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Das Kind in uns: Entdecken Sie den Schlüssel zu einem erfüllten Leben und zufriedenen Beziehungen mit dem inneren Kind! Begegnen Sie Ihrem inneren Kind mit Freundlichkeit und Akzeptanz. Jeder Mensch sehnt sich danach, ganz angenommen und wirklich geliebt zu werden, erfüllende Beziehungen zu führen und Konflikte problemlos lösen zu können. Der Schlüssel dafür liegt in den oft unbewussten, unverarbeiteten Erfahrungen aus der eigenen Kindheit, die die Wurzel vieler unserer alltäglichen Probleme sind. Der bekannte Familien-Therapeut und Bestseller-Autor John Bradshaw zeigt in diesem Selbsthilfe-Ratgeber, warum das verletzte Kind in uns unser Leben heute bestimmt und wie wir zu ihm zurückkehren können. Durch die Verarbeitung prägender Erfahrungen und den Abschluss mit der Kindheit finden Sie zu einem befreiten Leben. Ziel ist es, das innere Kind für sich zurückzugewinnen und zu beschützen, sodass frühere Verletzungen heute nicht mehr schaden können. So entfalten Sie Ihr volles Potenzial, entdecken neue Kraftquellen und leben endlich authentisch. Dieses Praxisbuch begleitet jeden Suchenden auf dem Weg zum inneren Kind mit kompetenten Ratschlägen, Selbsthilfe-Übungen, Fragebögen und Selbstauswertungen. Beginnen Sie Ihre Reise zur Selbstheilung und stärken Sie Ihr Selbstbewusstsein für ein Leben voller Mitgefühl, Akzeptanz und erfüllender Beziehungen!
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Seitenzahl: 568
Veröffentlichungsjahr: 2013
John Bradshaw
Das Kind in uns
Wie finde ich zu mir selbst
Aus dem Amerikanischenvon Bringfried Schröder
Knaur e-books
Ich weiß, was ich mir wirklich zu Weihnachten wünsche. Ich möchte meine Kindheit wiederhaben. Niemand schenkt sie mir … Ich weiß, daß es unvernünftig klingt, aber was hat Weihnachten mit Vernunft zu tun? Weihnachten hat etwas mit einem Kind von ganz früher und ganz weit weg zu tun, und es hat etwas mit einem Kind von jetzt zu tun. In dir und in mir. Es wartet hinter der Tür unseres Herzens darauf, daß etwas Wunderbares geschieht.
Robert Fulghum
Als ich die Teilnehmer meines Workshops betrachtete, war ich von der Intensität ihres Engagements beeindruckt. Hundert Leute in Gruppen von sechs bis acht füllten den Raum. Jede Gruppe war selbständig, die Leute saßen dicht beieinander und flüsterten miteinander. Es war der zweite Tag des Workshops, und ein großer Teil der Interaktionen und des Miteinanders hatte bereits stattgefunden. Trotzdem waren sich diese Leute zu Anfang völlig fremd gewesen.
Ich näherte mich einer bestimmten Gruppe, die einem grauhaarigen Mann aufmerksam zuhörte. Er las ihnen einen Brief vor, den das Kind in ihm an seinen Vater geschrieben hatte.
Lieber Dad,
Du sollst wissen, wie sehr du mich verletzt hast. Als wir noch zusammen waren, hast du mich oft bestraft. Die Striemen und Schrammen hätte ich ja noch ertragen können, wenn du bloß mehr Zeit für mich gehabt hättest.
Ich habe dir nie sagen können, wie sehr ich mich nach deiner Liebe gesehnt habe. Wenn du doch nur mit mir gespielt oder mich zu einem Fußballspiel mitgenommen hättest. Wenn du doch nur ein einziges Mal gesagt hättest, daß du mich lieb hast. Ich wünschte, du hättest dich um mich gekümmert …
Er bedeckte seine Augen mit den Händen. Eine Frau in mittleren Jahren, die neben ihm saß, streichelte ihm zärtlich über das Haar; ein jüngerer Mann ergriff seine Hand. Ein anderer Mann fragte ihn, ob er in den Arm genommen werden wolle; der grauhaarige Mann nickte.
Eine andere Gruppe saß auf dem Boden, und alle hatten die Arme auf die Schultern ihres Nachbarn gelegt. Eine elegante Frau in den Siebzigern las ihren Brief vor:
Mutter, du warst immer zu sehr mit deinen Wohltätigkeitsveranstaltungen beschäftigt. Du hattest nie Zeit, mir zu sagen, daß du mich lieb hast. Du hast dich nur um mich gekümmert, wenn ich krank war oder wenn ich Klavier spielte und du stolz auf mich warst. Du hast mir nur die Gefühle gestattet, die dir paßten. Ich war nur dann wichtig, wenn ich dir Freude machte. Du hast mich nie um meiner selbst willen geliebt. Ich war so allein …
Ihre Stimme brach, und sie fing an zu weinen. Und mit ihren Tränen begann die Mauer, die sie siebzig Jahre lang aufrechterhalten hatte, einzustürzen. Ein junges Mädchen umarmte sie. Ein junger Mann sagte ihr, sie solle ruhig weinen und er bewundere ihren Mut.
Ich ging zu einer anderen Gruppe. Ein Blinder in den Dreißigern las einen Brief, den er in Blindenschrift abgefaßt hatte:
Ich habe dich gehaßt, weil du dich meinetwegen geschämt hast. Wenn deine Freunde zu Besuch kamen, hast du mich in das Zimmer hinter der Garage gesperrt. Ich habe nie genügend zu essen bekommen. Ich hatte immer solchen Hunger. Ich wußte, daß du mich haßt, weil ich dir lästig war. Du hast mich ausgelacht, wenn ich hinfiel …
Jetzt mußte ich mich einmischen. Ich konnte spüren, wie mich der immer noch vorhandene Zorn des eigenen verletzten Kindes in mir erfaßte, und ich hätte am liebsten vor Wut und Entrüstung geschrien. Das Gefühl der Traurigkeit und Einsamkeit der Kindheit war überwältigend. Wie konnte man sich überhaupt jemals von einem solchen Kummer erholen?
Aber am Ende des Tages hatte sich die Stimmung verändert und war friedlich und fröhlich geworden. Die Leute saßen beieinander; manche hielten sich bei der Hand, und bei den abschließenden Übungen lächelten die meisten. Einer nach dem anderen dankte mir, weil ich ihm geholfen hatte, das verletzte Kind in seinem Inneren zu finden. Ein Bankdirektor, der zu Beginn des Workshops offen Widerstand geleistet hatte, sagte mir, er habe seit vierzig Jahren zum erstenmal wieder geweint. Als Kind war er von seinem Vater in grausamer Weise verprügelt worden und hatte sich geschworen, im Leben nie verletzbar zu sein oder Gefühle zu zeigen. Jetzt sagte er, er wolle lernen, sich um den einsamen Jungen in seinem Inneren zu kümmern. Sein Gesicht hatte einen weichen Ausdruck bekommen, und er sah jünger aus.
Zu Beginn des Workshops hatte ich die Teilnehmer aufgefordert, ihre Masken abzulegen und aus ihren Verstecken herauszukommen. Ich hatte ihnen erklärt, daß sie das verletzte Kind in ihrem Inneren nicht verstecken dürften, weil es sonst ihr Leben vergiften würde. Wutanfälle, unangemessene Reaktionen, Eheprobleme und Suchtkrankheiten seien die Folge. Darüber hinaus könnten sie ihren eigenen Kindern keine guten Eltern sein und würden in ihren Beziehungen Schwierigkeiten haben und bittere Erfahrungen machen müssen.
Ich muß bei ihnen einen Nerv getroffen haben, denn sie reagierten tatsächlich. Ich war begeistert und dankbar, als ich in ihre offenen, lächelnden Gesichter blickte. Dieser Workshop fand 1983 statt. Seitdem ist meine Faszination für die heilende Kraft des Kindes in uns immer größer geworden.
Drei Dinge fallen bei der Arbeit mit dem inneren Kind besonders auf: die Schnelligkeit, mit der die Leute sich verändern, wenn sie diese Arbeit tun; wie tiefgreifend diese Veränderung ist; und welche Kraft und Kreativität freigesetzt werden, wenn die Wunden der Vergangenheit geheilt sind.
Ich habe die Arbeit an dem Kind in unserem Inneren vor zwölf Jahren begonnen und bei einigen Therapiepatienten mit einer selbstausgearbeiteten Meditationstechnik gearbeitet. Aber die Meditation führte zu dramatischen Ergebnissen. Wenn die Menschen zum erstenmal Kontakt mit dem Kind in sich aufnahmen, war das Erlebnis oft überwältigend. Mitunter mußten sie schrecklich weinen. Anschließend sagten sie mir dann zum Beispiel: »Ich habe mein ganzes Leben lang darauf gewartet, daß jemand mich findet.« oder: »Es ist, als käme ich nach Hause.« oder: »Seit ich mein Kind gefunden habe, hat sich mein Leben völlig verändert.«
Diese Reaktionen veranlaßten mich dazu, einen Workshop zu entwickeln, der nur dazu dienen sollte, den Menschen dabei zu helfen, das Kind in sich zu finden und anzunehmen. Dieser Workshop hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt, was vor allem dem ständigen Dialog mit den Teilnehmern zu verdanken ist. Es ist die erfolgreichste Arbeit, die ich je geleistet habe.
Der Workshop konzentriert sich darauf, den Leuten dabei zu helfen, über negative Kindheitserlebnisse zu trauern – Erlebnisse, die mit Verlassenheit, Mißbrauch in jeder Form und mit ungestillten Bedürfnissen zusammenhängen, die auf die entwicklungsbedingte kindliche Abhängigkeit zurückzuführen sind. Außerdem spielt es eine große Rolle, daß die Kinder in familiäre Probleme verstrickt werden, die nicht ursprünglich ihre eigenen sind. (Ich werde die einzelnen Punkte später noch ausführlich behandeln.)
In einem solchen Workshop verbringen wir die meiste Zeit damit, über die Vernachlässigung unserer entwicklungsbedingten Abhängigkeitsbedürfnisse zu trauern. Das ist auch das Hauptanliegen dieses Buches. Nach meinen Erfahrungen stellt der entwicklungsorientierte Ansatz die umfassendste und wirkungsvollste Art dar, wie wir unsere seelischen Verletzungen heilen können. Ich glaube, daß die Konzentration auf die Heilung jeder einzelnen Entwicklungsstufe meine Workshops von anderen unterscheidet.
Im Verlauf eines solchen Kurses beschreibe ich die normalen Abhängigkeitsbedürfnisse des Kindes. Wenn diese Bedürfnisse nicht befriedigt werden, besteht die Gefahr, daß wir als Erwachsene ein verletztes Kind in uns tragen. Wenn die Bedürfnisse unserer Kindheit befriedigt worden wären, wären wir keine »erwachsenen Kinder« geworden.
Zuerst skizziere ich die Bedürfnisse einer bestimmten Entwicklungsstufe und teile dann die Teilnehmer in Gruppen auf. Nacheinander steht jeder von ihnen einmal im Mittelpunkt und hört den anderen zu, die ihm in verbaler Form die Bestätigung geben, die er oder sie in der frühen Kindheit, als Kleinkind, in den Vorschuljahren und so weiter gerne gehört hätte.
Je nachdem, wo der Betroffene seine persönlichen Grenzen zieht, wird er von den Teilnehmern gestreichelt und moralisch unterstützt. Die Schmerzen, die ihm in seiner Kindheit zugefügt worden sind, werden von der Gruppe ernst genommen. Wenn der Betroffene eine Bestätigung bekommt, die er[1] als Kind so dringend gebraucht hätte, aber nicht bekommen hat, fängt er in der Regel an zu weinen, manchmal leise, manchmal sehr heftig. Ein Teil des eingefrorenen Kummers beginnt aufzutauen. Am Ende des Workshops hat jeder Teilnehmer zumindest einen Teil seiner Trauerarbeit geleistet. Das Ausmaß dieser Arbeit hängt von dem Stadium des Heilungsprozesses ab, in dem sich der Betroffene befindet. Manche Leute haben schon vor dem Workshop eine Menge Trauerarbeit geleistet, manche nicht.
Am Ende des Kurses gebe ich den Teilnehmern Anweisungen für eine Meditation, bei der sie das Kind in sich annehmen können. Wenn das geschieht, erleben viele Teilnehmer einen intensiven Gefühlsausbruch. Bevor sie dann den Workshop verlassen, ermuntere ich sie noch dazu, sich jeden Tag etwas Zeit zu nehmen, um einen Dialog mit dem Kind in sich zu führen.
Wenn die Menschen erst einmal den Anspruch auf das verletzte Kind in ihrem Inneren erhoben haben und es liebevoll umsorgen, wird die schöpferische Kraft dieses wunderbaren, natürlichen Kindes erkennbar. Wenn das Kind erst einmal integriert worden ist, wird es zu einem Quell der Erneuerung und neuer Lebenskraft. C. G. Jung nannte dieses natürliche Kind das »göttliche Kind« – unser natürliches Potential, das uns in die Lage versetzt, die Welt zu erforschen, zu staunen und schöpferisch zu sein.
Der Workshop hat mich davon überzeugt, daß die Arbeit mit dem Kind in uns die schnellste und wirksamste Methode darstellt, wie man eine therapeutische Veränderung herbeiführen kann. Ich bin immer wieder erstaunt, wie unmittelbar die Wirkung einsetzt.
Normalerweise betrachte ich derartige »Blitzheilungen« mit ziemlicher Skepsis, aber diese Arbeit scheint tatsächlich einen dauerhaften Veränderungsprozeß einzuleiten. Viele Teilnehmer schrieben mir ein, zwei Jahre danach, daß der Workshop ihr Leben verändert habe. Ich habe mich darüber gefreut, war aber auch etwas verwirrt. Ich wußte tatsächlich nicht, warum die Arbeit bei manchen Leuten eine so einschneidende Veränderung bewirkt hat, während sie bei anderen nur minimale Erfolge brachte. Als ich versuchte, eine Erklärung dafür zu finden, begann sich nach und nach ein bestimmtes Bild abzuzeichnen.
Ich beschäftigte mich zuerst mit den Arbeiten von Eric Berne, dem schöpferischen Genius der Transaktionsanalyse. Die Theorien der T. A. betonen den »Zustand des kindlichen Ichs«, der sich auf das spontane, natürliche Kind bezieht, das wir alle einmal waren. Die Transaktionsanalyse beschreibt außerdem die Art und Weise, wie sich das natürliche Kind an den Druck und den Streß der ersten Jahre in der Familie angepaßt hat.
Das natürliche oder göttliche Kind kommt zum Vorschein, wenn Sie einen alten Freund treffen, wenn Sie von Herzen lachen, wenn Sie kreativ und spontan sind, oder wenn Sie staunend vor etwas Wunderbarem stehen.
Das angepaßte oder verletzte Kind zeigt sich, wenn Sie sich entweder weigern, eine rote Ampel zu beachten, obwohl sie offensichtlich kaputt ist, oder über eine rote Ampel fahren, weil niemand Sie sehen kann und Sie glauben, daß Sie damit durchkommen. Zu weiteren Verhaltensweisen des verletzten Kindes zählen Wutanfälle, übertriebene Höflichkeit und übermäßiger Gehorsam, die Verwendung von Kindersprache, das Manipulieren und Schmollen. Im ersten Kapitel werde ich darstellen, in welch mannigfacher Weise das verletzte Kind unser erwachsenes Leben belasten kann.
Obwohl ich die Transaktionsanalyse viele Jahre lang als wichtigstes therapeutisches Modell benützt habe, habe ich mich in meiner Arbeit vorher nie auf die verschiedenen Entwicklungsstufen konzentriert, die das Kind in uns durchläuft, um sich anzupassen und überleben zu können. Ich bin inzwischen der Meinung, daß das Fehlen entwicklungsspezifischer Details ein Mangel ist, der den größten Teil der Arbeit mit der Transaktionsanalyse betrifft. Die frühe Entwicklung unseres göttlichen Kindes kann auf jeder Stufe fixiert werden. Wir können als Erwachsene infantil sein, wir können auf die Stufe des Kleinkindes regredieren, wir können wundergläubig sein wie ein Vorschulkind, und wir können schmollen und uns zurückziehen wie ein Erstkläßler, der ein Spiel verloren hat. All das sind kindliche Verhaltensweisen und Zeichen für Entwicklungsstörungen auf verschiedenen Ebenen. Hauptanliegen dieses Buches ist es, Ihnen zu helfen, Ihre Ansprüche auf das verletzte Kind in sich auf jeder Entwicklungsstufe geltend zu machen.
Später wurde meine Arbeit durch den Hypnotherapeuten Milton Erickson beeinflußt. Erickson geht davon aus, daß jeder Mensch eine eigene einzigartige Karte der Welt besitzt, ein System von Überzeugungen, das unbewußt ist und wie eine Art von hypnotischer Trance wirkt. Mit Hilfe der Ericksonschen Hypnose lernte ich, mich in die Trance, in der sich meine Klienten bereits befanden, einzuschalten und sie im Sinne einer Erweiterung und Veränderung auszunützen. Was ich damals, als ich meine Arbeit mit dem Kind in uns noch nicht begonnen hatte, noch nicht erkannt hatte, war, daß das verletzte Kind in uns für die Bildung des Wesenskerns dieses Überzeugungssystems verantwortlich ist. Wenn man mit Hilfe der Methode der Altersregression Zugang zu der Trance des Kindes in uns findet, ist es möglich, diese Grundüberzeugung direkt und schnell zu verändern.
Dem Psychotherapeuten Ron Kurtz verdanke ich ein tieferes Verständnis für die Dynamik der Arbeit mit dem Kind in uns. Kurtz’ System, das sich Haikomi-Therapie nennt, konzentriert sich direkt auf dieses Kernmaterial, das sich auf die Art, wie unser inneres Erleben organisiert ist, bezieht. Es setzt sich aus unseren frühesten Gefühlen zusammen und wird als Reaktion auf den Umweltstreß unserer Kindheit gebildet. Dieses Kernmaterial ist unlogisch und primitiv, aber es war die einzige Möglichkeit, wie ein magisches, verletzliches und bedürftiges Kind, das noch keine Grenzen kannte, überleben konnte.
Wenn sich dieses Kernmaterial erst einmal herausgebildet hat, wird es zu einem Filter, den alle neuen Erlebnisse passieren müssen. Das erklärt, warum manche Leute immer wieder die gleichen destruktiven Liebesbeziehungen haben, warum manche ihr Leben als eine Serie von Verletzungen erleben, die gewissermaßen immer wieder »recycled« werden, und warum so viele von uns nicht aus ihren Fehlern lernen.
Freud nannte diesen Drang, die Vergangenheit zu wiederholen, »Wiederholungszwang«. Die berühmte Therapeutin Alice Miller spricht von der »Logik des Absurden«. Es ist logisch, wenn man begreift, wie das Kernmaterial unsere Erfahrung prägt. Es ist, als würde man eine Sonnenbrille tragen: Ganz egal, wie stark die Sonne scheint, immer wird das Licht auf die gleiche Weise gefiltert. Wenn die Gläser grün getönt sind, sieht die Welt grün aus. Wenn die Gläser braun sind, kann man helle Farben nicht sehr gut unterscheiden.
Wenn wir uns also verändern wollen, müssen wir unser Kernmaterial verändern. Da das Kind in unserem Inneren unsere Erfahrungen ganz zu Anfang organisiert hat, müssen wir Kontakt mit ihm aufnehmen, um unser Kernmaterial unmittelbar verändern zu können.
Die Arbeit mit dem Kind in unserm Inneren ist ein wichtiges neues Werkzeug der Psychotherapie und unterscheidet sich völlig von den therapeutischen Ansätzen der Vergangenheit. Freud hat als erster erkannt, in welchem Maße Konflikte in der Kindheit, die wir im späteren Leben immer wieder durchleben, für Neurosen und Persönlichkeitsstörungen verantwortlich sind. Er versuchte, das verletzte Kind zu heilen, indem er in der Therapiesituation eine abgeschirmte, sichere Umwelt schuf, in der das verletzte Kind sich zeigen und seine ungestillten Bedürfnisse auf den Therapeuten übertragen konnte. Der Therapeut ersetzte dem verletzten Kind dann die Eltern, so daß es seine unerledigten Aufgaben zu Ende bringen und auf diese Weise geheilt werden konnte.
Freuds Methode erfordert ungeheuer viel Zeit und Geld und führt häufig bei den Patienten zu einer unguten Abhängigkeit vom Therapeuten. Eine meiner Klientinnen kam zu mir, nachdem sie zehn Jahre lang in psychoanalytischer Behandlung gewesen war. Und auch als sie bereits mit mir arbeitete, rief sie ihren Analytiker zwei bis dreimal pro Woche an, um sich von ihm Rat für die alltäglichsten Dinge zu holen. Der Analytiker war tatsächlich zum lieben Vater des Kindes in ihr geworden. Aber er half ihr damit kaum. Sie lebte in einer schrecklichen Abhängigkeit von ihm. Wahre Hilfe hätte dazu geführt, daß sie sich auf ihre eigene Kraft als erwachsene Frau besonnen hätte, um selbst dem Kind in ihrem Inneren zu helfen.
Ich möchte Ihnen in diesem Buch einen neuen Weg zeigen, wie Sie die Ansprüche auf das Kind in Ihrem Inneren geltend machen, Kontakt mit ihm aufnehmen und ihm helfen können. Sie müssen die vorgeschlagenen Übungen wirklich durchführen, wenn Sie eine Veränderung erreichen wollen. Es ist Aufgabe des erwachsenen Teils Ihrer Persönlichkeit, sich zu entscheiden, diese Arbeit zu tun. Selbst wenn Sie sich in Ihrem kindlichen Stadium befinden, weiß Ihr erwachsenes Ich immer noch genau, wo Sie sind und was Sie tun. Das Kind in Ihnen wird die Dinge so erleben, wie Sie sie in der Kindheit erlebt haben, aber diesmal ist Ihr erwachsenes Ich da, um das Kind zu beschützen, während es seine wichtigen unerledigten Angelegenheiten zu Ende bringt.
Das Buch besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil wird beschrieben, wie Ihr göttliches Kind seine Göttlichkeit verloren hat, und wie die Verletzungen, die ihm in der Kindheit zugefügt worden sind, Ihr Leben beeinflussen.
Im zweiten Teil lernen Sie die verschiedenen kindlichen Entwicklungsstufen kennen und erfahren, was Sie gebraucht hätten, um auf eine gesunde Weise großwerden zu können. Jedes Kapitel enthält einen Fragenbogen, der Ihnen helfen soll, festzustellen, ob die Bedürfnisse des Kindes in Ihnen in einer bestimmten Phase Ihrer Entwicklung befriedigt worden sind. Anschließend werde ich Ihnen dann mit den Methoden, die ich auch in meinem Workshop anwende, dabei helfen, die Ansprüche auf das Kind in Ihnen in jeder Entwicklungsphase geltend zu machen.
Der dritte Teil bietet spezielle korrektive Übungen an, die das Kind in Ihnen blühen und gedeihen lassen. Sie lernen, wie Sie andere Erwachsene dazu bringen können, Bedürfnisse des Kindes in Ihrem Inneren zu befriedigen, und wie Sie einen Schutzwall um das Kind errichten können, während Sie das Problem der Intimität in Ihren Beziehungen bearbeiten. In diesem Teil werden Sie lernen, wie Sie selbst der hilfreiche Elternteil sein können, der Ihnen in der Kindheit so sehr gefehlt hat. Wenn Sie lernen, sich selbst »Wiederzubeeltern« (re-parent), werden Sie nicht immer wieder versuchen, andere Menschen zu Ihren Eltern zu machen, um mit Ihrer Vergangenheit fertigwerden zu können.
Im vierten Teil werden Sie sehen, wie Ihr göttliches Kind zum Vorschein kommt und das verletzte Kind geheilt wird. Sie werden lernen, einen Zugang zu Ihrem göttlichen Kind zu finden, und erkennen, daß es die schöpferische Energie verkörpert, die Ihnen für eine Umgestaltung zur Verfügung steht. Das göttliche Kind stellt den Teil von Ihnen dar, der Ihrem Schöpfer am meisten ähnelt. Es stellt eine direkte, persönliche Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem einzigartigen Ich und zu Gott, wie Sie ihn begreifen, her. Das ist die umfassendste Heilung, die es gibt, eine Heilung, wie sie in den Verheißungen der größten Lehrer aller Glaubensrichtungen enthalten ist.
Außerdem erzähle ich Ihnen auch meine eigene Geschichte. Als ich vor zwölf Jahren mit dieser Arbeit begonnen habe, hätte ich nie gedacht, daß mein Denken und Verhalten sich durch meine Entdeckung des Kindes in mir so stark verändern würde. Ich hatte die Auswirkungen meiner Kindheit vorher als minimal betrachtet und hatte die Zwangsvorstellung, meine Eltern idealisieren und beschützen zu müssen, vor allem meine Mutter. Als Kind sagte ich mir oft: »Wenn ich groß bin und hier weggehe, wird alles gut werden.« Im Lauf der Jahre wurde mir klar, daß es keineswegs besser wurde, sondern eher schlimmer. Bei den anderen Familienmitgliedern konnte ich das noch besser erkennen als bei mir selbst. Zehn Jahre, nachdem ich meinen Alkoholismus besiegt hatte, stellte ich fest, daß ich immer noch getrieben war und unter vielen Zwängen litt.
An einem verregneten Donnerstag nachmittag erlebte ich das, was Alice Miller über ihr inneres Kind geschrieben hat: »… und ich brachte es nicht fertig … das Kind … dort wieder allein zu lassen. Hier faßte ich einen Entschluß, der mein Leben grundlegend verändern sollte: mich von dem Kind führen zu lassen …« An diesem Tag entschloß ich mich, das Kind in mir zurückzufordern und es unter meine Fittiche zu nehmen. Ich fand es im Zustand panischer Angst vor. Zunächst hatte es kein Vertrauen zu mir und wollte nicht mit mir gehen. Aber ich ließ nicht locker, sondern redete ihm gut zu und versprach ihm, es nicht im Stich zu lassen. Erst dann begann ich, sein Vertrauen zu gewinnen. In diesem Buch beschreibe ich die einzelnen Phasen dieser Reise, die es mir möglich machte, Fürsprecher und Schutzengel des Kindes in meinem Inneren zu werden, eine Reise, die mein Leben verändert hat.
Die doppelte Tragödie des Rudy Revolvin
(frei nach The Strange Life of Ivan Osokin von P. D. Ouspensky)
Es war einmal ein Mann, der hieß Rudy Revolvin und führte ein qualvolles, tragisches Leben. Er starb unerfüllt und begab sich zum Ort der Finsternis.
Der Herr der Finsternis erkannte, daß Rudy ein erwachsenes Kind war, und meinte, daß er die Finsternis noch weiter vergrößern könne, wenn er Rudy die Möglichkeit böte, sein Leben noch einmal erleben zu können. Ihr müßt wissen, daß der Herr der Finsternis dafür zu sorgen hatte, daß die Finsternis nie aufhört – er sollte sie möglichst noch dunkler werden lassen. Er erklärte Rudy, er sei sicher, daß Rudy genau die gleichen Fehler wieder machen und die gleiche Tragödie erleben würde wie in seinem vorigen Leben.
Dann gab er Rudy eine Woche Bedenkzeit.
Rudy dachte angestrengt nach. Es wurde ihm klar, daß der Herr der Finsternis ihn hereinlegen wollte. Natürlich würde er die gleichen Fehler machen, denn er würde sich ja nicht mehr an das erinnern können, was er in seinem vorigen Leben durchgemacht hatte. Und ohne diese Erinnerungen hatte er keine Möglichkeit, die gleichen Fehler zu vermeiden.
Als er schließlich wieder vor den Herrscher trat, lehnte er das Angebot ab.
Rudys Ablehnung konnte den Herrn der Finsternis, der das »Geheimnis« des verletzten Kindes im Inneren des Menschen kannte, nicht beeindrucken. Er erklärte ihm, daß Rudy sich – im Gegensatz zu der üblichen Verfahrensweise – an alles aus seinem vorigen Leben erinnern dürfe. Der Herr der Finsternis wußte genau, daß Rudy trotz dieser Erinnerungen genau die gleichen Fehler machen und sein qualvolles Leben noch einmal durchleben würde.
Rudy lachte leise. »Endlich bekomme ich eine wirkliche Chance«, dachte er. Rudy wußte nichts von dem »Geheimnis« des verletzten Kindes in seinem Inneren.
Und so kam es dann, daß er sein qualvolles, tragisches Leben noch einmal durchlebte, obwohl er jede Einzelheit der Katastrophen voraussehen konnte, die er bereits in seinem früheren Leben angerichtet hatte. Und der Herr der Finsternis war zufrieden!
Das Problem des verletzten Kindes in uns
Das Wissen erleuchtete vergessene Gemächer in dem dunklen Haus der frühen Kindheit. Ich wußte jetzt, warum ich zu Hause Heimweh haben konnte.
G. K. Chesterton
Buckminster Fuller, einer der schöpferischsten Menschen unserer Zeit, zitierte gern Christopher Morleys Gedicht über die Kindheit:
Das schönste Gedicht, das je geschrieben wurde,
ist eines, dem alle Dichter entwachsen sind:
Es ist die angeborene, unausgesprochene Poesie,
wenn man erst vier Jahre alt ist.
Wenn man noch jung genug ist, um Teil zu sein
des großen, impulsiven Herzens der Natur,
wenn man als Gefährte der Vögel, der anderen Tiere
und der Bäume geboren ist
und noch so unbewußt lebt wie eine Biene –
Und trotzdem mit einem wunderbaren Verstand
jeden Tag ein neues Paradies schafft,
begeistert alle Sinne erforscht,
ohne Bestürzung und ohne sich etwas vorzumachen!
In deinen klaren, durchsichtigen Augen
liegt kein Gewissen, keine Überraschung:
Du nimmst die Rätsel der Natur hin,
bewahrst dir deine seltsame Göttlichkeit …
Und das Leben, das alle Dinge in Reime setzt,
macht auch aus dir schließlich einen Dichter –
aber es hat Tage gegeben, o du zarte Elfe,
da warst du selbst Poesie!
Was wird aus diesem wunderschönen Anfang, als wir alle noch »selbst Poesie« waren? Wie ist es möglich, daß aus all diesen zarten Elfen Mörder, Drogenabhängige, Kriminelle, Sexualverbrecher, grausame Diktatoren und moralisch degenerierte Politiker werden? Wie ist es möglich, daß aus ihnen die »wandelnden Verletzten« werden? Wir sehen sie alle um uns herum die Traurigen, Furchtsamen, Zweifelnden und Deprimierten, die von einer unsagbaren Sehnsucht erfüllt sind. Der Verlust unseres natürlichen menschlichen Potentials ist mit Sicherheit die größte aller Tragödien.
Je mehr wir darüber wissen, auf welche Weise wir unsere Spontaneität und Kreativität verloren haben, um so eher können wir eine Möglichkeit finden, sie zurückzugewinnen. Wir können möglicherweise sogar dafür sorgen, daß unseren eigenen Kindern so etwas nicht widerfährt.
Wie das verletzte Kind in uns unser Leben bestimmt
Der Mensch … der unter einem alten Kummer leidet, sagt Dinge, die keinen Bezug zur Gegenwart haben, tut Dinge, die zu nichts führen, wird mit seiner Lebenssituation nicht fertig und leidet unter schrecklichen Gefühlen, die nichts mit der Gegenwart zu tun haben.
Harvey Jackins
Ich wollte nicht glauben, daß ich so kindisch sein konnte. Ich war vierzig Jahre alt und hatte getobt und herumgeschrien, bis alle – meine Frau, meine Stiefkinder und mein Sohn – in panische Angst geraten waren. Dann stieg ich in mein Auto, fuhr weg und saß schließlich mitten in unserem Urlaub auf Padre Island ganz allein in einem Motel. Ich fühlte mich sehr allein und schämte mich.
Als ich den Versuch machte, die Ereignisse, die dazu geführt hatten, daß ich weggefahren war, zurückzuverfolgen, begriff ich nichts. Ich war völlig verwirrt. Es war, als wäre ich aus einem bösen Traum erwacht. Mehr als alles andere wünschte ich mir ein herzliches, liebevolles, intimes Familienleben. Aber das war jetzt das dritte Jahr, in dem ich in unserem gemeinsamen Urlaub einen solchen Wutanfall bekam. Seelisch hatte ich mich schon vorher von der Familie entfernt – aber ich war nie tatsächlich weggegangen.
Es war, als hätte ich eine Bewußtseinsveränderung durchgemacht. Mein Gott, wie ich mich selbst haßte. Was war bloß los mit mir?
Der Vorfall auf Padre Island ereignete sich 1976, ein Jahr nach dem Tod meines Vaters. Inzwischen bin ich dahintergekommen, warum ich immer wieder solche Wutanfälle bekommen hatte und mich anschließend zurückzog. Die entscheidende Spur fand ich auf Padre Island. Als ich in dem miesen Motelzimmer saß und mich schämte, tauchten plötzlich lebhaft Kindheitserinnerungen auf. Ich konnte mich an einen Weihnachtsabend erinnern, als ich etwa elf Jahre alt war. Ich lag in meinem dunklen Zimmer, hatte mir die Decke über den Kopf gezogen und weigerte mich, mit meinem Vater zu sprechen. Er war spät abends nach Hause gekommen und etwas betrunken. Ich wollte ihn dafür bestrafen, daß er uns das Weihnachtsfest verdorben hatte. Ich konnte meinen Ärger nicht in Worte fassen, weil man mir beigebracht hatte, daß das vor allem den Eltern gegenüber eine Todsünde sei. Über die Jahre hinweg trug ich diesen Zorn wie ein eiterndes Geschwür in meiner Seele. Und wie ein hungriger Hund, den man in den Keller gesperrt hat, wurde er immer heftiger und verwandelte sich schließlich in reine Wut. Die meiste Zeit bewachte ich diese Wut sorgfältig. Schließlich war ich ein netter Mensch, der netteste Vater, den Sie sich vorstellen können – bis ich es dann letzten Endes nicht mehr aushalten konnte. Dann verwandelte ich mich in Iwan den Schrecklichen.
Ich begriff langsam, daß es sich bei diesem Verhalten im Urlaub um eine spontane Altersregression handelte. Wenn ich herumtobte und meine Familie damit bestrafte, daß ich mich zurückzog, regredierte ich in meine Kindheit, in der ich meinen Ärger immer hinunterschlucken mußte und nur eine Möglichkeit hatte, wie ich ihn ausdrücken konnte: Ich bestrafte meinen Vater dadurch, daß ich mich zurückzog. Jetzt, als Erwachsener, fühlte ich mich nach einem solchen Anfall, bei dem ich mich entweder seelisch oder auch körperlich zurückgezogen hatte, wieder wie der Junge, der ich einmal gewesen war, ich war dann plötzlich wieder ein kleiner, einsamer Junge, der sich schämte.
Wenn die Entwicklung eines Kindes gehemmt wird – das habe ich inzwischen begriffen –, wenn Gefühle unterdrückt werden, vor allem Zorn oder Schmerz, trägt der Erwachsene später ein zorniges, verletztes Kind in sich. Und dieses Kind bestimmt unvorhersehbar das Verhalten des Erwachsenen.
Es erscheint zunächst grotesk, daß ein kleines Kind im Körper eines Erwachsenen weiterleben kann. Aber genau das meine ich. Ich glaube, daß dieses vernachlässigte, verletzte Kind im Inneren des Menschen, das aus der Vergangenheit stammt, die Hauptursache für das menschliche Elend ist. Solange wir nicht unseren Anspruch auf dieses Kind geltend machen und es unter unsere Fittiche nehmen, wird es sich immer wieder melden und unser Leben als Erwachsene bestimmen.
Ich habe eine Schwäche für mnemotechnische Formeln, deshalb beschreibe ich die Art und Weise, in der das Kind in unserem Inneren unser Leben bestimmt, mit den Anfangsbuchstaben des Wortes »contaminate« (vergiften). Jeder Buchstabe steht für einen wichtigen Aspekt, der sich auf die Art und Weise bezieht, wie das Kind in uns unser Leben als Erwachsener sabotiert. (Am Ende dieses Kapitels finden Sie einen Fragebogen, der Ihnen helfen soll, festzustellen, wie schwer das Kind in Ihnen verletzt worden ist.)
Co-Abhängigkeit Co-Dependence
Gewalt Offender Behaviors
Narzißtische Störungen Narcissistic Disorders
Vertrauensprobleme Trust Issues
Agieren/Selbstbestrafung Acting Out/Acting In Behaviors
Wunderglaube Magical Beliefs
Störungen der Intimität Intimacy Dysfunctions
Undiszipliniertes Verhalten Nondisciplined Behaviors
Sucht oder Zwänge Addictive/Compulsive Beh.
Denkstörungen Thought Distortions
Innere Leere (Apathie, Depression) Emptiness [Apathie, Depression]
Wir neigen dazu zu glauben, alle Leute, deren inneres Kind verletzt worden ist, seien nette, ruhige Leute, die schon lange leiden. In Wirklichkeit ist das verletzte innere Kind für einen großen Teil der Gewalt und der Grausamkeit in der Welt verantwortlich.
Mein Klient Dawson fällt mir dabei ein. Als er mich wegen eines Eheproblems aufsuchte, war er Rausschmeißer in einem Nachtclub. Er erzählte mir, daß er Anfang der Woche einem Mann den Kiefer gebrochen habe. Er beschrieb begeistert, wie der Mann ihn dazu gebracht habe, so etwas zu tun. Er hatte Dawson geärgert, weil er sich in seiner Gegenwart als starker Mann aufgespielt hatte. Dawson drückte sich in unseren Sitzungen häufig so aus. Gewalttäter fühlen sich meist für ihre Taten nicht verantwortlich.
Als wir länger zusammengearbeitet hatten, wurde klar, daß Dawson in Wirklichkeit oft Angst hatte. Wenn er sich fürchtete, wurde bei ihm die Erinnerung an den kleinen Jungen wach, der er einmal gewesen war. Sein Vater war ein brutaler Mann gewesen und hatte ihn körperlich mißhandelt. Wenn er der kleine Junge von früher war, der vor Angst zitterte, wenn sein Vater gewalttätig wurde, fühlte er sich nicht mehr sicher. Also identifizierte Dawson sich mit dem Ich seines Vaters. Er wurde dann sein Vater. Immer wenn ihn eine Situation an die brutalen Szenen seiner Kindheit erinnerte, wurden in ihm die alten Gefühle der Ohnmacht und der Angst geweckt. Dann verwandelte sich Dawson in seinen gewalttätigen Vater und verletzte andere in der gleichen Weise, wie sein Vater ihn verletzt hatte.
Gewalttätiges Verhalten, die Hauptursache menschlicher Destruktivität, ist das Ergebnis von Gewalt in der Kindheit und des daraus entstehenden Leidensdrucks und des unverarbeiteten Kummers. Um das verstehen zu können, müssen wir uns vor Augen führen, daß viele Arten von Kindesmißhandlungen das Kind zum Gewalttäter werden lassen. Das trifft besonders auf körperliche, sexuelle und seelische Mißhandlungen zu. Der Psychiater Bruno Bettelheim nannte es »Identifikation mit dem Aggressor«. Sexuelle, körperliche und seelische Gewalt versetzen ein Kind in eine derart panische Angst, daß es während der Mißhandlung nicht in seinem eigenen Ich bleiben kann. Um die Schmerzen aushalten zu können, verliert das Kind jegliches Gefühl für seine Identität und identifiziert sich statt dessen mit dem Aggressor. Bettelheim hat seine Untersuchungen im wesentlichen an Überlebenden der deutschen Konzentrationslager durchgeführt.
In einem meiner letzten Workshops hob eine Therapeutin aus New York die Hand. Sie war Jüdin und schilderte der Gruppe in allen Details, welche grauenhaften Erlebnisse ihre Mutter in einem Konzentrationslager gehabt hatte. Das Erstaunlichste an ihrer Geschichte war, daß ihre Mutter sie genauso behandelt hatte, wie die Nazis sie selbst behandelt hatten. Ihre Mutter hatte sie angespuckt und ein Judenschwein genannt, als sie drei Jahre alt gewesen war.
Noch beunruhigender sind die Sexualtäter. In den meisten Fällen sind sie selbst als Kinder sexuell mißbraucht worden. Wenn sie selbst später Kinder belästigen, spielen sie ihre eigenen Kindheitserlebnisse wieder durch. Manche Sexualtäter sind als Kind von ihren Eltern verwöhnt worden, man hat ihnen jeden Willen gelassen, so daß sie das Gefühl bekamen, anderen überlegen zu sein. Solche verwöhnten Kinder glauben schließlich, daß sie Anspruch auf eine Sonderbehandlung haben und daß sie nichts Unrechtes tun können. Sie verlieren jeden Sinn für Verantwortung und machen immer andere Leute für ihre Probleme verantwortlich.
Jedes Kind braucht vorbehaltlose Liebe – zumindest zu Anfang. Das Kind muß sich in den Augen eines wohlwollenden Erwachsenen spiegeln können, sonst hat es keine Möglichkeit, zu erfahren, wer es ist. Jeder von uns war zuerst ein Wir, bevor er ein Ich wurde. Wir brauchten ein Gesicht, in dem wir alle Teile unseres Selbst wie in einem Spiegel erkennen können. Wir brauchten die Gewißheit, daß wir wichtig waren, daß man uns ernst nahm, daß wir rundherum liebenswert waren, daß wir angenommen wurden. Wir brauchten außerdem die Gewißheit, daß wir uns auf die Liebe der Bezugsperson, die sich um uns kümmerte, verlassen konnten. Das waren unsere gesunden narzißtischen Bedürfnisse. Wenn sie nicht befriedigt wurden, wurde unserem Gefühl für unsere Ichhaftigkeit Schaden zugefügt.
Das narzißtisch deprivierte Kind in uns bestimmt das Leben des Erwachsenen mit seinem unersättlichen Hunger nach Liebe, Beachtung und Zuneigung. Die Forderungen des Kindes sabotieren die Beziehungen des Erwachsenen, denn sein Hunger nach Liebe ist unersättlich. Das narzißtisch deprivierte, erwachsene Kind findet keine Befriedigung seiner Bedürfnisse, weil diese Bedürfnisse in Wirklichkeit die eines kleinen Kindes sind. Und Kinder wollen die Eltern ständig um sich haben. Sie sind von Natur aus bedürftig und nicht aus freien Stücken. Die Bedürfnisse eines Kindes sind die Bedürfnisse eines Abhängigen, das heißt, sie können nur durch einen anderen Menschen befriedigt werden. Nur wenn man den Verlust betrauert, kann eine Heilung stattfinden. Bis dahin wird das unersättliche Kind immer wieder gierig die Liebe und Wertschätzung suchen, die ihm in der Kindheit versagt geblieben ist.
Die Bedürfnisse narzißtisch deprivierter Kinder können sich auf unterschiedliche Weise ausdrücken:
Sie erleben in ihren Beziehungen ständig Enttäuschungen.
Sie suchen immer den vollkommenen Liebhaber, der alle ihre Bedürfnisse befriedigen wird.
Sie werden süchtig. (Die Sucht stellt einen Versuch dar, die innere Leere auszufüllen. Sucht nach Sexualität und Liebe sind typische Beispiele.)
Sie streben nach materiellen Gütern und nach Geld, um ihr Selbstwertgefühl zu steigern.
Sie stellen sich dar (als Schauspieler oder Sportler), denn sie brauchen die ständige Bewunderung eines Publikums.
Sie benützen die eigenen Kinder, um ihre narzißtischen Bedürfnisse zu befriedigen. (Sie stellen sich vor, daß ihre Kinder sie nie verlassen und sie immer lieben, respektieren und bewundern werden.) Sie versuchen, von ihren Kindern die Liebe und die Bewunderung zu bekommen, die sie von ihren Eltern nicht bekommen haben.
Wenn die Bezugspersonen nicht vertrauenswürdig sind, entwickeln die Kinder mit der Zeit ein tiefes Gefühl des Mißtrauens. Die Welt erscheint ihnen als ein gefährlicher, feindseliger und unberechenbarer Ort. Das Kind muß dann lernen, immer auf der Hut zu sein und die Situation unter Kontrolle zu behalten. Es ist schließlich überzeugt, »wenn ich alles unter Kontrolle habe, kann mich niemand überraschen und verletzen«.
Dadurch entsteht eine Art von Kontrollzwang: Kontrolle wird zu einer Sucht. Ein Klient von mir hatte eine solche Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, daß er bis zu hundert Stunden in der Woche arbeitete. Er konnte nichts delegieren, weil er den anderen Menschen nichts zutraute. Er kam zu mir, als seine Colitis ulcerosa (Entzündung des Dickdarms) so schlimm geworden war, daß er ins Krankenhaus mußte.
Eine andere Klientin war verzweifelt, weil ihr Mann gerade die Scheidung eingereicht hatte. Als sie das Telefon, das er in ihrem Auto installiert hatte, umtauschen wollte, war das für ihn der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Er sagte, er könne tun, was er wolle, nichts wäre ihr recht. Sie müsse immer alles anders haben, als er es gemacht habe. Mit anderen Worten: Sie war erst dann zufrieden, wenn sie alles unter Kontrolle hatte.
Ein derartiger Wahn kann ernste Beziehungsprobleme verursachen. Es ist unmöglich, eine Intimbeziehung zu einem Partner zu haben, der einem mißtraut. Intimität ist nur möglich, wenn ein Partner den anderen so nimmt, wie er ist.
Störungen des Vertrauens können auch zu anderen Extremen führen. Entweder gibt man die Kontrolle völlig aus der Hand und wird auf eine naive Art vertrauensselig, klammert sich an die anderen Menschen und überschätzt sie, oder man zieht sich in die Isolation und Einsamkeit zurück und richtet eine schützende Wand auf, die niemand durchdringen kann.
Der Suchtspezialist Patrick Carnes hat gezeigt, daß ein Mensch, der nie gelernt hat, anderen Menschen zu vertrauen, Intensität mit Intimität, Besessenheit mit Liebe und Kontrolle mit Geborgenheit verwechselt.
Die erste Aufgabe, die einem Menschen während seiner Entwicklung gestellt wird, besteht darin, daß er lernen muß, anderen zu vertrauen. Wir müssen lernen, daß wir uns auf unseren Vater, unsere Mutter und die Außenwelt verlassen können und daß sie vertrauenswürdig sind. Dieses Urvertrauen ist ein tiefgreifendes, umfassendes Gefühl. Wenn wir der Welt vertrauen können, können wir auch lernen, uns selbst zu vertrauen. Selbstvertrauen bedeutet, daß man seinen Kräften, seinen Wahrnehmungen, seinen Deutungen, Gefühlen und Wünschen vertraut.
Kinder lernen Vertrauen von vertrauenswürdigen Bezugspersonen. Wenn Vater und Mutter zuverlässig und berechenbar sind, wenn sie Selbstvertrauen haben, dann wird das Kind ihnen vertrauen und lernen können, sich selbst zu vertrauen.
Um verstehen zu können, wie das verletzte Kind in unserem Inneren agiert, um die unbefriedigten Kindheitsbedürfnisse und das unaufgelöste Trauma auszuleben, müssen wir wissen, daß die primäre motivationale Kraft unseres Lebens unser Gefühl ist. Gefühle stellen die Energie dar, die uns in die Lage versetzt, uns zu verteidigen und unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen. (Ich schreibe das Wort gern E-motion also Energie in Bewegung.) Diese Energie ist elementar. Unser Zorn bewegt uns dazu, uns zu verteidigen. Wenn wir wütend sind, stellen wir uns der Herausforderung, dann werden wir »wild«. Wenn wir wütend sind, schützen wir uns und kämpfen um unser Recht.
Wenn Gefahr droht, veranlaßt uns die Furcht zur Flucht. Furcht steigert unser Wahrnehmungsvermögen. Sie schützt uns, indem sie uns erkennen läßt, daß Gefahr droht und daß diese Bedrohung zu groß ist, um etwas gegen sie ausrichten zu können; die Furcht veranlaßt uns, wegzulaufen und Schutz zu suchen.
Wenn wir traurig sind, weinen wir, und die Tränen haben eine reinigende Wirkung und machen es uns leichter, mit dem Kummer fertigzuwerden. Wir betrauern einen Verlust und setzen auf diese Weise die Lebensenergie frei, die in der Gegenwart benötigt wird. Wenn wir unfähig sind zu trauern, können wir unsere Vergangenheit nicht bewältigen. Die gesamte seelische Energie, die sich auf unseren Kummer oder auf unser Trauma bezieht, wird dann eingefroren. Und wenn diese Energie keine Möglichkeit der Freisetzung findet und sich nicht ausdrücken kann, versucht sie immer wieder, sich selbst zu befreien. Da sie sich nicht in gesunder Trauer ausdrücken kann, äußert sie sich in abnormem Verhalten. Das nennt man »Agieren« (acting out). Maggie, eine meiner früheren Klientinnen, ist dafür ein gutes Beispiel.
Maggie mußte zusehen, wie ihr Vater, ein jähzorniger und gewalttätiger Alkoholiker, ihre Mutter beschimpfte und mißhandelte. Szenen dieser Art wiederholten sich in ihrer Kindheit immer wieder. Schon als Maggie vier Jahre alt war, mußte sie ihre Mutter trösten, die zu ihr ins Bett kam, wenn ihr Mann sie wieder einmal verprügelt hatte. Zitternd und stöhnend klammerte sie sich dann an das Kind. Manchmal lief der Vater hinter der Mutter her und schrie sie an. Das versetzte Maggie in panische Angst. Jede Art von Gewalt, die sich gegen ein Familienmitglied richtet, versetzt den Rest der Familie in Angst und Schrecken. Auch der Zeuge der Gewalttätigkeiten ist ein Opfer der Gewalt.
Es wäre besser gewesen, wenn Maggie in ihrer Kindheit Gelegenheit gehabt hätte, ihrer Angst Ausdruck zu verleihen und ihre Traurigkeit auszuleben. Aber es gab niemanden, dem sie sich in ihrem Kummer hätte anvertrauen können. Als Erwachsene versuchte sie immer wieder, Männer und Frauen zu finden, die die Rolle tröstender, hilfreicher Eltern übernehmen würden. Als sie zu mir kam, hatte sie bereits zwei brutale Ehen und viele Beziehungen, in denen sie mißhandelt worden war, hinter sich. Und ihr Beruf? Sie war Frauenberaterin und hatte sich auf mißhandelte Frauen spezialisiert!
Maggie agierte ihr Kindheitstrauma. Sie kümmerte sich um mißhandelte Frauen und hatte Beziehungen zu Männern, von denen sie selbst mißhandelt wurde. Sie kümmerte sich um andere Menschen, aber niemand kümmerte sich um sie. Sie verlieh der aus der Vergangenheit aufgestauten seelischen Energie in der für sie einzig möglichen Weise Ausdruck – indem sie »agierte«.
Agieren oder Wiederdurchleben ist eine der katastrophalsten Arten, wie das verletzte Kind unser Leben sabotieren kann. Maggies Geschichte ist ein dramatisches Beispiel für den Zwang, die Vergangenheit wiederholen zu müssen. »Vielleicht schaffe ich es ja dieses Mal«, sagt das verletzte Kind in Maggies Seele. »Wenn ich ganz perfekt bin und Daddy alles gebe, was er braucht, bedeute ich ihm vielleicht doch etwas, und dann hat er mich vielleicht doch lieb.« Das ist das magische Denken des Kindes, nicht das rationale Denken eines Erwachsenen. Wenn wir das erst einmal begriffen haben, erkennen wir die Bedeutung, die sich dahinter verbirgt. Weitere Beispiele für agierendes Verhalten sind:
Das Nachvollziehen von Gewalt gegen andere.
Wir sagen etwas zu unseren Kindern oder tun etwas, von dem wir vorher behauptet haben, daß wir es nie sagen oder tun würden.
Spontane Altersregression – Wutanfälle, Schmollen usw.
Wenn man in unangemessener Weise rebellisch ist.
Wenn man idealisierte elterliche Regeln aufrechterhält.
Wenn wir die Mißhandlungen, die wir in der Vergangenheit erleiden mußten, an uns selbst auslassen, nennt man das »acting in«, was einer Selbstbestrafung gleichkommt. Wir bestrafen uns auf die gleiche Weise, wie wir als Kinder bestraft worden sind. Ich kenne einen Mann, der beschimpft sich jedesmal, wenn er einen Fehler gemacht hat. Wenn er sich selbst kritisiert, sagt er: »Wie konntest du Idiot nur so dämlich sein?« Ich habe ein paarmal beobachten können, daß er sich dabei selbst mit der Faust ins Gesicht schlug (seine Mutter hatte ihn als Kind mit der Faust ins Gesicht geschlagen).
Gefühle aus der Vergangenheit, die nicht verarbeitet worden sind, richten sich häufig gegen die eigene Person. Joe, zum Beispiel, durfte als Kind nie zeigen, daß er zornig war. Er hatte große Wut auf seine Mutter, weil sie ihn praktisch nie etwas allein machen ließ. Immer wenn er gerade etwas begonnen hatte, kam sie dazu und sagte: »Laß dir von Mami helfen, bei dir dauert das ja sonst ewig«, oder »Das machst du wirklich gut, aber laß dir von Mami helfen.« Joe ließ es sogar als Erwachsener noch zu, daß sie gewisse Dinge für ihn erledigte, die er genausogut selbst hätte tun können. Er hatte gelernt, immer bedingungslos zu gehorchen, und hielt es für eine Sünde, die Wut, die er empfand, auszudrücken. Also wandte sich sein Zorn nach innen, gegen die eigene Person. Das Ergebnis war, daß er depressiv und apathisch wurde und nicht in der Lage war, sich im Leben durchzusetzen.
Seelische Energie, die sich nach innen wendet, kann schwere körperliche Störungen verursachen, zum Beispiel Magendarmstörungen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Schmerzen im Nacken, schlimme Muskelverspannungen, Arthritis, Asthma, Herzanfälle und Krebs. Sogenannte Unfäller leiden unter einer weiteren Form der Selbstbestrafung. Sie bestrafen sich, indem ihnen ständig etwas passiert.
Kinder sind von magischem Denken geprägt. »Wenn du auf die Ritze trittst, brichst du deiner Mutter den Rücken.« Magie bedeutet, daß man glaubt, bestimmte Worte und Gesten oder ein bestimmtes Verhalten könne die Wirklichkeit verändern. Seelisch gestörte Eltern verstärken das magische Denken ihrer Kinder. Wenn man Kindern zum Beispiel erklärt, daß ihr Verhalten direkt für die Gefühle eines anderen Menschen verantwortlich ist, bringt man ihnen magisches Denken bei. Typische Redensarten sind: »Du bringst deine Mutter noch ins Grab.«, »Siehst du, was du angerichtet hast – jetzt ist deine Mutter verletzt.«, »Bist du jetzt endlich zufrieden – jetzt hast du deinen Vater wütend gemacht.« Eine andere Form der Verstärkung des magischen Denkens besteht darin, daß man sagt: »Ich weiß genau, was du denkst.«
Ich kann mich an eine Klientin erinnern, die im Alter von 32 Jahren schon fünfmal verheiratet gewesen war. Sie glaubte, die Ehe würde all ihre Probleme lösen, sie müsse nur endlich den »richtigen« Mann finden, dann wäre alles wunderbar. Das ist magisches Denken. Sie glaubt, ein Ereignis oder eine Person könne ihre Wirklichkeit verändern, ohne daß sie selbst irgend etwas an ihrem Verhalten ändern müsse.
Für ein Kind ist es völlig natürlich, magisch zu denken. Aber wenn ein Kind verletzt wird, weil die Bedürfnisse, die es aufgrund seiner Abhängigkeit hat, nicht befriedigt werden, kann es nicht wirklich erwachsen werden. Auch als Erwachsener ist es dann noch immer dem magischen Denken des Kindes verhaftet.
Weitere Beispiele für neurotisches, magisches Denken sind:
Wenn ich Geld habe, ist alles okay.
Wenn mein Liebhaber mich verläßt, werde ich sterben, dann weiß ich nicht, wie ich mit dem Leben fertigwerden soll.
Ein Stück Papier (ein akademischer Grad) macht aus mir einen klugen Menschen.
Wenn ich mich »wirklich anstrenge«, wird die Welt mich belohnen.
Man muß nur »abwarten«, dann wird alles ganz wunderbar.
Kleinen Mädchen erzählt man Märchen, die voller Magie sind. Aschenputtel soll in der Küche auf einen Typ warten, der den richtigen Schuh hat! Schneewittchen sagt man, es müsse nur lange genug warten, dann würde der Prinz schon kommen. Vordergründig erzählen diese Geschichten den Frauen, daß ihr Schicksal davon abhängt, daß sie auf einen Nekrophilen warten (auf einen Mann, der gern tote Leute küßt), der im richtigen Moment durch den Wald gestolpert kommt. Keine besonders schöne Vorstellung.
Auch bei den Jungen wecken die Märchen magische Erwartungen. Viele dieser Geschichten enthalten die Botschaft, daß es die eine richtige Frau gibt, die sie suchen und finden müssen. Bei dieser Suche muß der Mann weit reisen, dunkle Wälder durchqueren und gefährliche und schreckliche Drachen im Kampf besiegen. Am Ende, wenn er sie gefunden hat, weiß er ganz genau, daß sie die Richtige ist.
Oft wird das Schicksal der Männer durch so obskure Dinge wie verzauberte Erbsen oder magische Schwerter beeinflußt. Er muß sich womöglich sogar mit einem Frosch herumschlagen. Wenn er den Mut hat, den Frosch zu küssen, verwandelt dieser sich in eine Prinzessin. (Die Frauen haben eine eigene Version dieser Froschgeschichte).
Für Frauen bedeutet die Magie das Warten auf den richtigen Mann, während die Männer ständig auf der Suche nach der richtigen Frau sind.
Mir ist klar, daß Märchen sich auf einer symbolischen und mythischen Ebene abspielen. Sie sind nicht logisch, sondern sprechen zu uns in Bildern, ähnlich wie die Träume. Viele Märchen beschreiben auf eine symbolische Weise, wie wir Menschen unsere Identität als Mann oder Frau finden. Wenn dieser Entwicklungsprozeß störungsfrei verläuft, lösen wir uns sehr bald von der vordergründigen, kindlichen Art des Verstehens und begreifen diese Geschichten in ihrer symbolischen Bedeutung.
Wenn aber das Kind in uns verletzt ist, wird es diese Geschichten auch weiterhin wörtlich nehmen. Als erwachsene Kinder warten wir auf das Happy-End oder suchen es … Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Viele erwachsene Kinder sind ständig zwischen der Angst vor dem Alleingelassenwerden und der Angst vor dem Verschlungenwerden hin und her gerissen. Die einen leben in ständiger Isolation, weil sie Angst haben, von einem anderen Menschen erdrückt zu werden. Die anderen sind nicht in der Lage, eine zerstörerische Beziehung zu beenden, weil sie panische Angst vor dem Alleinsein haben. Die meisten Menschen bewegen sich zwischen diesen beiden Extremen. Herkimer verliebt sich mit schöner Regelmäßigkeit ganz schrecklich. Wenn er intim wird und damit seiner Auserwählten näherkommt, zieht er sich zurück und distanziert sich von ihr. Er macht das, indem er nach und nach eine »Liste kritischer Punkte« aufstellt. Die einzelnen Punkte beziehen sich gewöhnlich auf kleine, unwesentliche Eigenheiten. Herkimer sorgt dafür, daß es wegen dieser Eigenheiten zu kleinen Streitereien kommt. In der Regel zieht sich seine Partnerin dann vorübergehend zurück und schmollt ein, zwei Tage lang. Dann vertragen sie sich wieder, schlafen voller Leidenschaft miteinander und erleben eine innige Gemeinsamkeit. Das hält so lange an, bis Herkimer wieder das Gefühl hat, erdrückt zu werden und Distanz schafft, indem er einen neuen Streit vom Zaun bricht.
Die 46jährige Athena hat seit fünfzehn Jahren keine Verabredung mehr mit einem Mann gehabt. Ihre »große Liebe« kam bei einem Autounfall ums Leben. Sie sagt, als er gestorben sei, habe sie das Gelübde abgelegt, ihm treu zu bleiben und nie wieder etwas mit einem Mann anzufangen. Dabei war Athena nur drei Monate mit ihrem Geliebten zusammengewesen, bevor er starb. Sie hatte in ihrem ganzen erwachsenen Leben noch nie mit einem Mann geschlafen. Ihre sexuellen Erfahrungen beschränkten sich auf ihre Kindheit, während der sie fünf Jahre lang von ihrem Stiefvater sexuell mißbraucht worden war. Athena hat Stahlwände aufgebaut, um das verletzte Kind in ihrem Inneren zu schützen. Sie benützt die Erinnerung an ihren verstorbenen Freund als Abwehr, um nie wieder mit einem Mann intim werden zu müssen.
Eine andere Frau, die ich behandelt habe, hat es dreißig Jahre in einer Ehe ausgehalten, in der es keine Leidenschaft gab. Ihr Mann ist ein Schürzenjäger und süchtig nach Sex. Sie weiß von sechs verschiedenen Affären, die er gehabt hat (in einem Fall hat sie ihn mit der anderen Frau im Bett erwischt). Als ich sie fragte, warum sie sich denn nicht scheiden ließe, erwiderte sie, sie »liebe« ihren Mann. Diese Frau verwechselt Abhängigkeit mit Liebe. Als sie zwei Jahre alt gewesen war, hatte der Vater die Familie verlassen, und sie hat ihn nie wiedergesehen. Ihre Abhängigkeit, die sich als Liebe ausgibt, entspringt der tiefsitzenden Angst vor dem Verlassenwerden.
In all diesen Fällen ist das Kernproblem das verletzte Kind in der Seele dieser Menschen.
Es bestimmt die Intimität in den Beziehungen, weil es kein Gefühl für sein wahres Ich hat. Die größte Verletzung, die man einem Kind zufügen kann, ist die Zurückweisung seines wahren Selbst. Wenn die Eltern die Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche ihres Kindes nicht respektieren, weisen sie das wahre Selbst des Kindes zurück und zwingen es dazu, ein unechtes Selbst zu entwickeln.
Um das Gefühl zu haben, geliebt zu werden, verhält sich das verletzte Kind so, wie es von ihm erwartet wird. Im Lauf der Jahre entwickelt sich so ein falsches Selbst, das von den Bedürfnissen der Familie und den gesellschaftlich geprägten Geschlechterrollen verstärkt wird. Im Lauf der Zeit bekommt dieses falsche Selbst dann einen solchen Stellenwert, daß der Mensch glaubt, es sei sein wahres Selbst. Er vergißt, daß dieses falsche Selbst eine Anpassungsleistung ist und gewissermaßen ein Stück darstellt, für das ein anderer das Buch geschrieben hat.
Es ist unmöglich, Intimität zu realisieren, wenn man kein Selbstwertgefühl hat. Wie soll man sich einem anderen Menschen hingeben können, wenn man selbst nicht weiß, wer man ist? Wie soll man sich einem anderen mitteilen können, wenn man nicht weiß, wer man wirklich ist?
Eine Möglichkeit, ein starkes Gefühl für sich selbst zu entwickeln, besteht darin, feste Grenzen zu ziehen. Wie die Grenzen eines Landes beschützen uns auch die Grenzen unseres Körpers, indem sie uns signalisieren, wenn uns jemand zu nahe kommt oder versucht, uns in unangemessener Weise zu berühren. Unsere selbstbestimmten Grenzen in der Sexualität sorgen dafür, daß wir uns sexuell sicher und geborgen fühlen. (Menschen, die instabile sexuelle Grenzen haben, haben häufig Sex, obwohl sie es gar nicht wollen.) Unsere gefühlsmäßigen Grenzen sagen uns, wo unsere Gefühle aufhören und die Gefühle des anderen anfangen. Sie sagen uns, wann unsere Gefühle sich auf uns selbst und wann sie sich auf andere Menschen beziehen. Außerdem haben wir noch intellektuelle und spirituelle Grenzen, durch die unsere Überzeugungen und Wertvorstellungen bestimmt werden.
Wenn ein Kind vernachlässigt oder mißhandelt wird, werden auch seine Grenzen verletzt. Das führt dazu, daß das Kind Angst hat, entweder verlassen oder verschlungen zu werden. Wenn ein Mensch weiß, wer er ist, hat er keine Angst, verschlungen zu werden. Wenn er über Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl verfügt, hat er keine Angst, verlassen zu werden. Ohne feste Grenzen wissen wir nicht, wo wir aufhören und die anderen beginnen. Es fällt uns dann schwer, nein zu sagen und zu wissen, was wir wollen, und wenn wir das nicht wissen, ist es unmöglich, Intimität zu erleben. Störungen der Intimität werden durch sexuelle Störungen enorm gesteigert. Kinder, die in gestörten Familien aufwachsen, tragen Schäden davon, die ihre sexuelle Entwicklung betreffen. Solche Schäden entstehen durch ein schlechtes sexuelles Vorbild in der Familie, wenn ein Elternteil über das Geschlecht des Kindes enttäuscht ist, wenn das Kind verachtet oder gedemütigt wird oder wenn die Bedürfnisse des Kindes im Hinblick auf seine entwicklungsbedingte Abhängigkeit nicht befriedigt werden.
Gladys Vater war nie zu Hause gewesen. Er hatte sich wie ein Süchtiger in seiner Arbeit vergraben. In seiner Abwesenheit erfand Gladys einen Phantasievater. Sie ist inzwischen zum dritten Mal verheiratet. Da ihre Vorstellungen von Männern unrealistisch sind, konnte bisher kein Mann ihre Erwartungen erfüllen.