untergebenen umzugehen, nickte Amélie lächelnd. »Das versteht sich von selbst.«

»Was darf ich nun als Erstes mit Ihnen in Angriff nehmen? Möchten Sie Ihre neue Robe anprobieren, damit wir noch Änderungen vornehmen können, Madame Dumas? Oder möchten Sie, liebe Mademoiselle Dumas, sich den Stoff für Ihr Brautkleid anmessen lassen?«

Valérie glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. »Du hast dir hier auch selbst ein Modell bestellt?«

Wieder erschienen die roten Flecken auf den Wangen ihrer Mutter. Sie überging Valéries Frage und entschied: »Lassen Sie uns mit dem Stoff meiner Tochter beginnen!«

Die Empfangsdame winkte eine junge Frau herbei, die ein schlichteres Kleid, aber ebenfalls aus schwarzer Seide trug. »Führen Sie die Damen ins Tuchzimmer, Anne-Marie. Dort haben wir die entsprechenden Ballen schon bereitgelegt.«

Die Bedienstete ging Valérie und Amélie voran in den Nebenraum zu einem polierten Mahagonitisch. Darauf lag ein Ballen aus reinweißem Seidenstoff. Ungefähr zwei Meter waren abgerollt, damit man Struktur und Muster erkennen konnte.

Wie gut Valérie dieser Stoff gefallen hätte, wenn sie nicht so empört über die Bevormundung gewesen wäre, konnte sie später nicht einmal sagen. So stieß sie das über und über bestickte Gewebe sofort ab.

Sie suchte noch nach Worten, um ihre Ablehnung zu begründen, als Mademoiselle Anne-Marie mit der Präsentation begann. »Seit Ihrer Bestellung haben unsere Arbeiterinnen Tag und Nacht daran gearbeitet, die schwere Seide mit Myrtenzweigen zu besticken, Madame Dumas. Natürlich mit hauchzarten Seidenfäden. Schauen Sie selbst!« Die Verkäuferin zeigte den Stoff von beiden Seiten.

»Wunderschön!«, hauchte Amélie. Valérie blieb vorerst stumm und versuchte, sich zu sammeln.

»Und hier« – die Verkäuferin griff nach einem kleineren Ballen, der bislang durch den größeren verdeckt gewesen war – »hier ist die echte Brüsseler Spitze, sowohl für den Besatz des Kleides als auch für den Schleier. Die filigranste Klöppelei, die ich seit Langem gesehen habe.«

Erst jetzt hatte Valérie sich wieder gefasst. »Sind dies die Stoffe, die meine Mutter vor einigen Wochen bestellt hat, Mademoiselle Anne-Marie?« – »Einschließlich dieser aufwendigen Stickereien für das Hochzeitskleid, die erst nachträglich angefertigt wurden?« Die Bedienstete bejahte beide Fragen.

Valérie atmete tief durch. »Dann lassen Sie mich zum Ausdruck bringen, Mademoiselle Anne-Marie, dass beide Stoffe mir nicht zusagen.«

»Aber Mademoiselle Dumas!«, protestierte die Bedienstete mit schwacher Stimme, während Amélie hörbar nach Luft schnappte. »Nicht einmal die Brüsseler Spitze? Die feinste, die es im Moment auf dem Markt gibt! Und wie ich schon sagte, der Seidenstoff wurde eigens für Ihren Ehrentag bestickt.«

»Allerdings ohne mich zu fragen, was ich mir vorstelle«, entgegnete Valérie scharf.

»Es war Baptistes ausdrücklicher Wunsch, dass dein Hochzeitskleid mit Myrtenzweigen geschmückt wird«, meldete sich jetzt Amélie zu Wort. Ihre Stimme zitterte. »Was glaubst du, was sich dein Bräutigam das kosten lässt?«

Dass sie ein solch heikles Thema vor einer Mitarbeiterin des Ateliers zur Sprache brachte, zeigte Valérie, wie sehr ihre Mutter außer Fassung war.

»Das ist mir gleichgültig. Beide Stoffe gefallen mir nicht«, wiederholte Valérie und wandte sich bereits zum Gehen. Amélie hielt sie am Ärmel fest.

»Auf ein Wort, Tochter. Wo können wir hier ungestört miteinander sprechen?«

»Ich gehe hinaus und lasse Sie ein wenig allein«, bot Anne-Marie an und verließ den Raum.

»Diese bestickte Seidenrobe wird fast zehntausend Francs kosten!« Amélie keuchte vor Erregung. »Du kannst Baptiste doch nicht so vor den Kopf stoßen!«

Kurz war Valérie versucht, ihrer Mutter entgegenzuschleudern, dass Myrtenzweige als Symbol ihrer Jungfräulichkeit ohnehin fehl am Platz seien. Doch dann nahm sie Abstand davon. Ihre Beziehung mit Pascal ging weder ihre Mutter noch Baptiste etwas an.

Wieder spürte sie Tränen hinter den Augen brennen, riss sich dann aber zusammen. »Wenn ich nicht einmal gefragt werde, was mir gefällt, kann ich das sehr wohl.«

»Aber … aber …« Amélie atmete schwer. »Aber es muss heute Maß genommen werden, sonst wird dein Kleid nicht rechtzeitig fertig.«

Valéries Kehle verengte sich. Welche unangenehmen Überraschungen warteten denn noch auf sie?

»Das verstehe ich nicht.«

»Nun … nun …« Amélie wand sich wie ein Aal. »Baptiste hat schon die Hochzeitsfeier im Café de la Paix bestellt. Das vornehmste Café von Paris«, plapperte sie hastig weiter, da sie offenbar Valéries erneute Einwände fürchtete. »Die kirchliche Trauung in Notre-Dame ist auch schon vereinbart.«

Valéries Magen verklumpte sich. »Wann?« Mehr brachte sie nicht heraus.

»Für den 3. Januar. Alphonse und Baptiste haben das so besprochen.«

»Wieder ohne mich zu fragen, was ich will?« Valéries Stimme klang selbst in ihren Ohren schrill.

»Es sollte … eine Überraschung für dich sein, chérie«, antwortete ihre Mutter lahm. »Also wirf um Himmels willen jetzt nicht alles über den Haufen!«

»Warum nicht?«

»Weil dein Vater, der die Hochzeitsfeier eigentlich ausrichten und unsere Kleider bezahlen müsste, dann auf den immensen Kosten sitzen bliebe. Dem Café de la Paix musste Baptiste nämlich eine erkleckliche Anzahlung für das Hochzeitsbüfett leisten, um einen so kurzfristigen Termin noch einrichten zu können. Er wird dieses Geld von deinem Vater zurückfordern, wenn ein neuer Termin gesucht werden muss.«

Und nur ich und Baptiste wissen, dass Vater dieses Geld gar nicht zur Verfügung hätte. Fieberhaft überdachte Valérie ihre Möglichkeiten.

»Nun gut«, gab sie schließlich zähneknirschend nach. »Ich akzeptiere den 3. Januar als Termin für die Hochzeitsfeier im Café de la Paix. Aber den Stoff für mein Brautkleid möchte ich mir heute selbst aussuchen.«

Amélie war sichtlich erleichtert. Sie erhob keinen Einspruch, als sich Valérie für den schlichtesten Seidenstoff entschied, der im Hause Worth auf Lager war. Er war nicht schneeweiß, sondern elfenbeinfarben. »Keine Stickerei und nur ein wenig Verbrämung mit Spitze um den Ausschnitt und an den Ärmeln«, wies sie die Schneiderin an, bei der sie schließlich Maß an sich nehmen ließ. »Den Schleier möchte ich aus Tüll, die Brautkrone aus weißen Seidenrosen.« Damit Baptiste nicht noch auf die Idee kam, ihr zumindest einen Myrtenkranz aufs Haupt setzen zu lassen.

»Leider müssen wir für das Kleid den gleichen Preis berechnen wie für das aus bestickter Seide«, wandte die inzwischen über Valéries Änderungswünsche informierte Empfangsdame ein. »Sie verstehen – unsere Kalkulation.«

Amélie winkte ab. »Das wird kein Problem sein.«

»Darf ich Sie dann zu Ihrer eigenen Anprobe bitten, Madame?«

Auf dem Weg in den benachbarten Nähsalon fragte Valérie: »Weiß Papa, dass du dir auch ein Kleid bestellt hast, maman?«

Amélies Gesicht färbte sich tiefrot. »Nein, noch weiß er nichts davon. Aber – aber – dein zukünftiger Ehegatte ist außerordentlich großzügig und hat auch mir eine Robe zugestanden. Deinen Vater kostet sie keinen Sou.«

Es stellte sich heraus, dass es ein überaus aufwendiges Modell aus violettem Samt war, mit Schleppe und Turnüre und mit altrosafarbenen Seidenblüten besetzt, das schon kurz vor der Fertigstellung stand. Es fehlten nur noch einige Abnäher, und der Saum musste festgesteckt werden.

Diese Robe müsste Vater auf jeden Fall bezahlen, wenn ich die Hochzeit jetzt doch noch verweigere, wurde Valérie klar. Ebenso wie das Brautkleid und wahrscheinlich sogar den mit Myrtenzweigen bestickten Seidenstoff, wenn Worth keine andere Kundin dafür findet. Und wer will schon zehntausend Franc dafür ausgeben?

Angesichts dieses Dilemmas knirschte Valérie mit den Zähnen. Warum war sie so naiv gewesen, zu glauben, sie könne den Hochzeitstermin auf unbestimmte Zeit hinausschieben?

Erst auf der Rückfahrt in die Wohnung fiel ihr eine weitere Retourkutsche ein, um sich gegen die über ihren Kopf hinweg getroffenen Absprachen zu wehren.

»Übrigens, maman«, erwähnte sie beiläufig. »In Notre-Dame will ich nicht getraut werden. Wir leben am Fuß von Montmartre.«

»Aber die Basilika Sacré-Coeur ist noch im Rohbau!«

Um Valéries Lippen spielte ein feines Lächeln. »Diese Kirche meine ich nicht. Ich möchte in Saint-Pierre heiraten.«

Im Vergleich zu Notre-Dame war diese ehemalige Klosterkirche ein sehr bescheidenes Bauwerk. Viel zu bescheiden, um Baptiste zu gefallen. Aber das schert mich nicht, trotzte Valérie innerlich.

Zu ihrer Verwunderung zögerte Amélie nur kurz. »Nun gut, das wird sich machen lassen«, stimmte sie zu. »Sicher wird der Dekan von Notre-Dame ein anderes Brautpaar finden, das den Termin am 3. Januar mit Freuden übernimmt.«

Erst viel zu spät würde Valérie erkennen, warum ihre Mutter in dieser Sache so bereitwillig nachgegeben hatte.

AUFDEMRÜCKWEGINSMOULINROUGE

30. OKTOBER 1889, GEGEN 18 UHR

»Na, dieser Schuss ist gründlich nach hinten losgegangen.« Elise wusste noch immer nicht, ob sie eher dankbar für den glimpflichen Ausgang dieser Privatvorführung sein sollte oder ausgesprochen zornig über Louise. Sie saßen wieder in der Luxuskarosse des Grand-Hôtel, die sie zurück zum Moulin Rouge brachte.

»Wie kann ich denn wissen, dass der Kerl sich an meinen Schamhaaren stört«, knurrte Louise. »Dann hätt ich den Schlüpfer erst gar nicht angezogen. – Aber vor dir hätt er sich dann ja auch geekelt«, kam ihr ein Geistesblitz. »Oder hast du dich etwa da unten rasiert?«

»Daran hab ich schon deshalb nicht mal gedacht, weil ich nie mit dem Schah ins Bett gehen wollte. Aber woher sollte ich wissen, dass eine Frau sich alle Körperhaare entfernen muss, wenn sie zum Harem des Herrschers gehört?«, entgegnete Elise.

Das hatte der Bedienstete, der sie zunächst ins Ankleidezimmer und später hinausbegleitet hatte, La Goulue auf ihre empörten Fragen hin erklärt. Und dabei betont, dass sich der Schah schon im Moulin Rouge nur für Elise interessiert habe.

Zur Erleichterung beider junger Frauen hatte er ihnen zum Abschied jedoch den für die Vorstellung vereinbarten Lohn überreicht.

Trotzdem übermannte Elise nun erneut der Zorn. »Dir war die ganze Zeit klar, dass der Schah nur mich engagieren wollte«, warf sie Louise vor. »Du hast seinen Abgesandten belogen, dass ich nur komme, wenn du dabei bist.«

Louise hob ungerührt die Schultern. »Aber das hat doch gestimmt, oder nicht?«

Widerwillig musste Elise es zugestehen.

»Mich allein wollte der komische Filou nicht.« La Goulue konnte offenbar noch immer nicht fassen, dass ihr dies passiert war. »Also musst ich mir was einfallen lassen. Und davon hast du doch auch was gehabt. Sogar doppelt!«

»Wieso doppelt?«

»Ich hab dem Oller unter die Nase gerieben, dass der Schah auf dich steht. Das hat ihn sicher gnädig mit dir gestimmt. Sonst hätt er dich womöglich gleich rausgeschmissen.«

Elise durchfuhr ein Stich. Ihr Zorn auf Louise wich tiefer Bestürzung. Hatte die Freundin seit Kinderzeiten damit tatsächlich die Katastrophe verhindert?

Die schwenkte jetzt ihr Beutelchen mit den klimpernden zehn Louisdors vor Elises Nase. »Und was ist mit deinem Anteil?«

»Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast, Louise«, sagte Elise leise. Dann wallte ein letztes Mal Zorn in ihr auf. »Aber lüg mich in Zukunft nicht noch mal an! Sonst wars das mit der Freundschaft. Und merk dir noch eins«, fügte sie hinzu. »Ich werde nie eine Kurtisane von reichen Männern.«

In diesem Moment ahnte Elise noch nicht, dass dieser Vorsatz der Wirklichkeit auf Dauer nicht standhalten würde.

TEIL 1 Wunsch und Wirklichkeit

Kapitel 1

WOHNUNGVONALPHONSEDUMASAMBOULEVARDDECLICHY

ENDENOVEMBER 1889 UMDIEMITTAGSZEIT

Es pochte leise an Valéries Tür. Als sie sich nicht rührte, ertönte die zaghafte Stimme des Dienstmädchens Marie.

»Ihre Mutter bittet Sie zu Tisch, Mademoiselle Dumas!«

»Ich habe rasende Kopfschmerzen und keinen Hunger«, antwortete Valérie.

Wohl zum einhundertsten Mal blickte sie auf den inzwischen zerknitterten Brief, den Marie ihr gestern Vormittag gebracht hatte. Endlich eine Nachricht von Pascal. Doch sie war völlig anders ausgefallen, als Valérie sich das gewünscht hatte.

Wenig später klopfte es erneut. Bevor sie reagieren konnte, öffnete sich die Tür. Marie balancierte ein Tablett herein, auf dem eine dampfende Schüssel und ein Brotkörbchen standen.

»Madame Dumas schickt Ihnen dies, Mademoiselle. Sie ist sehr in Sorge, dass Sie bis zur Hochzeit völlig abmagern und das Kleid Ihnen schließlich gar nicht mehr passt.«

In der Tat hatte Valérie in den letzten Wochen stark abgenommen, sodass ihr Brautkleid schon zweimal enger gemacht werden musste.

Valérie wollte schon auffahren, als sie Maries bedrückte Miene bemerkte. »Bitte essen Sie, Mademoiselle«, bat Marie leise. »Sonst lässt Madame es mich vielleicht büßen.«

Valéries Widerstand erlahmte. Sie wollte auf keinen Fall auch noch Marie in ihr Unglück hineinziehen. Die hatte es im Augenblick schon schwer genug.

Im Sommer hatte ihre Mutter Amélie sowohl die Köchin als auch das zweite langjährige Dienstmädchen überraschend entlassen und durch jüngeres Personal ersetzt. Valérie hatte vergeblich dagegen protestiert. Denn es war völlig ungewiss, ob die gekündigten Dienstboten, die sich nun den sechzig näherten und wie Marie seit Jahrzehnten für die Dumas’ gearbeitet hatten, eine andere Stelle finden würden.

Wenigstens war es ihrem Vater Alphonse gelungen, den Hausdiener Simon vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren. Der Mann war neben seinen vielen anderen Verpflichtungen Alphonses Kammerdiener und als solcher unverzichtbar.

Obwohl Marie durch die Entlassung ihrer älteren Kollegin zum ersten Dienstmädchen aufgestiegen war, befürchtete sie mittlerweile ebenfalls, ihre Stelle zu verlieren. Sie hatte schon im Haushalt von Amélies Eltern gearbeitet und war Amélie bei der Heirat vor siebenundzwanzig Jahren in die Wohnung am Boulevard de Clichy gefolgt.

Trotzdem fühlte ihre Mutter sich anscheinend auch Marie in keiner Weise verpflichtet. »Wenn Sie sich noch einmal so ungeschickt anstellen, können Sie auf der Stelle Ihre Sachen packen!«, hatte sie dem Dienstmädchen erst kürzlich gedroht, nachdem Marie, wahrscheinlich aufgrund ihrer zunehmenden Nervosität, einige Fehler unterlaufen waren. Valérie war dabei gewesen und der laut Weinenden bis auf die Hintertreppe des Hauses nachgelaufen, um sie zu trösten.

»Du kannst dich auf mich verlassen! Ich werde dafür sorgen, dass du nicht auf der Straße landest«, hatte sie Marie versprochen. »Ich nehme dich mit, wenn ich verheiratet bin.«

So hatte diese grässliche Hochzeit zumindest etwas Gutes. Valérie zweifelte nicht daran, dass Marie mit ihr in das pompöse Stadtpalais kommen durfte, in das sie wohl oder übel schon in wenigen Wochen einziehen würde. Bisher hatte sie sich mit all ihren Wünschen, die die Eheschließung betrafen, gegenüber Baptiste und ihren Eltern durchgesetzt.

Auch deshalb hatte sie gegen alle Wahrscheinlichkeit immer noch auf ein Wunder gehofft. Vielleicht erlitt Baptiste einen Unfall, oder ihr Großvater Gérôme starb vor der Hochzeit und hinterließ ihrem Vater als einzigem Sohn sein beträchtliches Vermögen.

Jedenfalls war Valérie fest entschlossen gewesen, Pascal erst nach der Hochzeit in Kenntnis zu setzen. Wenn jeder Ausweg versperrt war.

Doch Henri war ihr mit der Nachricht schon vor Wochen zuvorgekommen. Das erklärte Pascals langes Schweigen. Deshalb waren ihre Glücksgefühle, als Marie ihr gestern endlich den ersehnten Brief gebracht hatte, rasch einer tiefen Niedergeschlagenheit gewichen.

Die ganze Nacht hatte sie wach gelegen und überlegt, was sie Pascal antworten sollte. Denn er setzte ihr in seiner Nachricht ein Ultimatum.

Nun las sie den Brief mit zitternden Händen ein weiteres Mal. Pascal hatte ihn offenbar in großer Erregung geschrieben. Das Schreiben strotzte vor Widersprüchlichkeiten, falschen Annahmen und Vorwürfen. Trotzdem enthielt es eine Reihe berechtigter Vorhaltungen. Für Pascals desolate Gefühlslage sprach außerdem, dass Tintenkleckse und verwischte Buchstaben auf den Seiten zu erkennen waren, als habe er beim Verfassen Tränen vergossen.

Dies und einige Textpassagen rührten Valérie, andere machten sie hilflos oder sogar zornig. Jetzt beschloss sie, Absatz für Absatz durchzugehen, um sich zu überlegen, was sie darauf antworten könnte. Den Brief wollte sie noch heute in die Post geben.

Liebste Valérie,

gerade stockt mir der Atem, als ich begreife, dass ich Dich noch immer so anspreche, wie es einmal meinen Gefühlen für Dich entsprochen hat.

Doch vor mir liegt eine viertelseitige Verlobungsanzeige aus dem Pariser Figaro, der ich entnehme, dass Du unsere Beziehung inzwischen ohne mein Wissen und Zutun aufgegeben hast. Henri hat sie mir schon Mitte Oktober geschickt.

Das hätte ich mir doch denken können, schimpfte sich Valérie selbst eine Idiotin. Baptiste hatte solche Anzeigen gleich nach der Verlobung in allen großen Pariser Gazetten geschaltet. Kein Wunder, dass sie Henri ins Auge gefallen waren. Und er Pascal gleich darauf in Kenntnis gesetzt hatte.

Seither warte ich vergeblich darauf, dass Du Dich selbst erklärst. Doch heute habe ich es nicht länger ausgehalten.

Das Datum wies aus, dass Pascal das Schreiben vor vier Tagen verfasst hatte. Er wartete also schon über einen Monat auf ihren Brief. Während sie vor Sorge fast umgekommen war, ihm könne etwas zugestoßen sein.

Natürlich hätte Pascal ein Anrecht darauf gehabt, von Valérie über die Verlobung informiert zu werden. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mich bei ihm für diese feige Unterlassung zu entschuldigen, dachte sie. Aber ich hatte doch gute Gründe dafür! Valérie spürte, dass ihr schon wieder die Tränen kamen.

Kurz rief sie sich diese Gründe noch einmal ins Gedächtnis. Ich wollte ihn nicht so tief verletzen. Aber ich wollte auch die Illusion aufrechterhalten, dass es eine Zukunft für uns beide gibt. Schließlich bin ich noch nicht mit Baptiste verheiratet. Die Sache sei also nicht endgültig entschieden, hatte ich mir vorgemacht.

Wie konnte ich nur so verblendet sein, warf sie sich jetzt vor.

Ich gestehe freimütig ein, dass ich völlig fassungslos über die Nachricht war und bin. Ja, es ist wahr, dass auch ich Dir viel zu spät eingestanden habe, dass ich Frankreich verlassen muss. Aber ich war bis zur letzten Minute bemüht, unser großes Glück nicht zu trüben.

Das war ich doch auch, schrie alles in Valérie auf. Wieso kommt er nicht selbst darauf? Die nächsten Passagen machten sie sogar zornig.

Und ja, es ist ebenfalls wahr, dass ich frühestens in einigen Jahren zurückkehren kann. Doch ich bin Dir bislang treu geblieben und wollte auf Dich warten. So, wie ich fest davon ausging, dass auch Du auf mich warten würdest.

Aber du bist ein Mann!, empörte sich Valérie. Du kannst tun und lassen, was du willst. Auch wenn Henri dir nicht geholfen hätte, wärst du gegangen, du kannst auch im Ausland selbst für dich sorgen.

Ich dagegen bin eine unverheiratete Frau ohne eigenes Einkommen und damit abhängig von meinen Eltern! Wie also hätte ich gegen ihren Willen jahrelang auf dich warten sollen?

Aber Pascal weiß ja nicht, wie sehr meine Eltern mich unter Druck gesetzt haben, fiel ihr dann ein. Sollte sie ihm das schreiben? Würde es ihn milder stimmen?

Erst einmal las sie weiter.