Das kleine Zuhause in Prag - Julie Caplin - E-Book

Das kleine Zuhause in Prag E-Book

Julie Caplin

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Beschreibung

Eine romantische Stadt, eine zufällige Begegnung – eine zweite Chance für die Liebe. Anna braucht dringend Abstand zu ihrer englischen Heimat und der familiengeführten Brauerei. Umso willkommener ist die Einladung zu einer Fortbildung in Prag: Endlich darf sie selbst Hand anlegen und ein eigenes Bier entwickeln. Sie freut sich auf inspirierende Wochen und bezieht ein Zimmer in einer gemütlichen Dachwohnung. Der Ausblick von der Terrasse ist spektakulär, und Anna fühlt sich auf Anhieb wohl. Wäre da nur nicht ihr Mitbewohner! Leo ist Annas Exmann und wurde ebenfalls zu der Fortbildung eingeladen. Und nun sollen sie unter einem Dach leben? Anna ist fest entschlossen, ganz professionell mit der Situation umzugehen und nicht nochmal Gefühle für Leo zu entwickeln. Doch schon bald beginnt der Zauber der romantischen Stadt auf sie zu wirken … «Die Reihe kann man eigentlich immer empfehlen, wenn man was Schönes, Leichtes für den Urlaub sucht.» Katharina Mahrenholtz, eat.Read.sleep NDR Podcast

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Julie Caplin

Das kleine Zuhause in Prag

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Christiane Steen

 

Über dieses Buch

Ihre Schritte hallten in den ruhigen Gassen, und sie unterhielten sich leise, als wollten sie die schlafenden Häuser nicht stören. Die Stadt glitzerte in einem sanften Licht und warf einen magischen Schein über den dunklen Fluss. Anna spürte, wie ihr Herz vor Dankbarkeit höher schlug.

Anna braucht dringend Abstand zu ihrer englischen Heimat und der familiengeführten Brauerei. Umso willkommener ist die Einladung zu einer Fortbildung in Prag: Endlich darf sie selbst Hand anlegen und ein eigenes Bier entwickeln. Sie freut sich auf inspirierende Wochen und bezieht ein Zimmer in einer gemütlichen Dachwohnung. Der Ausblick von der Terrasse ist spektakulär, und Anna fühlt sich auf Anhieb wohl. Wäre da nur nicht ihr Mitbewohner! Leo ist Annas Exmann und wurde ebenfalls zu der Fortbildung eingeladen. Und nun sollen sie unter einem Dach leben? Anna ist fest entschlossen, ganz professionell mit der Situation umzugehen und nicht nochmal Gefühle für Leo zu entwickeln. Doch schon bald beginnt der Zauber der romantischen Stadt auf sie zu wirken …

 

Stimmen zu den Vorgängern:

«Die Reihe kann man eigentlich immer empfehlen, wenn man was Schönes, Leichtes für den Urlaub sucht.» Katharina Mahrenholtz, eat.Read.sleep NDR Podcast

«Wohlfühllektüre!» Radio Bremen Zwei

«Es wird hyggelig und gemütlich.» StadtRadio Göttingen

«Eine romantische Geschichte mit viel Lokalkolorit, so richtig zum Wegträumen.» Woman

«Macht definitiv Lust auf Urlaub … Man möchte am liebsten den Koffer packen und selber hinreisen.» LZ Rheinland

Vita

Julie Caplin lebt im Südosten Englands, liebt Reisen und gutes Essen. Als PR-Agentin hat sie in zahlreichen Großstädten auf der ganzen Welt gelebt und gearbeitet. Mittlerweile widmet sie sich komplett dem Schreiben. Mit ihrer Romantic Escapes-Reihe landet sie regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Die Romane sind auch unabhängig voneinander ein großes Lesevergnügen.

Christiane Steen ist Programmleiterin und Übersetzerin. Sie lebt in Hamburg.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «A Little Place in Prague" bei HarperCollins Publishers in London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«A Little Place in Prague» Copyright © 2024 by Julie Caplin

Redaktion Nadia Al-Kureischi

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-02358-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Für meine lieben Freundinnen Petra Lásková und Tereza Lebedová – das ist für euch xxx

Kapitel 1

«Hallo, jemand zu Hause?!», rief Leo, als er die Dachgeschosswohnung betrat und an den Koffern vorbeiging, die im Eingangsbereich standen.

Es kam keine Antwort, stattdessen hörte er einen unterdrückten Fluch. Er stellte seine Taschen ab und ging weiter. Hinter einer der offenen Zimmertüren hockte ein kräftiger Mann auf dem Boden und starrte eine Anleitung für den Zusammenbau eines Möbelstücks an. Er war ungefähr in Leos Alter.

«Hallo», sagte Leo und blieb im Türrahmen stehen, «du musst mein Mitbewohner sein.» Er ließ seinen Rucksack zu Boden fallen und sah sich in dem hellen, luftigen Zimmer um, durch dessen schräge Dachfenster warmes Licht hereinfiel.

Auf den ersten Blick wirkte die Wohnung, die für die nächsten Monate sein Zuhause sein sollte, gar nicht so übel, dachte Leo. Hoffentlich war sein Mitbewohner ebenfalls nett, auch wenn er ziemlich wortkarg schien – andererseits irgendwie verständlich angesichts der vielen Schraubenpäckchen und Einzelteile eines halb zusammengebauten Bettgestells.

Sein Mitbewohner hob den Kopf. «Was?», murmelte er stirnrunzelnd. Ganz offensichtlich grübelte er, welche Schraube wohin musste. «Ja, genau.»

«Leo Knight.» Leo winkte, da der andere Mann eindeutig nicht in der Lage war, ihm die Hand zu schütteln. «Sorry, dass ich hier so reinplatze. Du siehst beschäftigt aus. Brauchst du Hilfe?»

«Ich komm schon klar.» Er kam mühsam auf die Beine. «Ich bin Steve. Steve Munt. Du bist gerade erst angekommen?»

«Ja, heute am Václav Havel gelandet.» Es machte Leo Spaß, den tschechischen Namen auszusprechen, hoffentlich korrekt.

«Hä?»

Verständnislos sah Steve ihn an. Entweder war der Mann begriffsstutzig oder ein bisschen dumm, dachte Leo. Das würde sich noch zeigen.

«Dem Prager Flughafen», ergänzte Leo. Vielleicht war ein bisschen Nachhilfe nötig. «Super Verkehrsanbindung. Ich bin erst vor eineinhalb Stunden gelandet. Du siehst allerdings aus, als wärst du schon eine ganze Weile hier und hättest schon Zeit zum Einkaufen und Einrichten gehabt.»

«Nein, wir sind auch erst vor einer halben Stunde angekommen. Mit dem Auto.» Steve deutete mit dem Kopf auf die Einzelteile des Bettgestells auf dem Boden. «Das haben wir aus England mitgebracht. Meine Freundin ist gerade einkaufen.» Er betrachtete Leo mit vorsichtigem, schon fast misstrauischem Blick, sodass Leo sich fragte, ob er irgendwie bedrohlich wirkte – oder merkwürdig? Sie trugen beide T-Shirt und Jeans, wobei Leos Armani schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte und der vermeintlich modische Riss ein echter war – die Folge einer Tuchfühlung mit Stacheldraht, weil ein Kumpel es nicht besonders gut aufgenommen hatte, dass Leo dessen Freundin geküsst hatte. Nicht, dass sie sich beschwert oder ihren Freund auch nur erwähnt hätte …

«Sieht ja ganz gut aus, oder?» Leo plauderte weiter, um dem anderen die Möglichkeit zu geben, etwas aufzutauen.

«Was?»

«Na, die Wohnung. Sieht sogar ziemlich gut aus, finde ich.»

Leo drehte sich um, blickte den Flur entlang und dann in das kleinere, leere Zimmer gegenüber. Er seufzte. Dieser Steve war offenbar sehr organisiert. Sein eigener Plan dagegen war, zum nächsten Ikea zu fahren und sich mit einem Uber ein Bettgestell, eine Matratze und ein paar Basics zu besorgen. Der Laden hatte bis acht Uhr abends geöffnet, er hatte also noch massenhaft Zeit. Wenn man eine unmöblierte Wohnung zu einer sehr niedrigen Miete angeboten bekam, dann sagte man nicht Nein, besonders wenn man die nächsten Monate von einem Stipendium leben sollte.

Er wandte sich wieder zu Steve um. «Lust auf ein Bier?», fragte er. «Ich hab im Laden unten an der Straße ein paar Flaschen gekauft.»

«Ein Bier?» Steve schaute auf seine Uhr und dann wieder auf die Anleitung. «Warum nicht?» Er zog eine Grimasse. «Ich kapier das hier sowieso nicht.»

Leo grinste. «Dann zeigst du mir am besten die Küche. Bisher habe ich bloß meine Taschen abgestellt.»

«Die Treppe rauf. Aus irgendeinem Grund ist in dieser Wohnung alles verkehrt rum.» Steve rollte mit den Augen. «Küche und Wohnzimmer sind oben.»

Leo fand das eigentlich ganz lustig. «Cool», sagte er. «Bestimmt hat man da einen tollen Ausblick, immerhin sind wir ganz oben.»

«Ist ja nicht so meins», erwiderte Steve und trat in den Flur. «Immer die Treppe rauf- und runterzurennen, aber ich muss hier ja nicht wohnen.»

«Oh. Ich dachte –» Leo stockte.

«Meine Freundin zieht hier ein», erklärte Steve. «Ich helfe ihr nur dabei, sich einzurichten. Und fahre nach dem Wochenende wieder zurück. Wir sind durch den Eurotunnel und dann durch Frankreich, Belgien, Deutschland gefahren. Fünfzehn Stunden Fahrt.»

«Ah, alles klar. Na, es freut mich jedenfalls, dich kennenzulernen.» Darum also der misstrauische Blick, dachte Leo. Steve war nicht eingebildet, aber dumm war er auch nicht.

«Sie macht hier eine Fortbildung bei einer Brauerei.» Während Steve weiterredete, nahmen sie die Stufen ins obere Stockwerk. «Verdammt weiter Weg, um zu lernen, wie man Bier braut, wenn du mich fragst.»

«Da bin ich anderer Meinung, Kumpel», entgegnete Leo mit gezwungenem Lächeln. Er fühlte sich mit seiner unbekannten Mitbewohnerin solidarisch und freute sich, dass er etwas mit ihr gemeinsam hatte. «Ich mache nämlich auch eine Fortbildung.»

Man hatte ihm nur erklärt, dass er sich die Wohnung mit einer anderen Person teilen würde, die dasselbe Informationsprogramm für tschechische Kultur, Produkte und Industrie durchlief. Wenn sie außerdem Interesse an Craftbier hatte, dann war das ein großes Plus.

Am Montag würde es ein Einführungstreffen geben, bei dem er auch erfahren sollte, in welcher Brauerei er die nächsten Monate lernen würde. Für ihn war das eine große Sache. Zum einen, weil die Fortbildung ziemlich angesehen und die Konkurrenz darum groß gewesen war. Zum anderen interessierte sich Leo vor allem für den ausgeschriebenen Wettbewerb und den Preis, den er gewinnen konnte. Es gab nämlich die in seinen Augen einmalige Gelegenheit, eine komplette Ausrüstung zum Bierbrauen zu gewinnen, inklusive Brauereitanks. Damit würde er seine eigene kleine Manufaktur einrichten können. Auf dem Papier klang es ziemlich einfach: Man musste ein eigenes Craftbier brauen und dazu einen Marketing- und Vertriebsplan erstellen, mit dem Ziel, das Image von tschechischem Bier in England zu verbessern. Leo fragte sich, wie viele andere Leute wohl ebenfalls an dem Wettbewerb in Prag teilnahmen und darauf hofften, die Brauereiausstattung zu gewinnen.

Als sie den Wohnbereich mit Holzofen im oberen Stockwerk erreichten und Leo die große Dachterrasse sah, blieb er grinsend stehen. «Na, das ist aber ein echtes Plus.»

Steve zuckte seine kräftigen Schultern. «Wenn man gern auf Dächer guckt. Ein Ausblick aufs Meer ist mir lieber. Oder auf einen Strand oder so.»

«Tja, das dürfte hier etwas schwierig werden. Ich bin ziemlich sicher, dass Tschechien nur von Land umgeben ist. Aber cool, dass man vier verschiedene Länder bereisen kann, sobald man die Grenze übertritt.»

Steve sah ihn an, als würde er Chinesisch sprechen.

Zum Glück würde Steve nicht hier wohnen, dachte Leo, als er das Bier in die Küche brachte. Aber vielleicht brauchte er auch nur eine Weile, um warm zu werden.

«Pass auf deinen Kopf auf», warnte Steve. «Wieso man eine Küche hier unter diesen Dachschrägen einbauen muss, kapiere ich nicht. Der totale Albtraum. Ich hätte sie ja im hinteren Teil des Wohnzimmers gebaut, so als offenen Bereich.»

Leo verkniff sich ein «Ganz bestimmt hättest du das». Er mochte die kleine Küche mit ihren Dachbalken und den holzgerahmten Fenstern. Man kam sich vor wie in einem Adlerhorst auf der Spitze eines Berges, mit bester Sicht. Das Wohnzimmer hingegen war ein bislang ungenutzter Raum, in dem auch noch keine Möbel standen. Schade eigentlich. Er nahm sich vor herauszufinden, ob sie den Holzofen im Winter nutzen konnten.

Er öffnete ein paar Küchenschränke auf der Suche nach passenden Gläsern. Zur Not trank er auch aus der Flasche, aber als Kenner wusste er, dass es dem Geschmack des Bieres nicht förderlich war.

Er nahm zwei Gläser und zwei Flaschen und stellte die restlichen Biere in den Kühlschrank, dann trat er hinaus auf die Dachterrasse, wo Steve bereits auf einem der vier Bistrostühle Platz genommen hatte. Leo freute sich darauf, noch etwas von der späten Augustsonne zu genießen, nachdem er den Großteil des Tages in Flughäfen, Flugzeug und Taxi verbracht hatte. Er ließ sich auf einem zweiten Stuhl nieder, stellte Flaschen und Gläser auf dem kleinen Korbtisch ab und holte erst einmal tief Luft. Schließlich zog er seinen Schlüsselbund mit dem Flaschenöffner aus der Tasche, öffnete ein Bier und reichte es Steve.

«Danke.» Steve schenkte sich ein und prostete ihm zu.

Sorgfältig goss Leo sein Bier ins Glas und sah der aufsteigenden Schaumkrone zu, während er bereits den Geschmack des goldenen Gebräus erahnte. Pilsner Urquell. Es war die logische Wahl für seinen ersten Tag hier, doch er freute sich schon darauf, andere Biere in den Kneipen der Stadt zu probieren.

«Cheers!», rief er und nahm einen langen, durstigen Schluck, dann stellte er sein Glas grinsend ab. «Der reinste Nektar.»

Steve rümpfte die Nase. «Der ganze Schaum ist ja nicht so mein Ding. Aber gut.»

Leo schloss die Augen, genoss den kühlen, erfrischenden Geschmack des Bieres und die Sonne in seinem Gesicht. Einfach himmlisch. Als er Schritte in der Küche hörte, öffnete er die Augen wieder und blinzelte ins Licht.

Ach du große Scheiße!

Vor Schreck wollte er sein Glas noch fester umklammern, doch wegen des Kondenswassers rutschte es ihm aus den Fingern und landete krachend auf dem Tisch. Zum Glück blieb es heil, nur ein paar Biertropfen landeten auf seinem Arm.

«Da bist du ja, Anna.» Steve sprang auf, ohne auf Leos Missgeschick zu achten, und ging zu der jungen Frau, die auf die Dachterrasse gekommen war. Er legte ihr mit besitzergreifendem Stolz den Arm um die Schultern, dann deutete er auf ihn. «Das ist Leo, dein Mitbewohner.»

Leos Mund wurde trocken, und sein Magen rutschte ihm in die Kniekehlen. Fuck! Was zur Hölle …? Schnell griff er nach seinem Glas und nahm einen Schluck, damit er etwas zu tun hatte.

«Das ist meine Freundin Anna. Anna Love.» Steve streckte tatsächlich die Brust raus, als wollte er seinen Anspruch auf sie geltend machen. Seine gorillamäßige Damit-das-klar-ist-Art war wirklich zum Totlachen. Ganz offensichtlich hatte er keinen Schimmer, dass Anna und Leo sich kannten.

«Anna …», sagte Leo und schluckte hart.

«Ah, Leo. Nett, dich kennenzulernen.» Anna zeigte nicht das kleinste Zögern. Und sie löste sich auch nicht aus Steves besitzergreifender Umarmung. Sie starrte Leo nur mit einem unbeweglichen Pokergesicht an, das nichts verriet.

Er blinzelte und wartete einen Moment. Nett, dich kennenzulernen? Hatte sie das wirklich gerade gesagt? Hatte sie ihn etwa nicht erkannt? Aber nein, natürlich hatte sie das. Wie sollte es anders sein?

Leo spürte, wie er seine Oberlippe einrollte, so ungläubig war er. Oder erstaunt? Enttäuscht?

Wollte sie ernsthaft so tun, als würde sie ihn nicht kennen? Selbst nach all der Zeit fühlte es sich an wie ein Schlag in die Magengrube.

«Ich habe Milch mitgebracht», erklärte Anna. «Damit du einen vernünftigen Tee trinken kannst.» Ihre Worte galten Steve. Ihrem Freund. Oder Mann?

Die Magensäure schoss Leo in den Bauch wie geronnene Milch.

«Möchtest du auch einen … ähm, Leo?», fragte sie, als wäre ihr sein Name schon wieder entfallen.

Autsch, das tat weh. Sein Herz zog sich zusammen.

«Oh, ich? Ähm, nein. Äh …» Unfähig, klare Worte zu finden, hob er zur Antwort nur sein Bier, ganz so, als spräche er eine andere Sprache.

Sie nickte beinahe abweisend und drehte sich dann zu ihrem … zu Steve. «Möchtest du einen?»

Steve sah sie entschuldigend an. «Ich trinke auch Bier. Schmeckt gar nicht mal übel.»

«Mmmm.» Anna schien nicht erfreut.

Leo erwachte aus seiner Erstarrung. «Es sind noch ein paar Pils im Kühlschrank, wenn du eins willst.» Es war reine Gewohnheit, sie zu fragen. Oder vielleicht wollte er sie auch ein bisschen ärgern? Er nahm einen tiefen Schluck und erklärte: «Ich freue mich schon darauf, ein paar der lokalen Biere zu probieren, während wir hier sind. Ich wollte heute Abend vielleicht ins BeerGeek gehen. Wollt ihr mitkommen?»

Annas Augen blitzten kurz auf, doch dann schaute sie zu Steve, und ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen Streifen. Es war nur eine Andeutung, doch es reichte, um Leo zu zeigen, dass sie seinen Vorschlag einen Moment lang ernsthaft in Erwägung gezogen hatte.

Steve winkte ab. «Nee, Mann. Anna und ich werden die nächsten Monate getrennt sein, also wollen wir lieber was zu zweit machen.»

Anna nickte. «Ich habe uns ein bisschen was zum Kochen eingekauft. Wir …» Sie blickte zwischen Steve und Leo hin und her und schien zu zögern.

Leo musste beinahe lachen, weil ihre guten Manieren ganz offensichtlich im Clinch mit ihrem Wunsch lagen, ihren Freund nicht zu verärgern. «Du kannst … äh … gern mitessen, wenn du willst.»

Es war vermutlich die zögerlichste Einladung, die er je bekommen hatte, und Leo hätte schwören können, dass seine Anwesenheit ähnlich willkommen war wie ein sibirischer Wintereinbruch im Juni.

«Alles gut. Ich lasse euch zwei Turteltäubchen mal lieber allein. Ich muss mir eh noch ein Bett besorgen.» Er holte sein Handy hervor.

«Wie willst du das denn machen?» In Steves Stimme lag leichter Spott.

«Indem ich mir ein Taxi bestelle.» Mit dem Gefühl, dass er nicht mehr zu sagen hatte, stand Leo auf und nahm sein Bier und das Glas mit. «Bis später dann.»

Wie ferngesteuert verließ er die Dachterrasse und nahm die Treppe ins Untergeschoss. Er ging durch den Flur, schnappte sich seinen Rucksack und schloss die Tür seines Zimmers hinter sich. Dann sagte er laut: «Das glaube ich einfach nicht!»

Er sollte die nächsten Monate mit Anna Love zusammenwohnen? Welche merkwürdige Sternenkonstellation hatte denn dieses Durcheinander fabriziert?

Kapitel 2

Anna schloss die Badezimmertür und lehnte sich von innen dagegen. Ein feiner Schweißfilm hatte sich auf ihrer bleichen Stirn gebildet, und ihr Herz schlug so wild gegen ihren Brustkorb wie eine eingesperrte Schmeißfliege gegen eine Fensterscheibe. Obwohl Leo schon vor einer Stunde losgefahren war, um seine Besorgungen bei Ikea zu machen, ebbte das Gefühl der Panik einfach nicht ab.

Sie hatte unverhältnismäßig lange gebraucht, um ihre Einkäufe auszupacken und in der Küche für alles den richtigen Platz zu finden. Zum Glück war Steve weiterhin mit dem Aufbau des Bettes beschäftigt gewesen und hatte nicht gemerkt, wie durcheinander sie war.

Mit einem Seufzer sank sie auf den Toilettensitz. Aus lauter Panik hatte sie so getan, als würde sie Leo gar nicht kennen. Warum hatte sie ihn stattdessen nicht einfach fröhlich begrüßt wie einen alten Freund? Aber dann hätte sie Steve so viel erklären und seine unvermeidlichen Fragen beantworten müssen: Wieso sie Leo kannte? Und woher? Und auch Leos Antworten hätte sie nicht kontrollieren können. Was, wenn er Steve die Wahrheit erzählt hätte?

Steve war das komplette Gegenteil von Leo – er war verlässlich, solide und beständig. Er würde sie niemals fallen lassen, niemals mit anderen Frauen flirten oder ihr das Gefühl geben, nicht zu genügen. Und was noch viel wichtiger war: Sie wusste, dass Steve sie liebte.

Gedankenverloren kaute sie auf ihrer Lippe. Zumindest hatte Leo sie nicht verraten. Aber konnte sie darauf vertrauen, dass er weiter dichthielt, bis Steve am Montag abreisen würde?

Und seit wann, verdammt noch mal, hatte Leo Interesse an Bier? Das war definitiv neu. Und merkwürdig.

«Hey, Anna, ich könnte deine Hilfe gebrauchen», rief Steve.

«Komme!» Mit einem weiteren Seufzer stand sie auf und trat zum Waschbecken. Stirnrunzelnd betrachtete sie ihr Spiegelbild, dann drehte sie den Hahn auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Es gab nichts, was sie jetzt im Moment tun konnte – außer darauf zu hoffen, dass Leo ihnen aus dem Weg gehen würde.

Anna verschränkte die Finger, stieß ein Stoßgebet aus und verließ das Bad. Sie wusste, dass Steve ihr mit dem Einrichten helfen wollte, bevor er wieder zurückfuhr, aber in den letzten Tagen war ihr seine Gegenwart etwas erdrückend vorgekommen.

Wie undankbar sie war! Ihretwegen war er quer durch halb Europa gefahren!, schalt sie sich.

Als sie ihn kennengelernt hatte, war sie so dankbar dafür gewesen, dass der Rugby-Held ihres Dorfes sie mit seinen Aufmerksamkeiten bedachte. Jeder in ihrer Familie liebte Steve Munt, und es hatte ihr geschmeichelt, dass er Interesse an ihr zeigte.

Doch wenn sie ehrlich mit sich war, musste sie zugeben, dass es wohl auch strategische Gründe dafür gegeben hatte. Steve hatte sich vom ersten Tag an praktisch nahtlos in ihre Adoptivfamilie integriert, so als ob seine Anwesenheit Annas eigene Defizite ausgliche. Er hatte ihr einen besonderen Status verliehen, den sie vorher nie gehabt hatte – besonders unter den Rugby-verrückten männlichen Familienmitgliedern und ihren Freunden im Dorf.

Steve war einhundertzehn Prozent verlässlich. Er würde sie niemals im Stich lassen. Sie könnte schwören, wenn er je eine andere Frau auch nur ansehen würde, dann würde sie es als Erste erfahren – weil er es ihr sofort erzählen würde. Und Verlässlichkeit und Ehrlichkeit waren so viel wert, besonders wenn man aus einer Familie kam, in der das Oberhaupt ein solcher Frauenheld und Schürzenjäger war wie ihr Adoptivvater.

Anna schüttelte den Kopf. Ihre Gedanken waren dumm. Vielleicht gaben Steve und sie sich beide in letzter Zeit einfach nicht mehr richtig Mühe. Andererseits … War das nicht ganz normal in langjährigen Beziehungen?

Gerade wollte sie zu Steve gehen, als es an der Tür klingelte. Sie ging zum Eingang, wo sich eine Sprechanlage befand.

«Hallo?»

«Hallo. Ihre Lieferung ist da», sagte eine männliche Stimme in gebrochenem Englisch.

«Was?»

«Das Taxi. Von Ikea. Ich habe Ihre Waren hier.»

Irritiert drückte sie auf den Summer, öffnete die Wohnungstür und hörte das Rascheln von Tüten unten an der Treppe. Sie trat vor und spähte über das Geländer. Im Eingangsbereich sah sie einen Mann, der mehrere blaue Ikea-Taschen in den Flur schob.

«Wo ist Leo?», rief sie durchs Treppenhaus.

Der Taxifahrer blickte auf und sah sie verständnislos an.

«Also, der Mann, der das alles gekauft hat?» Sie fuchtelte mit den Händen herum, als könnte sie damit die Sprachbarriere überwinden.

Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. «Kein Platz. Er ist zu Fuß.» Der Mann bewegte zur Veranschaulichung seine Finger. Dann verschwand er, und die Tür fiel wieder zu.

Anna starrte auf den kleinen Berg da unten im Hausflur. Das waren vermutlich Leos Sachen. Sie seufzte.

Nachdem sie noch ein wenig unentschlossen gewartet hatte, lief sie schließlich die Treppe hinunter. Unten entdeckte sie eine zusammengerollte Matratze sowie Tüten mit Bettwäsche und Handtüchern, eine Nachttischlampe, einen Spiegel, ein paar Kissen und zwei flache Kisten. Sie musste unwillkürlich grinsen, denn sie konnte sich die Szene nur zu gut vorstellen: Leo hatte sich beim Einkaufen mitreißen lassen, und dann war im Taxi kein Platz mehr für ihn gewesen.

Plötzlich wurde die Tür der Erdgeschosswohnung geöffnet, und eine zierliche, sehr elegante ältere Dame mit Stock trat heraus. Sie trug einen Pelzmantel und hübsche Absatzschuhe. Anna versuchte, nicht zu sehr auf ihre gepflegten grauen Haare zu starren, die zu einem schicken Knoten hochgesteckt waren und von einer Strassnadel zusammengehalten wurden.

Beim Anblick all der Sachen vor ihrer Tür kniff die Frau missbilligend die Lippen zusammen.

«Sorry», sagte Anna schnell und griff nach einer der Taschen.

«Sind das alles Ihre?», fragte die Frau mit einer tiefen Radio-Stimme in akzentfreiem Englisch und stupste die Taschen mit ihrem schwarzen Stock an.

«Nein. Eigentlich nicht. Sie … Also, ich glaube, sie gehören meinem Mitbewohner, aber ich weiß nicht, wo er gerade ist.»

«Die Sachen müssen hier weg.» Die Frau wedelte königlich mit einer beringten Hand, als könnte diese Geste allein alles aus ihren Augen schaffen.

Auch wenn Anna ihr recht gab, fand sie es doch unfair, dass sie jetzt die Verantwortung für Leos verdammten Kram übernehmen sollte. Andererseits, war das nicht mal wieder typisch für ihn? Er ließ sich etwas nach Hause liefern und wurde dann von irgendwas abgelenkt, das noch schöner oder glänzender war, denn genauso war Leo.

Zu Annas Überraschung sah die Frau sie jetzt freundlich an. «Wir fragen Jan, ob er helfen kann», erklärte sie. Mit erstaunlicher Behändigkeit eilte sie die Treppe hinauf in die erste Etage und klopfte an die Tür. Anna lauschte einer kurzen Unterhaltung auf Tschechisch, dann erschien ein junger Mann mit dunkler Lockenpracht, kurz geschnittenem Bart und braunen Augen an der Brüstung. Neben ihm beugte sich die ältere Nachbarin vor.

«Das ist Jan. Er wird Ihnen helfen», sagte sie mit gütigem Lächeln, als hätte sie damit alle Probleme des Universums gelöst.

«Oh! Danke», sagte Anna überrascht.

Der Mann kam die Treppe herunter und streckte ihr die Hand entgegen. «Hi, du musst die neue Nachbarin sein.» Er lächelte. «Ich bin Jan.»

«Anna.» Sie begrüßten sich.

«Und das ist …», er zählte stumm bis drei, als würde er auf etwas warten, «… meine Freundin Michaela.» Und tatsächlich erschien in dem Moment oben an der Balustrade eine hübsche blonde Frau.

Jan beugte sich zu Anna. «Sie ist wunderschön, aber seeehr neugierig», flüsterte er mit glitzernden Augen.

An der Seite der alten Dame kam Michaela nun die Treppe herunter. «Hallo, neue Nachbarin!», begrüßte sie Anna in perfektem Englisch. Sie sprach mit leicht amerikanischem Akzent und hatte das Gesicht einer Elfe. Und trotz ihrer zierlichen, zarten Statur strahlte sie mit ihren fliegenden Haaren, den funkelnden braunen Augen und ihren Grübchen unfassbar viel Energie aus. «Willkommen bei uns im Haus.»

«Danke sehr.» Anna trat etwas unbehaglich von einem Bein aufs andere, denn ihr war bewusst, dass sie mindestens einen Kopf größer und ungefähr doppelt so breit war wie dieses Feenwesen.

«Ziehst du gerade ein?», fragte Michaela. «Brauchst du irgendwas?»

Jan schnaubte kopfschüttelnd. «Sie will bloß ihr Englisch üben», erklärte er mit gespielter Leidensmiene. «Fall bloß nicht drauf rein.» Trotz seiner spöttischen Worte war es offensichtlich, dass er seine Freundin anhimmelte.

«Ich lerne eben gern neue Leute kennen», sagte Michaela und stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. «Aber mein Englisch zu verbessern, kann auch nicht schaden.»

Anna wusste nicht, was sie sagen sollte, und lächelte nur. Sie wünschte, sie wäre so unbeschwert wie die fröhliche, selbstbewusste Michaela.

Leo, um dessen Sachen es hier ja schließlich ging, wäre bestimmt etwas Passendes eingefallen. Er war immer gut in Small Talk, besaß auch diesen lockeren Charme.

«Sollen wir?» Michaela nahm eine der Taschen.

«Oh … äh, die gehören gar nicht mir», beeilte sich Anna zu sagen.

«So? Wem denn dann?»

«Na, dem Typen, der mit mir in der Dachgeschosswohnung wohnt.»

«Kennst du ihn gar nicht?»

Anna öffnete den Mund und schloss ihn dann gleich wieder. Sie presste lieber die Lippen zusammen, bevor ihre angeborene Ehrlichkeit die Oberhand gewinnen konnte. Dann schüttelte sie den Kopf.

«Ich habe es dir doch gesagt, Michaela», warf die ältere Dame jetzt ein. «Die Wohnung wurde vom Wirtschaftsministerium für Leute angemietet, die hier eine Fortbildung machen wollen.»

«Ja, das haben Sie gesagt, Ludmila. Ich hatte es nur vergessen.» Michaela beugte sich zu Anna vor und flüsterte: «Ludmila weiß immer alles. Ihr gehört das Haus.»

Die betagte Besitzerin, die kaum größer war als Michaela, richtete sich etwas auf und zog die fein geschwungenen Augenbrauen mit hochmütiger Verachtung in die Höhe. «Natürlich tue ich das. Und jetzt würde ich gern gehen. Ich habe eine Verabredung fürs Ballett und komme sonst noch zu spät.»

«Oh, tut mir leid.» Anna räumte eine der Taschen zur Seite, die den Weg versperrten.

«Viel Spaß!», rief Michaela der alten Dame hinterher, als sie durch die Haustür verschwand.

Dann packten alle mit an. Jan wollte die Matratze nehmen, doch da sie wie eine riesige Biskuitrolle in rutschige Folie eingepackt war, konnte er das unhandliche Ding nicht allein tragen.

«Dafür brauche ich Hilfe», sagte er.

«Okay, ich sage meinem Freund Bescheid. Er ist oben», erklärte Anna und begann mit zwei Taschen unterm Arm den Aufstieg.

Steve war nicht gerade begeistert über den Auftrag. Aber keine zehn Minuten später schleppten er und Jan die vakuumverpackte Matratze die letzten Stufen hinauf.

«Wäre diesem Leo doch nur recht geschehen, wenn wir sie einfach unten gelassen hätten», knurrte er, als sie das Ungetüm in das kleinere Schlafzimmer trugen und neben den Taschen ablegten, die bereits an der Wand standen.

«Vielen Dank, dass ihr uns geholfen habt», sagte Anna zu Jan und seiner Freundin.

Michaela, die eine der großen Taschen die drei Stockwerke hinaufgetragen hatte, ohne auch nur einmal stehen zu bleiben, machte eine wegwerfende Handbewegung. «Kein Problem. Ich wollte schon längst mal eine Ausrede haben, um einen Blick in die Wohnung hier zu werfen. Kann ich vielleicht die Dachterrasse sehen?»

«Michaela!» Jan stieß sie vorwurfsvoll an.

«Es macht dir doch nichts aus, oder?» Sie strahlte Anna so unbedarft an, dass diese zurücklächelte.

Anna zögerte nur einen kleinen Moment. Normalerweise war sie nicht der Typ für spontane Einladungen, aber jetzt gerade fühlte es sich richtig an. Immerhin hatten die beiden alles stehen und liegen gelassen, um ihnen zu helfen.

«Nein, es macht mir überhaupt nichts aus», sagte sie. «Kommt mit.» Sie ging voraus zur Treppe ins Obergeschoss. «Möchtet ihr vielleicht noch … auf einen Drink bleiben?»

«Oh! Das wäre toll», sagte Michaela. «Können wir draußen sitzen? Es muss toll sein mit einer Dachterrasse.»

Anna lächelte. «Ich habe sie selbst noch gar nicht ausprobiert.» Sie drehte sich auf den ersten Stufen kurz um und fing Steves Blick auf.

Was soll das?, fragte er stumm.

Sie ignorierte ihn und redete einfach weiter. «Ich habe allerdings nur Bier da.»

«Und was ist daran schlecht?», fragte Jan amüsiert. «Das ist immerhin unser Nationalgetränk.»

Anna lächelte und entspannte sich ein wenig. Sie war froh, dass sie ihnen ein passendes Getränk anbieten konnte. Auch wenn es sich dabei um Leos Flaschen handelte. «Darum bin ich ja auch hier. Damit ich in einer Brauerei alles Wichtige lernen kann.»

«In welcher denn?» Jan klang ehrlich interessiert.

«Das weiß ich noch nicht. Ich werde es am Montag erfahren. Dann lernen wir unsere Sponsoren kennen.»

Er nickte. «In Prag gibt’s eine große Auswahl an alten traditionellen Brauereien und jungen Craftbier-Brauern.»

«Ich weiß, das macht es ja so aufregend.» Anna konnte ihre Begeisterung nur schwer zügeln, und sie ignorierte Steves leises Stöhnen hinter sich, als die kleine Prozession die Treppe hinaufstieg. Leider teilte er ihre Leidenschaft für Bier überhaupt nicht, auch wenn sie es ihm schon mehrfach zu erklären versucht hatte. Es war die letzte Verbindung zu ihren Eltern, die viel zu früh gestorben waren. Sie waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Anna acht Jahre alt gewesen war. Danach war sie bei ihrer Tante Hazel und ihrem Onkel Henry aufgewachsen, zusammen mit ihren drei Kindern. Henry und die Cousins hatten die Familienbrauerei Talbot’s übernommen, bei der Annas Vater der Chefbrauer gewesen war. Das Unternehmen war von ihrem Urururgroßvater gegründet worden. Auch sie selbst arbeitete mittlerweile dort im Büro, doch eigentlich wollte Anna lieber selbst Bier brauen. Aber das traute ihr niemand wirklich zu.

Oben angekommen, eilte Michaela zu den bodentiefen Terrassenfenstern und winkte Jan mit sprudelndem Tschechisch zu sich.

«Ich hole schnell die Getränke», sagte Anna. «Geht ihr schon raus.»

Die beiden traten auf die Dachterrasse, und auch wenn Anna die Sprache nicht verstand, begriff sie doch, dass sie beeindruckt waren.

«Wieso hast du sie eingeladen?», zischte Steve, der ihr jetzt in die Küche folgte.

«Um mich für die Hilfe zu bedanken», flüsterte sie zurück und wurde unsicher, ob sie ihrem Impuls wirklich hätte folgen sollen.

«Aber sie haben nicht dir geholfen, sondern deinem bescheuerten Mitbewohner.»

Anna nickte. «Aber sie sind jetzt auch meine Nachbarn, und es wird bestimmt nicht leicht, hier Freunde zu finden. Ich kenne niemanden außer meinem … bescheuerten Mitbewohner.» Und mit Leo würde sie ganz sicher nicht viel Zeit verbringen.

Nachdem sie einige Küchenschränke geöffnet hatte, fand Anna passende Gläser und holte die Biere aus dem Kühlschrank. Dann suchte sie in den Schubladen noch nach einem Flaschenöffner.

«Ist das denn überhaupt okay für dich mit diesem Kerl?», fragte Steve. «Ich finde es irgendwie gar nicht gut, dich hier mit ihm allein zu lassen.»

«Ich komme schon klar», sagte Anna, denn sie hatte bereits beschlossen, gleich am Montag nach einer anderen Unterkunft zu fragen.

Steve schüttelte den Kopf. «Dieser dämliche Leo erwartet einfach, dass wir uns um seinen Kram kümmern. Ich hoffe, der verarscht dich nicht. Scheint ein eingebildeter Typ zu sein, ziemlich von sich überzeugt. Hoffentlich ist er wenigstens ordentlich.»

Anna gelang es gerade noch, ein Schnauben zu unterdrücken. Das Wort «ordentlich» existierte in Leos Wortschatz nicht. Das Konzept gehörte nicht in seine Welt. Er war der unordentlichste, chaotischste Mensch, dem sie je begegnet war.

«Ich werde noch mal mit ihm reden, bevor ich fahre», erklärte Steve.

«Worüber?», fragte Anna, bemüht, nicht zu alarmiert zu klingen. Was, wenn Leo dann etwas verriet?

«Na, du weißt schon – dass er dich respektvoll behandelt und hier nicht ständig andere Frauen vögelt.»

«Steve! Das kannst du nicht machen. Was er tut, ist seine Sache.» Doch hinter seinem Rücken ballte Anna die Faust. Danke, Steve, dass du mir dieses Worst-Case-Szenario in den Kopf gesetzt hast.

Sie schluckte schwer bei der Vorstellung, dass Leo jemanden mit in die Wohnung bringen könnte. Doch es gelang ihr, ruhig zu bleiben. «Außerdem, woher willst du das wissen?», fragte sie. «Vielleicht hat er ja eine Freundin.»

Bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um – sicher hatte er eine. Es war Leo. Die Frauen liebten ihn. Und er liebte die Frauen. Alle liebten Leo. Er war wie ein verdammter Labradorwelpe.

«Ich kenne diesen Typ», maulte Steve. «Ich wette, das ist ein Playboy. Der will keine Beziehung, will sich nie festlegen.» Er fuhr sich übers Kinn. «Na, zumindest muss ich mir keine Sorgen darum machen, dass er dich angräbt.»

Anna hob die Augenbrauen und überlegte, ob sie beleidigt sein sollte. «Und wieso nicht?»

«Weil du bestimmt nicht sein Typ bist.» Steve machte ein ungläubiges Gesicht, so als könnte er nicht glauben, dass sie das überhaupt fragte – was ehrlicherweise ziemlich kränkend war.

«Na, vielen Dank.» Anna verschränkte die Arme. Sie fühlte sich wie ein verwelkter Salat, dessen Haltbarkeitsdatum längst abgelaufen war.

«Ich meine ja nicht, dass du unattraktiv bist», erwiderte Steve. «Du bist toll.» Er legte einen Arm um sie und streichelte ihre Wange. «Aber du hast mehr in der Birne. Deshalb ist er auch nicht dein Typ, viel zu oberflächlich.» Steve küsste sie auf den Mund und drückte ihre Hüfte. «Ich meine, vermutlich finden ihn viele Mädchen attraktiv, aber er ist … Na ja, trinkt gleich ein Bier, fährt einfach mit dem Taxi zu Ikea und taucht dann nicht mehr auf. Also, keine Ahnung, aber er scheint mir der Typ zu sein, der vor allem Spaß haben will.»

«Ach, und das weißt du, nachdem du ihn zehn Minuten gesehen hast?», erwiderte Anna mit schrägem Grinsen.

«Den Typ erkennt man sofort. Vermutlich quatscht er jetzt schon jemanden an. Passt mir gar nicht, dass du dich mit so einem rumschlagen musst.»

Anna zuckte nur mit den Schultern und schob Steve in Richtung Dachterrasse. Dann stellte sie ein Tablett zusammen und trug alles hinaus.

Draußen lehnten Michaela und Jan am Metallgeländer, das an zwei Seiten verlief, und deuteten auf verschiedene Sehenswürdigkeiten. Die gelben Nachbargebäude strahlten mit ihren Terrakottadächern um die Wette.

«Man hat wirklich eine sehr schöne Aussicht von hier», sagte Michaela und setzte sich auf einen der Stühle um den Bistrotisch. «So einen tollen Ausblick mitten in der Großstadt hätte ich auch gern.»

Anna nickte, als wüsste sie, was Michaela meinte. Dabei hatte sie nur eine kurze Zeit in London gewohnt. Prag jedenfalls war eine der schönsten Städte, die sie je gesehen hatte.

Sie stellte Gläser und Bier ab und bedeutete ihren Gästen, sich zu bedienen.

Michaela lächelte ihr zu, öffnete eine Flasche und füllte sich ein Glas voll. Sie nahm einen Schluck.

Unbehagliches Schweigen breitete sich aus, das Anna irgendwann nicht mehr aushielt.

«Wohnt ihr schon lange hier im Haus?», fragte sie schließlich. Die Frage wirkte irgendwie hilflos, fand sie, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Sie war wirklich keine Meisterin im Small Talk. Und Steve war auch nicht gerade hilfreich, wie er da schweigend auf seine Bierflasche starrte.

«Wir sind seit über zwei Jahren hier», sagte Michaela.

«Und die Dame im Erdgeschoss?»

«Ludmila!» Michaelas Augen fingen an zu leuchten. «Sie ist ein Schatz. Sie wohnt schon lange hier. Aber früher hat sie in London gelebt, darum ist ihr Englisch auch so gut. Sie war erst Tänzerin beim Royal Ballet und dann Choreografin hier in Prag beim Tschechischen Nationalballett.»

«Sie ist der Boss», ergänzte Jan grinsend. «Wenn sie etwas sagt, machen wir es.»

«Aber sie ist auch wahnsinnig nett und hilfsbereit», sagte Michaela mit liebevollem Blick. «Unsere Familien sind weit weg. Sie ist also so was wie unsere babička, die Oma im Haus. Sie backt gern und bringt uns immer Leckereien. Zu Weihnachten vánočka und zu Ostern velikonoční bochánek, das sind beides süße Brote mit Früchten drin. Und sie macht den besten kolach, stimmt’s, Jan? Das ist ein typischer tschechischer Kuchen.»

«Habe ich gerade Kuchen gehört? Gibt’s was zu feiern?» Plötzlich stand Leo auf der Dachterrasse. «Hi, ich bin Leo.» Mit der Leichtigkeit eines Menschen, der wusste, dass er immer und überall willkommen war, schüttelte er Michaela und Jan die Hand.

Michaela richtete sich auf. «Wir wohnen ein Stockwerk unter euch.»

Anna sah Leo herausfordernd an. «Michaela und Jan haben dabei geholfen, deine Ikea-Einkäufe raufzuschleppen», sagte sie leicht säuerlich.

«Oh, sind die schon angekommen? Super!» Er klatschte in die Hände. «Dann habe ich heute Nacht ja ein Bett.» Grinsend nahm er sich eine Bierflasche und öffnete sie.

Anna war fassungslos. Und auch Steve schien Leos Verhalten zu missfallen.

«Die Matratze war verdammt schwer», empörte er sich. «Gern geschehen.»

Leo nahm einen Schluck. «Ja, erstaunlich, dass sie die Dinger so zusammenrollen können, oder?» Die unterschwellige Kritik schien ihn überhaupt nicht zu beeindrucken. «Und wie sie dann aufgehen, wenn man die Folie abmacht. Puff!» Er unterstrich das Wort mit seiner freien Hand. «Einfach toll! Aber … danke. Ihr wisst ja, wie das so ist bei Ikea. Man will nur ein paar Kleinigkeiten kaufen, aber am Ende kann man seinen Einkaufswagen kaum noch schieben.»

Jan nickte stöhnend, und Michaela lachte. «Jedes Mal», bestätigte sie.

Da alle Bistrostühle belegt waren, setzte sich Leo im Schneidersitz auf den Terrassenboden und stützte die Ellenbogen auf seine Knie. «Also, Michaela und Jan, dann brieft uns doch mal: Was könnt ihr hier in der Nähe empfehlen? Was ist die beste Kneipe? Wo muss man hingehen? Ich habe keine Ahnung, wo wir sind.»

«Wir sind in Košíře», sagte Jan. «Ihr wisst, dass die Stadt in Bezirke unterteilt ist?»

Leo schüttelte den Kopf.

«Also, das hier ist Praha 5, ein wunderschönes Viertel mit vielen Parks, wo Familien gern wohnen. Manche Ecken sind überraschend hügelig. Und zum Ausgehen … Also, tagsüber gibt es auf der Pod Školou gute Einkaufsmöglichkeiten, ein Supermarkt ist hier gleich um die Ecke, aber es gibt auch eine sehr gute Kneipe. Wir können euch ja mal mitnehmen.»

«Das klingt nach einer super Idee», sagte Leo begeistert. «So fängt das Leben hier doch gleich gut an. Ich komme sehr gern mit.»

Michaela lächelte so breit, dass ihre Grübchen noch mehr hervortraten.

Anna seufzte innerlich. Einfach so hatte Leo bereits Freunde gefunden! Sie spürte einen Anflug von Neid, weil es ihm so leichtfiel und weil ihr die eigene Unfähigkeit dadurch nur noch deutlicher bewusst wurde.

«Das ist eine coole Wohnung, oder?», fragte er und deutete mit der Bierflasche um sich.

Jan nickte. «Wir sind sehr neidisch auf eure Dachterrasse.»

«Ach, ihr könnt jederzeit raufkommen», meinte Leo unbekümmert. «Die Dachterrasse und der Holzofen im Wohnzimmer – das hat schon was. Hätte ich bei dem Gebäude gar nicht erwartet.»

«Ja, es ist von außen ziemlich hässlich», bestätigte Jan. «Von solchen Bauten gibt es hier einige. Außen die alte kommunistische Sachlichkeit, innen tschechische Liebe und Handwerkskunst. Wir machen unsere Wohnungen gern zu unserem Zuhause. Aber die Musílkova ist auch eine sehr gute Wohnstraße, eine klasse Mischung aus Alt und Neu.»

Anna lehnte sich zurück. Jetzt, wo Leo da war, verlief die Unterhaltung ganz leicht und ohne dieses verkrampfte Bemühen, einander kennenzulernen. Er hatte eben dieses Talent, sich schnell mit Leuten anzufreunden.

Es war einfach zu ärgerlich!

Kapitel 3

Anna goss sich eine Tasse Kaffee aus der Cafetiere ein und verspannte sich unwillkürlich, als sie Schritte hörte, die sich der Küche näherten. Das ganze Wochenende lang hatte sie erfolgreich vermieden, Leo allein zu begegnen. Doch jetzt war Montag, und Steve war vor einer halben Stunde losgefahren, um die Rückreise nach England anzutreten.

«Guten Morgen», sagte Leo fröhlich.

«Morgen», antwortete sie mit gepresster Stimme. Sie drehte ihm absichtlich den Rücken zu.

«Da ist nicht vielleicht noch Kaffee für mich übrig?», fragte er, als wäre es das Normalste von der Welt, dass sie beide sich morgens in der Küche begegneten.

«Klar», sagte sie durch zusammengebissene Zähne und griff nach einem sauberen Becher. Ihr Puls beschleunigte sich, doch sie goss Leo trotzdem Kaffee ein und fügte einen Schuss Milch hinzu. Dann drehte sie sich zu ihm um. Vielleicht sollte sie sich ja ein Beispiel an ihm nehmen und weiterhin so tun, als würden sie sich gar nicht kennen.

Doch dieser Gedanke verpuffte, sobald sie ihn vor sich sah. Er stand mit einem hellblauen Handtuch um die Hüften da, das seine goldbraune Haut und die weißblonden Haare auf seiner Brust und den muskulösen Beinen betonte.

Ihr Mund wurde knochentrocken. Wow! Wo zur Hölle kamen denn diese Proportionen eines griechischen Gottes her? Leo hatte richtig Muskeln angesetzt, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Da waren sie natürlich auch noch sehr viel jünger gewesen, aber diese Brustmuskeln, der Bizeps und diese dunklen Haare, die unter dem Bauchnabel nach unten führten …

Anna musste schlucken.

Doch Leo schien es gar nicht zu merken, dass sie ihn anstarrte. Und aus irgendeinem Grund regte sie sein unbedarftes, fröhliches Selbstbewusstsein an diesem Morgen auf. Wie konnte er nur so tun, als wäre alles ganz normal?

«Ist der für mich?», fragte Leo und deutete mit dem Kopf auf den Becher, den sie immer noch in der Hand hielt.

«Äh, ja, nimm ruhig.» Sie reichte ihm den Kaffee und konzentrierte sich darauf, seine Finger nicht zu berühren.

«Wo ist denn dein Lover?» Er schaute sich um, als könnte Steve sich in einem Küchenschrank versteckt haben. Dabei grinste Leo vor sich hin, als amüsierte er sich über einen heimlichen Witz.

Anna zog die Luft ein. Sie fühlte sich überfordert. Das hier war unfair.

«Er ist abgereist», sagte sie. «Er muss morgen wieder arbeiten, darum ist er schon früh los.»

«Dann sind wir ja nur noch zu zweit.» Leos Grinsen wirkte jetzt beinahe triumphierend. «Wie lange ist der denn schon auf dem Plan?»

Annas Nerven, die schon die ganze Zeit zum Zerreißen angespannt waren, gaben nun vollends nach. «Zwei Jahre. Aber das geht dich gar nichts an. Und zieh dir gefälligst was über», fauchte sie. «Hier kannst du niemanden beeindrucken.»

Beiläufig nahm er ihr endlich den Becher aus der Hand. «Du hast mich also vermisst?»

Sie funkelte ihn an. Dass er all das nicht ernst nahm, hätte sie ja ahnen können.

Leo zuckte mit den Schultern. «Nach deiner herzlichen Begrüßung von Freitag zu schließen, weiß er jedenfalls nichts von uns. Oder?»

Anna schluckte und schüttelte den Kopf. «Nein. Muss er auch nicht. Das ist lange her. Und wir waren ja praktisch noch Teenager. Aber die Situation hier ist einfach sehr unglücklich …»

«Mmm, leckerer Kaffee», sagte Leo. Er schien sich vor allem zu amüsieren. «Tja, das Schicksal ist schon eine merkwürdige Sache.» Er lehnte sich an einen der Schränke und verschränkte einen Arm hinter seinem Kopf.

Anna bemühte sich, nicht darauf zu achten, wie sich seine gebräunte Haut über den glatten Muskeln spannte.

«Ich glaube nicht an Schicksal. Es ist einfach Pech», fauchte sie. «Aber keine Sorge, bei dem Treffen heute werde ich nach einer anderen Unterkunft fragen.»

Er musterte sie einen Moment. «Musst du wissen», sagte dann. «Meinetwegen musst du nicht ausziehen. Wir können uns doch bestimmt benehmen.»

Anna starrte in seine dunkelblauen Augen, die vollkommen ahnungslos und ernsthaft wirkten. «Du kämst also gar nicht auf den Gedanken, ein Gentleman zu sein und selbst auszuziehen?»

Er runzelte leicht die Stirn. «Ich?», fragte er ungläubig.

«Ja, du.»

«Aber warum? Ich bin doch nicht der, der ein Problem hat.»

Sie schnaubte. «Leo, jetzt sei doch einmal ernst.»

«Bin ich. Ich mag diese Wohnung. Ich mag Jan und Michaela. Ich weiß jetzt schon, dass sie gute Freunde werden. Es ist ein nettes Viertel. Ich will nicht umziehen. Ich bin gerade erst angekommen.» Er senkte den Arm, stellte den Kaffeebecher ab und tat einen Schritt auf sie zu. «Wir sind doch erwachsen, Anna. Wir können ganz freundschaftlich zusammenwohnen. Und uns aus dem Weg gehen, wenn es das ist, was du möchtest.»

Wieder fiel ihr Blick auf seine Brust. Wie konnte man nur so verdammt gut aussehen? Aber sie wusste schließlich, wie Leo war – und das sollte ihre Hormone eigentlich dämpfen. Aber sie schienen keinerlei Verständnis für ihren gesunden Menschenverstand zu haben und drehten stattdessen voll auf. Übermütig, neugierig und völlig außer Kontrolle. Wie ein Teenager.

Sie hoffte, dass Leo nicht merkte, welche Wirkung er auf sie hatte.

«Seit wann interessierst du dich überhaupt fürs Bierbrauen?», fragte sie. Ihre Neugier gewann schließlich die Oberhand.

Er warf ihr einen langen Blick zu, dann hob er ergeben die Hände. «Ich kannte mal ein Mädchen, das Bier richtig gern mochte. Sie hat das Interesse in mir geweckt. Dann verlor ich leider das Interesse an ihr und …» Er fuhr sich durch die Haare. «Vor anderthalb Jahren ungefähr, als ich gerade nichts mit mir anzufangen wusste, lernte ich einen Typen kennen, der eine Mikro-Brauerei in Richmond führt. Er brauchte Unterstützung …» Leo zuckte mit den Schultern. «Ich habe am Anfang erst mal für ihn ausgeliefert und mich dann langsam ins Thema eingearbeitet. Nur, die Brauerei ist zu klein, um mich fest anzustellen, und ich habe noch nicht genug Erfahrung. Im letzten Sommer traf ich dann ein paar Italiener, die ebenfalls Craftbier machen, denen habe ich auch geholfen. Und irgendwann habe ich beschlossen, dass ich gern meine eigene Brauerei hätte. Und deshalb bin ich hier.»

Anna unterdrückte den Satz, der ihr auf der Zunge lag: Du hast das also beschlossen. Das sagte doch alles. Ihr dagegen lag die Brauerei im Blut. Darum war sie hier.

Leo schnappte sich seinen Kaffeebecher und tat, als wollte er ihr zuprosten, dann spazierte er fröhlich grinsend an ihr vorbei und aus der Küche.

Anna presste die Zähne aufeinander, um ihm nicht hinterherzuknurren. Sie starrte auf seinen Rücken, der sehr schön war, wie sie zugeben musste, ebenso wie sein Hintern, dessen knackige Pobacken sich durch den Stoff des Handtuchs abzeichneten.

Wieso musste Leo nur so verdammt entspannt sein? Er musste doch einsehen, dass sie hier nicht zusammenwohnen konnten. Nicht mit ihrer Vergangenheit.

 

Eine halbe Stunde später war sie abmarschbereit. Sie nahm ihre Tasche, warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel in ihrem Zimmer – sie war bereit für den Tag.

Der öffentliche Nahverkehr würde sie mit reichlich Puffer rechtzeitig zum Veranstaltungsort bringen. Auf keinen Fall wollte sie am ersten Tag zu spät kommen, wo sie doch ihren Sponsor und die Organisatoren des Programms treffen würde. Es war wichtig, von Anfang an einen guten Eindruck zu machen, denn sie würde alle Unterstützung benötigen, um die Brauereiausstattung zu gewinnen, was schließlich der Hauptgrund für ihren Aufenthalt hier war.

Trotz aller Bemühungen hatte sie ihren Onkel bisher nicht dazu überreden können, sie in die Kunst des Bierbrauens einzubeziehen, geschweige denn ihr zu erlauben, ihr eigenes Bier zu kreieren. Aber wenn sie diese Ausrüstung gewinnen würde und ihre Ersparnisse dazulegte, dann konnte sie ihn hoffentlich davon überzeugen, ihr einen kleinen Teil des Gebäudes abzutreten, damit sie ihre eigene Linie aufbauen konnte. Immerhin war sie Teilhaberin und saß im Vorstand, auch wenn ihr nur ein winziger Teil der Firma gehörte.

Seufzend trat sie in den Flur und stellte fest, dass Leo, der normalerweise immer alles auf den letzten Drücker tat, bereits losgegangen sein musste, denn seine Zimmertür stand weit offen. Das war eine Überraschung. Normalerweise war Spontaneität seine zweite Natur, jede Routine grauste ihn.

Noch einmal überprüfte Anna, ob sie alles dabeihatte, dann verließ sie die Wohnung und ging die Treppe hinunter. Sie spürte eine Mischung aus ängstlicher Nervosität und gespannter Aufregung. Du machst das hier für dich, ermahnte sie sich. Das ist das, was du wirklich tun willst.

Ja, sie hatte sich durchgesetzt, auch wenn alle zu Hause sie für verrückt gehalten hatten, weil sie eine Fortbildung im Ausland machen wollte, wo sie doch einen so guten Job im Büro der Familienbrauerei hatte. Mit einer gewissen Befriedigung stellte sie sich vor, wie die anderen reagieren würden, wenn sie die Ausstattung gewann und ihren Plan in die Tat umsetzte.

In diesen positiven Gedanken vertieft, ging sie aus dem Haus – und prallte vor der Tür mit Leo zusammen.

Die Hand, die er ausstreckte, um sie aufzufangen, war sanft, genauso wie der Ausdruck in seinen Augen. Und beides förderte flatternde Gefühle in ihr zutage, von denen sie eigentlich angenommen hatte, sie hätte sie längst begraben.

«Was machst du hier?», platzte sie überrumpelt hervor. Sie war davon ausgegangen, dass er längst in irgendeiner Straßenbahn saß, auf dem Weg in die Innenstadt.

«Ich wohne hier.» Er grinste und wedelte mit einer leeren Brötchentüte vor ihrer Nase herum. «Hab mir gerade ein kleines Frühstück geholt.»

«Frühstück?», wiederholte sie begriffsstutzig.