Das kleine Feuerwerk - Paul Oskar Höcker - E-Book

Das kleine Feuerwerk E-Book

Paul Oskar Höcker

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Beschreibung

"Das kleine Feuerwerk" – so wird das junge Schreibmaschinenfräulein Effie Tabbert aus Rüdesheim am Rhein wegen ihres feuerköpfigen Arbeitseifers genannt. Als sie einem erfolgreichen Geschäftsinhaber aus Berlin auffällt, wird sie für das Hauptgeschäft in der Reichshauptstadt eingestellt. Und kurz darauf wird sie in das nahe Schlosshotel versetzt. Eine große Chance, würde sie nicht gleich am ersten Tag einen frechen Gast ohrfeigen. Aus der Patsche hilft ihr der "Professor", ein stattlicher junger Gärtner, der es gut mit ihr zu meinen scheint.-

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Paul Oskar Höcker

Das kleine Feuerwerk

Roman

Saga

Den Spottnamen „Das kleine Feuerwerk“ wurde Effi Tabbert jetzt nicht mehr los. In ihrem ersten Dienstjahr als Schreibmaschinenfräulein in Rüdesheim hatte sie ihn ihrer roten Haare wegen bekommen und von da nach Köln zur Zweigstelle des Berliner Hauses Grovemann mitgebracht. Dem alten Grovemann war die junge Rheinländerin auf seiner Kölner Reise weniger durch ihre roten Haare aufgefallen als durch ihren feuerköpfigen Arbeitseifer, den sie im französischen und englischen Schriftwechsel bewies. Zum 1. Oktober ordnete er ihre Einstellung in das Berliner Hauptgeschäft an. Der Leiter der Personalabteilung vermerkte dort auf Fräulein Tabberts Anmeldezettel als Gedächtnisstütze die knappe Schilderung, die der alte Herr Grovemann von ihr gegeben: „Das kleine Feuerwerk; Auslandsbriefwechsel überraschend gut; flottes Kerlchen; sehr rasche Auffassungsgabe; im Auge behalten.“

Doch als sie sich zum Dienstantritt im Berliner Stammhause meldete, weilte der alte Grovemann bereits auf seiner Sumatra-Fahrt, und so konnte das kleine Feuerwerk vorläufig keine Verwendung in seinem Umkreis finden. Fräulein Fischer, die schon ihre Absetzung vorausgesehen hatte, atmete erleichtert auf. Aber für den Leiter der Personalabteilung begann nun eine Folge von Schwierigkeiten. Er schickte die junge Rheinländerin in dieses und jenes Ausfuhrlager, und wo noch Restarbeiten von Sommerurlauben oder andere Eilaufgaben zu erledigen waren, bewährte sich ihr Tatendrang. Nur Geduld besass sie nicht. „Man kann ihr geben, was man will, im Nu haut sie’s hin, spielend“, sagte einer der Herren, „ganz famoser kleiner Bursche ist sie. Aber natürlich fühlen die andern gleich, dass sie der Hecht im Karpfenteich ist. Und da gibt es Reibereien.“

Also wurde das kleine Feuerwerk zu Neujahr in die Hauptmasse gesteckt, wo die meisten Restdurchsichten aufzuarbeiten waren. Vielleicht wusste der zweite Kassenwart ihre besondere Begabung hier wirklich nicht richtig auszunutzen; kurz vor Ostern ging das kleine Feuerwerk wieder in Flammen auf. Und auf die Meldung des zweiten Kassenwarts hin liess der Leiter der Personalabteilung das ehrgeizige Wunder in sein kleines Geschäftszimmer kommen.

Effi Tabbert blieb neben der Tür des verschlagähnlichen Raumes stehen und wartete, bis ihr Schicksalslenker die Füllfeder hinlegte. Sie wusste nicht, dass er sie im kleinen Spiegel musterte. Effi war knabenhaft schlank und hatte gute Haltung. Ihr rotes Haar schimmerte ein wenig nach Gold hinüber. Ihre Haut war zart und hell, aber sie hatte Sommersprossen. Ihre klugen, dunkelblauen Augen betrachteten lebhaft die unzähligen Werbeschilder, die an den Wänden hingen.

„Sie wollen wohl durchaus nach dem Rhein zurück, Fräulein Tabbert?“

„Herr Wittken hat mir die Rechnungen der Kapselfabrik und der Seifensiederei vom vorletzten Jahr zum Nachrechnen gegeben. Das ist doch bloss, um sich lustig über mich zu machen. Etwa nicht?“ Sie sprach etwas Wiesbadener Mundart. Für ein Berliner Ohr klang das ganz drollig, fast gemütlich. Aber in ihren dunkelblauen Augen wetterleuchtete es trotzig.

„Setzen Sie sich einmal her, Fräulein Tabbert. So. Und nun sagen Sie mir: in welche Abteilung würden Sie Ihrer Meinung nach denn besser passen?“

„Natürlich ins Auslandskontor vom Grossversand; aber da sitzen doch schon seit urewigen Zeiten die beiden Damen für Englisch und Französisch.“

„Vielleicht brauchen wir später mal auch eine Kraft für Spanisch. Wäre ja denkbar. Die jetzige Flaute wird ja nicht ewig anhalten. Aber Spanisch können Sie wieder nicht?“

Effis blasses Gesicht belebte sich sofort. „Das lern’ ich natürlich rasch. In Rüdesheim hatt’ ich schon einmal mit Toussaint-Langenscheidt angefangen. Ich hab’ mich dort an den Winterabenden so schrecklich gelangweilt.“

„Na, wenn Sie auch hier in unserem Spree-Athen Ihre Freizeit nicht besser verwenden können, dann nehmen Sie Ihre spanische Arbeit also wieder auf. Aber es steht noch gar nichts fest, hören Sie.“

„Tut nichts!“ fiel sie ihm ins Wort, sogleich wieder ganz Feuerwerk. „Ich belege heute noch in der Handelsschule einen Platz im Abendunterricht.“ Sie gab ihm forsch und dankbar die Hand.

Als sie draussen war, ärgerte sich Denninger darüber, dass er im Herbst nicht das junge Feuerwerk, sondern das schon recht altbackene Fräulein Fischer ins Schlosshotel am Barlandsee geschickt hatte. Die fixe Rotköpfige hätte vorzüglich zum Direktor Hillmann gepasst. Die Einrichtung des Havelhotels drohte den beiden da draussen doch über den Kopf zu wachsen. Der alte Grovemann hatte das Rokokoschloss mit dem Park und allem Wiesenland bei der Zwangsversteigerung übernommen, um die grossen Hypotheken zu retten, die er darauf seit langen Jahren stehen hatte. Der Ärger, der ihm aus diesem Grundbesitz erwuchs, hatte dann seine grosse Erholungsreise nötig gemacht. Er war mit einem Kopf voller Sorgen an Bord gegangen. Die Riesensteuern! Und die Riesensummen, die der Um- und Ausbau und die Neuanschaffungen verschlangen, weil das alte Schloss doch von Grund aus für seinen neuen Zweck eingerichtet werden musste. Und die Kleinarbeit wuchs jetzt von Tag zu Tag.

„Das wäre ein Pöstchen für die Kleine gewesen!“

Denninger blätterte ihre Zeugnisse und ihre Personalbogen durch, las ihren Lebenslauf. Ihr Vater, Regierungsbaumeister in Wiesbaden, war kurz nach dem Krieg gestorben. Nach dem Tod ihrer Mutter war sie zu ihrer Tante gekommen, Fräulein Jeannette Remus. Der verdankte sie wohl ihre guten Fremdsprachkenntnisse, denn Fräulein Remus genoss den Ruf der gefürchtetsten Schulvorsteherin von Kassel!

*

Effi Tabbert lernte also Spanisch.

An drei Abenden in der Woche besuchte sie den Unterricht in der Kochstrasse. Grammatik und Vokabelheft verliessen sie kaum eine Freistunde. Denn was immer Effi Tabbert angriff, das tat sie gründlich. Zur Träumerei besass sie keine Veranlagung. Bei Tante Jeannette hatte es dafür auch gar keine Zeit gegeben. Und nach dem Tod der Tante, als sie sechzehn Jahre zählte, war das Leben für sie gerade so abscheulich geworden wie für alle Welt in Deutschland. Der verlorene Krieg, der verlorene Frieden, die hilflosen Machthaber, eine rechte Unglückswirtschaft! Die Geldentwertung hatte Tante Jeannettes Nachlass restlos geschluckt. Stadtrat Bückle, der Effis Vormund geworden war, schilderte ihr die Zukunft in düsteren Farben. Nur die Schreibmaschine und die fremdsprachige Kurzschrift konnte sie retten. Und märchenhafter Fleiss, selbstverständlich. Das, was anderen jungen Menschen vielleicht das Leben lebenswert machte, hatte sie auch, als sie jetzt mündig wurde, noch immer nicht erlernt: das Bummeln. Effi fand darum nirgends Anschluss. In Rüdesheim und in Köln nicht. Auch hier in Berlin nicht. Vielleicht hatten ihre Pultgenossinnen recht: sie war zu atemlos in ihrem Arbeitsdrang. Wozu besuchte sie jetzt noch die Handelsschule? Warum ging sie nicht lieber tanzen? Und darüber lachten sie in beiden Kassenzimmern hell auf, dass sie nun gar noch Spanisch trieb. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte noch keinen Freund, mit dem sie ausging? Und sie wollte eine richtige Rheinländerin sein? Ja, wozu lebte man denn überhaupt? Sie müsste sich endlich einmal verlieben, meinte die und meinte jene. Ja, gern. Aber in wen?

Vielleicht war es Herr Krisch, der an dem spanischen Abendunterricht teilnahm.

Alwin Krisch war junger Kaufmann und hatte Aussicht, seine Firma in Coruña zu vertreten. Hübsch war er, gewandt, sah auch in seinem billigen Anzug von der Stange sehr nett aus, weil er die schlanke Figur hatte, auf die das Fertiglager rechnete, und er fiel ihr durch seine kecken, runden, braunen, verliebt blickenden Augen auf. War es Zufall, dass er zweimal in das Wagenabteil geriet, in dem sie heimfuhr? Nein, doch wohl nicht, denn am dritten Abend wartete er auf sie an der U-Bahntreppe, begrüsste sie und verplapperte sich dann gleich: er wohne nicht wie sie in Berlin S, sondern in Berlin W. „Aber da machen Sie ja einen Riesenumweg, Herr Krisch!“

Da nun die Abende schon lange hell blieben und eine erste warme Welle über die Riesenstadt kam, durfte er sie mehrmals in den Park am Kreuzberg begleiten. Da sassen sie auf der Bank an einem der grossen bunten Frühlingsbeete, assen ihre Butterbrote und trieben Spanisch. Natürlich nicht die ganze Zeit. Er konnte sehr drollige Sachen erzählen. Und er schien stark verliebt. Aber die strenge Erziehung von Tante Jeannette wirkte noch immer in ihr nach, sie duldete nur ganz unschuldige Vertraulichkeiten.

Einen Sonntag hätte Effi gern einmal mit Alwin Krisch draussen an der Havel oder an der Spree verlebt. Sie kannte die Berliner Umgebung ja noch gar nicht. Aber Sonntags war Alwin Krisch versagt; da musste er zu seinen Verwandten. Und Ende des Monats erlebte er ein ganz abscheuliches Pech. Er war auf einer Wechselbank bestohlen worden. Aus der Geschäftsmappe heraus, am Schalter, hatte ihm einer den blauen Umschlag herausgefingert ... Um Gottes willen, das durfte sie aber niemand weitersagen ... Er zahlte den Betrag von seinem Monatsgehalt ab, vier Monate würde das dauern, aber solange konnte er nun die Mittel für den spanischen Unterricht nicht aufbringen ...

Effi war ganz unglücklich, dass sie den ersten ritterlichen Freund ihres Grossstadtlebens verlieren sollte. Sie hielt seine Hand fest und sagte ihm, dass sie ja gottlob etwas Geld auf der Sparkasse habe, und wenn er es nicht als Kränkung auffassen wolle, dann könne sie ihm hundert Mark leihen, bis zum Oktober vielleicht, da er dann ja wohl soweit sein werde. Alwin Krisch sträubte sich durchaus nicht, ach nein, er dankte ihr herzlich, und am anderen Mittag, als sie in der Esspause das Geld von ihrem Büchlein abgehoben hatte, gab er ihr eine regelrechte Quittung.

Das war an einem Dienstag. Aber die ganze Woche hindurch bekam sie Alwin Krisch nicht mehr zu sehen. Auch im spanischen Unterricht fehlte er.

Und dann kam die Geschichte im Schlosshotel am Barlandsee.

*

Montag früh wurde Effi von der Personalabteilung angerufen: sie solle sich sofort in der Hauptkasse abmelden und zu Herrn Denninger herüberkommen.

Schickte man sie nach dem Rhein zurück? Oder entliess sie? Was war geschehen? Sie trat hastig in den kleinen Raum ein, in dem der Abteilungsleiter einen Mordskrach mit einem aufgeregten Herrn hatte. Effi sah das Schlimmste kommen.

Doch als der Entlassene die Tür hinter sich zugeschmettert hatte, bemühte sich Herr Denninger um einen freundlicheren Ausdruck.

„Also, Fräulein Tabbert, nun sollen Sie ein gutes Sprungbrett kriegen. Fräulein Fischer ist heute früh um sechs Uhr dreissig ins Krankenhaus gebracht worden. Blinddarm. Ich hatte sie im Herbst ins Schlosshotel zu Direktor Hillmann hinausgeschickt, er war auch zufrieden mit ihr, und es ist dort heillos viel zu tun. Na ja, für Sie ein Riesenglück, Fräulein Tabbert. Grosse Bevorzugung. Sie müssen natürlich draussen wohnen. Zum Parkhaus gehören noch ein paar Wirtschaftsgebäude, dort ist alles mit voller Verpflegung untergebracht. Sie bekommen Zulage, wieviel, das muss ich erst mit Herrn Hillmann feststellen. Ich kann ihn jetzt nicht am Fernsprecher erfassen. Schrecklich. Um zwölf Uhr fährt der nächste Lieferwagen hinaus, den erreichen Sie nicht mehr, denn Sie müssen doch Nachtzeug mitnehmen, Gepäck überhaupt. Also fahren Sie jetzt schleunigst nach Hause, packen, und der Zweiuhrwagen, der die Wäsche hinüberbringt, holt Sie von Ihrer Wohnung ab. Jedenfalls müssen Sie noch heute nachmittag dort am Fernsprecher sitzen.“

„Und was hab’ ich ausser dem Fernsprecher zu tun?“

„Ganze Menge. Briefaufnahme des Direktors. Überhaupt Schriftwechsel. Arbeitslisten, Lohnzettel, Krankenscheine, Bestellungen. Und Mitaufsicht über die Lieferungen fürs Hotel, fürs Café und für die Weinstuben. Der Direktor hat drüben ja Geschäftsführer, Küchenmeister und Wirtschafterin unter sich, aber er braucht ausserdem noch eine Vertrauensperson. Also überall Augen und Ohren auf, Fräulein Tabbert. Mitdenken. Dabei immer nett und liebenswürdig sein, besonders der Kundschaft gegenüber. Und allererste Bedingung: Dame bleiben. Abgemacht, Fräulein Tabbert? Meinen Glückwunsch. Machen Sie bloss keine so erschrockenen Augen!“

Effi überlegte erst, als sie den Untergrundbahnhof verliess, wie sie sich nun mit ihrer Wirtin abfinden sollte. War ihre Versetzung wirklich ein so fabelhafter Aufstieg? Sie kannte die berühmte Havelgegend noch gar nicht. Alwin Krisch hatte ihr vor vierzehn Tagen versprochen, sich Sonntags einmal freizumachen und mit ihr in Potsdam oder in der Mühle von Sanssouci oder im neuen Schlosshotel Kaffee zu trinken ... Ach, das kam nun so überraschend ... Und in der spanischen Abendstunde musste sie sich doch auch noch abmelden! Was nur Alwin Krisch zu alledem sagen würde? Kurz vor ihrer Wohnung trat sie in eine Fernsprechzelle ein und rief in der Handelsschule an. „Ach ja, und dann wollt’ ich nach Herrn Krisch fragen. Jawohl, Alwin Krisch.“

Mit heissem Kopf verliess Effi die Zelle ... Herr Krisch sei von der Schülerliste gestrichen, er habe das Unterrichtsgeld noch immer nicht bezahlt, scheine schon längst arbeitslos, habe auch eine falsche Anschrift angegeben ...

Effi musste sich beeilen: in anderthalb Stunden holte der Wagen sie von ihrer Wohnung ab. Sie begann das Packen mit zitternden Knien. Der Lokomotivführerswitwe, ihrer Wirtin, wich sie auf deren hundert teilnehmende oder neugierige Fragen zerstreut und ängstlich aus.

„Und wenn heute abend der Herr Krisch kommt und mit Ihnen ausgehen will, Fräulein?“

Effi schluckte. „Ach Gott, ich weiss doch gar nicht, wo und wie ich ihn jetzt erreichen kann!“

Um zwei Uhr fuhr der Wagen vor, ein Riesenkasten voller Körbe. Die Lederbank des Führers war so breit, dass Effi darauf dreimal Platz gehabt hätte. Der Führer begrüsste sie eilig und lud ihr Gepäck auf. Aus einem Fenster drei Treppen hoch winkte die Lokomotivführerswitwe ihnen mit dem gelben Staubtuch nach.

Das Lastauto fuhr geschwind und sicher durch die endlosen Vorortstrassen. Als die Häuserreihen aufhörten, ging es durch dichtbelaubte Alleen. Dann kamen kleine Waldstücke. Effi erschrak fast über die unerwarteten Bilder, die sich ihr auf der raschen Fahrt erschlossen. Vor allem überraschten sie die wunderbaren Gärten und Parks längs der Havel. Der Führer wusste von einzelnen grossen Besitzungen hier draussen allerlei zu erzählen. Auch vom Grovemannschen Zwangsankauf, aus dem nun eine Sommerfrische für verwöhnte Leute werden sollte. Der frühere Besitzer hatte vor dem Krieg Schloss und Park ganz hochherrschaftlich gehalten. Nach seinem Tode aber war alles rasch verwahrlost, es hatte langwierige Erbschaftsstreitigkeiten gegeben. Vierzig Zimmer waren im Schloss. Im Erdgeschoss ein prächtiger Saal neben dem anderen. Bei dem überraschend warmen Wetter hatten an den Osterfeiertagen viele Kaffeegäste aus Berlin und Potsdam nachmittags in der Sonne auf der grossen Wiese im Park gesessen, bis zum Seeufer hinunter.

„Sehen Sie, Fräulein, da liegt das Schloss. Ja, das mit dem kupfernen Turmdach. Und viel schöne, ausländische Bäume gibt’s im Park. Ich hab’ bloss noch keine Zeit gehabt, mich richtig umzugucken. Denn es ist höllisch zu tun hier im Geschäft, Fräulein.“

Kellner liefen mit verdeckten Platten, mit Tee- und Kaffeegeschirr an Effi vorbei. Aus der Küche im Keller klang Stimmengewirr und Geschirrklappern herauf. Der Pförtner sprach drüben auf dem Parkplatz mit ein paar Wagenführern. Effis Gepäck war mit zum Wirtschaftshof hinübergefahren. Sie selbst trat ins Schloss ein und fragte den schlanken Jungen in Pagentracht, der gerade seinen Zigaretten-Bauchladen niedersetzte, nach Herrn Direktor Hillmann. „Melden Sie Herrn Hillmann: Ersatz Fräulein Fischer!“

Der Hoteljunge war sogleich im Bilde. „Sehr wohl, meine Dame.“

In der wundervollen alten Diele sah sich Effi voller Spannung um.

*

„Es heisst, Herr Hillmann sei bei den Handwerkern im Gebäude C!“ richtete der flinke Läufer ihr ans, nachdem er mehrmals im Schnellschritt die Diele durchmessen hatte. „Wollen Sie eben mal mitkommen, Fräulein?“ Er hängte sich den Bauchladen um und lief voran. Es ging durch zwei vornehme Speisesäle, über einen sonnigen Steinplatz, auf dem ein paar Dutzend Gäste schwatzend und rauchend beim Kaffee sassen. Ein herrlicher alter Park führte in mehreren breiten Absätzen zum Seeufer hinab. An der Westseite des Grundstücks lagen zwei kleine Kavalierhäuser, bis zum Mansardendach mit Efeu berankt. Weiterhin ein paar Treibhäuser. Eines davon war geöffnet. Ein grosser, junger Mensch arbeitete dort an den Scheiben herum, halblaut vor sich hinsummend. Sie blieb stehen.

„Ich suche Herrn Hillmann!“ rief sie ihm zu.

Er unterbrach das Summen. „Ja, den sucht man hier Tag und Nacht. Und wer ihn findet, verliert ihn sofort wieder.“

„Er soll bei den Handwerkern sein.“ Sie hatte den jungen Mann auf einen Glaser eingeschätzt. Er besass ein kluges, etwas spöttisch überlegenes Gesicht. Seine Haut war von der Frühjahrssonne ganz dunkel gebrannt. Seltsam hob sich davon das hellblonde, etwas strohig und wirr in die Höhe stehende Haar ab. Fast erschrocken gewahrte Effi jetzt seine grossen, grauen, bedeutenden Augen. „Verzeihen Sie.“

„Ich verzeihe gern. Aber ich weiss leider nicht was.“ Nun wies er lächelnd nach links. „Die Herren Handwerker sind im Nachbarhaus, ich bin hier nur als Gartenarbeiter tätig.“

Er war schlank und gross, auffallend gross. Sie musste zu ihm emporsehen. Seine Stirn war hoch, von vielen feinen Querlinien gefurcht, der Kopf hatte etwas von einem jungen Gelehrten. Effi wunderte sich, dass dies kein Akademiker sein sollte. Sein Anzug freilich war denkbar bescheiden, er trug ein kragenloses Hemd, eine alte Hose mit Ledergürtel, und seine nackten Füsse steckten in Sandalen. „Ich bin Ersatz für Fräulein Fischer und soll mich bei Herrn Hillmann melden. Tabbert ist mein Name. Effi Tabbert.“

„Da haben Sie ja einen wichtigen Posten hier, Fräulein Tabbert. Ich heisse Bossdorf. Warten Sie, wahrscheinlich ist Herr Hillmann dem Zigarettenjungen schon wieder nach einem anderen Schauplatz entwischt.“

„Oh, mein Gott, was sind das für herrliche Rosen da drinnen!“ rief Effi überrascht. „Was für eine mächtige Maréchal Niel! Die hatten wir in Wiesbaden auch, aber hier klettert sie ja durch das halbe Gewächshaus.“

Er sah sie lachend an, während sie mit ihm an der Glaswand entlangschritt. Seine tadellosen Zähne leuchteten hell aus dem braunen Gesicht. Sehr jung wirkte er jetzt. „Die hat eine aufregende Lebensgeschichte, Fräulein Tabbert. Beinah’ wär’ sie im Januar erfroren. Aber da macht’ ich rundum eine kleine Bettelsammlung um Holz und Kohlen. Ein bisschen gestohlen wurde dabei leider auch, hört’ ich nachher ... Hallo, da drüben ist Herr Hillmann ... Herr Hillmann! Augenblick mal!“

Der auffallend sorgfältig gekleidete Herr mit dem flotten kleinen Schnurrbärtchen, der soeben hastig das Nebenhaus verliess, wandte sich um. „Ja, Professor, was gibt’s?“

„Ersatz Fräulein Fischer ist hier, Herr Direktor! Fräulein Tabbert sucht Sie schon überall. — Bitte.“

Hillmann war zierlich, fast klein gegen den „Professor“. Lebhaft, doch etwas gönnerhaft, streckte er ihr die Hand hin. „Ausgezeichnet. Also da drüben im Haus B bekommen Sie das Zimmer von Fräulein Fischer. Die Wirtschafterin, Fräulein Liers, wird Ihnen alles zeigen. Hernach. Bloss die nächsten paar Stunden brauch’ ich Sie im Geschäftszimmer. Es sind drei Dutzend Gäste da, und zum Abend müssen wir bei dem warmen Wetter noch mit zehn, zwölf Wagen rechnen. Das ganze erste Stockwerk ist besetzt, vierzehn Zimmer. Wir brauchen allerlei Aushilfe. Denninger knausert mit Kellnern und Stubenmädchen. Unverzeihlich. Nun hören Sie bloss, wie es an meinem Schreibtisch Alarm läutet, und keiner rührt sich.“

Effi war schon rasch dem Anruf nachgegangen und hob den Hörer auf. „Hier Schlosshotel. — Ja, bitte?“ Ein Berliner Generaldirektor bestellte einen runden Tisch für zehn Personen im Galeriezimmer, acht Uhr. Effi wiederholte und schrieb den Namen auf dem Block auf. Da dicht daneben die Abendkarte lag, fragte sie, ob die Speisenfolge gleich zusammengestellt werden sollte, und las ab: „Prima Malossol-Kaviar, im Eisblock angerichtet, frische Helgoländer Hummer mit Trüffelbutter —“

Auch Hillmann war inzwischen zum Schreibtisch gelangt, öffnete die Eingänge, die hier lagen, hörte mit halbem Ohre zu, schob ihr einen Bestellzettel für den Oberkellner hin und liess sie niederschreiben.

„Jawohl, Herr Generaldirektor, wird alles bestens besorgt. Bereits vorgemerkt. Sehr wohl.“

Effi legte Hut, Handschuhe und Jacke ab und setzte sich an die Schmalseite des Schreibtisches. Das ging nun so stundenlang: Abhören, schreiben, anrufen, mit dem Küchenmeister, mit dem Geschäftsführer verbinden, Bestellungen ausrichten. Sie fand sich überraschend schnell in das fremde Gebiet ... Und es war neun Uhr abends, als ihr einfiel, dass sie seit dem ersten Frühstück noch nichts gegessen hatte.

„Gehen Sie hinüber nach Gebäude B, Fräulein Tabbert. Ihr Gepäck ist schon drüben. Fräulein Liers wird eines der Lehrfräulein aus der Küche bestimmen, das Ihnen Tee und Brötchen bringt. Heute ist Ausnahmezustand. Morgen machen wir richtige Tagesordnung. Können Sie in zwanzig Minuten wieder hier sein? In den Weinstuben sitzt Generaldirektor Rössler, den muss ich begrüssen. Hallo, wieder die ewige Quasselstrippe. Nein, nein, gehen Sie jetzt schon, Fräulein Tabbert, sonst machen Sie mir gleich am ersten Tage schlapp.“

Effi kam von der Diele aus durch das Galeriezimmer. Hier wurde geschwatzt, gelacht, mit Tellern und Besteck geklappert, man hörte das Rauschen im Eiskühler gedrehter Wein- und Sektflaschen. Die Luft war sommerlich warm. Nur draussen auf dem Steinplatz am Schloss hatten einige Damen und Herren die Mäntel umgehängt. Ganz vorn an der Treppe, unter einem grossen Schirm, der ein warmes Orangelicht verbreitete, sass ein Liebespaar dicht beisammen. Die Dame hatte einen Flügel ihres Maulwurfpelzes um den Nacken des Herrn geschlungen. Beide hielten ihr Weinglas in der Hand und stiessen damit an. Sie schienen im Begriff, das Liebesmahl zu beenden und aufzubrechen.

In dem Augenblick, als Effi zur Treppe gelangte, die in den Park führte, gab es ein schreckhaftes Zusammentreffen: Effi sah die runden, braunen, kecken, verliebten Augen von Alwin Krisch, die sie nun nicht eben geistreich anstarrten. Unwillkürlich war sie stehengeblieben. Krisch schien leicht bezecht. Er wollte so tun, als kenne er sie nicht. „Was — wünschen Sie von mir?“ fragte er brüsk, aber doch etwas stotternd.

Effi mass ihn kalt und geringschätzig vom Scheitel bis zur Sohle. Und musterte dann mit einem hoheitsvollen Blick seine Begleiterin. Es war eine Frau, an die zehn Jahre älter als Krisch, etwas üppig, geschminkt, herausgeputzt.

Bei Alwin Krisch verwandelte sich der erste Schreck in Gereiztheit, ja Zorn. „Ich verbitte mir —“ Er gab seiner Begleiterin hastig und ungeschickt den Pelz um. „Liebling, nur einen Augenblick — nur einen Augenblick —“

In sehr stolzer Haltung war Effi die paar Stufen hinabgeschritten und hielt auf das Bogenlicht im Parke zu. Dort stand das Gebäude B. Sie glaubte es wenigstens. Hinter sich hörte sie hastige Schritte. Alwin Krisch kam ihr nach, ein bisschen stolpernd. Er sprach halblaut hinter ihr drein, etwas näselnd.

Sie blieb stehen und wandte sich um. Es war am Rand der Wiese, die im vollen Bogenlicht lag.

Alwin Krisch machte einen jämmerlichen Eindruck auf sie. Die braunen Augen wirkten dumm, das Gesicht gewöhnlich, er wusste wohl selbst nicht, wie er sich jetzt benehmen sollte. „Also bitte, Fräulein Tabbert, ich wollte Ihnen bloss sagen, dass ich morgen — ja, bestimmt morgen abend ...“ Sein Ausdruck nahm plötzlich wieder etwas Herausforderndes an. „Überhaupt, wie kommen Sie hierher?“

Noch zwei, drei Sekunden behielt Effi ihre starre und stumme Ablehnung bei. Dann fuhr ihre rechte Hand blitzschnell empor. Und — klatsch — hatte Alwin Krisch eine weithin schallende Ohrfeige. Sofort wandte sich Effi wieder um und setzte ihren Weg fort, jetzt ins Dunkel des Parks hinein.

Vom Steinplattengang aus blickte man verwundert aufhorchend über die Wiese hin. Man sah da die junge Frau im Maulwurfspelz, die ihrem Tischgenossen gefolgt war, und hörte eine aufgeregte Männerstimme.

Alwin Krisch wollte die Züchtigung nicht ungestraft auf sich sitzen lassen. An der Ecke des Gewächshauses stellte er Effi, packte sie an beiden Ellbogen und schüttelte sie. „Was fällt Ihnen denn ein?“

Effi suchte sich loszureissen. „Lasten Sie mich! Ich will nichts mehr mit Ihnen zu tun haben!“

Inzwischen war die junge Frau herzugekommen. „Alwin, du lässt dich von dieser Person schlagen? Was hast du mit ihr?“

„Gar nichts hab’ ich mit ihr. Frech ist sie.“

„Warte, die Ohrfeige kriegt sie zurück, auf der Stelle!“ Mit erhobenem Schirm drang die Fremde auf Effi ein.

Aber ein Mann, der sie alle um zwei Köpfe überragte, war plötzlich aus dem Dunkel aufgetaucht und befreite die Bedrohte mit einem einzigen Griff aus der Umklammerung des Paares. „Zwei gegen eins, das gibt es nicht. Loslassen, Herrschaften. Sofort.“

Alwins Begleiterin wollte sich nun gegen den Fremden wenden, aber sie wich erschrocken zurück, als sie die unheimlich warnenden grossen Augen aus dem dunkeln Gesicht aufblitzen sah. „Komm, Liebling, komm“, sagte sie, „was soll man sich hier mit Werweisswem einlassen —!“

Effi hatte Schutz hinter dem Grossen gesucht, in dem sie den „Professor“ erkannte.

„Räumen Sie das Feld!“ sagte der befehlend zu Alwin Krisch, und wies drohend in die Richtung des Parkausgangs.

„Bagage!“ liess sich die Dame im Pelz vernehmen. Unsanft riss sie ihren Freund mit sich fort.

Vom Schlosse her kamen im Eilschritt ein paar Gestalten über die hellerleuchtete Wiese auf den „Professor“ zu. Auch der Oberkellner befand sich darunter, man erkannte ihn an dem hellen Frackausschnitt.

„Drücken Sie sich, Fräuleinchen!“ murmelte der Grosse. „Haus B ist da drüben, wo das Licht brennt! Hurtig!“

Effi war bereits hinter der Tannengruppe entschwunden, als der Oberkellner den Rand der Wiese erreichte. Aber im Schatten der Hausecke blieb sie stehen, um zu hören, was über den Vorgang berichtet wurde. Natürlich war es jetzt um ihre Stellung hier im Schloss-hotel geschehen. Sie hatte einen Gast geohrfeigt, viele hatten es gesehen und gehört, und man würde ihr natürlich vorhalten, dass sie einer eifersüchtigen Anwandlung nachgegeben habe.

Wie der „Professor“ den Neugierigen den Vorfall schilderte, das blieb für sie unverständlich. Sie vernahm nur leises Lachen.

Effi sah jetzt das Paar, das rasch den Ausgang erreicht hatte, in eine der Droschken einsteigen. Nun fiel der Wagenschlag zu, und das Gefährt rollte durch das breite Parktor auf die Landstrasse hinaus.

Lohnte es, dass Effi sich heute abend noch von der Wirtschafterin in die Hausordnung einführen liess? „Nett und liebenswürdig sein der Kundschaft gegenüber — und allererste Bedingung: Dame bleiben!“ Gegen dieses Grundgesetz aller Hotelangestellten hatte sie beim ersten Schritt gefehlt. In ein paar Minuten trug der Oberkellner den Tatbericht ins Haus, und wenn sie ins Geschäftszimmer zurückkehrte, wusste Herr Hillmann längst Bescheid.

Doch Fräulein Liers wusste noch nicht Bescheid. Die nette, lebhafte, sehr in die Breite gegangene Wirtschafterin befand sich mit ihrer Gehilfin bereits im Gebäude B. Das Zimmer von Fräulein Fischer war für die Nacht zurechtgemacht, ein Tischchen war gedeckt, Tee und belegte Brötchen waren bereitgestellt. „Na, Fräulein Tabbert, Ihnen wird nicht schlecht hungern! Nein, nun essen Sie bloss und trinken Sie einen Schluck, Sie sehen ja ganz käseweiss aus um die Nase ...“

Effi trank Tee und ass. Sprechen konnte sie nicht. Die Angst griff ihr sonst gleich wieder in die Kehle, und sie hätte weinen müssen. Lieber zwang sie sich zu lachen, indem sie dem dicken Fräulein zunickte. Dass sie irgend etwas erwiderte, schien die Wirtschafterin gar nicht zu erwarten; sie sprach selbst in einem fort, noch in der Tür, als sie sich mit einem Gutenachtgruss entfernte.

„Jetzt erfährt sie draussen die ganze Geschichte!“ sagte sich Effi.

Zwanzig Minuten später langte sie wieder im Geschäftszimmer an. Herr Hillmann sass am Schreibtisch und hörte lächelnd dem Oberkellner zu ... „Das Paar vom Tisch siebzehn war’s. Junger Mensch ohne Paletot und jüngere Frau im Maulwurfspelz. Rechnung bezahlt hat sie. Wie sie in Streit geraten sind, das hat niemand gesehen. Plötzlich waren sie beide unten auf der Wiese. Und wo ich aus dem blauen Saal herauskomme, da hör’ ich: sie haut ihm eine Ohrfeige herunter, aber, Herr Direktor, eine Ohrfeige, die über die ganze Wiese hin klatschte. An den Tischen draussen hebt alles die Nase. Ich also in den Park. Da steht der Professor bei den beiden, na, der hat ihnen wohl mächtig zugeredet, das kann er ja ... Und sie machen sich rasch davon, wieder versöhnt Arm in Arm. Zum Glück erwischten sie gleich am Tor eine Droschke und sind verduftet.“

Effi hatte Farbe bekommen wie sonst nie. War es Wirklichkeit: der „Professor“ hatte ihre Beteiligung an dem Auftritt völlig verschwiegen? Um sie zu schonen? Um sie zu retten?

„Gut, dass Sie wieder da sind, Fräulein Tabbert ... Ich muss jetzt drüben nach dem Rechten sehen. Um dreiundzwanzig Uhr meldet sich der Nachtdienst für Pförtnerkammer und Fernsprecher, dann können wir die Bude schliessen.“

Noch immer misstraute Effi ihrem Glück. Sie war einer abscheulichen Blossstellung entgangen, die sie um ihre ganze Stellung hier gebracht hätte, und sie verdankte das einzig und allein dem „Professor“. Der seltsame Mann bedeutete ein Stück Schicksal für sie. Wer war er nur, woher stammte er? Und warum nannte man ihn hier den „Professor“? Er war doch Gartenarbeiter, sagte er.

Als sie später den Schreibtisch aufräumte, fiel ihr der Heftumschlag mit den Lohnlisten in die Hand. Dabei lag auch Bossdorfs Lohnkarte. Sie las nach. Am 2. März war er als Gartenarbeiter bei der Firma Grovemann eingetreten. Geboren 1906 in Leehad, Queensland, Australien. Man schrieb jetzt 1931. Sie hätte ihn für älter als fünfundzwanzig Jahre eingeschätzt. Wie kam er aus der fremden, weiten Welt hierher? In eine so untergeordnete Stellung?

Hastig faltete sie die Papiere zusammen, denn sie hörte Hillmann eintreten.

„Jetzt wird Schluss gemacht, Fräulein Tabbert. Wenn Sie morgen um elf herüberkommen, so genügt das. Schlafen Sie sich aus. Haus B ist das stillste. Bloss in der Frühe immer das Gezwitscher im Park: dreihundert bis dreitausend Singvögel gibt es hier, nicht übertrieben. Gute Nacht, Fräulein Tabbert. Es wird mit Ihnen schon werden, hab’ ich nach Berlin berichtet. Denninger hat natürlich gleich angerufen.“

Erst um Mitternacht kam Effi ins Bett. Das Anwesen lag jetzt totenstill da. Aus einem Nachbarzimmer klang gleichmässiges Atmen. Vom Parkweg her hörte Effi später den schlürfenden Schritt eines Wächters, der ein Schlüsselbund trug. Sie konnte lange nicht einschlafen, so müde sie war. Immer wieder begann ihr das Herz zu klopfen, wenn sie an die Ohrfeige dachte, die sie Alwin Krisch versetzt hatte ... Und dass dieser rätselhafte „Professor“ sie so rasch und so gewandt vor den Folgen dieser Begegnung geschützt hatte ...

Plötzlich zerflatterten ihr alle Bilder, alle Geräusche, alle Sorgen. Sie schlief erschöpft ein und lag traumlos bis sieben Uhr. Als sie das Fenster öffnete, drang aus dem Park das vielhundertstimmige Vogelkonzert herein.

Tief atmete sie die frische Morgenluft. Sie war nun wieder voller Lebensmut und Tatendrang.

*

Hillmann liess ihr durch die Wirtschafterin sagen, er könne erst gegen Abend aus Berlin zurück sein, er habe Verhandlungen im Hauptgeschäft. Fräulein Liers blinzelte ihr zu. „Er meint also, Sie schaffen’s heute schon alleine. Jetzt hätte ich eben eine halbe Stunde Zeit, Fräuleinchen, da könnte ich Sie herumführen. — Zum See gehen wir aber nicht hinunter. Jetzt ist da kein Betrieb. Päschke hat an der Bootsstelle die Aufsicht. Das ist ein alter Potsdamer Schiffer, der Schwager von Wollangke, dem Besitzer vom Alten Krug, der schon zum Jungfernsee gehört. — Ach nein, Sie waren noch nie in Potsdam, Fräuleinchen? — Ja, wissen Sie, wenn die Frauen von unseren Angestellten mal über Wochenend aus Berlin herüberkommen, dann wohnen sie drüben bei Wollangke.“

Es ging zuerst durch alle Koch- und Wirtschafts- und Aufwaschkeller. Fräulein Liers machte den Ankömmling überall mit den Angestellten bekannt. Für den Schluss der Führung hatte sie sich die für den Hotelbetrieb ausgebauten oberen Stockwerke des Herrschaftshauses aufgespart. Einige Schlafzimmer wurden gerade aufgeräumt, also konnte man eintreten und durch die Fenster die schöne Aussicht bewundern: über altes Parkgelände mit mächtigen Laubbäumen zu den Türmen von Potsdam und seinen malerischen Hügeln. Fräulein Liers wehrte Effis Begeisterung bescheiden, aber doch geschmeichelt ab: sie wusste ja, dass Fräulein Tabbert vom Rhein stammte. „Aber wie das im vorigen Herbst hier aussah, Fräuleinchen, davon machen Sie sich keine Vorstellung. Jahrelang alles unbewohnt. Es gab noch keine Sammelheizung, kein fliessendes Warmwasser. Ich sage Ihnen, das war ein böser Winter. Und der Garten! Die frühere Verwaltung hat doch die letzten beiden Jahre gar keinen Gärtner hier gehalten. Es wäre bei Gott alles verkommen, auch die alten Treibhäuser, wenn da nicht der Professor sitzen geblieben wäre ...“

„Der Professor!“ Endlich sah Effi die Möglichkeit, Näheres über ihn zu erfahren.

Fräulein Liers lachte gutmütig. „Wir nennen ihn nur so zum Spass. Auch beim letzten Verwalter war er bloss so im Garten mit tätig. Er hat wohl nie eine rechte Schule durchgemacht. Aber wenn der erzählen wollte! Er ist der Sohn von einem Weltreisenden. Im Krieg war er, als Junge, mit seinen Eltern in Australien. Da kamen sie ins Zivilgefangenenlager. Und sein Vater wurde eines Tages vermisst. Umgekommen, abgemurkst. Aber kein Totenschein zu kriegen. Und im Armenrecht hat die Frau noch bis zu ihrem Tod um das Erbe ihres Mannes bei Gericht geklagt. In Bornim, hier nahebei, da ist sie gestorben, bettelarm. Und der Junge bekam den Lehrer Kunsch zum Vormund. Na, der merkte bald, wie klug der Bengel war, und wies den Pfarrer Jennerich auf ihn hin. Der Obergärtner Delbrück nahm ihn dann in die Lehre. Da kam er zur Ausbildung auch nach Potsdam. Und später war er hier, erst beim alten Konsul, dann bei Senger, dem Pächter. Geschickt und klug ist er. Aber ein Dickschädel. Denken Sie, er hätte die beiden alten Treibhäuser verlassen, wo alles hier vor die Hunde ging? Senger starb, der elend lange Grundschuldprozess kam, das ganze Anwesen stand leer, nur ein Dutzend arme Leute wohnte in den leeren Wirtschaftsgebäuden. Heizung gab es nicht. Aber der Professor, der hungerte ja lieber, als dass er seine ausländischen Pflanzen erfrieren liess. Was er da und dort verdient hat, das steckte er alles wieder in den Ofen. Sein Treibhaus war dann Wärmehalle. Da gab’s noch altes Hofgesinde, das nicht leben und nicht sterben konnte. Keiner hatte Geld. Arbeit auch nicht. Bloss der Professor schuftete. Ein grossartiger Kopf. Aber er muss schon Tolles durchgemacht haben ... Herrje, da klingelt es doch wie nicht gescheit auf Nummer 37 ... Paula, Paula! ... Nummer 37 hat nämlich ein sehr anspruchsvoller Herr, dem kann man nichts recht machen!“

Das Stubenmädchen Paula kam bereits die Treppe heraufgeflattert und zog mit schwenkendem Röckchen lächelnd zur Tür von Nummer 37. Der Wirtschafterin deutete sie durch eine flüchtige Handbewegung nach der Stirn an, dass dieser ungeduldige Hotelgast sich wieder einmal in nervösen Übertreibungen gefalle.

„Na ja, man weiss schon!“ sagte Fräulein Liers nachsichtig.

„Inzwischen ist es schon spät geworden, gleich elf Uhr, ich muss schleunigst ins Geschäft hinunter“, sagte Effi. Sie bedankte sich für die Führung und die erschöpfenden Auskünfte und begab sich flugs an ihre Arbeit. Die wichtigste Persönlichkeit vom ganzen Schlosshotel war für sie jetzt natürlich der Professor. Sie war voller Spannung, dem grossen, jungen Menschen wieder zu begegnen. Irgendwie wollte sie ihm doch auch für sein Eingreifen danken.

Aber der Professor gab ihr dazu sobald keine Gelegenheit.

Als sie ihre Mittagspause hatte, machte sie einen Spaziergang zum Seeufer hinunter und richtete den Rückweg so ein, dass sie an den beiden Treibhäusern entlang kam. Der Professor war in der Nähe der offenen Tür mit Eintopfen beschäftigt. Er summte vor sich hin, aus einer Schubert-Sinfonie, die Effi zufällig kannte. Unbedingt sah er sie. Doch er schien sich in seiner Arbeit nicht stören lassen zu wollen.

*

Die ersten beiden Wochen vergingen Effi wie im Flug. Hier konnte sie sich nun wirklich nicht darüber beklagen, dass man ihre Fähigkeiten nicht ausnutzte. Hillmann zog sie als richtige Stellvertreterin heran. Aber Effi war klug genug, Fräulein Liers gegenüber die Macht, die damit verbunden war, nicht nach aussen hin auszuspielen. Sie hatte einen netten, liebenswürdigen Ton gefunden, in dem sie der Wirtschafterin die notwendigen Weisungen erteilte, und zeigte ihr immer ein freundliches Gesicht, hörte auch dem Geplätscher ihrer Redekunst mit kaum erlahmender Teilnahme zu. Auch zu ihren Nachbarinnen im Hause B fand sie die richtige Stellung. Die Kochlehrlinge waren Schwestern, Töchter eines Potsdamer Gastwirts. Auch die beiden Stubenmädchen, zu denen sich bald ein drittes gesellte, hatten gute Umgangsformen. Effi fand rasch heraus, dass sie ihnen besser gefiel als Fräulein Fischer.

„Fräulein Tabbert! Fräulein Tabbert!“ Man rief es schon wie erleichtert, sobald sie sich beim Postempfang, bei der Ankunft der Lieferungen für Küche und Weinkeller, bei der Wäscheverteilung, bei der Listenvergleichung einstellte. Sie schien beim Zählen unfehlbar, sie hatte eine unvergleichliche Rechengabe, sie war immer fix, immer guter Laune, fand fast stets den Fehler heraus, der die Kopfschmerzen verursachte, und wenn sie andere verbessern musste, so geschah es nicht in dem lehrhaften Ton, den sich Fräulein Fischer angewöhnt hatte. Mit Herrn Hillmann verband sie ja die sachliche Freude am glatten Geschäftsgang. Sie war ihm mit ihrer Klugheit und Gewissenhaftigkeit, ihrem vorzüglichen Gedächtnis und ihrer Unermüdlichkeit eine unentbehrliche Stütze.

„Alles schwärmt für Sie, Fräuleinchen!“ sagte Fräulein Liers einmal, so ganz ohne Veranlassung, bloss weil sie dem rotgoldenen Haarschopf im Sonnenschein auf dem Wirtschaftshof begegnete.

Auch der Bericht, den Hillmann nach Berlin über sie erstattete, schien glänzend zu sein. Vom 1. Mai ab bezog Effi einen erfreulichen Zuschuss zu ihrem bisherigen Gehalt. Und dabei hatte sie hier doch Wohnung, Wäsche, Licht und Verpflegung frei.

Aber schwierig, ja unmöglich schien es Effi, auch nur für einen halben Tag einmal ihren aufreibenden Posten zu verlassen. Dass sie nach Berlin fuhr, um sich in einem Putz- und Modegeschäft fürs Frühjahr auszurüsten, war mit den grössten Umständen verknüpft. Um die Zeit ihrer Abwesenheit abzukürzen, opferte Hillmann sogar einen der zum Hotel gehörenden Kraftwagen. Sie fühlte sich auf dieser Fahrt wie eine Prinzessin. Aber die Erziehung von Tante Jeannette steckte ihr doch noch zu tief im innersten Gemüt, als dass sie sich von den traumhaft schönen Frühlingsoffenbarungen der Berliner Läden hätte betören lassen. Hüte brauchte sie hier voraussichtlich überhaupt nicht. Auch kein Jackenkleid. Sie wollte nur im Geschäftszimmer und auf ihren Dienstwegen im Schloss und im Park nett und dabei praktisch angezogen sein. Den vornehmen Tee- und Abendgästen aus Berlin gegenüber sollte gerade ihre Schlichtheit sie auszeichnen. Schmuck trug sie nie; sie besass ja auch keinen. Einen hübschen Schwimmanzug brachte sie aber von ihrer Einkaufsfahrt mit; sie freute sich schon sehr auf den See. Nachmittags klang vom Strand das Lachen und Rufen fröhlicher Badegäste durch die offenen Fenster zu ihr herauf. Irgendwann einmal würde es sich doch ermöglichen lassen, dass sie wieder mit dem Wassersport anfing. Sie hatte in der Kasseler Schwimmanstalt alle Prüfungen abgelegt, die man damals den technischen Lehrerinnen abnahm. Aber während der langen Spanne heissen Wetters, in der es nur ab und zu ein abendliches Gewitter gab, fand sie in den sonnigen Tagesstunden niemals Zeit, zum Strand hinunterzugehen. Hillmann hatte oft in Berlin zu tun, und wenn er abwesend war, durfte Effi das Geschäftszimmer nicht verlassen. Es gab da fortwährend Überraschungen am Fernsprecher. Einer der Jungen konnte sie nicht ersetzen, denn da hiess es am meisten mitdenken, mitraten, mittaten.