Das kleine Hotel an der Küste - Carla Laureano - E-Book

Das kleine Hotel an der Küste E-Book

Carla Laureano

4,6

Beschreibung

Andrea Sullivan identifiziert sich mit ihrem Job als Unternehmensberaterin so sehr, dass ihr Privatleben auf der Strecke bleibt. Als sie nach Schottland reisen muss, um die Besitzer eines kleinen Hotels zu beraten, lernt sie den attraktiven James MacDonald kennen, einen bekannten Fernsehkoch. Er hat ein altes Haus geerbt und möchte es mit ihrer Hilfe zu einem charmanten Hotel umbauen. Schon bald fühlen sich Andrea und James zueinander hingezogen. Doch durch die erlebten Verletzungen der Vergangenheit fällt es ihnen schwer, sich aufeinander einzulassen. Trotzdem lässt sich Andrea überreden, privat noch einige Tage mit James zu verbringen ... Ein Roman, der auf die malerische Insel Skye entführt und sich neben Romantik auch um die Frage nach dem wirklich Wichtigen im Leben dreht. Dieses Buch wurde mit dem RITA Award for Romantic Novels ausgezeichnet.

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Beliebtheit




Über die Autorin

Carla Laureano hat viele Jahre im Vertrieb und Marketing gearbeitet, bis sie sich dazu entschlossen hat, ihren Job an den Nagel zu hängen und nur noch zu schreiben. Ihre Romane sind in Amerika bereits ausgezeichnet worden und erfreuen sich großer Beliebtheit. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in der Nähe von Denver in den USA.

Für Rey, meinen Helden und besten Freund. Keine ausgedachte Geschichte ist vergleichbar mit unserer „Real-Life-Liebesgeschichte“.

1

Wenigstens konnten sie sie nicht feuern.

Andrea stützte sich mit den Ellbogen auf den Bartresen und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Wie hatte nur so schnell so vieles schieflaufen können? Da hatte sie noch in dem einen Moment kurz vor dem Abschluss eines Deals in der Höhe von einer halben Million Dollar gestanden und schon im nächsten hatte sie sich beinahe die Hand am Kinn eines Klienten gebrochen, der offenbar geglaubt hatte, das Angebot ihrer Firma umfasse auch persönliche Gefälligkeiten ihrerseits. Drei Jahre für die Katz, in denen sie unermüdlich geschuftet hatte, um sich zur Position des Vice President of Sales hochzuarbeiten, nur weil ein Mann seine Finger nicht bei sich behalten konnte.

Ihre Firma würde ganz sicher keinen unschönen öffentlichen Rechtsstreit riskieren, aber das musste sie auch gar nicht. Andreas Chef hatte andere, subtilere Methoden, sein Missfallen auszudrücken.

Was Strafen anging, da gehörte ein Auftrag in Schottland schon mit zu den Schlimmeren.

„Was ist denn an Schottland so schlimm?“

Mit einem Ruck blickte Andrea auf und traf auf den Blick des Barkeepers. Hatte sie etwa gerade laut ihre Gedanken ausgesprochen?

In den Augenwinkeln des Mannes bildeten sich Fältchen, als er jetzt – offenbar ziemlich erheitert über ihr kleines Versehen – mit einem Tuch auf der polierten Mahagonifläche der Bar entlangwischte. Mit seinem runden Gesicht und dem bereits schütter werdenden aschblonden Haar sah er genauso typisch englisch aus wie der Pub, in dem er arbeitete.

Mit hängenden Schultern seufzte sie einmal tief auf und antwortete: „Schottland ist kalt, es ist trübselig und das Essen ist grauenhaft.“

„Ach, so schlimm ist es da gar nicht.“ Seine Miene wechselte von erheitert zu mitfühlend. „Genießen Sie einfach die schöne Landschaft, besichtigen Sie die eine oder andere Burg oder gehen Sie in den Hauptgeschäftsstraßen shoppen …“

„Ich bin auf Geschäftsreise. Zu meinem Traumurlaub gehören Sonne, Strand und Schirmchencocktails und nicht Regen und Nebel in irgendeinem Kaff am Ende der Welt, das können Sie mir glauben.“

Hätte sie doch bloß in ihrer Wut die Beherrschung behalten, dann hätte sie die nächsten Wochen in den Tropen verbracht und zwar mit der Aussicht auf eine fette Provision und eine garantierte Beförderung, statt in Schottland ihre Zeit mit dem Babysitten eines Promikunden abzusitzen, der offenbar urplötzlich den Wunsch verspürte, sich als Hotelier zu versuchen.

James MacDonald.

Sie hatte noch nie von dem Mann gehört, aber sie hatte ja auch keinen Fernseher, denn sie war in ihrem Job so viel unterwegs, dass sie sich nicht immer sicher war, ob sie überhaupt eine eigene Wohnung besaß. Trotzdem schien sie die einzige Person auf dem gesamten Planeten zu sein, die noch nie von diesem schottischen Starkoch gehört hatte. Er besaß ein halbes Dutzend Restaurants, hatte vier Kochbücher geschrieben und sogar eine eigene Fernsehshow. Selbst der Taxifahrer hatte aus dem Stand die Namen von MacDonalds drei Restaurants in London nennen können.

Andrea spielte mit ihrem halb vollen Weinglas und schaute zu, wie die goldene Flüssigkeit darin hin und her schwappte. „Ich könnte jetzt auf dem Weg nach Tahiti sein, statt in einem Pub zu sitzen und ein Glas mittelmäßigen Weins zu trinken.“

„Um Wein zu trinken, fährt man ja auch nach Paris“, sagte da eine tiefe Stimme über ihre Schulter hinweg. „Nach London kommt man, um Ale zu trinken.“

Andrea richtete sich auf, als sich ein Mann neben ihr an die Bar lehnte. Er war groß, mit breiten Schultern und trug eine dunkle Hose sowie ein Businesshemd, dessen oberer Knopf nicht geschlossen war. Die Ärmel hatte er hochgekrempelt, sodass man seine muskulösen Unterarme sah. Sein dunkles Haar war etwas zu lang und er hatte ein hübsches Gesicht mit strahlend blauen Augen. Er sah so gut aus, dass sie einen zweiten Blick riskierte, aber sie wünschte sich sofort, sie hätte es nicht so offensichtlich getan. Sein Lächeln bewirkte, dass ihr Herz kurz aus dem Takt geriet, und sie konnte nichts dagegen tun, dass sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen, als sie antwortete: „Was Sie nicht sagen.“

Er schaute zum Barkeeper und gab seine Bestellung auf: „Mach mir ein 90 Shilling und für die Dame das Leichtbier vom Fass.“ Dann sah er sie wieder an. „Wir können doch nicht zulassen, dass Sie London mit der Überzeugung wieder verlassen, dass ein erbärmlicher Chardonnay das Beste ist, was wir hier zu bieten haben.“

„Das ist wirklich sehr aufmerksam“, entgegnete sie und gab ihm die Hand. „Ich bin Andrea.“

„Mac.“ Er hielt ihre Hand ein ganz klein wenig zu lange fest und sah ihr dabei ins Gesicht. Ihr Magen machte einen seltsamen kleinen Hüpfer, den sie aber gnadenlos unterdrückte. Sie entzog ihm ihre Hand wieder, während er sich auf den Barhocker neben ihrem setzte.

„Und jetzt erzählen Sie doch mal, wieso Sie hier sitzen, statt einen – so wie es sich anhört – herrlichen Urlaub im Südpazifik zu genießen.“

Weil meine Wut mir einen solchen Ärger eingebracht hat, dass ich mich nicht mehr herausreden konnte. Laut sagte sie allerdings: „Ich informiere mich über den Eigentümer dieses Pubs.“

„Ach, über den gefeierten Mr MacDonald. Ein brillanter Koch zwar, aber soweit ich gehört habe, nicht die hellste Kerze auf der Torte.“ Wieder blitzten diese umwerfend blauen Augen sie an, und sie hatte das Gefühl, gerade einen Insiderwitz nicht richtig zu kapieren.

Diese Gelegenheit, ein bisschen Klatsch und Tratsch zu erfahren, konnte sich Andrea nicht entgehen lassen. Also ging sie in die Offensive.

„Ach, Sie kennen ihn?“

„Das hängt davon ab, weshalb Sie etwas über ihn wissen wollen. Geht es um etwas Geschäftliches oder ist es etwas Privates?“

„Es ist rein geschäftlich. Ich treffe mich morgen in Inverness mit ihm und könnte daher gut ein paar Hintergrundinformationen über ihn gebrauchen.“

„Gehen Sie immer so unvorbereitet in Meetings rein?“

Andrea explodierte innerlich, als sie die Frage hörte, sagte aber äußerlich ganz ruhig: „Natürlich nicht. Ich habe erst vor ein paar Stunden von meinem Büro den Auftrag bekommen und stärke mich nur noch etwas für eine lange Recherchenacht im Hotel.“

„Verstehe. Also, ich würde sagen, dieser Pub spiegelt ihn ganz gut wider. Gemütlich, aber auch gehobene Gastronomie. Die beste Auswahl einheimischer englischer Biere und wirklich geniales Essen.“

Andrea schaute sich jetzt etwas genauer um. Die typische Ausstattung mit viel Holz und Messing, dämmrige Beleuchtung, Buntglas und Lederakzente. Gehoben, aber nicht übertrieben. Gemütlich, aber nicht schmuddelig.

„Mittelmaß“, murmelte sie. „Aber das sagt noch nicht viel über den Mann aus.“

„Und wieso müssen Sie so viel über ihn wissen?“

Der Barkeeper kam mit Andreas Ale, goss Mac sein Bier aus einer Flasche ein, und schaute ihnen beiden zu, als wären sie seine Abendunterhaltung.

„Für meinen Job brauche ich eine gute Beziehung zum Klienten“, antwortete sie. „Ich kann niemanden davon überzeugen, dass wir die Richtigen für sein Projekt sind, wenn ich nicht weiß, was er will und braucht. Ich kann ihn nicht für uns gewinnen, wenn ich nicht weiß, welche Register ich ziehen muss.“

„Hmmm.“ Er nippte an seinem Bier und sein Blick tanzte über den Rand des Glases.

Amüsierte er sich etwa über sie? „Was ist denn?“

„Ich habe noch nie gehört, dass eine Frau, die einen so kurzen Rock und so hohe Absätze trägt, sich Gedanken darüber macht, welche Register sie ziehen muss.“

Andrea merkte, wie sie rot wurde und zog ihren Rock, der gar kein Minirock war, herunter. Dabei war die Rocklänge auch zum Sitzen auf einem Barhocker noch absolut im Rahmen. Ihre Absätze waren zugegebenermaßen schon etwas gewagter, aber sie trug sie ja auch wegen der Höhe und nicht wegen der Wirkung. Und dann registrierte sie, dass er sie mit einem selbstzufriedenen Grinsen anschaute. Sie war ihm auf den Leim gegangen. Was glaubte der Typ eigentlich, wer er war?

Sie hörte auf, an ihrem Glas herumzuspielen und fixierte ihn. „Ich könnte auch in Jeans und Turnschuhen ein Geschäft abschließen, aber ich bin einfach gern vorbereitet. Außerdem bin ich es gewohnt, mit Hotelketten zu verhandeln, die Hunderte von Immobilien haben, und nicht mit irgendwelchen Promis, die auch mal Kneipenwirt oder Hotelier spielen wollen.“

„Dann ist MacDonald also ein Amateur?“ Er kippelte auf seinem Barhocker nach hinten und lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen, die Arme vor der Brust verschränkt. Dabei sah er aus, als müsste er sich das Lachen verkneifen.

„Ich weiß ehrlich gesagt gar nichts über ihn. Ich habe weder eine seiner Shows im Fernsehen gesehen, noch kann ich kochen, und mir ist absolut schleierhaft, wieso jemand, der in London Karriere gemacht hat, ein Hotel auf der Isle of Skye eröffnen will.“

„Also, das klingt jetzt aber wirklich ein bisschen borniert. Wir Schotten haben eben einen besonders ausgeprägten Nationalstolz.“

Wieder wurde Andrea rot. Wie hatte ihr das entgehen können? Sein Akzent war zwar nur ganz schwach, aber das eindeutig erkennbare gerollte schottische R war trotzdem nicht zu überhören. Sie war wirklich nicht besonders gut in Form, wenn sie etwas so Offensichtliches nicht bemerkt hatte. Zwar war er es gewesen, der in Bezug auf ihre Kleidung und ihre fachliche Qualifikation gestichelt hatte, aber sie rang sich trotzdem eine Entschuldigung ab. „Ich wollte nicht unhöflich sein.“

Doch er winkte nur ab. „Sie haben größere Probleme als ich, wenn Sie so wenig über Ihren Kunden wissen. Aber ich glaube, Sie werden schon zurechtkommen, vorausgesetzt, Sie vermeiden abschätzige Bemerkungen über seine Heimat. Ich glaube, Sie beide haben etwas gemeinsam.“

„Und was wäre das, wenn ich fragen darf?“

„Sie sind beide der Meinung, dass Arbeit ein ganz übler Grund ist, eine Reise nach Tahiti abzublasen.“

Da schlich sich wieder ein zögerliches Lächeln in ihr Gesicht und sie sagte: „Darauf kann ich trinken.“

„Sláinte, Andrea.“ Er stieß mit ihr an, trank einen großen Schluck von seinem Ale und stieg dann mit einem kleinen Hopser von seinem Hocker. „Ich gehe jetzt lieber. Und Ihnen würde ich dasselbe raten, Miss Sullivan. Sie haben morgen einen langen Tag vor sich.“

Überrascht blinzelte sie ihn an. „Woher wissen …“

„Nacht, Ben. Ihre Getränke gehen aufs Haus.“

„Nacht, James.“

Mac – bzw. der Mann, der vorgab, Mac zu sein – zwinkerte ihr zu und schlenderte dann zum Pub hinaus.

„Das war … er war …“

Ben schien sich das Lachen verkneifen zu müssen. „Mr MacDonald, ja, und ich wage zu behaupten, dass sich gerade zum ersten Mal eine Frau nicht nur nicht Hals über Kopf in ihn verknallt, sondern ihn tatsächlich persönlich beleidigt hat.“

Andrea rutschte das Herz bis hinunter in die Sohlen ihrer Jimmy Choos. „Ich glaube, ich bin morgen krank.“

„Ach, machen Sie sich mal keine allzu großen Gedanken. Ich glaube, er mag Sie.“

Ja, klar. Sie warf noch einen Blick hinter sich zur Tür, aber James MacDonald war schon weg. Warum, ach warum nur, musste ihr das ausgerechnet jetzt passieren? Sie brauchte unbedingt einen Vertragsabschluss mit diesem Klienten, wenn es überhaupt noch Hoffnung geben sollte, erneut die Gunst ihres Chefs zu erlangen. Jetzt würde sie also die nächsten paar Tage damit verbringen, ein Promi-Ego erst zu besänftigen und dann zu päppeln, und Unterwürfigkeit und Schleimerei waren noch nie ihre Stärke gewesen.

Andrea stieg jetzt ebenfalls mit einem kleinen Hopser vom Barhocker herunter und griff nach ihrer Handtasche, bevor sie sich wieder daran erinnerte, dass Mr MacDonald ja schon für sie bezahlt hatte. Sie fand ein paar Ein-Pfund-Münzen in ihrer Kleingeldbörse und legte sie als Trinkgeld auf die Bar, obwohl Ben keinen Finger gerührt hatte, um sie auf die sich anbahnende Katastrophe aufmerksam zu machen. Wäre es denn wirklich so schwer gewesen, ihr ein kleines Zeichen zu geben, indem er beispielsweise den Kopf geschüttelt oder eine Augenbraue hochgezogen hätte? Aber andererseits war es natürlich auch verständlich, dass er sich aus der Angelegenheit heraushielt, weil sein Chef beteiligt war.

„Danke, Ben.“ Für nichts.

„Gute Nacht, Andrea.“ Er nahm die Münzen von der Bar, legte sie unter den Tresen und fügte noch hinzu: „Und denken Sie nicht zu schlecht über Mr MacDonald. Im Grunde ist er ein netter Kerl.“

Andrea zwang sich zu einem Lächeln, hängte sich ihre Handtasche über die Schulter und floh hinaus auf die dunklen Straßen von London. Da es Sonntagabend 21.00 Uhr war, hatte der Verkehr inzwischen nachgelassen, und der übliche Dunstschleier aus Autoabgasen hatte sich aufgelöst. Geblieben war der leicht muffige Geruch nach feuchtem Beton. Sie bog nach links ab und ging schnellen Schrittes zur Haltestelle Ladbroke Grove. Ihr Ärger bewirkte, dass sie immer schneller wurde.

Wie oft hatte sie ihren jüngeren Mitarbeitern schon Vorträge darüber gehalten, dass es unglaublich wichtig ist, immer – wirklich immer – professionell zu bleiben. Jeder Kontakt konnte ein künftiger Klient sein oder eine Empfehlung für die Firma bedeuten. Jetzt hatte sie gerade selbst auf äußerst peinliche Art unter Beweis gestellt, wie wichtig es war, sich an diese Grundregel zu halten.

Dabei entschuldigte sie gar nicht den Anteil, den MacDonald an diesem Schlamassel gehabt hatte. Sie kannte diesen Typ Mann nur zu gut – reich, gut aussehend und berühmt. Er ging einfach davon aus, dass ihm die Frauen zu Füßen lagen, und wehe, eine hatte einen eigenen Kopf mit einer eigenen Meinung. Wahrscheinlich würde sie in den nächsten drei Tagen seinen Annäherungsversuchen ausweichen und gleichzeitig versuchen müssen, ihn davon zu überzeugen, dass sie mehr war als nur ein hübsches Gesicht. Er konnte von Glück sagen, dass sie ihn für seine Bemerkung über ihre Kleidung nicht geohrfeigt hatte.

Aber ehrlich gesagt, war sie in ihrer Verfassung nicht zu mehr imstande gewesen, als so richtig ins Fettnäpfchen zu treten. Es war Jahre her, seitdem sie sich von einem Mann hatte verunsichern lassen, und jetzt war dazu nicht mehr als ein Lächeln und ein etwas zu langer Händedruck nötig gewesen.

Auf dem Rückweg zum Hotel hatte sie sich in den Stilettos schon nach ein paar hundert Metern Blasen gelaufen und gab deshalb den Plan auf, bis zur nächsten U-Bahn-Station zu Fuß zu gehen. Sie winkte also stattdessen das erste Taxi heran, das sie sah, stieg hinten ein und sagte dem Fahrer das Ziel.

Noch bestand ja die Chance, die ganze Sache zu retten. Sie würde den Rest des Abends am Laptop verbringen, um über diesen Mann alles in Erfahrung zu bringen, was es zu erfahren gab, und dann würde sie sich absolut professionell verhalten. Sie hatte sich die Aussicht auf die Position des Vice President of Sales nicht mit jahrelangen Siebentagewochen und zermürbenden Arbeitsstunden rund um die Uhr erarbeitet, um es jetzt kurz vorm Ziel zu vermasseln. Ihr Chef mochte ihr diese Aufgabe ja vielleicht als eine Art indirekter Bestrafung zugeteilt haben – schließlich war es Jahre her, dass er sie an einen Auftrag mit nur einem fünfstelligen Vertragsvolumen verschwendet hatte –, aber es musste auch eine Art Qualitätssiegel sein, dass sie einen so prominenten Klienten wie James MacDonald an Land ziehen sollte. Was das Auftragsvolumen betraf, so würde sie das im Laufe der Verhandlungen sicher noch vergrößern können, aber zunächst einmal musste sie den Schaden begrenzen, den sie durch ihr loses Mundwerk angerichtet hatte.

Das Taxi hielt vor dem viktorianischen Backsteingebäude des Kensington Court Hotel. Andrea bezahlte, zuckte beim Aussteigen wegen ihrer geschundenen Füße vor Schmerzen zusammen und bereute noch einmal die Wahl ihrer Schuhe für diesen Abend. Sie humpelte durch die pompös gestaltete Hotellobby und fuhr mit dem Aufzug in die vierte Etage.

Über ihre Unterkunft konnte sie sich wirklich nicht beklagen. Sie war im Laufe der Jahre schon Dutzende Male in diesem Hotel abgestiegen, in dem jedes Zimmer in einem ganz eigenen und individuellen Stil eingerichtet war. Dieses Mal bewohnte sie ein Zimmer mit einem riesigen Himmelbett, über dessen Betthaupt eine goldene Krone angebracht war, von der aus ein blauer Seidenbaldachin über dem Bett drapiert war.

Vorsichtig streifte sie sich die Schuhe von den Füßen, ließ sich auf die dicke Matratze sinken und stieß einen tiefen Seufzer aus.

Sie war müde, aber es war nicht die Art von Müdigkeit, die sich durch eine durchgeschlafene Nacht in einem luxuriösen, weichen Bett beheben ließ.

Eine ganze Weile lag sie einfach nur da. Irgendwann schaute sie auf die Uhr und rechnete fünf Stunden zurück. Ihre Schwester in Ohio bereitete wahrscheinlich gerade das Abendessen zu. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und gab die Nummer ein.

Beim fünften Klingeln antwortete Becky. „Andrea! Wieso rufst du an? Müsstest du nicht eigentlich gerade im Flieger sitzen?“ Im Hintergrund brutzelte etwas, und das Geräusch wurde hin und wieder von Kindergeschrei übertönt.

„Passt es gerade nicht gut?“

„Nicht schlechter als sonst auch. Ich brate gerade Hühnchen an fürs Abendessen. Hannah! Lass die Katze in Ruhe!“

Andrea lächelte. Becky war fast acht Jahre älter als sie und hatte drei Kinder: Einen neunjährigen Sohn und dreijährige Zwillinge, ein Pärchen. „Ich kann auch später noch mal anrufen …“

„David! Du sollst deine Schwester nicht schlagen! Tut mir leid, was hast du gerade gesagt? Müsstest du nicht gerade nach Tahiti unterwegs sein?“

„Kleine Planänderung. Wo ich schon mal hier in London bin, hat Michael mir die Aufgabe aufgebrummt, irgendeinen Promiklienten an Land zu ziehen. Ich fahre morgen nach Schottland.“

„Bist du denn damit einverstanden?“

„Na ja, auf Tahiti wäre ich lieber, das kannst du mir glauben.“

„Nein, ich meine …“

„Ich weiß, was du meinst. Es ist in Ordnung. Ein Auftrag mehr macht auch nichts mehr aus, oder?“

„Na ja, ich weiß nicht … es ist ja schon ein Unterschied zwischen einem Luxusurlaub und einer Gummizelle.“

Gegen ihren Willen musste Andrea leise lachen. Selbst von Ohio aus konnte Becky es nicht lassen, sie zu bemuttern.

„Das ist nun mal mein Job. Was soll ich denn machen? Nein sagen?“

„Ja, genau das solltest du tun. Du sagst: ‚Michael, dieser Urlaub ist seit einem Jahr geplant. Such dir bitte jemand anderen für diese Aufgabe.‘“

„Ja, ich weiß“, räumte Andrea ein, und ihr Lächeln verschwand. Wäre da nicht der katastrophale Ausgang ihres letzten Termins in London, hätte sie genau das tatsächlich gesagt. Die Firmenleitung hatte ihr bisher ziemlich viel Eigensinn durchgehen lassen, weil niemand so viele Abschlüsse tätigte wie sie, aber in diesem Geschäft war man immer nur so gut wie der letzte Abschluss. „Ach, das geht schon, wirklich. Ich treffe mich morgen mit dem Klienten in Inverness, fahre von da aus mit ihm nach Skye, und am Mittwoch müsste ich eigentlich schon wieder zurück in New York sein.“

„Vielleicht solltest du dir noch ein paar Tage freinehmen, solange du in Schottland bist. Deinen Urlaub kannst du ja jetzt abschreiben.“

„Ich glaube, das wäre keine so gute Idee, denn ich bin im Hotel des Kunden untergebracht.“

„Wer ist denn dieser Kunde?“

Andrea machte eine kleine Pause. „James MacDonald.“

Das Kreischen, das daraufhin aus dem Lautsprecher ihres Handys drang, klang eher nach einem Teenager als nach einer achtunddreißigjährigen Mutter von drei Kindern. Andrea hielt sich das Handy ein ganzes Stück vom Ohr weg, bis sie sicher war, dass sich ihr Trommelfell nicht mehr in Gefahr befand.

„Und ich habe immer gedacht, dein Job wäre total langweilig!“

„Das ist rein geschäftlich, Becky. Ich habe nicht einmal zwei Tage Zeit, um ein Angebot zu erarbeiten und es ihm zu unterbreiten. Und er ist allem Anschein nach nicht gerade unkompliziert im Umgang, sodass es bestimmt ziemlich anstrengend wird.“

„Ich wette, du weißt nicht mal, wer er ist, oder?“, sagte Becky tadelnd.

„Oh doch, ich weiß, wer er ist.“ Ein extrem von sich selbst eingenommener Promi mit dem sexysten Lächeln, das mir jemals untergekommen ist.Doch sie zerrte ihre Gedanken rasch wieder von diesem Abgrund fort, bevor sie hineinstürzen konnte. „Ich muss mich heute Abend noch auf das Meeting mit ihm vorbereiten. Internetrecherche, du weißt schon … Ich rufe dich dann von Skye aus an, ja?“

„Gut. Dann wünsche ich dir viel Spaß“, sagte Becky mit diesem gewissen Singsang in der Stimme, hinter dem Andrea über 7.000 Kilometer Entfernung das Grinsen praktisch hören konnte. „Ich erwarte übrigens ein Autogramm.“

Das ist eher unwahrscheinlich. „Ich hab’ dich lieb, Becky. Gib den Kindern ein Küsschen von mir, ja?“, verabschiedete sich Andrea. Dann beendete sie das Gespräch und presste sich die Fingerspitzen auf die Augen, ein Versuch, ihr heftig pochendes Herz etwas zu beruhigen. In ihrem Klienten etwas anderes zu sehen als einen rein beruflichen Kontakt, war das Allerletzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Männer wie MacDonald waren Jäger – ein einziges Zeichen von Schwäche und sie würde ihn nicht mehr zu fassen bekommen. Sie wusste nur zu gut, was passieren konnte, wenn sie seiner Anziehung erlag. Das war ihr einmal passiert und sie wollte es nie wieder erleben.

„Rein geschäftlich.“ Ihre feste eigene Stimme in dem stillen Raum beruhigte sie. Sie atmete einmal tief durch und schwang sich dann vom Bett. Schluss mit der Aufschieberei, sie hatte noch zu tun.

Sie zog den Blazer aus, streifte den Rock ab, hängte beides sorgfältig in den Kleiderschrank und hüllte sich in den luxuriösen Hotelbademantel. Dann wählte sie ein düsteres Klavierkonzert von Dussek aus, das genau zu ihrer Stimmung passte, und nahm ihren Laptop auf den Schoß.

James MacDonald Koch gab sie in die Suchmaschine ein und nach kurzem Warten tauchte Seite um Seite mit Ergebnissen auf: Restaurantkritiken, Interviews und eine Aufzählung von Fernsehsendungen. Als Erstes klickte Andrea seine offizielle Homepage an und las sich seine Vita durch. Geboren in Portree, auf der Isle of Skye, Schulausbildung in Schottland. Abschluss in Betriebswirtschaft an der University of Edinburgh, gefolgt von einer praktischen Ausbildung an der Leiths School of Food and Wine in London. Eine lange Aufzählung seiner Positionen als Beikoch und Sous Chef in einigen der angesehensten Restaurants Englands gipfelte in seinem ersten eigenen Restaurant, einem Gastropub in Notting Hill. Diesem ersten Lokal waren dann rasch kleinere, spezialisierte Restaurants in Knightbridge und Covent Garden und dann auch in Cardiff, Edinburgh und Glasgow gefolgt.

Im vergangenen Jahr war er eingeladen worden, nach seinem Verständnis für traditionelles englisches Essen für den Premierminister zu kochen, und vor ein paar Monaten war er dann für seinen Einsatz für gefährdete Jugendliche zum Mitglied des Ordens des Britischen Empires ernannt worden.

Mit leicht zugekniffenen Augen schaute sie auf den Bildschirm. Na großartig! Dann hatte sie also gerade jemanden beleidigt, der erst vor Kurzem zum Ritter geschlagen worden war. Das konnte wahrlich nicht jede Frau von sich sagen.

Andrea setzte ihre Recherche bei Presseartikeln über ihn fort, in denen er in der Regel als Vorkämpfer der „Neuen britischen Cuisine“ bezeichnet wurde, und überflog dann eine Wiki-Liste seiner sechs Restaurants, die allesamt mit Sternen im GuideMichelin ausgezeichnet waren. Das Hart and the Hound – der Vorzeigepub, in dem sie gerade gewesen war – hatte eine von insgesamt nur zwölf in England vergebenen Zwei-Sterne-Bewertungen.

Sie hätte also den Wein lieber lassen und stattdessen Essen bestellen sollen.

Ohne einen scharfen Verstand und sehr viel Talent konnte MacDonald das alles unmöglich mit nur 35 Jahren geschafft haben. Aber das schürte nur erneut ihren Ärger, denn sie hatte insgeheim damit gerechnet, Hinweise dafür zu finden, dass er einfach sein Aussehen und seinen Charme eingesetzt hatte, um zum Erfolg zu kommen. Doch jede Information, die sie fand, bestätigte, dass er dafür hart gearbeitet und Opfer gebracht hatte. Und dann hatte der Mann sogar noch ein Berufsbildungsprogramm für Schulabbrecher eingerichtet.

„Der perfekte Mann“, murmelte sie.

Sie scrollte weiter durch die Suchergebnisse, bis die Klatsch-und-Tratsch-Seiten kamen. Fotos von MacDonald mit einer ganzen Reihe schöner Frauen – Models, Schauspielerinnen, Tänzerinnen – auf exklusiven Partys und bei Eröffnungen neuer Clubs. So einer war er also. Zeigte sich nie zweimal mit derselben Frau.

Toll. Ihr tat immer noch die Hand weh von ihrer Begegnung mit diesem Möchtegern-Don-Juan, und jetzt musste sie die nächsten drei Tage versuchen, einen Vertragsabschluss mit MacDonald hinzubekommen und dabei absolut professionell bleiben. Die Tatsache, dass er sie schon einmal als absolute Idiotin hatte dastehen lassen, sprach nicht gerade für ihre Schlagfertigkeit und einen wachen Verstand.

Aber sie würde es schaffen. Sie musste einfach. Sie war so kurz davor, ihre beruflichen Ziele zu erreichen und würde ganz sicher nicht zulassen, dass ihr dieser Mann dabei einen Strich durch die Rechnung machte.

2

Ian war ein toter Mann.

James gab dem Taxifahrer seine Adresse in South Kensington und lehnte sich zurück. Das sah seinem Bruder ähnlich, im Alleingang so eine Entscheidung zu treffen. James war Präsident und CEO eines millionenschweren kulinarischen Imperiums, aber sein großer Bruder schien immer noch zu glauben, dass er dabei Hilfe brauchte. Und Ian hatte noch nicht einmal die Höflichkeit besessen, ihn wenigstens einen Tag im Voraus darüber zu informieren.

Doch dann umspielte ein zögerliches Lächeln James’ Mundwinkel, denn anscheinend hatte er in seinem Ärger die E-Mail seines Bruders nicht richtig gelesen, sondern nur überflogen. Er war davon ausgegangen, dass er sich morgen mit einem Andrew Sullivan in Inverness am Flughafen treffen würde. Doch selbst als er seinen Fehler schon bemerkt hatte, waren noch ein paar Minuten vergangen, bis er den irischen Namen mit der flotten Schönen mit dem rotbraunen Haar an der Bar zusammengebracht hatte.

Nein, flott war wirklich eine Untertreibung. Sie war ein Knaller in Stilettos mit der Figur einer Tänzerin, einem zarten Gesicht und vollen Lippen. Sie war keine herkömmliche Schönheit, sondern hatte etwas Exotisches. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, hatte er den Duft ihres orientalisch anmutenden Parfüms wahrgenommen, und zwar nur einen Hauch, sodass er ständig den Wunsch verspürte, näher an sie heranzurücken, um herauszufinden, was es war.

Und einen kurzen, wahnsinnigen Moment lang hatte er sogar daran gedacht, es wirklich zu tun.

Wahrscheinlich war es gut, dass er es dann doch lieber gelassen hatte, denn das kurze Aufblitzen von Ärger in ihren hinreißend karamellfarbenen Augen signalisierte ihm, dass sie es gewohnt war, immer und in jeder Situation die Kontrolle zu behalten, und dass sie es absolut nicht leiden konnte, wie ein Lustobjekt behandelt zu werden … oder auch nur wie eine Lady. Er hätte nicht gedacht, dass trotzdem eine so heftige Anziehung zwischen ihnen bestehen würde, und die Chance, dieser Anziehung weiter nachzugehen, würde er sich ganz sicher nicht entgehen lassen.

Vielleicht würde er Ian doch am Leben lassen.

James holte jetzt sein Handy aus der Hosentasche und rief die Nummer seiner Assistentin auf. Als sie das Gespräch annahm, wartete er nicht einmal ab, bis sie sich gemeldet hatte, sondern sagte: „Gut, dass Sie zu Hause sind.“

„Es ist Sonntagabend 21.00 Uhr, James“, sagte Bridget trocken. „Wo sollte ich denn wohl sonst sein?“

Sie war eine echte Londonerin Mitte fünfzig und schon seit Jahren seine persönliche Assistentin. Ihr Tonfall war, seit er denken konnte, immer etwas gelangweilt. Doch sie war überaus tüchtig und hatte die verblüffende Fähigkeit, schon zu wissen, was er brauchte, bevor er selbst überhaupt daran gedacht hatte. „Ich muss meinen Flug nach Inverness auf morgen Vormittag 10.00 Uhr umbuchen.“

„Für so etwas hat Gott das Internet erfunden, James.“

„Aber Sie haben mein Passwort auf der Internetseite der Airline geändert. Ich komme nicht in meinen Account.“

Es war still am anderen Ende der Leitung, bis am leisen Klackern von Tasten zu erkennen war, dass sie am Computer saß. „Also gut. Um 10.00 Uhr von Gatwick nach Inverness?“

„Ja, vielen Dank.“

„Was ist denn passiert? Ich dachte, Sie wollten erst morgen Abend von London abfliegen.“

„Ians Unternehmensberaterin ist passiert.“

„Ach so, das.“

„Sie haben davon gewusst? Dann hätten Sie mich wenigstens vorwarnen können.“

„Ich bin davon ausgegangen, dass er es Ihnen gesagt hat.“ Wieder war Tastaturklackern zu hören, dann brach das Geräusch ab, und er konnte ihr Zögern förmlich hören. „Seien Sie nicht so streng mit Ian, James. Er tut nur, was er für das Beste hält. Sie haben ihn sicher nicht umsonst zum COO Ihrer Firma gemacht, oder?“

„Ja, für die Restaurants schon, aber für das hier nicht.“

„Er ist Ihr Bruder. Sie können ruhig ein bisschen nachsichtig mit ihm sein.“

„Und Sie können sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.“

Bridget lachte leise. „Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, Sie sind meine Angelegenheit. Und für morgen ist jetzt alles geregelt. Ich habe Ihnen die Umbuchungsbestätigung und Ihr Passwort per Mail geschickt. Ach ja, und Madeline muss den Dreh der Werbefilme verschieben. Ich rufe Sie morgen früh an, wenn ich mehr weiß.“

„Danke, Bridget. Was würde ich nur ohne Sie machen?“

„Das möchte ich mir lieber gar nicht vorstellen. Gute Nacht, James.“

James beendete das Gespräch und seufzte, während das Taxi in die Exhibition Road Richtung Kensington Museum abbog. Wann hatte sich sein Unternehmen eigentlich in die Richtung verändert, dass er nicht mehr kochte, sondern Pressekonferenzen gab, Bücher signierte und auf irgendwelche After-Show-Partys ging? Es gab Tage, da wünschte er sich, er könnte einfach seine Kochjacke anziehen und einen Abend in der Küche verbringen, aber es gab immer irgendwelche Events oder Promotiontermine, bei denen er sich zeigen musste. Ganz zu schweigen davon, wie viel er unterwegs war, um in all seinen unterschiedlichen Restaurants dafür zu sorgen, dass die Köche dort seine Vorstellung von dem jeweiligen Lokal umsetzten und auch beibehielten. Seit wann war er eigentlich kein Mensch mehr, sondern eine Marke?

Ian war bestimmt nicht in der Lage, beides voneinander zu trennen. Das Hotel auf Skye sollte ein Familienprojekt sein, bei dem es darum ging, sich wieder auf die Dinge zu besinnen, die seinem Vater wichtig gewesen waren, bevor James in den Strudel von all dem hier geraten war. Doch sein Bruder wollte das Projekt handhaben wie jedes andere, und offensichtlich auch noch wie eines, das er James nicht zutraute. Sonst hätte er es ja wohl nicht für notwendig befunden, ihm einen Abend vor seinem Rückflug nach Schottland die Unternehmensberaterin auf den Hals zu hetzen.

Das Taxi hielt vor einem eleganten fünfgeschossigen viktorianischen Gebäude etwas abseits der Hauptstraße. Im Unterschied zu dem Standort des Restaurants im trendigen Notting Hill, wo zu jeder Tages- und Nachtzeit massenhaft Fußgänger unterwegs waren, war in dieser exklusiven Wohngegend abends kaum noch etwas los. So einsam und still wie auf Skye war es zwar nicht, aber hier konnte James am Ende eines langen Tages zumindest durchatmen.

Er betrat das Gebäude und blieb kurz bei den Briefkästen an der einen Wand der Eingangshalle stehen, um die Post vom Vortag aus dem Briefkasten zu nehmen. Er ging den Stapel von Umschlägen rasch durch – Rechnungen, Werbung und noch mehr Rechnungen –, bis er auf einen Umschlag stieß, der in femininer Handschrift an ihn adressiert war. Er klemmte sich den Rest der Post unter den Arm, und fuhr im Weitergehen zur Treppe, die zu seiner Penthousewohnung führte, mit dem Daumen unter die Umschlaglasche. Wer mochte ihm wohl einen Brief an diese Adresse schicken? Wenn Freunde von ihm sichergehen wollten, dass ihre Post bei ihm ankam, schickten sie Briefe an seine Büroadresse.

Er zog einen zerknitterten Zeitungsausschnitt mit einer Haftnotiz darauf aus dem Umschlag, aber die Beleuchtung im Treppenhaus war so schummrig, dass er sie nicht lesen konnte. Er schob also beides wieder zurück in den Umschlag und spurtete die restlichen Stufen hinauf zu seiner Wohnung. An der Tür gab er den sechsstelligen Sicherheitscode ein, und das Hightechschloss öffnete sich mit einem metallischen Klick. Der Kontrast zwischen dem historischen Gebäude und modernster Technik war einer, der ihm gefiel.

Die Tür ging mit einem leisen Zischen wieder zu und fiel dann mit einem Klick hinter ihm ins Schloss, als er die Diele betrat. Den Briefumschlag mit dem Zeitungsausschnitt behielt er in der Hand, die übrige Post warf er achtlos auf den Dielentisch, sodass die Umschläge über die polierte Oberfläche glitten und zu Boden fielen.

Er machte sich nicht einmal die Mühe, noch einmal umzukehren und sie wieder aufzuheben, denn er überflog bereits hastig die unbekannte Handschrift auf der Haftnotiz.

James, ich stehe für immer in deiner Schuld dafür, dass du mich mit den richtigen Leuten in Kontakt gebracht hast! Ich hoffe, du kommst im Juni zur Premiere.

Er zog die Haftnotiz von dem Zeitungsausschnitt ab, damit er die Überschrift lesen konnte. „Besetzung für die neue West-End-Produktion von Top Hat bekannt gegeben.“ Etwas weiter unten war eine Zeile rot eingekreist. Die Rolle der Dale Tement, die 1935 in dem gleichnamigen Film ursprünglich von Ginger Rogers gespielt wurde, übernimmt die talentierte Newcomerin Olivia Carey aus Wales.

„Gut gemacht, Olivia.“ Er würde bei der Premiere nicht dabei sein können, weil er in Schottland war, aber er würde Bridget Blumen ins Theater schicken lassen, einen protzigen Strauß gelber – nicht roter – Rosen, denn er wollte auf keinen Fall Missverständnisse hinsichtlich der Art ihrer Beziehung riskieren. Er war in Bezug auf ihr Arrangement immer absolut eindeutig gewesen. Sie war eine schöne junge Frau an seiner Seite, die ihn zu den Events begleitete, bei denen er sich sehen lassen musste, dafür präsentierte sie sich häufig auf roten Teppichen und der Presse und bekam Kontakt mit Leuten, die sie sonst nie kennengelernt hätte. Von diesem Arrangement profitierten sie beide, ohne dass es emotionale Verwicklungen gab.

James legte den Zeitungsausschnitt auf die Arbeitsfläche in der Küche, öffnete den Kühlschrank und überflog dessen Inhalt. Es war nur noch eine halb volle Packung Eier da, ein bisschen Milch, die gefährlich nah am Verfallsdatum war, und ein paar Flaschen Guinness. Er sollte wirklich einen dieser Bringdienste für Lebensmittel abonnieren, denn er vergaß regelmäßig, Lebensmittel für sich einzukaufen, wenn er nach London kam. Er nahm jetzt eine angebrochene Packung Weetabix aus einem ebenfalls ziemlich leeren Vorratsschrank und ließ eines der Vollkornweizenbiskuits in ein Schälchen fallen. Dann schnupperte er skeptisch an der Milchpackung, bevor er den Rest daraus über den Weetabix goss. Herrlich. Ein Sternekoch, der zum Abendessen Müsli aß. Hätte er es bei seinem Gefrotzel mit Ms Sullivan nicht dermaßen auf die Spitze getrieben, wäre sie vielleicht bereit gewesen, noch mit ihm im Pub zu essen. Das wäre jedenfalls sehr viel angenehmer gewesen, als hier allein in seiner leeren Wohnung zu hocken.

Beim Küchentresen zog er die Schuhe aus und ging mit seinem Müslischälchen in das tadellos eingerichtete Wohnzimmer, wo er sich auf eines der Ledersofas fallen ließ. Er legte die Füße auf den Glascouchtisch und schaltete den riesigen Fernseher ein. Das war das einzige Zugeständnis, das er dem Innenarchitekten hatte abringen können. Jeder Mann brauchte einen geradezu unanständig großen Plasmabildschirm, um Sport zu schauen.

Er ging die Sendungen durch, die er aufgenommen hatte, fand die Abendnachrichten aus London und klickte die Aufnahme an. Dann lehnte er sich zurück, um sein kärgliches Abendessen zu verspeisen, während er das Neueste vom Tage anschaute – ausgelaufenes Benzin auf der A1, eine Bombendrohung gegen die israelische Botschaft und Fahrpreiserhöhungen bei der U-Bahn. Aber dann kam eine Geschichte, bei der er sich aufrichtete, sein Müslischälchen neben sich auf dem Sofa abstellte und den Fernseher lauter stellte.

„… die mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Schauspielerin Cassandra Sinclair hat heute in einer privaten Zeremonie auf der Insel Mykonos ihren Schauspielerkollegen Philip Kane geheiratet …“

James starrte auf den Fernseher, während Paparazzi-Aufnahmen einer lächelnden Cassandra in einem kurzen Brautkleid am Arm ihres gut aussehenden englischen Schauspielerkollegen über den Bildschirm flimmerten. Ganz kurz blieb ihm die Luft weg, und sein Puls dröhnte ihm so laut in den Ohren, dass er kaum die nächsten Worte des Nachrichtensprechers verstehen konnte.

„… die auch bekannt wurde durch ihre öffentlich bekannte Beziehung und die dann folgende Trennung von ihrem ehemaligen Verlobten, dem schottischen Starkoch James MacDonald.“

Er musste schwer schlucken und schaltete den Fernseher aus. Verheiratet? Nach nicht einmal zwei Jahren und dann auch noch mit dem Mann, dessentwegen sie ihn verlassen hatte? Plötzlich merkte er, dass es an seinem einen Oberschenkel nass wurde, und als er hinschaute, sah er, dass das Müslischälchen neben ihm umgekippt war. Er nahm es, stand auf und ging in die Küche. Ihm war der Appetit vergangen, weshalb der Rest des Müslis in den Mülleimer wanderte.

Er stemmte seine Handflächen auf die Arbeitsfläche und ließ das Kinn auf die Brust sinken. Eigentlich hätte ihm diese Nachricht nichts mehr ausmachen dürfen, denn er wollte sie gar nicht zurückhaben. Nicht nach all ihren Lügen und ganz sicher nicht nach der Demütigung, als er herausgefunden hatte, dass sie während ihrer gesamten Verlobungszeit ein Verhältnis mit Kane gehabt hatte. Es war einfach nur ein Schock, aus dem Fernsehen und gleichzeitig mit Millionen von anderen Zuschauern von ihrer Hochzeit zu erfahren. Sie hatte nicht einmal den Anstand und die Höflichkeit besessen, ihn vorzuwarnen, nachdem er so gewissenhaft den Grund für ihr Beziehungsaus aus der Presse herausgehalten hatte, damit ihr blitzsauberes Image keine Kratzer bekam.

Nicht heute Abend. Er hatte Cassie schon genug Schaden in seinem Leben anrichten lassen. Er würde nicht zulassen, dass sie ihm auch noch die schöne Erinnerung verdarb, die noch von seiner Begegnung mit Ians temperamentvoller Unternehmensberaterin geblieben war. Er richtete sich auf, spülte schnell das Schälchen und den Löffel ab und stellte beides aufs Abtropfbrett.

Morgen würde er nach Hause fahren, und es konnte ganz sicher nicht schaden, wenn er die lebhafte Ms Sullivan dabei hatte.

3

Andrea wachte mit klopfendem Herzen zu den düsteren Akkorden von Rachmaninoffs zweitem Klavierkonzert auf. Sie griff nach ihrem Handy auf dem Nachttisch und schaltete mit zitternden Händen den Alarm aus. Panik überfiel sie in der Stille des stockdunklen Zimmers, in dem sie keinen Hinweis darauf entdecken konnte, wo sie sich gerade befand. New York? Chicago? London?

London. Ja, sie war in London. Sie ließ sich zurück auf ihr Kissen fallen. Das war das Schrecklichste an ihrem Job, aufzuwachen und nicht zu wissen, wo sie war. Dieser Monat war besonders schlimm gewesen, denn ein Termin hatte den nächsten gejagt, ohne dass sie zwischendurch Zeit gehabt hatte, sich zu Hause in ihrer Wohnung zu entspannen.

Langsam normalisierte sich Andreas Herzschlag wieder, aber es war schon zu spät, die Angst aufzuhalten, die ihr den Magen zusammenzog, sodass er sich wie ein fester Knoten anfühlte. Sie schaltete die Nachttischlampe an und blinzelte in das grelle Licht, während sie nach dem Telefon tastete, um den Zimmerservice zu rufen. Wenn das Frühstück käme, hätte sie sich wahrscheinlich so weit wieder beruhigt, dass sie etwas essen konnte, aber es würde eine gute Dosis Koffein nötig sein, bevor sie bereit wäre, sich dem Tag zu stellen.

Eine heiße Dusche, irische Haferflocken mit frischen Beeren und zwei Tassen starker Kaffee verbesserten ihre Stimmung schon erheblich. Sie war gerade dabei, ihr Haar zu föhnen, als das Zimmertelefon klingelte. Sie rannte zum Nachttisch und riss den Hörer von der Station.

„Miss Sullivan“, sagte die Angestellte an der Rezeption, „Ihr Wagen ist da.“

„Mein was?“

„Ihr Transfer zum Flughafen. Der Wagen wartet draußen.“

„Ich habe aber gar keinen …“ MacDonald. Klar. Das sah ihm ähnlich, einen Wagen zu schicken, einfach um zu demonstrieren, dass er wusste, wo sie abgestiegen war. „Vielen Dank. Ich bin gleich unten.“

Andrea ging zurück ins Bad und schaltete den Föhn wieder ein. Es waren noch drei Stunden Zeit bis zu ihrem Abflug. Der Wagen konnte also warten. Als sie ihren schulterlangen Bob fertig frisiert hatte, packte sie ihre Bürste und ihren Kulturbeutel in ihr Handgepäck und warf einen letzten Blick in den Ganzkörperspiegel im Bad.

Sie hatte ihr konservativstes Outfit gewählt, einen unauffälligen grauen Hosenanzug mit einem Schößchen-Blazer und einer fliederfarbenen Seidenbluse. Dazu trug sie High Heels, aber statt der scharlachroten Plateaupumps diesmal ein atemberaubendes Paar Peeptoes. Sie betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel und lächelte. Das war ihre weibliche Rüstung. Vielleicht achteten die Kunden manchmal mehr auf ihr Äußeres als auf ihre Geschäftstüchtigkeit, aber sie war nicht bereit, sich wie ein Mann zu kleiden, nur um zu beweisen, dass sie wie einer arbeiten konnte.

Als sie sich wieder vom Spiegel abwenden wollte, fiel ihr Blick auf das Goldkreuz, das sie um den Hals trug. Ihre Finger tasteten wie automatisch dorthin und rieben den kühlen Metallanhänger. Das Symbol fühlte sich mittlerweile wie eine Lüge an. Was ihre Mutter wohl denken würde, wenn sie sehen könnte, was aus ihr geworden war? Würde sie stolz sein auf das, was Andrea aus sich gemacht hatte? Oder wäre sie eher enttäuscht darüber, dass das Schmuckstück alles war, was von ihrer Vergangenheit noch übrig geblieben war?

Andrea holte einmal tief Luft und schob diese unproduktiven Gedanken von sich. Ihre Mutter war nicht mehr da, und welche Hoffnungen auch immer sie für ihre Tochter gehabt haben mochte, sie waren mit ihr gegangen. Aber vielleicht war es auch am besten so. Es hätte ihr sicher das Herz gebrochen, mitansehen zu müssen, wie ihr jüngstes Kind den Glauben aufgab, der ihr selbst in allen Schwierigkeiten Halt gegeben hatte.

Andrea zog jetzt den Blazer noch einmal glatt, griff nach dem Rollkoffer und bereitete sich innerlich auf das vor, was auf sie zukam. Heute war der Tag, an dem sich das ganze Chaos lichten würde. Sie würde diesen Deal abschließen und schon wäre sie wieder auf der Überholspur zur Beförderung. Dann konnte sie das ganze Desaster hier in London vergessen und wieder ihr geordnetes, berechenbares Leben aufnehmen.

Die Rechnung war bereits per Kreditkarte beglichen, sodass Andrea durch die Lobby nach draußen ging. Die Rollen ihres Handgepäckkoffers machten ein surrendes Geräusch auf dem Marmorboden. Der Portier öffnete ihr die Glastür, und sie trat ins Freie, wo am Bordstein eine schwarze Limousine wartete. Ein uniformierter Fahrer stand an die hintere Stoßstange gelehnt am Wagen.

Mit einem höflichen Nicken kam er jetzt auf sie zu. „Darf ich Ihnen Ihr Gepäck abnehmen, Miss Sullivan?“

In dem Moment, in dem Andrea es ihm lächelnd überließ und ihm folgte, ging die hintere Wagentür auf und James MacDonald stieg mit einem strahlenden Lächeln aus. „Guten Morgen.“

Sie strauchelte, und ihr Lächeln entglitt ihr, weil sie kurz völlig durcheinander war. Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass er selbst in dem Wagen sitzen könnte – dem Wagen, den sie 25 Minuten hatte warten lassen.

Und vorbei war es mit ihrem Plan, den Weg zum Flughafen zur Vorbereitung ihres Pitchs zu nutzen. Sie würde jetzt weder Zeit noch Gelegenheit mehr haben, ihre Gedanken zu sammeln, jedenfalls nicht, wenn diese ausschließlich damit beschäftigt waren, wie attraktiv James in seinem perfekt maßgeschneiderten anthrazitfarbenen Anzug und dem frischen weißen Hemd aussah. Doch statt sich weiter bei diesen Details aufzuhalten, richtete sie ihren Fokus jetzt auf die beiden Pappbecher, die er in den Händen hielt.

„Sie haben Kaffee mitgebracht?“

„Betrachten Sie es als Friedensangebot“, erklärte er und hielt ihr einen der Becher hin. „Ich bin davon ausgegangen, dass Sie Ihren nach einer langen Recherchenacht schwarz trinken.“

„Schlau.“ Er würde ihr auf jeden Fall den Fauxpas vom vergangenen Abend unter die Nase reiben, aber sie nahm den angebotenen Becher – dessen Inhalt mittlerweile bestimmt schon kalt war – trotzdem, während der Fahrer ihr Gepäck im Kofferraum verstaute.

James trat beiseite, machte eine Geste zum Auto hin und fragte: „Sollen wir?“

Sie stieg hinten ein, er schlug ihre Tür zu und ging dann um den Wagen herum auf die andere Seite. Sie stellte ihre Schultertasche neben ihren Füßen auf den Boden und legte ihren Wollmantel in die Mitte der Rückbank, auf der genug Platz zu für sie beide war.

Sie rückte ein paar Zentimeter von ihm weg, deutete mit dem Kopf auf das Wageninnere und fragte: „Ihrer?“

„Gemietet. Ich habe hier in London keinen Wagen.“

„Und ich nehme an, welchen Flug ich gebucht habe, haben Sie auf dieselbe Weise herausgefunden wie das Hotel, in dem ich abgestiegen bin?“

Er grinste sie an und sagte: „Ich bin sehr effizient.“

Andrea trank einen kleinen Schluck von ihrem lauwarmen Kaffee und schaute aus dem Fenster, als die Limousine losfuhr. Sie musste sich in Acht nehmen vor diesem Lächeln. Er benutzte es als Waffe und besiegte damit zweifellos die Frauen reihenweise. Auch sie war diesem Lächeln schon einmal zum Opfer gefallen.

„Also, Mr MacDonald, dann erzählen Sie doch mal, was Sie für heute geplant haben.“

„Mr MacDonald? Wieso so förmlich? Ich dachte, wir wären schon beim Vornamen gewesen, nachdem ich Ihnen ein Kompliment für Ihre Beine gemacht habe.“

Sie wandte sich ihm mit einem Ruck zu und verfluchte sich dann selbst, dass sie schon wieder auf ihn hereingefallen war. „Wenn ich mich recht erinnere, dann haben Sie meinen Rock und meine Schuhe erwähnt. Von den Beinen war da keine Rede.“

„Die waren inbegriffen. So wie bei Ihnen das Bild eines hemmungslosen Playboys inbegriffen war.“

„Sie sind ja auch ein hemmungsloser Playboy.“ Die Worte waren schon heraus, bevor sie noch überlegt hatte. In etwas milderem Tonfall fügte sie deshalb hinzu: „Aber das hat natürlich nichts mit Ihrer Geschäftstüchtigkeit zu tun. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Ohne harte Arbeit und eine klare Vision wären Sie mit 35 Jahren sicher nicht dort, wo Sie sind. Wirklich beeindruckend.“

Ganz kurz sah er überrascht aus. „Danke.“

„Gern geschehen. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Das hier würde sehr viel reibungsloser laufen, wenn ich genau wüsste, was Sie von mir erwarten.“

„Das Ganze war Ians Idee, nicht meine. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung, was Sie hier machen.“

Andrea blinzelte. „Wer ist denn Ian?“

„Mein Geschäftsführer. Ihm gehört ein Drittel des Hotels, und dieses Arrangement stammt von ihm.“

Andrea sank der Mut. Na toll, kein Wunder, dass James sie dermaßen widerstrebend als Kollegin behandelte.

„Aber wieso machen Sie sich denn dann so viel Mühe, wenn Sie mich hier gar nicht haben wollen?“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich Sie hier nicht haben will“, korrigierte er sie und das Blitzen in seinen Augen ließ bei ihr alle Alarmglocken schrillen. „Ich habe nur gesagt, dass es Ians Idee war. Warum sagen Sie mir nicht, was genau Sie erreichen möchten?“

Da richtete sie sich in ihrem Sitz auf und strich ihren Blazer glatt. Sie würde auf keinen Fall zulassen, dass irgendwelche internen Machtkämpfe ihr das hier kaputtmachten. „Morrison Hospitality Consulting ist eine Firma, die auf einzigartige, historische Hotelimmobilien spezialisiert ist. Unsere Klienten gehören zu den bekanntesten Hoteliers der Welt, unter anderem Excelsior Properties und Hotel du Soleil, aber wir arbeiten auch für andere kleinere, klar umrissene …“

„Das weiß ich alles“, unterbrach James sie. „Ich habe gestern Abend Ihre Website studiert. Aber ich möchte wissen, warum Sie hier sind. Ausgerechnet Sie?“

Also gut, auch mit dieser Art von Direktheit kam sie zurecht. „Ich bin hier, um auszuwerten, was Ihr Hotel benötigt, angefangen bei der Infrastruktur, über das Marketing bis hin zu einer Wettbewerbsanalyse. Bevor ich wieder abreise, werde ich detaillierte Vorschläge für die Bereiche machen, in denen wir Ihnen helfen können. Ich bekomme 90 Prozent der Projekte, für die ich ein Angebot mache, übertragen, und meine Projekte erleben eine Umsatzsteigerung von mindestens 55 Prozent innerhalb von neun Monaten. In den acht Jahren, in denen ich jetzt in diesem Geschäft tätig bin, habe ich nie erlebt, dass ein Kunde pleitegegangen ist.“

„Wenn wir also mit Ihrer Firma ins Geschäft kämen, wären Sie die Verantwortliche für das Projekt.“

Sie versuchte seine Miene zu deuten und fragte sich, ob er bei seiner Frage wohl Hintergedanken hatte, aber er schien es ernst zu meinen. „Ich arbeite von New York aus, würde das Projekt aber betreuen. Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass unser Team in London das umsetzt, was wir in den kommenden beiden Tagen planen, und sicherzustellen, dass Ihre Umsatzziele erreicht werden.“

Jetzt wurde seine Miene zurückhaltend und das ständige Lächeln verschwand. „Ich will dieses Projekt nicht aus finanziellen Gründen realisieren, sondern weil es mir persönlich am Herzen liegt.“

Andrea nickte und schluckte ihre Erwiderung herunter, aber sie hatte es in ihrer Karriere bisher nicht dadurch so weit gebracht, dass sie ihr Bauchgefühl hinterfragt hatte. „Darf ich offen sein?“

„Bitte.“

„Wie man ein Restaurant führt, wissen Sie ja offensichtlich, aber das Betreiben eines Hotels ist etwas völlig anderes. Die meisten scheitern damit innerhalb der ersten fünf Jahre. Wenn es Ihnen mit dem Projekt ernst ist, dann brauchen Sie uns. Ihr COO hat uns ausgesucht, weil wir die Besten sind, und von allen Beratern bei Morrison bin wiederum ich die Beste. Wenn es sich also nur um irgendeinen Bed-and-Breakfast Traum handelt, dann sollten Sie es mir vielleicht lieber jetzt sofort sagen, bevor das hier eine kolossale Zeitverschwendung für mich wird – und für Sie genauso.“

James hielt ihrem Blick eine Weile stand, taxierend, als versuchte er, tief in ihr Inneres hineinzublicken, sodass sie Mühe hatte, gleichmäßig weiterzuatmen und seinem Blick nicht auszuweichen.

„Also gut, dann lasse ich Ihnen einen Versuch. Und wenn es nur dem Zweck dient, zu beweisen, dass ich kein Amateur bin.“

Sie nickte. „Gut. Mehr will ich ja auch gar nicht.“

Das Blitzen in seinen Augen war jetzt wieder da, ein sicheres Zeichen, dass eine weitere Charmeoffensive unmittelbar bevorstand, aber bevor er loslegen konnte, klingelte sein Handy. Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und meldete sich kurz und knapp, aber mit einem Lächeln, bei dem sich in seinem Gesicht unzählige Fältchen bildeten. „Hallo Bridget.“

Bridget? Eine Freundin vielleicht. Ein Mann wie er war bestimmt nie lange Single, und das machte sein ständiges Flirten natürlich noch beunruhigender.

„Nein, das ist in Ordnung. Ende des Monats bin ich wieder in London. Buchen Sie nur meinen Flug nach Cardiff von acht auf drei um.“

Also doch keine Freundin, sondern seine Assistentin, aber eigentlich ging es sie ja auch nichts an.

Sie lehnte sich auf dem Ledersitz zurück und schaute zu, wie er mit seinem Tablet auf dem einen, dem Laptop auf dem anderen Knie und seinem Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, seinen Monat durchplante. Sein überbordender Terminkalender verringerte ihre Sorgen und Bedenken etwas. MacDonald mochte vielleicht gern provozieren und flirten, aber es war ihm absolut ernst, was seinen Beruf und das Führen seiner Unternehmen anging. Wenn ihre Beziehung professionell und freundschaftlich blieb, musste er erkennen, wie wertvoll sie und ihre Firma für sein Projekt sein konnten.

Als er sein Telefongespräch beendet hatte, sagte Andrea: „Ich bin neugierig. Wieso Skye? Warum nicht Edinburgh oder Glasgow oder Inverness?“

„Wenn wir dort sind, werden Sie es verstehen“, antwortete er und im selben Moment klingelte schon wieder sein Handy, das er immer noch in der Hand hielt. „James“, meldete er sich.

Andrea holte ein kleines Notizbuch aus ihrer Handtasche und notierte sich ein paar Stichpunkte und Schlagworte, die sie einsetzen wollte, um den Auftrag für ihre Firma an Land zu ziehen, während er seinen Terminplan noch einmal wegen eines Einsatzes als Juror bei einem Kochevent im kanadischen Fernsehen änderte.

Er beendete das Gespräch, als der Fahrer vor dem Nordterminal des Flughafens Gatwick hielt. „Tut mir leid“, sagte er und sah sie mit seinen blauen Augen intensiv an. Sein Blick hatte nichts mehr von dem eines Geschäftsmannes, sondern jetzt war er wieder ganz der Charmeur.

„In dem Hotel auf Skye gibt es keinen Handyempfang. Wenn wir also dort ankommen, haben Sie meine absolut ungeteilte Aufmerksamkeit.“

Das klang wie ein Versprechen, aber das Blitzen in seinen Augen sagte ihr, dass es wahrscheinlich besser für sie war, es als Drohung zu betrachten.

4

Andrea Sullivan wusste, wie sie James nehmen musste.

Sie machte das sehr geschickt und subtil, darin war sie richtig gut. Die meisten Frauen hätten wahrscheinlich einen Schutzschild aus Eiseskälte gegen ihn errichtet, aber sie hatte gemerkt, dass er das wahrscheinlich nur als Herausforderung betrachtet hätte. Deshalb war sie freundlich, professionell und direkt und wischte mit der Versiertheit einer Frau, die es gewohnt war, in jeder Situation die Kontrolle zu behalten, seine Flirtversuche beiseite.

So ungern er es zugab, aber Ian hatte eine gute Wahl getroffen. James hatte keinerlei Zweifel, dass Andrea tatsächlich in der Lage war, das zu erreichen, was sie behauptete. Und vielleicht war es ja auch gar keine so schlechte Idee, eine außenstehende Person einen Blick auf das Hotel werfen zu lassen. Seit über einem Jahr war es jetzt schon geschlossen, und sein letzter Blick auf die Zahlen hatte gezeigt, dass es unter der Leitung seines Vaters längst nicht so profitabel gewesen war, wie es hätte sein sollen. James hatte zwar eine Vision, was aus dem Hotel einmal werden könnte, aber er hatte einfach nicht die Zeit, diese Vision auch umzusetzen. Etwas Hilfe von außen würde seinen völlig überfüllten Terminkalender sicher etwas entlasten.

Bei der Sicherheitskontrolle brauchten sie nicht zu warten und unterzogen sich mit der gelangweilten Haltung von Vielfliegern dem normalen Ritual des Taschenleerens, des Scannens und der Handgepäckkontrolle. Andrea zog ihren Blazer aus, dann ihre Pumps und legte beides unter ihren Mantel in die Plastikkiste auf dem Fließband. Sie fuhr sich abwesend mit den Fingern durchs Haar und ging mit bloßen Füßen zum Scanner.

Wie machte sie das bloß? Von den Frauen, mit denen er ausging, war er es gewohnt, dass sie ihre Sinnlichkeit bewusst einsetzten, perfekte Körper in hautengen Kleidern zur Schau stellten durch Bewegungen, die darauf abzielten, die Blicke aller Männer in ihrer Umgebung auf sich zu ziehen. Das war zwar schön, aber auch irgendwie künstlich und platt. Andrea Sullivan dagegen trug ein ausgesprochen konservatives Businesskostüm, und trotzdem hatten bei ihr selbst die banalsten Gesten die Wirkung, dass man ihr gern länger zugeschaut hätte. Wie schaffte sie das bloß?

„Sir?“ Der Sicherheitsbeamte sah ihn ungeduldig an, sodass er hastig seinen Gürtel, den Schlüsselbund und seine Uhr in die Kiste auf dem Fließband legte. Ja, sie konnte einen definitiv ablenken. Er zügelte seine Fantasie, während der Beamte ihn scannte. Flirten war das eine, aber sich mehr vorzustellen, war etwas ganz anderes.

Bei der Vorstellung, den Versuch zu unternehmen, Andrea zu küssen und dann von den Sicherheitsleuten abgeführt zu werden, musste er schmunzeln. Leider brachte ihn das auf Gedanken und Themen, die er eigentlich lieber meiden wollte.

Als er endlich die Sicherheitsschleuse passiert hatte, stand sie schon fertig mit einer Hand an ihrem Rollkoffer da und wartete auf ihn.

„Fertig?“

James steckte seinen Schlüsselbund in die Tasche und legte seine Armbanduhr wieder an. Er folgte ihrem Blick, der zu seinem Handgelenk ging. „Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben noch Zeit.“

Da umspielte ein Lächeln ihre Mundwinkel und sie sagte: „Hätte ich mir ja denken können, dass es keine Rolex ist.“

Er schaute auf die Uhr, eine mittelteure Markenuhr aus Stahl. „Was? Finden Sie sie nicht gut?“

Sie musterte ihn einmal von oben bis unten und antwortete dann: „Sie ist wirklich erlesen ... sagt aber auch viel aus.“

Sagt viel aus? Was genau sollte denn das bedeuten? „Wenn man bedenkt, dass wir uns kaum kennen, dann haben Sie aber schon ein paar ziemlich ausgeprägte Ansichten über mich.“

Sie sah ihm in die Augen. „Ja, ich kenne Sie.“

„Na, dann erzählen Sie doch mal“, sagte er lächelnd und zog herausfordernd die Augenbrauchen hoch.

„Gut.“ Sie musterte ihn jetzt ganz offen. „Ich glaube, dass Sie in Ihrer Familie der Jüngste sind. Sie suchen ständig Aufmerksamkeit und müssen sich andauernd beweisen, möchten dabei aber absolut individuell sein. Ein Studium wie Betriebswirtschaft oder Jura wäre Ihnen viel zu langweilig gewesen. Und jetzt, wo Sie es geschafft haben, tun Sie nicht gern, was andere von Ihnen erwarten. Maßgeschneiderter Anzug, aber keine Krawatte. Keine Rolex, sondern eine Breitling. Ich bin sicher, Sie könnten es sich leisten, hier in London zu leben, wo immer Sie wollten, aber weil man damit rechnet, dass Sie in einem der angesagten Stadtteile wohnen, haben Sie sich etwas Ruhiges und Elegantes ausgesucht. Mayfair oder Belgravia vielleicht. Allerdings eine Wohnung, weil alles andere in der Unterhaltung viel zu aufwändig wäre.“

Er starrte sie an, und war beunruhigt, wie nah sie der Wahrheit gekommen war. Natürlich konnte sie einiges davon auch bei der Internetrecherche am vergangenen Abend herausgefunden haben, aber an ihrem Tonfall merkte er, dass ihre Aussagen wirklich spontan und intuitiv waren. Sie konnte Menschen tatsächlich gut einschätzen. „Entwickeln Sie so einen Draht zu Ihrem Klienten? Indem Sie ihn Stückchen für Stückchen sezieren?“