Das kleine Buch vom Meer: Helden - Olaf Kanter - E-Book

Das kleine Buch vom Meer: Helden E-Book

Olaf Kanter

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Beschreibung

Im dritten Band der Reihe "Das kleine Buch vom Meer" widmen wir uns den Helden der See. HELDEN Wir schreiben die Geschichten von Männern und Frauen, die unsere Welt besser machten. Die Großes leisteten und Mut bewiesen, wenn es darauf ankam. Die sich für andere Menschen in Not einsetzten und Grenzen sprengten. Manche wurden weltberü̈hmt, andere blieben weitgehend unbekannt. In diesem Buch geht es um Grace Darling, die durch Sturm und Brandung ruderte, um Leben zu retten. Wir erzä̈hlen von Lillian Bilocca, Arbeiterin in einer Fischfabrik, die ihre eigene Revolution anzettelte. Wir wollen den Helden des Shetland Bus ein Denkmal setzen, die in ihren kleinen Kuttern Hitler bekämpften. Ein Buch voller romantischer Geschichten der See. Das kleine Buch vom Meer: Zum Träumen. Zum Staunen. Zum Sammeln.

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Seitenzahl: 273

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DAS KLEINE BUCH VOM MEER

HELDEN

VONSTEFAN KRUECKEN HRSG.UND OLAF KANTER

DAS KLEINE BUCH VOM MEER – HELDEN

Originalausgabe, Oktober 2020

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 by Ankerherz Verlag GmbH, Hollenstedt

© Texte: Stefan Kruecken, Hollenstedt (Hrsg.), Olaf Kanter, Hamburg

© Fotografie: Ankerherz Verlag GmbH,Adobe Stock S. 122–129, iStock S. 107, 168/169, 225, Alamy S. 12, 30, 34, 50, 56, 59, 62, 65, 84, 76/77, 90, 94, 95, 100, 118, 119, 132, 156–167, 176 Chris Hewitt S. 104, Andree Kaiser S. 128, Christian O. Bruch S. 150, 155, Princess Cruises S. 181

Illustrationen: Bernd Muss, Hamburg

Titelgestaltung: Susanne Schmaus, Berlin

Buchgestaltung und Satz: Daniela Greven, Berlin, Susanne Schmaus, Berlin

Bildbearbeitung: Markus Drangsal, Berlin

Lektorat: Olaf Kanter, Hamburg

Korrektorat: Sarah Schroepf, Losheim am See

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://d-nb.de abrufbar.

Ankerherz Verlag GmbH, Hollenstedt

[email protected]

www.ankerherz.de

ISBN 978-3-945877-33-3

eISBN 978-3-945877-84-5

INHALT

Vorwort

WAS WIRKLICH ZÄHLT – ÜBER UNSERE HELDEN DER SEE

1

Grace Darling

DIE TOCHTER DES LEUCHTTURMWÄRTERS

2

Lotsen

DIE UNSICHTBAREN

3

Johann Niemann

EIN FAST VERGESSENER HELD

Gedicht

ULYSSES

4

Kapitän Koldewey

GANZ WEIT IM NORDEN

Entdecker

HIERMIT TAUFE ICH DICH AUF MEINEN NAMEN

5

Kapitän Carlsen

EIN ECHTER KAPITÄN

Piratinnen

DIE VIER GEFÄHRLICHSTEN FRAUEN ZUR SEE

6

Alexander Seton

FRAUEN UND KINDER ZUERST!

7

Banksy

DAS RETTUNGSBOOT VON BANKSY

8

Seenotretter

DIE TODESFAHRT DER VEGESACK

Seehelden

WELCHER EUROPÄER WAR DENN NUN ZUERST IN AMERIKA

9

Samuel Plimsoll

BIS HIERHIN UND NICHT WEITER

10

Fisherman’s Friends

DAS MÄRCHEN DER SINGENDEN FISCHER

11

Captain Fryatt

HELDEN WIDER WILLEN

12

Störtebeker

VEREHRTER RÄUBER

Heldenfilme

13

Kapitän Schwandt

DAS LETZTE GUTE GEWISSEN

14

John Maynard

NOCH ZEHN MINUTEN BIS BUFFALO

Das frühe Instagram

POSTKARTEN MIT HELDEN

Das ABC

…DER ENTDECKER

15

Johannes Hirtz

DER TRAWLERKAPITÄN

Schiffe

DIE SCHIFFE DER SEEHELDEN

16

Pete Goss

DIE WENDE

17

Kapitän Arma

„DANKE, MEINE GLADIATOREN.“

Gedicht

LAND IN SICHT RIO REISER

18

Jonathan Darby

DER FREUND DER SEELEUTE

Expeditionen

SIE KAMEN NICHT ZURÜCK

19

Lillian Bilocca

DIE REVOLUTIONÄRIN MIT DEM KOPFTUCH

20

Oskar Kusch

DER AUFSTAND DES KOMMANDANTEN

Romane

DIE TRAUEN SICH WAS

21

Leif Larsen

SHETLAND LARSEN

Jaap Pronk half 2675 Menschen in Seenot

ÜBER UNSERE HELDEN DER SEE

Was wirklich zählt

Während wir an diesem Buch recherchieren und schreiben, erreicht uns eine traurige Nachricht aus den Niederlanden. Ein Seenotretter ist gestorben, er hieß Jaap Pronk und arbeitete auf der Station Scheveningen bei Den Haag. Er wurde 66 Jahre alt.

Was in der Mitteilung der Seenotretter steht, beeindruckt uns zutiefst. Zu 1896 Rettungen ist Jaap Pronk im Laufe der Jahre auf die Nordsee hinausgefahren, oft im Sturm und in schwerer See. „Viele Rettungen fanden unter schwierigen und riskanten Bedingungen statt“, schreiben die Seenotretter. „Jaap hat immer die Interessen von Menschen in Not über seine eigenen gestellt.“

Jaap Pronk half 2675 Menschen in Seenot.

2675! Was für eine unglaubliche Zahl.

Ein ganzes Dorf hat der Seenotretter Pronk mit seiner Courage aus den Wellen gerettet, und wenn man davon ausgeht, dass jeder dieser Menschen Familie hat oder vielleicht noch eine Familie gründete, dann hat sein Mut das Leben vieler Tausend Menschen in eine andere Richtung gelenkt. Er hat vielen Menschen Leid und Unglück erspart.

Doch es gibt nicht viele Google-Treffer, wenn man mehr über den Mann Jaap Pronk erfahren möchte. Man findet wenig über ihn, eigentlich so gut wie nichts, und wenn, dann erschienen die Beiträge nach seinem Tod. Ein paar Meldungen existieren und ein kurzer Bericht der Lokalzeitung. Der Redakteur will im Interview wissen, ob sich Pronk als Held fühle?

„Held, wieso Held? Das sind tote Menschen“, erwiderte Jaap Pronk.

Über „Helden“ wird gerne und häufig geschrieben in unserer Zeit. Helden, das sind auch Leute, die eine Pizza unfallfrei ausfahren. Helden versenken Elfmeter oder verkaufen Teppiche, und in einem Supermarktregal entdeckte ich vor Kurzem eine krumm gewachsene Möhre mit dem Werbe-Hinweis „Bio-Held“.

Unter dem Begriff des Helden lässt sich so ziemlich alles gut verkaufen, denn jeder möchte mit Helden zu tun haben. Je unruhiger und unübersichtlicher die Zeiten sind, desto größer ist der Bedarf nach Helden.

Das Seltsame ist nur: Echte Helden, die im Alltag anderen aus der Klemme helfen, echt und zum Anfassen, spielen eher selten eine Rolle. Helden, wie sie von der Redaktion des Duden definiert werden: Held, /Héld/, Substantiv, maskulin [der]: „Jemand, der sich mit Unerschrockenheit und Mut einer schweren Aufgabe stellt, eine ungewöhnliche Tat vollbringt, die ihm Bewunderung einträgt.“

Menschen wie Jaap Pronk, das sind für uns von Ankerherz echte Helden. Was gibt es Größeres, als einen anderen, den man nicht kennt, aus höchster Not zu retten? Und dies draußen auf See, also in einer Umgebung, die keine Fehler verzeiht?

Dieses Buch ist der dritte Band der Reihe „Kleines Buch vom Meer“. Nach Inseln und Leuchttürmen widmen wir uns den Helden der See.

Es gehört Mut dazu, sich auf das Meer zu wagen. Es braucht Courage, die Ozeane zu befahren, damals noch mehr als heute. Es ist auch heute noch eine Herausforderung, sich dieser lebensfeindlichen Welt weit draußen zu stellen. Menschen haben auf See eigentlich nichts verloren, vor allem dann nicht, wenn das Meer wütend wird. Stürme, Monsterwellen oder Fallwinde sind die natürlichen Gegner jedes Seemanns.

Wir möchten dieses Buch Menschen widmen, die Großes für andere Menschen geleistet haben. Die Leben gerettet oder Leben verbessert haben. Menschen, die anderen ein Beispiel sind und vielleicht sogar ein Vorbild. Menschen, die mit ihrem Mut Grenzen verschoben.

Einige Namen sind gewiss bekannt, wie einige Entdecker oder Seehelden, deren Legende weitergetragen wird. Wir erzählen aber auch von Lillian Bilocca, Arbeiterin in einer Fischfabrik von Hull in England, die nach dem Tod ihres Mannes für mehr Sicherheit auf Trawlern kämpfte und dafür bestraft wurde. Wir erzählen von einem Kapitän, der sein Schiff in der unmöglichsten Lage nicht aufgeben mochte und den Ruhm, der darauf folgte, ablehnte. Wir erzählen von Grace Darling, Tochter eines Leuchtturmwärters, die zu einer Ikone ihrer Zeit wurde. Wir berichten von einem Regattasegler, der umkehrt und gegen den Sturm zurücksegelt, um einem Konkurrenten in Not zu helfen. Wir sind bei den Helden unserer Zeit, den Seenotrettern, an der deutschen Küste und auf dem Mittelmeer. Wir beleuchten eine Legende namens Störtebeker und sind an Bord einer deutschen Expedition ans kalte Ende der Welt.

Der schwierigste Teil unserer Arbeit war es, manche Helden zum Reden zu bewegen. Zum Beispiel Kapitän Hritz aus Bremerhaven, einem Hochseefischer, der selbst die dramatischsten Geschichten ganz lapidar erzählt. Sein Beruf ist hart. Sein Arbeitsplatz auf dem Nordatlantik gefährlich. Doch um jeden Preis möchte Kapitän Hritz vermeiden, angeberisch zu klingen.

Vielleicht liegt es auch daran, dass die wahren Helden selten auftauchen.

Wir wünschen gute Unterhaltung mit diesem Buch.

GRACEDARLING

Heldin Grace Darling Ort Nordostküste Englands Datum 7. September 1838

1

Die Tochter

DES LEUCHTTURMWÄRTERS

Manche Heldengeschichten lesen sich, als habe man das Drehbuch eines kitschigen Fernsehfilms abgeschrieben. Wie die Geschichte von Grace Darling, der mutigen Tochter eines Leuchtturmwärters im Norden von England. Was sie leistete, beeindruckte sogar die Königin – und wird bis heute erzählt.

Grace Darling lebte auf dem Leuchtturm von Longstone an der Nordostküste Englands, Grafschaft Northumberland. Zu den Farne-Inseln ist es nicht weit; Holy Island war einst ein Zentrum keltischer Kultur, bis es einmal zu oft von den Wikingern überfallen wurde. Der Leuchtturm, in dem Familie Darling einst wohnte, steht heute noch. Ein beliebtes Fotomotiv, angepinselt in Rot und in Weiß, das die Boote für Tagestouristen aus dem Hafen des Fischerdorfs Seahouses ansteuern. Im oberen weißen Ring soll sich das Zimmer von Grace Darling befunden haben.

Aus diesem Fenster sah sie am frühen Morgen des 7. September 1838 einen Schatten auf der gegenüberliegenden Felseninsel Big Harcar. Das Wetter war schlecht, es regnete und stürmte. Als der Morgen dämmerte, erkannte sie die Silhouette eines Schiffes. Sofort rief sie nach ihrem Vater William Darling, dem Leuchtturmwärter.

Was war geschehen?

Auf der „SS Forfarshire“, einem Raddampfer im Pendeldienst zwischen dem schottischen Dundee und dem englischen Hull, war die Maschine ausgefallen. Bei schwerer See trieb das Schiff auf die Klippen von Big Harcar, wo es in zwei Teile zerbrach. Es war so stürmisch, dass die Boote der Seenotretter Schwierigkeiten haben würden, aus Seahouses herüberzukommen. Der Leuchtturmwärter und seine Tochter zogen ihre Jacken an und eilten zum Ruderboot. Von der Küste drangen die Schüsse der Kanonen herüber, mit denen Fischer alarmiert wurden, dass es einen Seenotfall gab.

In Sturm und Regen kämpften sich der Leuchtturmwärter und seine Tochter nur mit der Kraft ihrer Arme durch die Wellen und erreichten nach etwa einer Seemeile den Havaristen. Sie halfen vier Männern und der einzigen überlebenden Frau, Sarah Dawson, ins Boot. Mrs Dawson stand unter Schock, sie hatte in der Nacht ihre kleinen Kinder James und Matilda an die See verloren. William Darling ruderte das Boot mit drei Männern zurück zum Leuchtturm. Während sich Grace um die Schiffbrüchigen kümmerte, ruderte ihr Vater mit den Männern, die dazu körperlich imstande waren, zurück zum Wrack, um vier weitere Überlebende zu retten.

Auch die Fischer aus Seahouses erreichten die „Forfarshire“. Sie fanden keine Überlebenden, sondern nur die Leichen der Kinder. 43 Menschen starben bei der Havarie der „SS Forfarshire“, unter ihnen auch der Kapitän und seine Frau. Der Sturm steigerte sich zum Orkan. Die Fischer, denen der Rückweg abgeschnitten war, fragten den Leuchtturmwärter um Hilfe. Gemeinsam ruderten die Boote zum Leuchtturm von Longstone; drei Tage lang harrten sie dort aus, bis sich das Wetter beruhigte.

Die Geschichte der selbstlosen Rettung verbreitete sich rasch, und die Rolle von Grace Darling fand besondere Beachtung. Sie und ihr Vater wurden von der „Royal National Institution for the Preservation of Life from Shipwreck“, der Vorgängerorganisation der Seenotretter, mit der silbernen Medaille für Tapferkeit ausgezeichnet. Königin Victoria beteiligte sich mit einer Spende von 50 Pfund, damals ein kleines Vermögen, an einer Spendenaktion für die Familie. Grace Darling erhielt kistenweise Geschenke, Briefe und mehrere Heiratsanträge. Wie berichtet wird, machte sich in den Wochen nach der Rettungsaktion ein Dutzend Maler auf den Weg zur Leuchtturminsel, um die Heldin zu porträtieren. Gemälde von William Bett Scott oder Thomas Musgrave Joy (das besonders dramatisch geriet) hängen noch heute in Museen. Ihre Popularität war so groß, dass der Herzog von Northumberland eine Patenschaft für sie übernahm und ihr eine Teekanne aus Silber schenkte.

Grace Darling wurde zur Legende. Sie taucht im „Ulysses“ des James Joyce auf, und der Romantiker William Wordsworth, dem die Geschichte natürlich besonders gefiel, widmete ihr ein langes wie schmalziges Gedicht.

Die Geschichte der Grace Darling endete, man ahnt es, auf tragische Weise. Bei einer Reise aufs Festland erkrankte sie an der Tuberkulose. Ihr Zustand verschlechterte sich in den nächsten Wochen, und auch Versuche des Herzogs, ihr zu helfen, scheiterten. Sie starb im Oktober 1842 im Alter von nur 26 Jahren.

Ihr Grab befindet sich auf dem Kirchhof der St. Aidan’s Kirche von Bamburgh, in der ihr Porträt ein Kirchenfenster schmückt. Bis heute lebt ihre Heldengeschichte weiter, in Gedichten, Liedern und einem Hotel, das im australischen Melbourne zu ihren Ehren eröffnete.

GRACEDARLING

vonWilliam Wordsworth(Auszug)

True to the mark,

They stem the current of that perilous gorge,

Their arms still strengthening with the strengthening heart,

Though danger, as the Wreck is neared, becomes

More imminent. Not unseen do they approach;

And rapture, with varieties of fear

Incessantly conflicting, thrills the frames

Of those who, in that dauntless energy,

Foretaste deliverance; but the least perturbed

Can scarcely trust his eyes, when he perceives

That of the pair, tossed on the waves to bring

Hope to the hopeless, to the dying, life,

One is a Woman, a poor earthly sister,

Or, be the Visitant other than she seems,

A guardian Spirit sent from pitying Heaven,

In woman’s shape. But why prolong the tale,

Casting weak words amid a host of thoughts

Armed to repel them? Every hazard faced

And difficulty mastered, with resolve

That no one breathing should be left to perish,

This last remainder of the crew are all

Placed in the little boat, then o’er the deep

Are safely borne, landed upon the beach,

And, in fulfilment of God’s mercy, lodged

Within the sheltering Lighthouse. Shout, ye Waves

Send forth a song of triumph. Waves and Winds,

Exult in this deliverance wrought through faith

In Him whose Providence your rage hath served!

Ye screaming Sea-mews, in the concert join!

And would that some immortal Voice, a Voice

Fitly attuned to all that gratitude

Breathes out from floor or couch, through pallid lips

Of the survivors, to the clouds might bear,

Blended with praise of that parental love,

Beneath whose watchful eye the Maiden grew

Pious and pure, modest and yet so brave,

Though young so wise, though meek so resolute,

Might carry to the clouds and to the stars,

Yea, to celestial Choirs, Grace Darling’s name!

LOTSEN

Helden Lotsen Ort Häfen weltweit Datum 365 Tage im Jahr

2

Die

UNSICHTBAREN

Sie sind ausgebildete Nautiker, die gelegentlich die Talente von Stuntmen mitbringen müssen. Machen sie einen groben Fehler, landen sie damit in der „Tagesschau“. Dennoch hört man wenig über Lotsen. Wieso eigentlich?

Auf dem Deck der Hamburger Hafenfähre „62“, die von den St. Pauli Landungsbrücken nach Finkenwerder pendelt, war kaum ein Stehplatz frei. Hamburg ist besonders im Sommer beliebt, und dass die „Bügeleisen“, wie der Volksmund die Fähren wegen ihrer Form nennt, eine preiswerte Alternative zur Hafenrundfahrt bieten, hat sich bis in die Mongolei herumgesprochen. Die Fähre passierte einen Großcontainerfrachter, die 364 Meter lange „Nyk Eagle“, als sich in der Bordwand, in etwa sieben Metern Höhe, eine Tür öffnete.

Ein Lotsenboot fuhr heran. Ein Mann in gelber Weste begann damit, zügig die Jakobsleiter hinunterzuklettern, aus etwa sieben Metern Höhe. Dann stieg er mit lässiger Bewegung über an Bord des kleinen Bootes. Natürlich während der Fahrt. An Bord der Fähre herrschte Staunen über die unerwartete Einlage.

Ich habe mehrfach zusehen können, wie Lotsen auf ein Schiff übersetzen. Einmal mochte ich es kaum glauben, bei bewegter See und sieben Beaufort im Firth of Forth vor Edinburgh. Das kleine Lotsenboot kämpfte mit der See und brauchte eine Zeit, bis es ohne Probleme die Bordwand des Kreuzfahrtschiffs erreicht hatte. Die Vorstellung, bei diesen Bedingungen an eine Bordwand zu springen und eine wacklige Strickleiter hinaufzuklettern, ließ mich erschaudern.

Der Beruf des Lotsen erfordert Nerven und Mut. Die Lotsen tragen enorme Verantwortung für Menschen, Schiff und Ladung, die Milliarden Euro wert sein kann. Ein grober Fehler bedeutet, dass sie beim Umstieg in der See oder der Elbe landen. Oder eben direkt in der „Tagesschau“. Mit vierhundert Meter langen Riesenschiffen fährt man besser nirgendwo gegen.

Ein Lotse ist der Berater des Kapitäns. Er hilft ihm durch die Tücken des Reviers, er lotst ihn an Untiefen vorbei und durch den teilweise extrem dichten Verkehr in einem vergleichsweise schmalen Fahrwasser. Letzte Verantwortung behält immer der Kapitän. Doch im Prinzip ist es so, dass der Lotse das Schiff fährt. Der Kapitän bestätigt die Kommandos des Lotsen. Was manchmal eine heikle Symbiose ergeben kann.

Ein ehemaliger Lotse, Henry Keller aus Blankenese, Jahrgang 1928, der seine Laufbahn als Seemann als Schiffsjunge auf der legendären Viermastbark „Padua“ begonnen hatte, erzählte mir von der heikelsten Situation. Als er das größte Schiff seiner Laufbahn, einen 315 Meter langen und 54 Meter breiten Eisenerzfrachter namens „Rhine Ore“ Richtung Nordsee lotste, frischte der Wind auf. Auf Höhe von Freiburg-Reede, einer kleinen Einbuchtung, in der gelegentlich Schiffe ankern, schwojten mehrere Schiffe. Schwojen bedeutet, dass die Schiffe mit dem Strom der Gezeiten drehen. Ein Frachter, 180 Meter lang, dessen Kapitän zu viel Ankerkette gesteckt hatte, blockierte die Fahrrinne. Doch auf der Brücke meldete sich niemand. Es wurde hektisch.

Die Minuten, in denen Keller mit dem gewaltigen Erzfrachter den Fluss hinunterschob, mit nur geringen Aussichten, eine Kollision zu vermeiden, beschrieb er als die „unangenehmsten und längsten meines Berufslebens“. Alles ging gut. Der Kapitän des Frachters, der als Hindernis im Strom lag, kam in buchstäblich letzter Minute zurück auf seine Brücke und manövrierte sein Schiff aus der Gefahrenzone hinaus.

Exakt 7405 Schiffe lotste Keller in 32 Jahren die Elbe stromauf und stromab, darunter den britischen Flugzeugträger „Ark Royal“, das Segelschulschiff „Gorch Fock“, ein atombetriebenes U-Boot und diverse Kreuzfahrtschiffe. Jedes einzelne trug er penibel in zwei Bücher ein, die er privat führte, versehen mit den Basisinformationen: Tiefgang, Radar, Flagge.

280 Lotsen sind in der Lotsenbrüderschaft Elbe organisiert, eine Vereinigung der Superlative. Keine hat mehr Tradition aufzuweisen, keine ist größer. 24 Stunden täglich stehen sie bereit für eines der anspruchsvollsten Reviere Europas. Elbaufwärts lotsen sie die Schiffe ab Tonne E3 bis auf die Höhe ihrer Station bei Teufelsbrück, wo dann die Hafenlotsen übernehmen. Auslaufende Schiffe begleiten sie in die Deutsche Bucht oder zum Nordostseekanal. Bei Sturm, wenn der Wellengang zu stark ist, werden sie mit dem Helikopter von Deck gewinscht. Sie sind Nautiker, oftmals ehemalige Kapitäne – und nebenher müssen sie Eigenschaften wie ein Stuntman mitbringen.

Sie sind ein wichtiges Element im großen Organismus des Hamburger Hafens, der immerzu in Bewegung ist. Die Lotsen sind so etwas wie die unbesungenen Helden des Hafens und der Küste. Doch es gibt ein Problem: Die jungen Leute fehlen. Auf den Schiffen der meisten Reedereien fahren wenige deutsche Seeleute, weil sie zu „teuer“ sind. Die Jobaussichten sind schlecht, und überdies gilt der Beruf des Seemanns als unattraktiv. Kaum jemand hat heute noch Lust, monatelang auf See und nicht zu Hause zu sein. Doch bis heute gilt die Regel: Wer Lotse werden will, muss ein Nautikstudium abgeschlossen haben und Fahrzeit als Offizier eines Handelsschiffs nachweisen. In früheren Zeiten galt der Beruf als so begehrt, dass nur beste Kontakte oder die Heirat mit der Tochter eines Lotsen in die Brüderschaft führten. „Zu meiner Zeit musste man sechs Jahre lang als Kapitän auf großer Fahrt unterwegs gewesen sein, einen guten Fürsprecher haben und diverse Prüfungen bestehen“, erzählte Keller, der alte Lotse aus Blankenese.

Diskussionen haben begonnen, ob man die heutigen Kriterien nicht verändern muss. Ob die obligatorischen Fahrzeiten entfallen oder die Ausbildung verkürzt werden kann. Bis zum Jahr 2030 wird die Hälfte der heutigen Elblotsen in Rente gehen.

JOHANNNIEMANN

Held Johann Niemann Ort Prerow, Darß Datum 1920er-Jahre

3

Ein fast

VERGESSENER HELD

Entlang der deutschen Küsten gibt es Menschen, die durch ihren Einsatz zu Helden wurden. Doch weil es niemanden gab, der ihre Taten festhielt, verschwimmt die Erinnerung. Ein solcher Fall ist Johann Niemann, legendärer Vormann der Seenotretter in Prerow auf dem Darß. Erst spät fand er eine Würdigung.

Eine kleine Anekdote erklärt manchmal mehr als ein Historienroman. Nordstrand, Darß, Ende der Zwanzigerjahre, das genaue Datum weiß man nicht mehr. Ein heftiger Sturm hatte ein Schiff auf eine Untiefe geworfen. Bis heute gilt das Revier vor Fischland wegen seiner Sandbänke und Strömungen als gefährlich, besonders bei schlechtem Wetter. Vormann Johann Niemann war nicht zu Hause, als die Seenotretter alarmiert wurden. Als er schließlich an den Strand eilte, kamen ihm seine Männer schon entgegen. Sie hatten erschöpfte und durchnässte Schiffbrüchige bei sich, die sie eben aus den Wellen gerettet hatten.

„Sünd dat all?“, fragte Niemann.

Seine Männer antworteten, es handele sich um alle. Also alle bis auf einen, den sie nicht mehr erreichen könnten. Der Sturm werde immer stärker, die Wellen seien enorm. Nun sei es unmöglich, den letzten Mann vom Wrack zu holen. Keine Chance.

Niemann war nicht zufrieden mit dem, was er hörte.

„Entweder wi halen all – orrer wi bliewen all!“, brummte er. Entweder wir holen alle, oder wir bleiben alle.

Was für ein Satz.

Ohne ein Wort der Widerrede lief die Mannschaft mit Niemann zurück zum Strand, stieg mit ihm in ein Boot und ruderte hinaus in die tosende See. Die Rettung gelang. Niemann wurde endgültig zu einer legendären Figur.

Auf dem Darß, diesem beinahe paradiesisch schönen Streifen Dünen und Strand vor der Küste Mecklenburg-Vorpommerns, erzählen sich die Alten die Geschichten noch immer.

Was wissen wir heute über Johann Niemann, dessen Porträt in der Galerie der Seenotretter einen Mann mit markanter Nase, Schnauzbart und Südwester zeigt? Die Seenotretter haben sein Andenken bewahrt. Auch dafür gebührt ihnen Dank.

Geboren wurde er am 9. September 1866 in Prerow, ein Jahr nach der Gründung der damals noch jungen Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). Fast alle Männer vom Darß fuhren in jener Zeit zur See, und Niemann war keine Ausnahme. Vom Schiffsjungen arbeitete er sich zum Steuermann, schließlich zum Kapitän hoch. 1894 legte Niemann sein Patent ab und segelte mit großen Schiffen um die Welt. 1906 kehrte er auf den Darß zurück. Er meldete sich als freiwilliger Seenotretter.

Mehr als siebzig Leben bewahrte er in den nächsten Jahren, oftmals unter schwierigsten Bedingungen, bei Sturm und Brandung. Bis 1948 leistete er seinen Dienst als Vormann, gewissermaßen als „Kapitän“ der Station. Noch im Alter von 70 Jahren ruderte er hinaus, um zehn polnische und drei holländische Seeleute ans sichere Ufer zu bringen. Dafür bekam er die Prinz-Heinrich-Medaille, die von der DGzRS seinerzeit jährlich für die schwerste Rettungsfahrt ausgelobt wurde.

1963 starb Johann Niemann im Alter von 96 Jahren. Man begrub ihn auf dem Seemannsfriedhof von Prerow. Eine Gedenktafel ehrt ihn heute, darauf steht der Satz: „Der Wille ist die Seele der Tat“. Genau wie auf der Prinz-Heinrich-Medaille.

Das Ostseebad Prerow hat inzwischen auch einen Weg nach seinem vielleicht mutigsten Bürger benannt. Der „Johann-Niemann-Weg“ beginnt in Höhe des historischen Stationsgebäudes, in dem Niemann als Vormann arbeitete. Es wird heute noch genutzt.

„ENTWEDERWIR HOLEN ALLE,ODER WIRBLEIBEN ALLE.“

In den Stationen der Royal National Lifeboat Institution (RNLI) gibt es einen schönen Brauch: Die britischen Seenotretter halten seit jeher auf großen Tafeln die spektakulärsten Einsätze fest, meist in weißer Schrift auf schwarzem Grund. Ein Schildermaler notiert in chronologischer Folge Datum der Rettung, äußere Umstände, Name des Havaristen, Zahl der Geretteten. Die wenigen Angaben reichen aus, um die Fantasie anzuregen – und sie sorgen dafür, dass der Mut der Retter nicht in Vergessenheit gerät.

VICTORIAN POET ALFRED LORD TENNYSON

ULYSSES

…COME, MY FRIENDS,

’TIS NOT TOO LATE TO SEEK A NEWER WORLD.

PUSH OFF, AND SITTING WELL IN ORDER SMITE

THE SOUNDING FURROWS; FOR MY PURPOSE HOLDS

TO SAIL BEYOND THE SUNSET, AND THE BATHS

OF ALL THE WESTERN STARS, UNTIL I DIE.

IT MAY BE THAT THE GULFS WILL WASH US DOWN;

IT MAY BE WE SHALL TOUCH THE HAPPY ISLES,

AND SEE THE GREAT ACHILLES, WHOM WE KNEW.

KAPITÄNKOLDEWEY

Held Kapitän Koldewey Ort Nordpolarmeer Datum Mai 1867

4

Ganz weit

IM NORDEN

Im Mai 1867 segelt die erste deutsche Polarexpedition los. Kapitän Koldewey hat den Auftrag, den direkten Seeweg zum Nordpol zu finden. Das kann natürlich nicht funktionieren. Die Reise der „Grönland“ wird dennoch ein Erfolg – kein Schiff ohne Motor ist bis heute so weit nach Norden vorgedrungen.

Sofort steigt einem der intensive Geruch in die Nase, wenn man die Stufen hinab in die Crewmesse nimmt. Ein durchdringendes Aroma von braunem Teer, von Kohle, die in einem Ofen qualmt, vom Öl der Lampen. Es ist kein unangenehmer Geruch, denn es ist gemütlich unter Deck des alten Segelschiffs.

Der Geruch regt die Fantasie an. Sofort läuft ein Film im „Kopfkino“ ab: Was haben die Seeleute an Bord dieses alten Seglers erlebt? Wie mögen sie hier zusammengesessen haben in den Stürmen, während das Schiff immer weiter auf nördlichem Kurs segelte? Dieses Schiff, das heute in Bremerhaven liegt, hat die deutsche Polarforschung begründet.

Äußerlich ist die „Grönland“ ein eher unscheinbares Schiff, keine 30 Meter lang, schwarz gestrichener Rumpf, gebaut als robustes Arbeitsschiff. Nordische Jagt nannte man diese robusten Arbeitsschiffe, die bis ins 20. Jahrhundert typisch waren für die rauen Küsten Norwegens. Die „Grönland“ wurde in Skanevik gebaut, in der Werft von Toleff Toleffsen, und gedacht war sie eigentlich für die Jagd auf Robben.

Die „Grönland“ ist eine Legende. Bis heute ist kein Schiff ohne Motor so weit nördlich aufgekreuzt, bis 81°4,5’N auf, um genau zu sein. Weil man heute in jedes Schiff einen kleinen Hilfsmotor einbaut, wird dies wohl eine ewige Bestmarke bleiben. Soll man die Männer, die im Mai 1867 in die Polarregion vorstießen, Helden nennen? Ist das die richtige Bezeichnung für die Crew der „Grönland“? Auf jeden Fall waren es mutige Seeleute, die unter dem Kommando von Carl Koldewey vom norwegischen Bergen aus in See stachen.

Wer zu jener Zeit zu einer solchen Expedition aufbrach, konnte nicht unbedingt davon ausgehen, wieder heimzukehren. Stürme, Wellen, Eisberge waren gefährliche Gegner. Eisbären. Die Seegebiete waren in keiner Karte verzeichnet. Hilfe im Notfall? Wer lossegelte an den Rand der Welt, der war auf sich gestellt. Die Männer vertrauten ihr Leben Kapitän Koldewey an.

Im Hafen von Bergen bereitete der Kapitän mit dem dichten Bart im Jahre 1867 die erste deutsche Polarexpedition vor. Die Gründe, die zur Reise führten, lagen auch in der neu erwachten Begeisterung für das Nationale. Expeditionen, möglichst abenteuerlich, versprachen internationales Renommee. Die Bürger engagierten sich, und zu ihnen gehörte auch der Geograf und Publizist August Petermann (1822 bis 1878). Ein bekannter Kartograf aus Gotha, der es liebte, neue Entdeckungen in Atlanten einzutragen. Seine Karten gehörten zu den feinsten ihrer Zeit, und die monatliche Schrift „Petermanns Geographische Mitteilungen“, die er als Herausgeber betreute, genoss einen exzellenten Ruf in ganz Europa. Nachdem er sich in der Afrikaforschung einen Namen gemacht hatte, wandte er sich den Polargebieten zu. Wohlgemerkt, er erlebte die Abenteuer vom Schreibtisch aus – persönlich brach er nie zu einer Fernreise auf.

Die Polarregion gehörte zu den letzten buchstäblich weißen Flecken auf den Landkarten. Petermann betrachtete es als „nationale Aufgabe“, dieses Gebiet zu erforschen, und stellte eine kühne These auf: Hinter einem Gürtel aus Treibeis und Packeis gab es vor Grönland nach seiner Ansicht offenes Meer, über das man den Nordpol erreichen konnte. Wer also einen Weg durch diese Barriere fände, davon war Petermann überzeugt, der könnte mühelos bis zum Pol durchsegeln. Diese These wirkt aus heutiger Sicht ebenso seltsam wie der Umstand, dass er kaum Gegenrede fand. Petermann galt eben als Experte auf diesem Gebiet – und die Öffentlichkeit sehnte sich nach Abenteuergeschichten.

Zunächst jedoch scheiterten mehrere Versuche, eine Expedition zu finanzieren, unter anderem während einer Anhörung vor hochrangigen Vertretern der preußischen Marine. Laut eines Protokolls der Sitzung gab Petermann ein „klägliches Bild“ ab; die Experten wiesen seine Pläne rundweg ab. Was König Wilhelm I. jedoch nicht davon abhielt, eine Polarexpedition anzuordnen. Als Preußen und Österreich wenig später in den Krieg zogen, hatte sich dies aber erledigt. Petermann gab nicht auf.

Als im November 1866 eine Spende von 500 Thalern einging, eine beachtliche Summe, entschied Petermann, die Expedition selber zu finanzieren und darauf zu vertrauen, von der Öffentlichkeit getragen zu werden. Vermutlich plante er auch, die Investition durch den Verkauf des Expeditionsberichts in seiner Monatsschrift zu refinanzieren. Als Expeditionsleiter engagierte Petermann nach der Empfehlung eines Bremer Seefahrtsdirektors den Nautiker Carl Koldewey.

Das Abenteuer konnte beginnen.

Zunächst suchte Koldewey eine Crew aus erfahrenen Seeleuten zusammen, die „durchwettert und geschult“ sein mussten, wie er es in seinem Expeditionsbericht schrieb. Der Bericht liest sich in Teilen wie ein Abenteuerroman. Zwölf Männer waren an Bord der „Grönland“, die am 24. Mai 1867 aus dem Hafen von Bergen segelt: Der Erste Steuermann hieß Richard Hildebrand und kam aus Magdeburg, der zweite Steuermann Georg Heinrich Sengstacke aus Altona. Zimmermann Johann Wendelmann war ein Insulaner von Föhr. Dazu kamen Matrosen aus Worden, Bremen, Minden, den Niederlanden und zwei Norweger. Einen ausgewiesenen Wissenschaftler hatte die wissenschaftliche Expedition nicht an Bord.

Mit Erstaunen vermerkte Koldewey, dass einige aus seiner Crew beim ersten Wellengang seekrank wurden. Anscheinend brauchten sie etwas Zeit, um mit den Bewegungen des kleinen Schiffes zurechtzukommen. Etwas spöttisch notierte Koldewey: „Es war äußerst komisch, diese breiten, kräftigen Gestalten und seegewohnten Leute zu sehen, mit welchen unglücklichen Mienen sie jede starke Bewegung des Schiffes begleiteten.“

Mit seinem Schiff, das „wie eine Möwe über die See hinwegflog, ohne einen Tropfen Wasser an Deck zu haben“, zeigte sich Koldewey indes zufrieden. Er hatte vor der Reise den Bug verstärken und einen neuen Mast einsetzen lassen. So segelte die „Grönland“ immer weiter auf einem nördlichen Kurs über den Nordatlantik. Der erste Sturm ließ nicht lange auf sich warten. Wie groß das Vertrauen der Crew in ihr Schiff war, beweist ein Eintrag Koldeweys:

„Ein Sturm auf offenem Meer hat überhaupt, wenn man sich auf einem guten, seetüchtigen Schiffe befindet, durchaus nichts Gefährliches irgendwelcher Art; man refft eben die Segel dicht, dreht bei, und macht es sich behaglich und bequem, wie es die Umstände nur irgend gestatten wollen. Wir hatten in unserer Kajüte ein lustiges Feuer im Ofen brennen, rauchten unsere Pfeife, lasen oder unterhielten uns, draußen mochte es toben und wettern, soviel es wollte. Der Wachthabende Offizier mit der Wachtmannschaft war natürlich auf dem Deck, doch auch diese waren durch das sogenannte Schauerkleid, welches wir an der Luv-Seite hingebunden hatten, einigermaßen geschützt, und konnten ungestört ihre Pfeife rauchen.“

„DIE GANZE MANNSCHAFT HATTE NUN NICHTS EILIGERES ZU TUN, ALS TUMULTARISCH HINTER DEM BÄREN HERZUSTÜRZEN.“

An Bord kehrte eine Routine ein, wie sie viele Seeleute so schätzen. Morgens um 6 Uhr weckte der wachhabende Offizier (der seit vier Uhr an Deck ist, um den Mann am Steuer zu beaufsichtigen und das Wetter zu beobachten) und rief die Leute zusammen: Schiff reinigen! Deck klar! Nach einer Stunde drehte er eine Kontrollrunde. Er sah nach, ob die Arbeiten in seinem Sinne ausgeführt wurden, ob die Segel kantig standen und die Taue aufgerollt waren. Danach wurde gefrühstückt – und Kapitän Koldewey erschien an Deck, zu einem „Spaziergang mit Morgencigarre“ (Koldewey), nachdem er Wind, Wetter und Kurs geprüft hatte.

Die Matrosen erhielten vom Steuermann oder vom Bootsmann ihre Aufgaben für den Tag: Taue spleißen, Blöcke schmieren, Segel ausbessern. Der Wachdienst blieb immer gleich, Steuern, Ausgucken, Bergen und Setzen der Segel, Loggen und Loten, für die Crew alles Routine.

„An Müßiggang, wie man wohl oft im Binnenlande meint, ist nicht zu denken“, schrieb Koldewey.

Mittags bestimmte er die Position und setzte den Kurs ab. Nachmittags wiederholten sich die Arbeiten des Morgens; eine Wache ruhte, um halb sieben nahm man das Abendbrot ein. Nach dem Essen lenzte man Wasser, sofern welches eingedrungen war, und ab acht Uhr übernahm die Nachtwache.

Um dem wissenschaftlichen Aspekt der Reise zu genügen, ließ Koldewey im Abstand von zwei Stunden den Stand des Barometers ablesen. Temperatur von Wasser und Luft maßen die Matrosen und trugen die Ergebnisse im Journal ein, ebenso wie Beobachtungen zu Wind, Wetter, Seetiefe oder astronomischen Ortsbestimmungen. „Kurzum, es wurde alles beobachtet und notiert, was nur irgend beobachtungswert war.“ (Koldewey) Sogar Farbe und Aussehen des Meeres ließ er akribisch festhalten.

Tag um Tag verging, ohne irgendeine Abwechslung, mit Ausnahme der Sonntage. „Jeder, der nicht gerade Dienst hat, kann sich seinem religiösen Bedürfnis gemäß beschäftigen. Der eine liest, der andere flickt sein Zeug, ein Dritter sitzt auf dem Spillkopf und summt sein Liedchen.“ Wer seine Beschreibungen liest, hat den Eindruck, dass es sich um eine harmonische Männer-WG handelte.

Je weiter das Segelschiff nach Norden vordrang, desto abenteuerlicher liest sich Koldeweys Bericht. Die Männer der „Grönland“ kämpften mit Stürmen, mit Nebel und mit Eisgang. Es war Sommer, viele Jahre vor der Erwärmung des Weltklimas. Es war kalt, sehr kalt. Am 8. Juni hielt Koldewey im Expeditionstagebuch fest:

„Stürmisches Wetter mit heftigen Schneeschauern. Das Eis setzte sich im Westen mehr und mehr an, und wir waren genötigt, von einem Wasserbecken in das andere zu flüchten und zwischen den Eisschollen so gut nach Osten zu arbeiten, wie es angehen konnte. Die Schifffahrt im Eise bei solchem Sturm und Schneewetter ist von der allerschwierigsten Art, und die Lenkung des Schiffes erfordert (…) vor allen Dingen Ruhe und Geistesgegenwart des Commandierenden. Alles Eis ist in heftiger Bewegung.“

Wenige Seiten im Expeditionsbericht später ist die „Grönland“ tatsächlich an der Eisgrenze eingeschlossen. Eisbären näherten sich dem Schiff. „Die ganze Mannschaft hatte nun nichts Eiligeres zu tun, als tumultarisch hinter dem Bären herzustürzen“, schreibt Koldewey. „Triumphierend wurde der Körper von den Leuten über die Eisschollen zum Schiff geschleppt und das Fell abgezogen.“

Dem Kapitän gelang es, die „Grönland“ aus dem Eis herauszumanövrieren und mit anderen Schiffen Kontakt aufzunehmen. Unter anderem mit der „Diana“, einem Robbenjäger aus dem britischen Hull. Was Koldewey von den anderen Kapitänen erfuhr, änderte seine Pläne: Eisbarrieren, überall. Koldewey wartete noch einige Tage ab, in denen die Mannschaft Schäden am Schiffsrumpf beseitigte. Dann gab er den Befehl, Richtung Spitzbergen zu versegeln. Dort wollte er einen neuen Anlauf nehmen, den Gürtel aus Eis zu durchbrechen. Doch auch dort sahen die Männer nichts anderes als eine weiße Wand. Es gab kein Durchkommen, erst recht nicht für ein Segelschiff wie die „Grönland“. „Nach den Aussagen der Walfischfahrer war dieses Jahr in jeder Beziehung ein ganz abnormales, ein Eisjahr wie seit langer Zeit nicht“