Der kleine Teeladen in Tokio - Julie Caplin - E-Book
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Der kleine Teeladen in Tokio E-Book

Julie Caplin

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Beschreibung

Herzklopfen zur Kirschblüte Die angehende Fotografin Fiona ist überglücklich, als sie zu einer Reise nach Japan eingeladen wird. Es ist ein Stipendium, und ihre Bilder sollen anschließend in einer angesehenen Londoner Galerie gezeigt werden. Doch in Tokio stellt sich heraus, dass der Engländer Gabriel Burnett ihr Tutor sein wird. Ausgerechnet Gabe! Für ihn hat Fiona lange und unerwidert geschwärmt. Und Gabe hat sichtlich kein Interesse an einer Zusammenarbeit. Zum Glück wohnt Fiona bei einer warmherzigen Gastfamilie, die einen traditionellen Teeladen führt und ihr die japanische Kultur näherbringt. Dank Zen-Garten und Teezeremonie blüht Fiona auf. Aber kann sie auch einen Zugang zu Gabes Herzen finden?

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Seitenzahl: 459

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Julie Caplin

Der kleine Teeladen in Tokio

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Christiane Steen

 

Über dieses Buch

Herzklopfen zur Kirschblüte

Die junge Engländerin Fiona ist furchtbar aufgeregt, als sie zu einer Reise nach Japan aufbricht. Es ist ein Stipendium, sie darf bei einem weltbekannten Fotografen lernen, und ihre Bilder sollen anschließend in einer angesehenen Londoner Galerie gezeigt werden. Doch in Tokio stellt sich heraus, dass ihr Landsmann Gabriel Burnett ihr Tutor sein wird. Ausgerechnet Gabe! Für ihn hat Fiona vor langer Zeit unerwidert geschwärmt. Und Gabe hat sichtlich kein Interesse an einer Zusammenarbeit.

Zum Glück wohnt Fiona bei einer warmherzigen Gastfamilie. Die Frauen der Familie Kobashi führen einen traditionellen Teeladen und bringen ihr die japanische Kultur näher. Dank Zen-Garten und Teezeremonie blüht Fiona in dem fremden Land auf. Doch gilt das Gleiche auch für ihre Liebe zu Gabe?

Vita

Julie Caplin lebt im Südosten Englands, liebt Reisen und gutes Essen. Als PR-Agentin hat sie in diversen Großstädten gelebt und gearbeitet. Mittlerweile widmet sie sich ganz dem Schreiben. In der Romantic-Escapes-Reihe sind bereits erschienen: «Das kleine Café in Kopenhagen», «Die kleine Bäckerei in Brooklyn», «Die kleine Patisserie in Paris» und «Das kleine Hotel auf Island». Die Romane sind auch unabhängig voneinander ein großes Lesevergnügen. Weitere Bände sind in Planung.

 

Christiane Steen ist Programmleiterin und Übersetzerin. Sie lebt in Hamburg.

Für Nick, Ellie und Matt, die sich zum Glück hervorragend allein durchschlagen können.

Kapitel 1

Internationaler Flughafen Tokio-Haneda

«Verhalt dich einfach unauffällig, ganz unauffällig», wiederholte Fiona ihr vertrautes Mantra, während sie einbeinig wie ein Storch dastand, den linken Fuß an der Wade des rechten Beines rieb und dabei an der Spitze ihres langen blonden Pferdeschwanzes zupfte. Was angesichts der Tatsache, dass sie von lauter kleinen Frauen umringt war, die wie Ameisen umherhuschten, ziemlich albern war. Aber neben diesen zarten, feenhaften Wesen mit ihren anmutigen Zügen und ihren dichten, seidig glänzenden Haaren kam Fiona sich vor wie ein unförmiges Mammut – hochgewachsen, wie sie war –, das sich aus Versehen auf einem Pariser Laufsteg wiederfand. Einen schrecklichen Moment lang fühlte sie sich in ihre Schulzeit zurückversetzt, umgeben von den coolen Mädchen mit ihren abschätzigen Blicken.

Sie bemühte sich, tief durchzuatmen und sich ein wenig zu beruhigen, doch es klang wie ein gequältes Japsen. Um sie herum wurden die Ankommenden von Männern in makellosen Anzügen begrüßt, die Schilder mit Namen in die Höhe hielten. Es fühlte sich an wie damals im Sportunterricht, als sie immer bis zuletzt rumstand, weil keine der Mannschaften sie wählen und als Niete im Team haben wollte.

Fiona suchte weiter die weißen Schilder nach ihrem Namen ab. Ihre Ohren dröhnten vom Lärm des großen Flughafens, und in ihrer kribbelnden Wirbelsäule spürte sie die wachsende Anspannung. Ihr Flugzeug war bereits vor einer Stunde gelandet, ihre Koffer waren vom Gepäckband gelaufen, und doch musste sie immer noch warten. Am liebsten hätte sie noch einmal auf die Reiseunterlagen gesehen, die in ihrer Tasche steckten, doch das hätte zu unsicher gewirkt. Vertrau einfach diesem Stück Papier und den Abmachungen, die darauf stehen, ermahnte sie sich. Sie war hier. Sie war mutig. Es war kein Geheimnis, dass sie sich weit außerhalb ihrer Komfortzone befand, aber sie würde es durchziehen. Trotz der Bedenken ihrer Mutter war das hier die Chance ihres Lebens – eine Chance, die sie niemals für möglich gehalten hätte.

Nicht nur, dass sie in Verbindung mit der Kunstfakultät der Universität Tokio einen vollbezahlten Aufenthalt in Japan gewonnen hatte; es bot sich dazu noch die Möglichkeit, ihre Fotografien anschließend im Japanzentrum in Kensington im Westen Londons auszustellen, das empfand sie als die absolute Krönung.Sie war so dankbar dafür, dass sie sich damals für einen Abendkurs an einer der Londoner Unis eingeschrieben hatte.

Sie schob eine Hand in die tiefe Tasche ihres Mohairmantels und rieb mit den Fingern über das glatte Elfenbein des Netsuke, der kleinen Schnitzfigur, die früher einmal zu einem traditionellen japanischen Gewand gehört hatte. Dieses kleine Kaninchen begleitete sie auf all ihren Reisen, es war das Einzige, was sie von ihrem Vater besaß. Er war gestorben, als sie noch ein Baby gewesen war. Die Figur hatte in ihr ein vages Interesse an Japan geweckt, sodass sie sich sogar ohne Drängen ihrer sonst so bestimmenden Freundin Avril für den Wettbewerb angemeldet hatte. Avril hatte ihr nur noch den letzten Schubs gegeben.

Und nun war sie für zwei Wochen hier. Zwei Wochen, in denen sie alles erleben würde, was Japan zu bieten hatte, inklusive Coaching von einem der besten Fotografen der Welt: Yutaka Araki. Sie hatte hart an ihrer Bewerbung gearbeitet, und ob sie es nun glauben wollte oder nicht, sie verdiente es, hier zu sein.

Es juckte ihr in den Fingern, den sorgfältig gefalteten Zettel aus ihrer Tasche zu ziehen und ihn doch noch einmal zu lesen. Stopp, sagte sie sich, du weißt genau, was darauf steht: Man wird dich am Flughafen Tokio-Haneda abholen. Jemand mit einem dieser kleinen hübschen Schildchen, auf dem dein Name steht, wird gleich hier sein. Vielleicht sogar der berühmte Yutaka Araki persönlich. Ihre Hand legte sich über ihr Handy, das neben dem kleinen Kaninchen in der Manteltasche steckte. Nein, sie würde jetzt nicht ihre Nachrichten am Telefon checken. Bestimmt hatte ihre Mutter wieder ein Update zu ihrem Blutdruck geschickt. Er stieg an, sobald Fiona etwas tat, was ihrer Mutter nicht gefiel.

Fiona schaute sich in dem luftigen Gebäude um, betrachtete die bevölkerte Ankunftshalle und versuchte zu benennen, was so anders war. Glücklicherweise waren einige Schilder nicht nur in den faszinierenden, aber sehr verwirrenden japanischen Schriftzeichen, sondern auch auf Englisch. Dass sie die wesentlichen Informationen nicht würde entziffern können, war eine ihrer größten Sorgen gewesen – gemeinsam mit der Tatsache, dass sie nie wirklich gelernt hatte, mit Stäbchen umzugehen. Auch Sushi hatte sie niemals probiert, weil sie rohen Fisch einfach nicht mochte.

Sie schluckte. Und wenn nun niemand kam? Was sollte sie dann tun? Sie seufzte wieder und verlagerte das Gewicht auf das andere Bein, während sie gleichzeitig voller Hoffnung auf die Neuankömmlinge schaute. Alles fühlte sich fremd und unbehaglich an. Auch wenn sie das Coca-Cola-Logo auf dem riesigen Getränkeautomaten gegenüber erkennen konnte, waren die Beschriftungen der bunten Dosen darin sämtlich unverständlich.

Ihr Blick blieb an einer Person hängen, die eilig und mit wehendem Mantel auf sie zukam. Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Das konnte doch nicht wahr sein. Das bildete sie sich doch wohl ein.

Oh, verflixt und dreifach zugenäht.

Er war es.

Gabriel Burnett, Times-Fotograf des Jahres und Gewinner von Portrait of Britain sowie einer Million anderer Fotografiepreise. Der Mann besaß viel Talent, ganz zu schweigen von seinem Charme, dem Aussehen und unfassbar viel Charisma. Außerdem war er einst der Liebling der Presse gewesen.

Was machte er hier? Er konnte doch wohl nicht … Nein, es musste ein absoluter Zufall sein. Aber in ihrem Kopf fügten sich plötzlich die Dinge wie Teile eines Puzzles zusammen. Sie hatte einen Fotowettbewerb gewonnen. Er war Fotograf. Jemand sollte sie abholen. Er war in der Ankunftshalle.

Aber er konnte doch unmöglich ihretwegen hier sein!!!

Obwohl sie sich jede Gefühlsregung ausdrücklich verbot, setzte ihr Herz mindestens zehn Sekunden lang aus, bevor es so wild zu schlagen anfing wie ein Schnellzug, der durch einen Tunnel rast. Gabe Burnett. Er kam direkt auf sie zu. Fuhr sich mit dieser schnellen, ruckartigen Geste durch die dunklen Haare, an die sie sich so gut erinnerte.

Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre geflüchtet, doch irgendwie hatten sich ihre Füße in Bleiklumpen verwandelt, über die sie keine Kontrolle mehr besaß. Er stellte sich an die Absperrung und zog ein weißes Blatt Papier hervor, auf dem mit Großbuchstaben FIONA H. gemalt worden war. So als hätte er es zu eilig gehabt, um noch ihren Nachnamen zu schreiben, aber doch vorsorgen wollen für den Fall, dass sich mehrere Fionas unter den Fluggästen befanden. Es war zehn Jahre her. Würde er sie wiedererkennen? Das war sehr unwahrscheinlich. In der Zwischenzeit musste er Hunderte von Studenten unterrichtet haben. Damals war sie selbstsicherer gewesen, mit einer gewissen Vorliebe für Latzhosen, bauchfreie Pullis in Knallfarben und Paisleytücher, mit denen sie ihre Haare hochband. Fiona konnte sich noch genau daran erinnern, wie ihr Selbstbewusstsein damals wie eine alte Walnuss zusammengeschrumpelt war. Es hatte eine Menge mit dem Mann zu tun, der nun drei Meter von ihr entfernt stand und den Zettel mit ihrem Namen hochhielt, während er sich so nonchalant und entspannt in der vollen Ankunftshalle umsah wie jemand, der sich überall wohl fühlte.

«Das bin ich», sagte Fiona und hob die Hand wie ein Schulmädchen, das sich meldete. Sie nickte in Richtung seines Zettels. «Fiona. Fiona Hanning.» Sie streckte ihm die Hand hin.

«Super. Schon lange gewartet?» Er stopfte sich das behelfsmäßige Schild in die Tasche und verbeugte sich zu ihrer Überraschung.

Sie verzog leicht den Mund und ließ die Hand sinken. Er war immerhin eine halbe Stunde zu spät. Doch Menschen wie er hatten es wohl nicht nötig, sich bei Normalsterblichen zu entschuldigen.

«Ich bin Gabriel Burnett. Die meisten nennen mich Gabe. Nett, Sie kennenzulernen.» Er verbeugte sich wieder, doch dann streckte er doch seine Hand aus, und sie riss ihre aus der Manteltasche, um sie zu schütteln. «Die Leute begrüßen sich hier mit Verbeugung.»

Das wusste sie natürlich, immerhin hatte sie sich auf diese Reise vorbereitet. Sie hatte bloß nicht von ihm erwartet, dass er sich gegenüber seinen Landsleuten an diese Sitte hielt. «Man gewöhnt sich sehr schnell dran. Visitenkarten sind auch sehr beliebt. Wenn man Ihnen eine gibt, dann nehmen Sie sie unbedingt mit beiden Händen an und behandeln Sie die Karte wie einen kostbaren Gegenstand. Auf keinen Fall dürfen Sie sie einfach einstecken. Legen Sie sie sorgfältig in Ihr Portemonnaie. Hier in Japan wird Respekt großgeschrieben.»

«Okay», sagte sie, amüsiert von seinem Redefluss. Sie kannte ihn als Mann weniger Worte; nur, wenn es um seine Arbeit ging, war er gesprächig gewesen. Aber sie hatte ihn auch zehn Jahre lang nicht gesehen. Und ganz sicher hatte auch sie sich verändert – sehr sogar. Plötzlich fielen ihr Avrils Abschiedsworte ein, als sie sie am Flughafen abgesetzt hatte. Sie musste lächeln: «Hör auf, das Mauerblümchen zu spielen. Da drüben kennt dich keiner, da kannst du sein, wer immer du willst.» Was theoretisch eine super Idee war, jedenfalls wenn man wie Avril als äußerst selbstbewusste Moderatorin im Frühstücksfernsehen arbeitete, mit der Liebe seines Lebens verheiratet und Mutter eines hinreißenden Zweijährigen war. Seit ihrer Pressereise nach Kopenhagen war Avril eine von Fionas engsten Freundinnen geworden.

«Ist das hier Ihr Gepäck?», fragte Gabe und unterbrach Fionas Gedanken.

Sie nickte und hob leicht das Kinn. Sie war nicht mehr achtzehn.

«Mehr haben Sie nicht?» Fragend sah er sie an.

«Nein», sagte sie.

«Das macht es uns leichter in der Schwebebahn.» Und mit diesen Worten packte er den riesigen Koffer und ging voran.

Es war ein schwieriges Unterfangen gewesen, für zwei Wochen zu packen für ein Reiseziel, das man überhaupt nicht kannte; doch Avril hatte sie mit freundlicher Bestimmtheit gerettet. Wäre Fiona bei ihrem ursprünglichen Plan – Jeans und T-Shirts – geblieben, wäre ihr Koffer nur halb so voll geworden.

Sie musste sich anstrengen, um mit Gabe mitzuhalten, der sich durch die Menschenmenge drängelte, und gleichzeitig all die neuen Eindrücke in sich aufzunehmen. Erst als sie in der markierten Schlange für die Monorail standen, fand sie wieder zu sich.

«Ähm … es ist wirklich nett von Ihnen, mich abzuholen.»

Gabes Ausdruck wurde ernst und seine Stimme so leise, dass sie ihn kaum noch verstand. «Äh, ja. Es gab da eine kleine Planänderung. Leider hatte Yutaka Araki einen Trauerfall in der Familie und musste nach Niseko zurück. Sie müssen sich darum leider mit mir abgeben.» Sein Mund zuckte schelmisch, dann fügte er hinzu: «Ich bin aber auch nicht so schlecht.»

Fiona ärgerte sich über sein unverschämtes Selbstbewusstsein – und über ihren ansteigenden Puls. Sie funkelte ihn an. «Mir ist durchaus bewusst, wer Sie sind, Mr. Burnett», sagte sie und beugte sich etwas vor, um ihn besser zu verstehen.

«Mr. Burnett, ja? Aua. Damit haben Sie mich auf meinen Platz verwiesen. Jetzt fühle ich mich wie einhundertdrei.» Er lachte leise.

Sie biss sich auf die Lippe. Sie wusste genau, wie alt er war.

«Jedenfalls, das mit Yutaka tut mir leid, aber es ging nun mal nicht anders. Die Universität rief mich an – ich habe da mal unterrichtet – und fragte, ob ich einspringen könnte. Ich kenne Professor Kobashi, der dieses Förderprogramm hier in Tokio leitet. Und seine Frau. Sie vermieten mir die Wohnung und das Studio. Jedenfalls, wenn Sie Yutaka unbedingt treffen wollen: Bis zum Ende Ihres Aufenthaltes wird er wohl wieder da sein.»

«Ich bin sicher, Sie schaffen das», erwiderte Fiona und war selbst überrascht von ihrer Kühnheit. Sie senkte ebenfalls die Stimme: «Wie Sie schon sagten, so schlecht sind Sie ja nicht.»

Anstatt beleidigt zu sein, grinste er sie an. «Es gibt doch nichts Besseres, als zum zweiten Mal auf seinen Platz verwiesen zu werden.»

«Vermutlich passiert das nicht so oft», meinte Fiona trocken, noch bevor sie darüber nachdenken konnte, was sie sagte.

Mit einem schiefen Grinsen drehte er sich zu ihr um und betrachtete sie, als sähe er sie zum ersten Mal. «Ich bin gar nicht so unausstehlich, wissen Sie. Sie sollten nicht alles glauben, was in den Zeitungen steht.» Er sah ihr in die Augen, und einen Augenblick dachte sie, dass hinter seinen Worten vielleicht mehr steckte. Es hatte eine Zeit gegeben, da war sein Foto beinahe ebenso oft in den Zeitungen erschienen wie seine Fotografien. Models waren seine beliebtesten Motive gewesen.

«Ich lese nur selten Zeitungen. Meine Freundin Kate hat früher in Public Relations gearbeitet und sagt immer, das meiste ist sowieso erfunden. Und meine Freundin Avril arbeitet beim Frühstücksfernsehen und weiß, was hinter den Gerüchten steckt.»

«Sehr vernünftig», sagte er. «Also, warum Japan?»

Vielleicht war es der anerkennende Blick, mit dem er sie ansah, oder die Tatsache, dass er sich ganz offensichtlich nicht an sie erinnerte – jedenfalls zog sie das kleine Netsuke aus ihrer Tasche. «Deswegen.»

Gabe streckte einen Finger aus und strich über die glatte Oberfläche aus Elfenbein. «Darf ich?»

Sie gab ihm die Figur. «Es gehörte meinem Vater. Er ist gestorben, als ich noch ein Baby war, und als ich sechs war, habe ich es gefunden. Ich hatte keine Ahnung, was es war, bis meine Oma es mir erklärte. Ein Netsuke. Mein Vater hat es als Junge in einem Antiquitätenladen gekauft, er wollte immer nach Japan, hat es aber nie geschafft. Als ich von diesem Wettbewerb erfuhr …» Sie zuckte mit den Schultern, und Gabe reichte ihr die Schnitzfigur zurück. Fiona schob sie wieder in ihre Tasche, wo sie sich mit einem beruhigenden Plumps niederließ.

«Sentimental, aber niedlich. In Tokio werden Sie einen guten Eindruck vom Land erhalten.» Einen Moment umgab sein Gesicht ein wehmütiger Ausdruck. «Es ist ein Land voller Gegensätze: Auf der einen Seite ist es protzig, modern, innovativ, voller Neonfarben und Technologie, und auf der anderen Seite gibt es diese tiefe Bewunderung und den Respekt für Kunst, Kultur und Tradition. Ich habe noch nie an einem solchen Ort gelebt wie diesem hier.»

«Sind Sie oft hier?»

«Ich wohne hier und in London.» Er sah sie an. «Sie werden bei den Kobashis unterkommen.» Wieder dieses wehmütige Lächeln. «Professor Kobashis Frau Haruka ist sehr liebenswürdig, wenn auch ziemlich speziell. Sie ist eine Teemeisterin.»

Fionas Interesse war sofort geweckt. «Ich liebe Tee. Eines der Dinge, die ich unbedingt erleben möchte, ist es, einer richtigen Teezeremonie beizuwohnen. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was man da machen muss.»

«Dann sind Sie genau am richtigen Ort. Haruka ist Profi. Sie besitzt zusammen mit ihrer Tochter einen Teeladen und hält dort Zeremonien ab. Sie wohnen direkt darüber.»

«Ehrlich?» Fiona lächelte. Ihr Lieblingsbesitz war eine kleine Teekanne mit einem Bambusgriff und einer schmalen Tülle. Sie liebte das zarte und schlichte funktionale Design. Einen Moment lang vergaß sie die unrühmliche Vergangenheit, die sie mit Gabe verband, und lächelte ihn voller Wärme an. Dabei schaute sie ihm direkt in seine blauen Augen. Er war noch immer ein sehr gut aussehender Mann.

«Hmm.» Gabe versteifte sich und wandte den Kopf ab, als wäre sie ihm zu nahe gekommen. Sein Kiefer spannte sich an, während er über das Gleis voller Menschen starrte.

Fiona schob die Hände in die Manteltaschen und strich mit einem Finger über das Netsuke. Gabes Rückzug war subtil, aber deutlich gewesen. In ihrer Brust bildete sich etwas Hartes, als hätte sie einen ganzen Laib Vollkornbrot auf einmal verschluckt. Große, unbeholfene Frauen wie sie genossen nicht Gabe Burnetts Sympathien, aber das musste er sie ja nicht gleich spüren lassen. Glamouröse, zarte Brünette, denen das Selbstbewusstsein aus jeder Pore strömte, nahmen ihn mehr für sich ein, jedenfalls von seinem Liebesleben aus zu schließen, das vor Jahren in allen Hochglanzmagazinen beleuchtet worden war.

«Wenn man auf so etwas steht», sagte er und schaute auf seine Uhr. «Alles ziemlich langweilig, wenn man es einmal erlebt hat. Mehr was für Touristen», sagte er abschätzig.

«Na, ich bin ja auch eine Touristin», sagte Fiona kurz angebunden. Sie ärgerte sich über seine Einstellung.

«Apropos, haben Sie Ihren Japan Rail Pass?»

«Ja.» Sie hatte zwar vor der Reise nur wenig vorbereitend lesen können, hatte aber gehört, dass man sich den Ausweis am besten schon vor der Ankunft besorgte. Er war zusammen mit den Flugtickets gekommen.

Die Monorail fuhr ein. Und als sie im Abteil saßen, wandte sich Fiona an Gabe, um ihn zu fragen, wie lange sie fahren würden, doch er hatte kaum den Finger an die Lippen gelegt, als ihr selbst auffiel, wie still es um sie herum war. Sie schaute sich um. Offenbar redete man in Japan nicht in den Zügen. Gabe zog sein Handy heraus und scrollte durch einen Text, darum tat sie es ihm gleich, und sie verbrachten den Rest der Fahrt schweigend.

Nachdem sie ausgestiegen waren, führte Gabe sie durch das Gedränge zur U-Bahn.

«Das ist die Yamanote-Linie. Sie werden Sie oft benutzen, es lohnt sich also, sich die Stationen einzuprägen. Sie fährt im Kreis und hält an allen wichtigen Plätzen der Stadt. Wir fahren nach Nippori. Professor Kobashi wohnt in einem hübschen traditionellen Viertel namens Yanaka.»

 

Nach einer beengten, schweigenden Fahrt traten sie beinahe eine Stunde später in das bleiche Sonnenlicht des späten Nachmittags hinaus. Jetzt, wo die erste Aufregung verflogen war, spürte Fiona die Erschöpfung in den Knochen. Es fiel ihr schwer, die Füße voreinanderzusetzen, während Gabe mit forschem Schritt durch die Straßen ging und sich nicht einmal nach ihr umdrehte. Zumindest hatte er ihren Koffer übernommen und schob ihn voran wie ein Mann auf einer Mission. Die Mission, sie so schnell wie möglich loszuwerden, vermutete Fiona, während sie seine breiten Schultern betrachtete. Er marschierte stets ein paar Schritte vor ihr her, wohl um ihr klarzumachen, dass er eigentlich gar nicht hier sein wollte.

Sie hatte überhaupt keine Ahnung, wo in der Stadt sie sich gerade befanden. Ihr behagte das Gefühl nicht, keine Kontrolle mehr zu haben. Sie war weit weg von zu Hause. Der sechzehnstündige Flug hatte ihr Empfinden für die wahre Entfernung getrübt. Jetzt inmitten all der unbekannten Architektur, der fremden Straßenzeichen, der Menge an Kabeln in der Luft sowie der Laternenpfähle, die eher wirkten wie geschnitzte Vogelkäfige, wurde ihr die Realität erst richtig bewusst. Es war alles vollkommen fremd. Die Straße war breit, doch die Häuser ragten fast bis an die Straße heran; vor den Türen standen Pflanzentöpfe, als wollte man sich für den nicht vorhandenen Vordergarten trösten. Alles schien aus Holz gebaut, abgesehen von den dunkelgrünen, geschwungenen Dächern, die leicht überhingen.

Als sie stehen blieb, um die Fensterläden aus Bambus zu betrachten, wartete Gabe auf sie. «Dies ist ein ziemlich traditionelles Viertel. Die Häuser sind ein paar hundert Jahre alt.»

«Ich liebe dieses Holz», sagte sie fasziniert.

«Das ist Sugi. Japanische Zeder», antwortete er und ging – wieder ein paar Schritte voraus – weiter.

Erneut starrte Fiona auf seinen Rücken und beeilte sich, mit ihm mitzuhalten, als er nach rechts in eine schmalere Straße einbog und vor einem Laden stehen blieb.

Lächelnd schaute sie an dem großen, viereckigen Fenster mit Holzrahmen hinauf – eine Mischung aus heimischem Erkerfenster und Balkon. Jasmin umwucherte das Fenster, hinter dem eine wunderschöne, aber minimalistische Auslage aus eleganten Teekannen und hübsch glasierten traditionellen Teeschalen zu sehen war. Unter dem Fenster befanden sich große Töpfe mit Kamelien, deren tiefrosa Knospen kurz vor der Blüte standen.

«Das ist ja wunderschön», platzte Fiona heraus und wünschte, sie hätte ihre Kamera zur Hand.

«Dann gewöhnen Sie sich dran. Das hier ist Harukas Teeladen; sie und Professor Kobashi wohnen darüber, und da sind Sie ebenfalls untergebracht.»

Fiona schlug begeistert die Hände zusammen. «Das ist ja so toll!» Sie betrachtete das tiefhängende Dach, das sich an den Rändern nach oben wölbte wie die Pantoffeln eines Sultans und mit seinen grün glänzenden Ziegeln bis über das Fenster ragte.

Eine kleine Treppe führte nach rechts in den Teeladen, während es links zu einer breiten Veranda ging. Gabe zog sofort die Schuhe aus und rief etwas auf Japanisch. Sie verstand die Worte ‹Haruka san›.

«Sie sprechen Japanisch?», fragte Fiona.

«Das ist nur eine Grußformel. Ich spreche ein paar Worte, das ist alles. Sie müssen die Schuhe ausziehen. Die Pantoffeln da sind für Sie.» Er hatte seine Füße bereits in ein größeres Paar gesteckt.

Die Tür schien aus Papier und Holz zu bestehen. Sie öffnete sich, und dahinter kam eine sehr kleine Japanerin zum Vorschein. Ihre dunklen Haare hatte sie zu einem hübschen Knoten gebunden, der sie mindestens fünf Zentimeter größer machte.

«Gabriel san.» Sie begrüßte Gabe mit offensichtlicher Freude, verbeugte sich vor ihm und küsste ihn mit strahlenden Knopfaugen auf beide Wangen. Leise sagte sie einige Worte auf Japanisch und tätschelte seinen Arm.

Fiona betrachtete diese freudige Begrüßung neugierig. Sie hatte formelle und reservierte Japaner erwartet, aber davon konnte hier keine Rede sein.

«Haruka san, das ist Fiona.»

Die Frau trat vor Fiona, legte beide Hände aneinander und senkte höflich den Kopf. «Willkommen, Fiona. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.» Ihr Lächeln war freundlich, aber keineswegs so strahlend wie das, das sie Gabe geschenkt hatte. Er schien hier sehr beliebt zu sein.

«Kommen Sie, kommen Sie.» Mit kleinen Schritten führte Haruka sie eine Treppe hinauf, die einmal herumführte, bis sie, wie Fiona annahm, über dem Teeladen standen. Sie konnte es gar nicht abwarten, ihn zu sehen, auch wenn ihre Neugier von der ungewöhnlichen japanischen Einrichtung abgelenkt wurde. Die Frau führte sie in ein großes Wohnzimmer. Es war minimalistisch mit sehr wenigen Möbeln eingerichtet. Die Holzdielen waren mit großen Matten ausgelegt. Es gab ein paar sehr niedrige Stühle mit hohen, geraden Lehnen und einen merkwürdigen Tisch, der eine eigene Bettdecke zu haben schien. Abgesehen von ein paar Töpferwaren auf einem niedrigen Holzregal und einigen bemalten Wandrollen gab es hier nur sehr wenige Gegenstände und definitiv nichts von dem Durcheinander, das das Haus ihrer Mutter kennzeichnete. Fiona lächelte. Ihr gefielen die klaren Linien und die Ordnung im Raum.

Ihre Gastgeberin schob einige Schiebetüren auf und führte Fiona eine weitere Holztreppe hinauf zu einer ganzen Reihe von Zimmern, die durch Türen aus Papier und Holz voneinander getrennt waren. Gabe trug Fionas Koffer. Schließlich kamen sie zu einem kleinen viereckigen Raum, in dem ein Futon auf dem Fußboden stand. Haruka zog die Bambusrollos hoch, und hinter den Fenstern zeigte sich ein Balkon, der an der gesamten Rückseite des Hauses verlief und von dem man Blick auf einen sehr hübschen, zenartig gestalteten Garten hatte.

«Oh, wie schön», rief Fiona.

Die Japanerin schenkte ihr ein warmes Lächeln.

«Ich zeige Ihnen den Garten später. Möchten Sie etwas zu trinken?»

«Ich kann nicht bleiben», beeilte sich Gabe. «Ich muss zurück ins Zentrum.» Er wandte sich Fiona zu. «Ich denke, ich zeige Ihnen in den ersten Tagen ein bisschen von Tokio. Damit Sie sich akklimatisieren. Und damit Sie über das Thema Ihrer Ausstellung nachdenken können.»

Fiona nickte erfreut. Dass er davon wusste! Das Thema bereitete ihr jetzt schon Sorgen. Auch wenn sie sich nur wegen der Reise nach Japan für den Wettbewerb eingeschrieben hatte, war der tatsächliche Preis natürlich die Ausstellung, die zwei Wochen nach ihrer Rückkehr in Kensington stattfinden sollte. Es war eine phantastische Chance, auf sich aufmerksam zu machen und vielleicht sogar ein paar Werke zu verkaufen. Sie hatte sich auf die Arbeit mit Yutaka Araki gefreut. Er war bekannt für seine wunderschönen Landschaftsaufnahmen, und sie hatte gehofft, viel von ihm zu lernen und sich mit ihm wegen eines möglichen Ausstellungsthemas zu beraten.

Aber jetzt musste sie sich mit Gabe zufriedengeben. Sie war nicht sicher, ob er ihr wirklich helfen konnte und wollte. Zumal er sich auf Porträtfotografie spezialisiert hatte.

«Akklimatisieren klingt gut», murmelte sie, denn der Jetlag bereitete ihr akute Schwindelgefühle. Sie schwankte, und Gabe hielt sie am Arm. Sie schaute ihn an und bemerkte in seinen Augen ein kurzes Aufflackern. Eilig ließ er ihren Arm wieder los, und sie richtete sich auf. Gabe hatte von ihr nichts zu befürchten. Fiona hatte sich schon einmal seinetwegen zur Idiotin gemacht, weil sie sich etwas eingebildet hatte. Das würde ihr ganz sicher nicht noch einmal passieren, egal wie unfassbar attraktiv sie ihn immer noch fand, wie sie sich überrascht eingestehen musste.

Kapitel 2

«Warum? Warum? Warum?», fragte er sein Spiegelbild, während er mit der Rasierklinge über sein schaumbedecktes Kinn fuhr. Nach Tokio hineinzufahren, war schon unter normalen Bedinungen anstrengend. Aber dabei noch ein naives Mädchen herumzuführen, mit ihren aufgerissenen Augen und ihren wackligen langen Beinen – sie erinnerte Gabe an Bambi –, das war doppelt nervig.

Professor Kobashis Bitte war nicht der Grund gewesen, weshalb er sich bereit erklärt hatte, die Rolle als Mentor zu übernehmen; nein, es waren Harukas Tränen der Verzweiflung vor der möglichen Demütigung ihres Mannes gewesen, weil dessen sorgfältig ausgefeilte Pläne möglicherweise nicht umgesetzt werden konnten. Die Japaner akzeptierten keine Misserfolge, und es würde dem Professor schaden, hätte die Reise abgesagt werden müssen. Gabe war seine Verpflichtung Haruka gegenüber nur allzu bewusst. Doch nun bereute er seine Entscheidung. Er schaute auf seine Uhr; er hatte die Tage so geplant, dass er nicht durch den irrsinnigen Berufsverkehr von Tokio mit seinen acht Millionen Pendlern musste, der seinesgleichen suchte. Dieser Plan minimierte glücklicherweise auch die Anzahl an Babysitterstunden, die er ableisten musste.

Mit einem Seufzer warf er einen letzten Blick in den Spiegel. Er beugte sich vor, um seine glatte Haut zu inspizieren und sicherzugehen, dass er kein Haar übersehen hatte – auch wenn er nicht wusste, warum ihn das überhaupt interessierte. Normalerweise vermied er es, sich zu rasieren; es war ein sinnloses Unterfangen, das ihn zutiefst langweilte. So ungefähr wie fast alles. Für die nächsten Monate warteten ein paar Aufträge für japanische Magazine auf Erledigung – Filmstars, die ihre Werbetouren absolvierten und von ihren Agenten herumgeschleift wurden, um die richtigen Antworten zu geben –, sonst nichts. Falls nicht noch ein Last-Minute-Auftrag hinzukam, wie so oft.

Gabe nahm sein Handy vom Waschbecken und las die Nachricht von Yumi zum dritten Mal.

Meiko ist schon wieder verreist. Keiner versteht mich. Ich bin so einsam. Komm und führ mich zum Essen aus. Y

Mit dem Shinkansen, dem Hochgeschwindigkeitszug, betrug die Fahrt nach Osaka nur eine Stunde, und ohne seinen neuen Betreuungsjob wäre Gabe umgehend losgefahren. Aber leider hatte er nun mal Verpflichtungen. Haruka würde es ganz sicher nicht gefallen, wenn er ihnen nicht nachkam.

Zögernd schrieb er zurück.

Sorry, muss heute arbeiten. Vielleicht morgen.

Er fügte kein X hinzu. Nicht mehr. Yumi war jetzt verheiratet. Das vertraute Gefühl von Verzweiflung traf ihn. Einen Moment lang wartete er, die Hand immer noch an seinen feuchten Wangen, doch es kam keine Antwort. Er konnte sich Yumis Gesicht genau vorstellen und lachte freudlos. Vorstellen? Er kannte jede Line dieses wunderschönen Antlitzes, jeden ihrer zarten Züge, jeden Schatten, den ihr eleganter Körper warf.

Vor seinem geistigen Auge sah er ihre schmollende Unterlippe und die vor Enttäuschung gerunzelte Stirn. Die arme Yumi, sie war so einsam dort draußen in Osaka. Sie brauchte einen Freund. Ihr Ehemann vernachlässigte sie, doch gleichzeitig erfüllte er ihr mit seinem Reichtum jeden Wunsch.

Gabe schüttelte seine melancholischen Gedanken ab. Haruka pflegte zu sagen, dass Yumi sich ihr Bett selbst bereitet habe und nun darin schlafen müsse. Gabe stopfte sich das Handy in die Hosentasche und verließ das Haus.

 

Fiona wartete bereits und hüpfte vor Aufregung auf der Stelle. Die Begeisterung schien aus jeder ihrer Poren zu strömen, und Gabe wich vor ihr zurück, als könnte das ansteckend sein.

«Guten Morgen!», rief sie ihm zu, schüttelte ihre Pantoffeln ab und schob die Füße in hübsche Stiefeletten.

«Sie sind ja sehr gut gelaunt. Offenbar haben Sie gut geschlafen.»

«Allerdings. Irgendwas ist hier anders … Ich glaube, es liegt am Geruch der Tatami-Matten. Das ist, als würde man draußen schlafen.»

Er zog skeptisch die Augenbrauen hoch, so sehr hatte er sich in den Jahren an den Grasduft gewöhnt.

«Haruka hat Sie also schon mit der japanischen Kultur vertraut gemacht?»

«Ich habe sie nach den Matten gefragt. Und», fügte Fiona eifrig hinzu, «nach den Schiebetüren. Die aus Papier und Holz. Die sind so schön.»

«Die Shoji-Türen.» Ihm fielen sie nicht einmal mehr auf, aber er erinnerte sich noch daran, als er sie das erste Mal gesehen hatte. «Sie waren ursprünglich dafür gedacht, einem Samurai den nötigen Raum zu geben, sein Schwert zu schwingen.» Okay, er hatte in den Jahren schon etwas gelernt und nichts dagegen, ein bisschen Eindruck damit zu schinden.

«Ja, das hat Haruka mir auch erzählt.»

Er lächelte. «Die Japaner sind sehr gut darin, ihre Traditionen lebendig zu halten, während sie gleichzeitig zu den innovativsten und technisch am weitest entwickelten Gesellschaften zählen. Apropos, wenn Sie so weit sind, dann nehmen wir jetzt die U-Bahn, in der es um diese Tageszeit sehr viel zvilisierter zugehen sollte.»

Fiona bückte sich und hob eine gepolsterte Kameratasche hoch.

«Oh. Die werden Sie heute vermutlich nicht brauchen.»

«Wirklich?» Sie umklammerte den Riemen, als hätte Gabe vor, ihr das Equipment aus der Hand zu reißen.

«Ich möchte, dass Sie sich heute einfach nur umsehen, die Atmosphäre in sich aufnehmen. Ganz im Moment sind. Zu viele Fotografen verstecken sich hinter ihren Kameras und machen am Ende bloß oberflächliche Bilder. Ein guter Fotograf zeigt uns die darunterliegenden Ebenen.»

Sie blinzelte.

Und das zu Recht. Wo war das denn jetzt hergekommen? So ein Quark. Vielleicht hatte er irgendwann einmal daran geglaubt, aber jetzt … jetzt wollte er bloß, dass sich der Tag nicht unnötig in die Länge zog, indem sie überall Fotos schoss; das würde einen sowieso schon öden Tag noch unerträglicher machen.

Er wollte es hinter sich bringen, und das auf seine Weise. Und gleichzeitig wünschte er, er wäre jetzt stattdessen im Zug nach Osaka.

 

Auf ihrem Spaziergang bekam Fiona bald einen steifen Hals, so sehr verdrehte sie den Kopf, um alles in sich aufzunehmen. Wolkenkratzer, blinkende Neonlichter, und dazu all die vielen Menschen. Sie hatte noch nie solche Menschenmengen gesehen. Gabe hatte in der U-Bahn nur wenig mit ihr gesprochen, auch wenn das vielleicht an der Etikette hier lag.

«Da sind wir», sagte Gabe, doch sie hatte das Schild bereits von weitem gesehen und ihren Schritt vor Aufregung beschleunigt. TOP Museum stand auf dem Schild. Sie lächelte. Das Tokyo Photographic Art Museum. Auf dem langen Flug hatte sie ihren Reiseführer durchgeblättert und beschlossen, dass ein Besuch hier einer der wichtigsten Punkte auf ihrer Liste der zu besichtigenden Sehenswürdigkeiten war.

«Perfekt.» Sie strahlte Gabe an. «Woher wussten Sie das?»

«Wie bitte?»

Beinahe musste Fiona über sein Erschrecken lachen und wie er zurückwich, als hätte sie ihm eine Handgranate überreicht und würde ihm mit dem Zünder winken.

«Dass ich das Museum unbedingt besuchen wollte?»

«Na ja, Sie sind doch Fotografin, oder?» Er breitete die Hände aus und verzog das Gesicht zu einem bezaubernden unsicheren Lächeln.

«Ich habe mich eher als Bloggerin und Instagrammerin gesehen, bis ich diesen Wettbewerb mitgemacht habe. Aber ja, ich freue mich wirklich auf all diese Bilder. Auch wenn sie mich vermutlich frustrieren werden. Wenn ich mir all diese Talente ansehe … Geht Ihnen das auch so? Oder inspiriert es Sie und treibt Sie nur an, noch besser zu werden?»

Er runzelte die Stirn, und sie merkte, dass er eigentlich gar nichts über sie wusste. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr auch nur eine Frage zu stellen, während er gleichzeitig am Flughafen voller Arroganz davon ausgegangen war, dass sie sofort wusste, wer er war. Der Gedanke gab ihr das Gefühl, unwichtig zu sein, und einen Moment lang sackte sie in sich zusammen. Doch dann spürte sie, wie ein Gefühl von Verärgerung ihre Wirbelsäule hinaufstieg, wie eine glimmende Zündschnur. Sie war den ganzen Weg hierhergereist, hatte es riskiert, und er schien sich kein Stück dafür zu interessieren. Hatte er überhaupt ihre Wettbewerbsunterlagen gelesen oder den Ordner mit Fotos geöffnet, den sie mitgeschickt hatte? Sie war stolz auf ihre Bilder, und doch merkte sie verbittert, dass sie immer noch Anerkennung von ihm wollte. Lob, weil er ein Profi war. Nicht wie mit achtzehn, als sie sich so sehr gewünscht hatte, dass er sie bemerkte. Die Wut machte sich in ihrem achtundzwanzigjährigen Selbst bemerkbar. Sich ihre Unterlagen anzusehen, wäre ja wohl das Mindeste gewesen, und auch der Person gegenüber respektvoll, die er vertrat. Den Job nur halb auszufüllen, ergab überhaupt keinen Sinn. War er wirklich so egoistisch, dass es ihn einfach nicht interessierte?

«Haben Sie sich mein Portfolio etwa gar nicht angesehen?», fragte sie mit plötzlichem Sarkasmus. «Meine Bewerbung nicht gelesen?»

Gabe hob die Hände. «Tut mir leid, nein. Habe ich nicht.»

Man musste ihn fast dafür bewundern, dass er gar nicht erst versuchte, sie anzulügen.

«Überrascht mich nicht. Ich wusste, wie unzuverlässig Sie sind.» Ups, das hatte sie gar nicht sagen wollen. Und sein entsetzter Gesichtsausdruck bestätigte, dass es das Falscheste war, was sie hätte sagen können. Darin war sie offenbar gut.

«Entschuldigung? Sie kennen mich doch gar nicht.»

«Doch.» Sie kannte ihn allerdings. «Sie sind der Typ Mann, der nur das tut, wozu er Lust hat.» Das wusste sie von seiner routinemäßigen Art zu unterrichten, auch wenn die meisten seiner Studenten von seinem Ruhm derartig geblendet waren, dass sich niemand beschwerte; und um ehrlich zu sein, war sie selbst nicht besser gewesen. Aber die Zeit war vorbei. Sie war hier, um etwas zu lernen. Zwei kurze Wochen waren alles, was sie hatte, um eine Ausstellung zu bestücken, die ihr die Tür in eine hart umkämpfte Branche öffnen sollte. «Womit hat man Sie denn bestochen, damit Sie Arakis Job übernehmen?»

«Man musste mich nicht bestechen.» Gabe funkelte sie wütend an. «Also, wenn Sie Ihre Zeit hier wirklich nutzen wollen, dann fangen Sie am besten gleich an. Ich treffe Sie in drei Stunden wieder.» Und bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er sich umgedreht und war davongestapft.

Ha… ha… hatte er sie gerade einfach stehen lassen? Was für ein Coaching sollte das denn bitte sein? Wutschnaubend drehte Fiona sich um und betrat das Museum, dankbar für die englische Beschilderung. Ohne Gabe, beschloss sie, würde es ihr sowieso besser gefallen.

 

Und so war es auch. Die fünf Etagen der Ausstellung boten so viel, und es war wunderbar, sich alles in ihrem eigenen Tempo anzuschauen – sie konnte einfach weitergehen, wenn sie etwas nicht interessierte, oder länger vor den Bildern stehen bleiben, die sie faszinierten. Fiona hatte erst vor einigen Monaten beschlossen, dass das Leben zu kurz war, um sich mit Sachen abzugeben, die einen nicht weiterbrachten, zum Beispiel ein Buch zu Ende zu lesen, obwohl es ihr nicht gefiel, oder einen Film weiterzuschauen, der sie einfach nicht interessierte – oder eben jedes einzelne Bild einer Ausstellung zu betrachten.

Sie genoss die stille, ehrfürchtige Atmosphäre. Die Besucher flüsterten und traten leise auf. Als sie um eine Ecke ging, stand sie plötzlich vor einer Arbeit von Gabriel Burnett. Mehr als sein Name hatte das Bild ihre Aufmerksamkeit geweckt: Es war das faszinierende Foto einer wunderschönen Japanerin, deren Körper von Kirschblütenblättern bedeckt war. Ihre Arme und Beine waren in einem Meer aus Blumen kunstvoll arrangiert: Sie streckte den einen Arm anmutig zur Seite, hielt die Hand bittend in die Höhe und fing darin eine frostig-pinkfarbene, aber unscharfe fallende Blüte auf. Zunächst bewunderte Fiona die Technik, die Beleuchtung und die am Rand verschwimmenden Blüten; doch als sie das Foto genauer betrachtete, wurde eine verwirrende Erkenntnis in ihr deutlich.

Zarte Augenbrauen umrahmten die mandelförmigen Augen der Frau, die Kamera betonte ihre makellose Magnolienhaut; doch wenn man diesen wunderschön gewölbten Mund zum zweiten Mal betrachtete, erkannte man in diesem Lächeln eine Prise Provokation. Und auch wenn die Komposition des Fotos frisch und gesund wirkte – ein hübsches Mädchen inmitten von Blumen –, befanden sich überall Andeutungen von Geheimnissen und Sexualität, von Mysterien und unterdrückter Leidenschaft. Nichts war, wie es schien. Beinahe konnte sich Fiona die Schlange vorstellen, die sich zwischen den Blumen schlängelte. Eva, die Verführerin.

Das kleine Schild neben dem Foto lautete «Mädchen in voller Blüte» von Gabriel Burnett, 2016. Daneben befand sich eine kurze Vita von Gabe und die Information über das Model auf dem Bild: Yumi Mimura, seine langjährige Muse und sein Lieblingsmotiv.

Fiona ging weiter zum nächsten Bild. Diesmal stellte die Szene eine Party dar, und Yumi, die ein dunkelblaues Cocktailkleid aus Satin mit geraffter Taille und einem weiten Rock trug, spähte hinter zwei nüchtern wirkenden Männern in grauen Anzügen hervor, die der Kamera den Rücken zudrehten. Yumi hielt ein Martiniglas in der Hand und strahlte Eleganz und Raffinesse aus, ergänzt durch eine elfenhafte Erscheinung – ganz im Stil einer Audrey Hepburn. Man wusste, dass sie gleich etwas Ungehöriges tun würde, etwas, das im Kontrast zu ihrer glamourösen Erscheinung stand. Fiona lächelte; die Komposition war bezaubernd und so ganz anders als das vorige Bild.

Fasziniert vom Motiv und von Gabes unbestrittenem Talent, betrachtete Fiona noch weitere Bilder, die er über die Jahre von Yumi Mimura gemacht hatte. Auf manchen trug sie Westernkleidung, auf anderen japanische Kimonos, und manchmal gab es geschmackvolle Nacktaufnahmen, die nichts Anstößiges hatten; und auf jedem Bild fand man diese zusätzliche, subtile Tiefe, die eine Geschichte erzählte oder ein Gefühl vermittelte. Schließlich kam Fiona zum letzten Bild. Hier trug Yumi ein edles weißes Seidenkleid, das in wunderschönen Falten über ihren außergewöhnlichen Körper fiel. Sie schien mit einer Art engelsgleicher Schönheit zu leuchten – und je länger Fiona schaute, desto mehr erkannte sie: Triumph, das war es, was diese Komposition zeigte. Vollkommene Selbstsicherheit. Yumi war sich ihrer Schönheit und ihres Platzes in der Welt vollkommen sicher. Und spiegelte Fiona damit all das, was sie selbst nicht war.

Gabe war ein Genie, erkannte Fiona. Er war ebenso talentiert und gefeiert wie Yutaka Araki. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, ihn vorhin so zu beleidigen? Sie schämte sich. Wer war sie, ihn in Frage zu stellen? Würde sie ihre Zunge im Zaum halten, könnte sie so viel von ihm lernen. Sie schmollte wohl noch immer wie ein Teenager, musste sie beschämt feststellen. Wann würde sie endlich erwachsen werden und dieses alberne Ereignis abhaken? Er hatte es offensichtlich vergessen. Sie vermutete sogar, dass er sich nicht einmal an die Zeit erinnerte, so wenig wie an ihren Namen.

 

Fiona hatte noch eine halbe Stunde, bis sie sich wieder mit Gabe unten im Foyer treffen wollte. Sie spielte mit dem Gedanken, sich im Restaurant des Museums ein Mittagessen zu bestellen. Doch die unverständliche Speisekarte und die Vorstellung, in aller Öffentlichkeit mit Stäbchen essen zu müssen, hielten sie davon ab. Sie würde Haruka bitten müssen – die netterweise am Abend zuvor nicht über Fionas Unfähigkeit gelacht hatte –, ihr das Essen mit Stäbchen beizubringen.

Fiona ging langsam die Treppe hinunter. Nachdem sie Gabes Arbeiten gesehen hatte, fühlte sie sich eingeschüchtert und unsicher, aber auch inspiriert. Sie hätte am liebsten gleich mit der Arbeit angefangen. Zum ersten Mal gestand sie sich ein, dass sie sich damals genau wie alle anderen Studenten wegen seines Ruhms für sein Seminar eingeschrieben hatte und nicht so sehr wegen seines Talents.

Sie sah ihn draußen vor einem großen Bild stehen – ironischerweise stellte es eine Pariser Szene dar.

«Ich liebe dieses Bild», sagte er, ohne auch nur aufzublicken, als sie sich neben ihn stellte. «Es fängt dieses Je ne sais quoi der Franzosen perfekt ein. – Sind Sie fertig?»

«Ja.»

«Hat es Ihnen gefallen?»

«Ja.» Sie wartete darauf, dass er weitere Fragen stellte, um zu hören, was ihr genau gefallen hatte.

«Fein.» Gabe drehte sich um und ging mit forschem Schritt los.

Er hatte offenbar nicht die Absicht, auf sie zu warten, darum trottete Fiona hinter ihm her und versuchte, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er hatte drei Stunden für sich allein gehabt. Er war ihr Mentor, also schuldete er ihr etwas.

«Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich inspiriert oder deprimiert sein soll. Ich werde niemals so gut sein können.»

«Vermutlich nicht», sagte Gabe geradeheraus.

«Oh, vielen Dank für die Aufmunterung.»

«Ich habe es nicht so mit Unehrlichkeit. Sie kommen doch auch nicht aus dem Louvre und sagen, ich werde nie so gut wie Monet oder van Gogh sein. Denn niemand wird je so gut sein. Das waren Genies ihrer Zeit. Und hier haben Sie einen Einblick in die Arbeit der besten Fotografen bekommen.»

«Ja, sicher.»

«Falls es ein Trost für Sie ist: Nach dem zu urteilen, was ich bisher von Ihnen gesehen habe, sind Sie eine gute, kompetente Technikerin.»

«Das ist indirekte Kritik», gab sie beschämt zu.

«Nein, das ist inspirierende Ehrlichkeit. Jeder Idiot kann durch Glück ein einmaliges Foto schießen. Ein guter, kompetenter Techniker kann diese perfekten Kompositionen überhaupt erst entdecken, er erkennt sie, wenn er sie sieht, und dann drückt er ab.»

Sie verstand, was er sagen wollte, doch es tat trotzdem noch ein bisschen weh.

«Sie sind hier, um diese Kompositionen zu finden – mit meiner Hilfe.» Er legte den Kopf schief. «Haben Sie was gegessen?»

«Nein, ich habe …»

Zum Glück unterbrach er sie, bevor sie ihm gestand, wie unbeholfen sie war.

«Gut. Hier ganz in der Nähe gibt es eine tolle Tempura-Bar. Wir können da etwas essen.» Fiona wollte nicht fragen, was eine Tempura-Bar denn überhaupt war, aber wenn sie nach ihrem Bauch ging, der grollte wie ein Vulkan, dann würde sie alles essen.

 

Gabe wusste, dass er sich mies benahm; in Fionas ausdrucksvollem Gesicht war die Enttäuschung nicht zu übersehen. Ihre blauen Augen glänzten praktisch vor Enttäuschung, verdammt. Sie war eine junge Frau, die ihr Herz offenbar auf der Zunge trug, aber er konnte es nun mal nicht ertragen, über diese unfassbar guten, oft verstörenden Bilder in dieser Sammlung zu sprechen. Er presste die Lippen zusammen, als er bemerkte, wie ihre Schultern herabfielen, und überlegte kurz, sich bei ihr zu entschuldigen; sie verdiente mehr, aber … er schaffte es nicht. Sein Magen verknotete sich schon beim Gedanken daran. Bestimmt wollte sie dann über die Fotografen sprechen – er konnte die eifrige Begeisterung förmlich aus ihr herausblubbern sehen. Sie würde über die Techniken sprechen wollen, über das, was sie gesehen hatte, was ihr gefiel … und er konnte es einfach nicht ertragen.

Wann hatte er zum letzten Mal eine anständige Aufnahme hingekriegt? Ein wirklich beachtliches Bild? Klar, er schaffte es immer noch, Fotos zu schießen, die die Leute erfreuten, wie ein dressierter Zirkusaffe; aber er hatte die Fähigkeit verloren, das zu finden und festzuhalten, was unter der Oberfläche verborgen war. Komplett verloren. Es fehlte ihm wie ein Körperteil. Früher war dieses Talent seine zweite Natur gewesen, so wie ein sechster Sinn, auf den er jeden Moment zugreifen konnte. Eine ehemalige Größe, so nannte man Leute wie ihn.

«Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ein bisschen zu Fuß unterwegs zu sein, gehen wir erst zum Restaurant und dann zu Shibuya Crossing», bot er an, nahm ihren Arm und führte sie den Weg entlang. Wenn sie sich mit dem Essen beeilten, konnten sie dort die U-Bahn nehmen und waren der Rushhour immer noch reichlich voraus.

«Was ist das?», fragte Fiona so argwöhnisch wie ein kleiner Hund, dem er einen Tritt versetzt hatte, wodurch er sich noch mieser fühlte. Aber er konnte die Vorfreude nicht unterdrücken, weil er ihr eine der großartigsten Sehenswürdigkeiten Tokios zeigen würde.

«Abwarten», sagte er mit einem kurzen Grinsen.

«Das ist gemein.» Sie verdrehte die Augen. Sein Herz machte einen merkwürdigen Hüpfer, weil sie sein Spiel so fröhlich mitmachte. Ein Punkt für sie. Sie schien jedenfalls nicht nachtragend zu sein.

«Ich weiß», sagte Gabe und wackelte mit den Augenbrauen, was sie zum Lachen brachte. «Aber ich möchte Ihr Gesicht dabei sehen.» Er fingerte an der kleinen Lumix-Kamera in seiner Tasche, die er eher aus Gewohnheit mit sich herumtrug als aus dem früheren obsessiven Wunsch, kein Motiv zu verpassen. Eine kurze Erinnerung schoss ihm durch den Kopf, und er runzelte die Stirn. Als sie so lachte, kam sie ihm einen Moment lang bekannt vor.

«Wird es mir denn gefallen?», fragte sie.

«Hmm, ich weiß nicht, ob gefallen das richtige Wort ist, aber man muss es gesehen haben. In Tokio gibt es ziemlich viel zu entdecken. Gibt es irgendwas, das Sie unbedingt anschauen wollen?»

«Ich würde gern die Kirschblüten sehen, den Fuji – auch wenn ich weiß, dass der etwas weiter weg ist – und ein paar der Schreine.» Sie zog die Schultern hoch. «Ich war vor meiner Reise ziemlich beschäftigt, darum konnte ich mich nicht so gut vorbereiten, wie ich es gern getan hätte.»

«Sie haben gesagt, Sie sind Bloggerin?» Während Gabe in einem Coffee-Shop auf sie gewartet hatte, hatte er die E-Mails herausgesucht, sich ihre Bewerbung durchgelesen, ihre Fotos angesehen und ihren Blog besucht. Er hatte nicht viel erwartet, war aber dann doch beeindruckt. «Was bedeutet das im Alltag? Ich habe mir mal Ihre Seite angeschaut. Sie sind ja ganz schön umtriebig.»

Fiona wurde rot und lachte. «Das ist … irgendwie gewachsen wie Alice im Wunderland. Es hat angefangen, dass ich Orte besucht habe, die mich interessierten, ich habe sie fotografiert und über meine Reisen gebloggt. Eine Menge Leute fingen an, mir zu folgen. Und dann luden mich PR-Firmen an bestimmte Orte ein. Ich bin sogar für eine Pressereise nach Kopenhagen gefahren, und durch diese Aufträge sind meine Artikel vielseitiger geworden. Und nun ist es eigentlich eher ein Magazin als ein Blog. Manchmal lasse ich meine Leser entscheiden, was ich als Nächstes tun soll – das war Avrils Idee, weil die Leute dann wirklich investieren.» Sie verzog amüsiert den Mund. «Manchmal glaube ich, die mögen mich nicht besonders, aber … aber so habe ich wirklich Sachen gemacht, die ich sonst nie getan hätte. Letzten Monat wollten sie, dass ich mich von einem Kirchturm abseile, um Geld für einen guten Zweck zu sammeln; und den Monat davor bin ich in einem Ferrari durch Silverstone gefahren. Das allerdings hat richtig Spaß gemacht. Und in den letzten Wochen habe ich Körbe geflochten, Schloss Howard besucht und gelernt, wie man Sauerteigbrot backt.»

Er nickte. «Und wer ist Avril? Ihre Schwester?»

Fiona schnaubte. «Ha! Nein. Das würde sie beleidigen. Sie ist eine glamouröse Fernsehmoderatorin, die ich auf der Pressereise nach Kopenhagen kennengelernt habe und die sich aus irgendeinem Grund vorgenommen hat, meine Karriere zu fördern. Sie ist total streng, und ich muss mich mindestens einmal im Monat mit ihr treffen. Sie ist schuld, dass ich hier bin. Wenn es olympisches Gold fürs Drängeln gäbe, dann würde sie es gewinnen. Aber», jetzt wurde sie ernster, «sie und diese Reise und meine Freunde Kate und David, sie haben, na ja, sie haben mir wirklich geholfen.»

«Wie das?» Gabes Interesse war geweckt. Da gab es eine Story zu entdecken. Er ging mit zügigem Tempo weiter, um Fiona nicht zu verschrecken.

In ihrem Lachen klang Nervosität durch. «Vor … vor dieser Reise hatte ich mich ziemlich vor dem echten Leben versteckt. Ich habe eher online gelebt, als unter Leute zu gehen.»

Er machte absichtlich keine Bemerkung, damit sie fortfuhr, um die Stille zu füllen, so wie Menschen es meistens tun. Diese Technik hatte ihm in den Jahren viel geholfen, immer dann, wenn er zur Essenz einer Person durchdringen wollte, bevor er sie fotografierte. Diese ungeschützten Momente, wenn die Menschen einem Wahrheiten über sich selbst erzählten, waren pures Gold, wenn man den Auslöser im richtigen Moment betätigte. Zum Glück hatte er gute Reflexe.

Anders als die meisten Menschen sprach Fiona nicht viel. Stattdessen verschloss sie sich, als hätte ihr Bericht auch unangenehme Erinnerungen in ihr emporgebracht.

«Tut mir leid, ich wollte Sie nicht ausfragen. Das gehört zu meiner Technik, damit meine Modelle sich mir gegenüber öffnen.»

«Ich bin aber keins Ihrer Modelle», sagte sie mit scharfer Stimme. «Und ich möchte es auch nicht werden.»

Eher Schuppentier als Igel, überlegte er und war, wie er feststellte, fasziniert von der Art, wie sie sich in ihren Mantel zurückzog – dieses hässliche Fellding, das man in die nächste Mülltonne stopfen sollte – und welche Kurve ihre Schultern zeichneten. Er hätte gern ein Foto von ihr gemacht, aber er schob den Gedanken beiseite.

«Das ist ja mal eine angenehme Abwechslung», sagte er leichthin. «Die meisten Menschen wollen unbedingt, dass ich sie fotografiere, und das auch noch umsonst. Und andere wären gern meine Muse.» Oder eine Art Groupie für einen Fotografen, dachte er.

Sie entspannte sich ein wenig und zog einen Mundwinkel hoch. «Ich sicher nicht. Aber das muss nervig sein.»

«Ein bisschen. Heutzutage will keiner mehr für irgendwas bezahlen – für Musik, Bücher, Kunst, Filme.»

«Das ist die Kehrseite der Technologie. Aber die positive Seite ist, dass ich davon leben kann.»

«Ich denke doch, dass es an mehr liegt als bloß an Technologie. Sie müssen gut sein in dem, was Sie da machen; es gibt da draußen Tausende von Leuten mit Blogs.»

Sie zuckte mit den Schultern.

«Es gibt nichts Schlimmeres als falsche Bescheidenheit.» Er ärgerte sich darüber, dass sie ihn anstarrte. «Was? Ich kenne meinen Wert. Sie sollten Ihren auch kennen. Besonders, wenn Sie davon leben wollen.»

«Ich bemühe mich nicht um Bescheidenheit, sei sie nun falsch oder nicht», entgegnete sie. «Ich tue, was ich tue. Ich habe das Glück, dass Menschen das gefällt und sie mir folgen und sich dafür interessieren.»

«Aber es wird doch ein gewisses Können darin liegen, um diese Leute bei der Stange zu halten – wie Sie schreiben oder darin, die richtigen Bilder zu posten, um überhaupt das Interesse der Menschen zu wecken.»

Wieder zuckte sie mit den Schultern.

«Sie brauchen mehr Selbstbewusstsein.»

«Klar, als ob man sich das einfach so zulegen könnte», fauchte sie. «Oh, ich nehme noch ein halbes Pfund Glauben, ein Stückchen Arroganz und dann noch etwas Selbstbewusstsein. Das ist ja gar kein Problem.» Die letzten Worte sprach sie leiser, als wären sie unfreiwillig aus ihrem Mund gekommen, und wieder spürte er einen Stich von schlechtem Gewissen.

 

Das Restaurant war proppenvoll, aber Gabe schlängelte sich durch die Menge und sicherte ihnen die letzten beiden Barhocker direkt vor der Küche, wo ein paar Köche bei der Arbeit zu sehen waren.

«Haben Sie schon mal Tempura gegessen?», fragte er, während Fiona ihren Mantel ablegte und die Speisekarte nahm.

«Nein.» Sie schaute sich in dem vollen Restaurant um. Über den Lärm hinweg hörte sie das Zischen von heißem Öl und das Kratzen von Geräten auf Metall aus der Küche.

«Dann können Sie sich freuen, auch wenn dieser Ort hier Sie für alle Zeiten verderben wird.»

«Ich weiß nicht mal, was das ist.»

«Tempura», erwiderte Gabe. «Das ist im Grunde in Teig frittiertes Essen … aber nicht vergleichbar mit dem schweren Teig, den wir von gebackenem Fisch kennen. Warten Sie es ab.»

Sie starrte verwirrt auf die Speisekarte. Es war alles auf Japanisch und für sie vollkommen unleserlich. Drüben in der Küche tauchte einer der Köche etwas Rohes, beinahe Durchsichtiges in einen Krug mit – wie sie jetzt wusste – weißem Teig.

«Keine Sorge.» Gabe streckte eine Hand aus und drückte die Speisekarte auf den Tisch. «Mögen Sie Fisch?»

Sie nickte. «Nur nicht roh.»

«Dann überlassen Sie mir das Bestellen. In der japanischen Küche geht es vor allem um Frische und schlichte Zutaten. Es wird dafür täglich eingekauft.»

Gabe bestellte auf Japanisch, und nur Sekunden später erschienen zwei Schalen mit grünem Tee. Fiona nahm vorsichtig einen Schluck und seufzte. «Oh, das habe ich gebraucht.»

Der klare, leichte Geschmack und die plötzliche Wärme in ihrer Kehle brachten ihre Lebensgeister zurück. Es war gleichzeitig erfrischend und tröstlich, besonders wenn sie beide Hände um die Schale legte.

Der Koch kam und präsentierte ihnen eine Bambusplatte mit rohen Garnelen, Jakobsmuscheln, winzigen Fischfilets, Tintenfisch und etwas Mais, eine Scheibe einer merkwürdig aussehenden Rübe, Aubergine und etwas, das Fiona für Pilze hielt.

Sie nickte und lächelte dem Koch zu. Ihr Magen drehte sich ein wenig bei dem Gedanken an rohe Meeresfrüchte, doch bevor sie etwas tun konnte, sagte Gabe etwas auf Japanisch, und der Mann nahm die Platte wieder mit.

«Ihr Gesicht», neckte Gabe, während eine Kellnerin ihnen einige kleine Töpfchen hinstellte, in denen verschiedene Soßen und Gewürze waren.

«Ich dachte, er wollte uns das Essen so geben.»

«Nein, er wollte uns bloß die Qualität zeigen. Haben Sie bemerkt, dass es überhaupt nicht nach Fisch roch?»

«Ja.» Jetzt, wo er es sagte, fiel Fiona das Fehlen des Fischgeruchs wirklich auf.

«Daran kann man sehen, wie frisch es ist. Und jetzt wird er das für uns zubereiten. Schauen Sie: Sehen Sie den Teig dort in dem Krug?»

Fiona sah zu, wie der Koch die Garnelen in den Teig stippte und sie dann in eine tiefe Pfanne mit Öl warf, das so heiß war, dass es dampfte. Mit schnellen, leichten Bewegungen hob er die Garnelen wieder aus dem Öl und warf sie mit großer Geste in einen Metallkorb, bevor er sie, knackig golden gebraten, mit einer kurzen Bewegung des Handgelenks direkt auf den Tresen vor Fiona und Gabe platzierte. Frischer zubereitet ging es nicht.

Fiona atmete tief ein; sie konnte die feine Schicht aus Öl immer noch auf der Oberfläche blubbern sehen. Die Garnelen dufteten köstlich, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen.

«Jetzt tauchen Sie sie in eines von diesen Töpfchen.» Gabe deutete auf den Topf mit Meersalz, das mit Kräutern gemischt war. «Das ist Kräutersalz, normalerweise mit Bambussprossen, und das hier ist geriebener Daikon, eine Art Rettich, den man sich mit der Sojasoße mischt. Versuchen Sie es.»

Sie fummelte mit ihren Stäbchen herum und beförderte eine Garnele beinahe über den Tisch.

«Ich bin nicht so gut damit.»

Gabe lächelte. «Man braucht eine Weile, bis man den Dreh raushat. Nein, nicht so. Hier.»

Gabe nahm ihr die Stäbchen aus der Hand, wobei sein Daumen über die zarte Haut ihrer Handfläche fuhr. Intim und unerwartet. Fiona spürte, wie ihr heiß wurde. Sie mied seinen Blick und starrte weiter auf seine Finger.

«Entspannen Sie sich», sagte er mit beruhigender Stimme, die genau das Gegenteil in ihr auslöste. Es war doch bloß empfindliche Haut, das war alles. Sie straffte ihren Rücken und konzentrierte sich auf das, was er sagte.

«Also …» Er legte die Hand auf ihre und positionierte das obere Stäbchen zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger. «Halten Sie es wie einen Stift, aber eher im oberen Drittel, nicht so tief. Und jetzt legen Sie das zweite Stäbchen auf Ihren Ringfinger.»

Am liebsten hätte Fiona seine Hand abgeschüttelt, um dieses alberne Gefühl loszuwerden, das mit seiner Berührung durch ihren Körper brizzelte. Hektisch bewegte sie ihre Finger und ließ prompt das untere Stäbchen fallen. Sie spürte, wie sie rot wurde. Sie war so tollpatschig.

«Versuchen Sie es noch mal. Zum Glück geht es in der japanischen Kultur vor allem um den Essgenuss – was bedeutet, man legt nicht so viel Wert auf Tischmanieren.» Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, doch das hielt sie nicht davon ab, sich wie ein Trampeltier zu fühlen.

«Das ist gut, denn sonst würde ich wohl verhungern.»

«Nicht, solange ich da bin.» Mit einer schnellen, fließenden Bewegung nahm Gabe eine der Jakobsmuscheln zwischen seine Stäbchen und hielt sie Fiona vor den Mund. Gehorsam öffnete sie die Lippen und nahm den Leckerbissen zu sich. Als der köstliche Geschmack ihre Zunge traf, seufzte sie auf.