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Man sagt, die Ordnung des Lebens erwächst aus dem Gleichgewicht der Gegensätze. Doch die Zeit verrinnt ohne Rast und tilgt die Erinnerung an die Schreckensherrschaft der Wächter und Sammler aus dem Gedächtnis der Menschen. Kaum, dass sie den eisigen Gefängnissen von Trong entronnen sind und die Grenzen alter, gefallener Königreiche überschreiten, nehmen sie das Land in Besitz und raffen die Trümmer zu neuer Macht und Größe. Aber ihre Zahl ist klein geworden und das weite Land braucht Zeit, um die dunklen Schatten von einst abzustreifen. So fechten sie blutige Kämpfe um Macht und Einfluss, um Wasser, Vieh und Ackerflächen - Oasen des Lebens in einer Welt des Hungers. Während sich die Mächtigen dieser Welt auf eine Schlacht vorbereiten und der Menschheit mit ihrer Vernichtung drohen, beruft Adinofis eilig ein Konzil in Atragon ein. Denn sie weiß: Macht der Mensch nicht Frieden mit sich selbst, wird er ihn anderswo nicht finden.
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Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Solange der Mensch nicht Frieden macht mit sich selbst, wird er ihn anderswo nicht finden.
PROLOG
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
KAPITEL VIII
EPILOG
Verdichtete Szenen aus der Atragon-Trilogie
Personen und Orte
Es heißt, erlittener Schmerz bewahrt die Erinnerung an das Erlebte. Aber die Zeit vergeht ohne Rast und tilgt die Schreckensherrschaft der Wächter und Sammler aus dem Gedächtnis der Menschen. Kaum, dass sie den eisigen Gefängnissen von Trong entkommen sind und die Grenzen gefallener Königreiche überschreiten, nehmen sie das Land in Besitz und raffen die Trümmer zu neuer Macht und Größe.
Zwar schwinden allmählich die Narben von Krieg und Zerstörung, neue Siedlungen und Dörfer entstehen und auch Taurons Mauern finden mehr und mehr zu alter Stärke zurück, doch die Zahl der Menschen ist klein und das weite Land braucht Zeit, um die dunklen Schatten von einst abzustreifen. So fechten sie blutige Kämpfe um Wasser, Vieh und Ackerflächen – kleine Oasen des Lebens in einer Welt des Hungers. Wer soll sich ihrer erbarmen? Der Starke besiegt den Schwachen, so ist es seit Anbeginn der Zeit. Ein Gesetz, das ungeschrieben die Herzen der Menschen in jedem Winkel dieser Welt vergiftet. So verstreichen die Jahre und ein neuer Nährboden für Krieg und Verderben reift heran. Marodierende Banden ziehen schwer bewaffnet durchs Land. Sie plündern die Hütten der Dörfer und Siedlungen und verbreiten Angst und Schrecken. Niemand tritt ihnen entgegen, und jene, die es wagen, verlieren ihr Leben. Meist findet man sie bleich und kalt im Winde baumelnd an einem Ast erhängt. Sie tragen den Namen Rogan eingeritzt auf ihrer Brust, der flüsternd nur und hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Doch nimmt der Wind ihn mit und trägt ihn über kahle Ebenen hinweg nach Atragon, ins Reich der Feen.
Man sagt, Feen können nicht träumen.
Adinofis trat ans Fenster ihres Schlafgemachs. Draußen war es kühl. Nachdenklich hüllte sie sich fester in ihre flauschige weiße Decke. Sie legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und lauschte dem Gezänk der Spatzen, die schon früh begonnen hatten, die schreienden Hälse ihrer Jungen mit Futter zu stopfen. Bei dem Gedanken, die Mühsal der kleinen Himmelsstürmer mit einem magischen Spruch etwas abzumildern, zog ein verschmitztes Lächeln über ihre Mundwinkel.
Nach der langen Nacht tat ihr die Ablenkung gut. In tiefen Zügen atmete sie die frische Morgenluft und ließ sich in einen breiten gepolsterten Sessel fallen, von denen drei weitere um einen runden Holztisch neben ihrem Bett gruppiert standen. Gedankenverloren wanderte ihr Blick aus dem Fenster über den mit Blumen bestückten Balkon und verlor sich in der Ferne, wo ein zarter Sonnenstrahl den Morgendunst durchbrach. Vor wenigen Minuten war sie aufgewacht. Seitdem dachte sie über ihren Traum nach, aus dem sie in der Nacht schreiend und in Schweiß gebadet aufgeschreckt war. Seine Bedeutung blieb ihr ebenso verschlossen wie der Name Rogan, der darin vorkam.
Seufzend rieb sie sich den Schlaf aus den Augen. Jemand hatte an der Tür geklopft. Das Geräusch war so leise gewesen, dass sie es fast überhört hätte. Sie wandte den Kopf und sah Salina im Türrahmen stehen.
„Du hier?“ Sie winkte ihre Freundin zu sich, die nur zögernd näher trat. „Na, komm schon, komm rein! Die Nacht ist ohnehin vorbei.“ Sie schien vergessen zu haben, dass Salina seit ihrer Beförderung zur Centura des Heeres nahezu jeden Tag eine neue farbenprächtige Robe trug, und musterte den blauen Seidenstoff an ihrem Körper, der mit kleinen Sternen üppig bestickt war und ihre schlanke Figur vorteilhaft zur Geltung brachte.
„Diese Farbe sollten wir im Rat einführen“, meinte A-dinofis, während sie lächelnd auf sie zuging.
„Ein Wort genügt ...“
Adinofis winkte ab. „Komm, setz dich!“ Sie wies einladend auf einen der Sessel. „Möchtest du was trinken?“
„Den neuen Trank, wenn du hast. Du weißt schon ...“
„Du meinst ... Perlsaft?“
„Ja! Aber deswegen bin ich nicht gekommen“, versicherte Salina.
Indes kam Adinofis mit Gläsern und einem Krug zurück und goss sich und Salina ein: „Zu deinem Besuch kommen wir später. – Wusstest du, dass Isonde die Traube zu Ehren der Liebe gezüchtet hat? Zumindest sagt sie das. Ich glaube, sie tat es mehr zu ihrem Vergnügen.“
Adinofis lachte, während sie das Glas zur Hand nahm und Salina zuprostete: „Also, trinken wir auf deine Beförderung. Und was danach noch kommt.“
„Was soll noch kommen?“ Salina nahm verwundert das Glas von den Lippen, warf ihr langes rotes Haar zurück und blickte auf.
„Das Amt der Hohenpriostine vielleicht?“
„Nein, Adinofis! Ich bin noch lange nicht ...“
„Doch, das bist du“, unterbrach sie Salina. „Du bringst alles mit, was nötig ist: Treue, Klugheit, Durchsetzungsvermögen, Wissen und ... Leidenschaft. Eine ganz wichtige Eigenschaft, um dieses Amt lebendig zu halten, darin aufzugehen. Mir fehlt schon lange die Kraft dazu.“
„Und Cenotes, was sagt er dazu?“
„Er erfährt es morgen auf dem Greimberg.“ Ein warmes Lächeln huschte über ihre Lippen.
„Greimberg?“ Sie sahen sich an und kicherten wie kleine Mädchen. „Warum dort?“
„Na ja, ...“ Adinofis' Stimme wurde leise. „... in einigen Tagen steht seine Krönung an. Und ich denke, dass die Menschen es nicht verstehen werden, wenn ich anwesend bin. Ich meine, Fee und Mensch?“
„Hm! Schon vergessen: Loke, Nora, kleine Adinofis?“ Salina stützte ihre Ellenbogen auf die Knie und sah ihrer Freundin fest in die Augen. „Liebst du ihn?“
„Darum geht es nicht.“ Adinofis strich Salinas Frage mit einer Handbewegung weg, als würde sie eine lästige Fliege verscheuchen. „Wir kennen uns jetzt, ich weiß nicht genau ... viele Jahre. Liebe war nie unser Problem. Der Schritt in seine Welt ist es.“
„Warum?“ Salina lehnte sich erstaunt zurück. „Das wird die beste Entscheidung deines Lebens.“
Adinofis holte tief Luft. Ihre Stimme klang plötzlich hart und fest. „Cenotes ist ein Mensch. In ihm schlummern dieselben Eigenschaften wie bei jedem Menschen. Habe ich den Schritt einmal vollzogen, kann ich nicht mehr zurück. Du kennst das neue Gesetz des Rates. Dann gibt es kein Zepter mehr, keine Magie, keine Macht. Ich wäre aus Fleisch und Blut und so verletzlich wie jeder andere Mensch auch.“
„Ahhh!“ Salina verzog das Gesicht, als wäre sie tief beeindruckt. „Das nenne ich Liebe.“
„Mach dich nicht lustig! Du kennst die Menschen nicht. Ich weiß, wozu sie fähig sind und wie sie es mit der Wahrheit halten.“
„Na gut, du wirst schon wissen ...“ Salina hielt Adinofis ihr leeres Glas hin. „Komm, schenk noch mal ein!“
„Und worauf stoßen wir jetzt an?“
„Hm, keine Ahnung“, kicherte Salina. „Auf dich?“
Adinofis schwieg.
„An was denkst du?“, fragte Salina nach einer Weile. Ein fahler Schein fiel von draußen auf das Gesicht ihrer Freundin, ließ es müde und ausgezehrt erscheinen. Salina blickte in Augen, die mit dunklen Schatten unterlegt waren, auf spröde, farblose Lippen und leichte Höhlungen unter den Wangenknochen. Gewiss, Adinofis würde nie altern oder sterben wie die Menschen, doch die Male der jahrzehntelangen Strapazen im Kampf gegen Sartos waren nicht zu übersehen. Irgendetwas schien ihr offenbar noch größere Sorgen zu machen als die tägliche Mühsal ihrer Pflichten als Hohepriostine des Feenrates.
Salina lehnte sich mit dem Glas in der Hand zurück und schlug die Beine übereinander. Doch bevor sie ihrer Freundin zuprosten konnte, leerte Adinofis das Glas in einem Zug aus. Dann stellte sie es hart auf dem Tisch ab, sodass es zerbrach. Die Scherben fielen zu Boden, und als sie sich nach ihnen bücken wollte, zögerte sie und fragte Salina: „Sind wir Feen fehlbar?“
„Ja, sind wir“, antwortete Salina, obwohl sie den Eindruck hatte, dass Adinofis mehr zu sich selbst sprach.
„Aber von uns hängt alles Leben ab, das Gleichgewicht der Kräfte, ja sogar unser eigenes Fortbestehen.“
„Unser Fortbestehen? Wie meinst du das?“ Salina stellte ihr Glas auf den Tisch zurück und begann die Scherben vom Boden aufzusammeln. Ihr war anzusehen, dass sie von all dem nichts verstanden hatte.
Adinofis überlegte: „Wie wäre es damit? – 'Der Starke siegt über den Schwachen'.“
„Ja, und?“, stöhnte Salina genervt und setzte sich wieder in den Sessel.
„Nun, dieses Gesetz ist so alt wie das Leben selbst. Neu für mich ist allerdings die Gewissheit, und das gilt besonders für die Menschen, dass sich daran nichts geändert hat und wahrscheinlich auch nie etwas ändern wird.“ Ihr Blick schweifte gedankenvoll durch den Raum und kehrte Sekunden später zu Salina zurück: „Sagt man nicht, dass erlittener Schmerz die Erinnerung an das Erlebte bewahrt?“ Adinofis seufzte laut: „In diesen Worten steckt so wenig Wahrheit. Die Eiskammern von Trong sind aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden. Sie zerstören gerade den Keim einer Zukunft, für die in den letzten Jahren so viele gestorben sind. Das macht es mir so schwierig, in Cenotes' Welt zu treten. Verstehst du jetzt, Salina?“
„Dass du damit ein Problem hast, verstehe ich. Wer würde das nicht? Aber der Mensch war schon immer ein Raubtier und wird es auch in Zukunft sein.“
„So ist es. Die Gier nach Reichtum und Macht treibt ihn an. Dabei stehen die Menschen am Abgrund und sehen ihn nicht. Von der Geburt bis zum Tod, nur Schmerz und Elend. War das unser Ziel?“
„Natürlich nicht“, entgegnete Salina.
„Siehst du. Mit dem Wissen kann ich nicht in die Menschenwelt treten. Ich müsste ohnmächtig zusehen, wie sie sich zerstören.“ Adinofis stand auf, schlug die Hände auf den Rücken und lief nachdenklich auf und ab. Nach einer Weile drehte sie sich um und fragte Salina: „Erinnerst du dich an die Vision der alten Meriste, die uns vor der Schlacht um Tauron eine Niederlage vorausgesagt hatte? Wir standen im Ratssaal, schockiert von Thyras Gefangennahme und außerstande, irgendeine klare Entscheidung zu treffen. Sie mahnte uns zur Vorsicht, wies auf die unzerstörbare Brut dieses Schlächters hin.“
„Meriste hatte viele Visionen“, entgegnete Salina.
„Keine Vorstellung, was ich meine?“
„Nein, keine.“
Adinofis winkte ab, trat an Salina heran und legte ihr die Hand auf die Schulter: „Es war die Schlacht um Tauron. Meriste warnte uns, die neue Brut von Sartos zu unterschätzen. Nun, die Schlacht ging verloren. Versagen wir jetzt wieder, wird der Blutzoll noch höher sein.“
Salinas Blick verlor sich im Raum, als suche sie irgendwo nach einer Antwort. Doch man muss die Frage kennen, um eine Antwort zu geben. Und da fing es an. Sie war verwirrt, begann zu schwitzen und spürte eine große Leere im Kopf. Mit schmalen Augen stand sie auf, fuhr sich seufzend durchs Haar und begann mit ausladender Geste zu lachen: „Du erzählst von einer Vergangenheit, die wir alle kennen, die wir miterlebt haben, der niemand in Atragon widersprechen würde, und ich stehe hier mit einem Gefühl im Bauch, als würde sich jeden Moment ... Ich glaub, mir wird schlecht.“
„Das ist der Perlsaft“, erwiderte Adinofis ungerührt. „Möchtest du lieber Wasser?“
„Ach was“, entgegnete Salina barsch und lehnte sich gegen die Tischkante. „Wie kannst du so ruhig bleiben? Das muss dich doch alarmieren.“
„Alarmieren?“ Adinofis drehte sich um und fiel stöhnend in ihren Sessel zurück. „Die Menschen müsste es alarmieren. Doch die sperren sich gegen die Erinnerung an das Erlebte in den Eiskammern von Trong, an die Morde, das Elend und ihre tägliche Flucht vor den Sammlern. Sie sperren sich gegen die Wahrheit. Sie verstecken sich lieber in der Masse – einem schützenden Gewand aus Meinungen. Schlag das Gewand zurück und du erkennst ihren Charakter. Nur wenige treten mutig darunter hervor und kämpfen für das, woran sie glauben. Meriste hat diese menschliche Schwäche einmal treffend beschrieben. Damals habe ich sie in Lystien an den heiligen Quellen ihres Volkes aufgesucht. Ich wollte von ihr erfahren, wie es um die Wahrheit bei den Menschen bestellt ist, besonders im Hinblick auf Cenotes, das noch ungeborene und von mir kurz zuvor gesegnete Kind von Königin Terofem. Du verstehst?“ Salina nickte.
„Das war gar nicht so einfach. Meriste hat nie viele Worte gemacht, wie du weißt. Sie hat lange meditiert, ungewöhnlich lange. Sie kniete vor mir, wippte mit ihrem greisen Körper vor und zurück, hob dann plötzlich die Hand und sagte, als wäre sie zu Stein erstarrt: 'Das Gewand der Wahrheit ist dunkel für die Unwissenden, die Ängstlichen und Hoffnungslosen.' – Und, was sagt dir das?“
Salina zupfte nachdenklich an den Falten ihrer neuen Robe. Nach einer Weile hob sie den Kopf und erwiderte mit ernster Miene: „Wir stecken bis zum Hals in Schwierigkeiten?“
„Es geht um viel mehr als das, meine Liebe.“ Adinofis berührte den Brillanten an ihrem Ring am Finger und ergänzte: „Pass gut auf!“
Das Zimmer wurde dunkel, der Tisch vor ihnen verschwand und an seine Stelle trat das Bild einer langsam rotierenden durchsichtigen Kugel.
„Ist das die Sphäre des Lichts?“, fragte Salina erstaunt.
Eine flüchtige Handbewegung von Adinofis schob das Bild näher an Salina heran, die ihren Arm spontan vor die Augen hielt.
„Ja! Das ist der Ort, in den wir eingehen, wenn wir zum Beispiel im Kampf unser Dasein verlieren oder die Rückkehr aus der körperlichen Menschenwelt in die Welt der Magie verpassen. Von dort gibt es keine Rückkehr. Uns bleibt nichts als eine nebelhafte Hülle, gefüllt mit unserem Geist und geformt aus Raum und Zeit. Im Laufe der Jahrtausende bildete sich in dieser Sphäre eine eigene Welt von körperlosen Feen, auf deren Geisteskraft der Hohe Rat irgendwann aufmerksam wurde. Diese Feen konnten, wenn sie ihre geistigen Kräfte bündelten, in die Zukunft sehen. Im Jahr 912 der Zeitrechnung, also noch vor Sartos, kam man überein, Krygon und Dagor, die einzigen männlichen Feenwesen, als Verbindungsglieder zur Sphäre in den Hohen Rat zu berufen, denn ihre Fähigkeit, die Gedanken dieser Feen zu lesen, war einzigartig. Dalia hat das gewusst und für ihre Pläne genutzt.“
Adinofis berührte erneut den Ring, das Bild erlosch. Sie stand auf und richtete ihre Haare: Vielleicht kommt mein Traum über diesen Rogan ja direkt aus der Sphäre, überlegte sie.
„Und was willst du jetzt tun? Soll der Rat die Menschen ein weiteres Mal vor ihrem Untergang retten? Sie müssen selbst lernen, ohne Krieg zu leben.“
Adinofis schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, wir müssen das Denken der Menschen verändern, ihr Morden und Plündern im Keim ersticken und jedem Krieg vorbeugen. Denn was uns sonst bevorsteht, ist das Ende allen Seins, das Nichts – kein Schmerz, keine Angst, kein Leben. Wir würden uns in Atragon damit überflüssig machen und in der Sphäre des Lichts für immer verschwinden.“
„Denkst du?“
Adinofis zuckte mit den Schultern: „Ich weiß nur, dass ich seit Tagen träume, und zwar immer den gleichen Traum. Er ist so realistisch, dass ich jede Nacht schweißgebadet aufschrecke und Minuten brauche, um zu mir zu finden.“
„Träumen?“ Salina sprang auf. Die Worte fielen wie Perlen aus ihrem Mund. „Menschen träumen, aber wir? Da fällt mir ein, du bist halbmenschlich, vielleicht kannst du deswegen träumen.“ Sie griff sich an die Stirn. „Vielleicht muss man das Leben fühlen, riechen und schmecken, um träumen zu können.“
„Vielleicht, vielleicht, vielleicht! Das hilft mir nicht weiter“, entgegnete Adinofis. „Was ich sagen will, ist: Ich träume von Reitern in blitzenden Rüstungen, mit Schilden und Lanzen, die mordend und plündernd über Siedlungen und Dörfer herfallen. Allen voran die Bande eines bartlosen Jünglings mit offenem Visier und einem gekreuzten Halbmond am Helm. Seine Männer nennen ihn Rogan. Manchmal sehe ich mich selbst mitten unter ihnen, höre ihre dumpfen Sprüche und ihr gellendes Gelächter. Selbst ihren faulen Atem kann ich riechen. Und dann denke ich an die Schlacht gegen Sartos und wünsche mir die Körper dieser Männer ebenso am Boden zerschmettert und ihre pestbeuligen Gesichter in Blut getaucht. Doch ich kann nichts tun. Ich suche mein Zepter, aber der Schaft am Gürtel ist leer. Alles ist unheimlich, von einer bedrückenden hypnotischen Macht beseelt, die mir die Luft zum Atmen nimmt. Ich drehe mich im Sattel um, meine Blicke schweifen über die düsteren Gestalten und im aufsteigenden Dunst ihrer erhitzten Körper toben grausame Bilder. Ich sehe, wie sich der Mensch gegen sich selbst richtet: Bruder gegen Bruder, Vater gegen Sohn. Und ich sehe schreiende Mütter mit ihren leblosen Kindern im Arm. Das alles sehe ich, bis einer „Tauron!“ schreit. Ein weiterer, noch einer, dann brüllen die Reiter den Namen der Stadt frenetisch im Chor. Und zum Takt ihrer Schreie schlagen ihre Schwerter gegen die Schilde. Und wenn ich diesen furchterregenden Anblick nicht mehr zu ertragen glaube, verschwimmt der Traum in der Dunkelheit und ich wache schreiend auf.“
Adinofis starrte Salina an: „Ich fürchte diesen Traum, nicht meinetwegen. Nein! Ich denke, dieser Jüngling und seine Bande existieren wirklich. Sie bringen das Gleichgewicht des Lebens ins Schwanken.“
„Wie kannst du dir sicher sein?“, fragte Salina entsetzt. Die Wärme, die der Perlsaft noch vor Kurzem durch ihre Adern trieb, war verflogen.
„Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht ist es wirklich nur ein Traum oder die Vision einer Zukunft – Bilder aus der Sphäre des Lichts. Ich weiß es nicht.“
„Hat Cenotes damit was zu tun? Du hast damals den Leib seiner Mutter gesegnet. Er dürfte gar nicht existieren, vor allem nicht König werden.“ Salina rutschte im Sessel nach vorn und sah Adinofis fest in die Augen.
Adinofis rieb sich nachdenklich die Stirn.
„Und Tauron? Hast du da was Konkretes?“
„Nein“, stöhnte Adinofis kopfschüttelnd. „Vielleicht nutzt die Bande die Stadt als Unterschlupf. Aber auch das weiß ich nicht.“
„Oder sie wollen Tauron einnehmen.“
„Alles ist möglich, Salina. Wer auch immer mir diesen Traum beschert, möchte, dass ich ihn ernst nehme. Ich brauche Antworten zu diesem Rogan.“
„Rogan, Rogan“, flüsterte Salina nachdenklich und setzte sich in den Sessel zurück, sprang auf und rief überschwänglich: „Aber ja! Die Jahrtausendberichte im Archiv, darin ist jede Geburt verzeichnet.“
„Und wenn er seinen Namen geändert hat? Nach ihrer Befreiung aus Trong haben das viele Menschen getan.“
Salina schüttelte verneinend den Kopf: „Nein, nein! Kein neugeborenes Kind hat die Kammer überlebt. Deiner Beschreibung nach wird er ein Vorgeborener sein, schätzungsweise zwanzig Jahre alt.“
„Wie auch immer. Ich muss mir Klarheit verschaffen. Vielleicht finde ich im Archiv tatsächlich Antworten. Gill wird mich begleiten, sofern er seinen Rausch ausgeschlafen hat. Auch darüber muss noch geredet werden. Dein Krygon kam kurz nach Mitternacht und erzählte mir von einer Orgie in Rodolfs Kammer. Die haben wieder Bouster gespielt und Weinmoos getrunken.“
„Ich weiß.“ Salina nickte betroffen. „Das war auch der Grund meines frühen Besuchs.“
Adinofis erhob sich, um die Gläser wegzuräumen. Draußen war der Morgendunst verflogen, klar und hell strahlte die Sonne am Himmel. Nur flüchtig vernahm sie Salinas Regung, die sich anschickte, mit rauschendem Saum den Raum zu verlassen.
„Warte!“ Adinofis wandte sich um. „Lebt die alte Meriste noch?“
Salina nickte überrascht: „Ihre Lebenskugel liegt noch im Archiv. Soll ich sie holen?“
„Nein“, lachte Adinofis. „Ich brauche die lebende Meriste und die Elemente. Dann noch Anja, Thyra und natürlich alle Ratsmitglieder. Ich überlege, ein Konzil einzuberufen. Alle Probleme müssen auf den Tisch, und dann müssen Lösungen her.“
Adinofis lief mit den Gläsern in der Hand auf und ab und beschrieb den Ablauf des Konzils, als hielte sie eine Rede vor dem Hohen Rat, wobei ihr Blick an irgendeinem Punkt im Raum manchmal hängen blieb.
„Ich denke, so sollten wir verfahren“, endete sie nach einer Weile mitten im Satz. „Was meinst du?“
„Na ja, bei den Elementen ist die Frage, ob sie kommen. Du weißt ja, wie scheu sie sind.“
„Ohne sie hat die Sitzung aber keinen Sinn. Sie haben das alles verursacht. Sie müssen kommen.“
Als Salina den Raum verlassen hatte, sank Adinofis erschöpft in ihren Sessel und schloss müde die Augen: Habe ich mich in Salina geirrt? Ist sie für das Amt der Hohenpriostine wirklich bereit? Gewiss, sie steht auf meiner Seite, doch erkennt sie die Gefahr, in der die Menschheit schwebt und mit ihr das Feenreich? Adinofis blinzelte gegen das durchs Fenster einfallende Sonnenlicht. Nein, sie wird sich noch beweisen. Ihr Verstand ist brillant, ebenso ihre Fähigkeit zu analysieren. Und der Hohe Rat vertraut ihren Entscheidungen.
Adinofis stand auf, trat auf den Balkon und lehnte sich übers Geländer. Sie sah den Spatzen zu, die noch immer futterneidisch zankten und mit verwegenen Flugmanövern ein um das andere Mal dicht am Geländer vorbeiflogen, und suchte dabei Antworten auf diesen bartlosen Jüngling in ihrem Traum – welche Rolle er im Gleichgewicht des Lebens spielt und ob ein Konzil tatsächlich die Lösung ihrer Probleme ist. Zunächst aber musste sie ihrem Gehilfen einen Besuch abstatten. Ein weiteres Problem, das dringend einer Lösung bedurfte.
Das Unheil nimmt seinen Lauf
Fernes Donnergrollen schreckte Gill aus dem Schlaf. Er sah gähnend aus dem Fenster. Die Wolken zogen unterhalb des Gipfels von Atragon träge dahin. Darüber strahlte ihm ein blauer Mittagshimmel entgegen. Das war eine Zeit, in der er für gewöhnlich längst auf den Beinen war, sah man von den Tagen ab, an denen er nach einem trunksüchtigen Bouster-Abend mit Rodolf Stunden benötigte, um völlig verkatert wieder zu sich zu kommen. Und von diesen Tagen gab es in letzter Zeit viele.
„Ich hoffe, du bist bald fertig!“ Adinofis Stimme drang gereizt durch das Flugloch in seine Schlafkammer.
Gill rieb sich die Augen, streckte seine Flügel und strich gähnend durch sein zerzaustes Haar, während er seinen Blick im Zimmer schweifen ließ. Dort sah es aus wie nach einer Schlacht: Seine braune Lederhose lag auf dem Fußboden vor dem Fenster, die blaue Jacke hatte er offenbar als Kissen benutzt, und sein brauner Hut ...? Der lag völlig platt gedrückt unterm Tisch. Die Strümpfe lagen auf der einen Seite vom Bett und die Schuhe auf der anderen.
Hastig sammelte Gill seine Sachen zusammen, zog sich an und flatterte wenige Augenblicke später auf den Flur.
„Na? Haben wir die Nacht wieder zum Tag gemacht?“ Adinofis Augen blitzten. „Was soll das? Muss ich jetzt warten, bis sich mein trunksüchtiger Gehilfe vom Weinmoos erholt hat? Ganz Atragon spricht von deiner Orgie mit Rodolf. Du bringst mich in Verruf, und dich mit. Wenn das nicht aufhört, wirst du in der Küche Töpfe und Pfannen schrubben, mein Lieber!“
Gill warf ihr einen verschämten Blick zu. Er wollte etwas erwidern, fand aber nicht gleich die passenden Worte. Und als er so weit war, hatte Adinofis sich bereits in Bewegung gesetzt. Nicht übel, dachte er, während er ihr mit heftigen Flügelschlägen folgte, wirklich nicht übel. Rodolf füllt mich mit Weinmoos voll und kommt auch noch ungeschoren davon. Kein Wort über ihn, schuld bin immer nur ich. Ganz sicher hat mir dieser Bastard ein Rauschmittel in das Weinmoos gekippt, Blattgelee oder sowas.
Gill griff sich an die Stirn, sein Kopf schmerzte. Als er wieder aufblickte, sah er, dass Adinofis durch den Westflügel der Cella ging. Und da sie gerade an der Übungshalle der Kriegerfeen vorüberkamen, aus der Lärm drang, blieb als Ziel nur das Archiv. Aber was wollte sie in dem verstaubten, mit Geburtsröhren und Schriftrollen vollgestopften Raum? Gehilfen war der Zutritt dort verboten.
Gill seufzte hörbar. Er wagte es nicht, Adinofis zu fragen. Die ganze Situation war angespannt genug und die Küche war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Schließlich hatte er als ranghöchster Gehilfe einen Ruf zu verlieren. Und Rodolf, den würde er später noch Maß nehmen, so viel war sicher.
„Übrigens.“ Adinofis wandte den Kopf. „Ich weiß, dass Rodolf gestern Abend der Hauptakteur war. Krygon erzählte mir, dass er vor anderen Gehilfen mit seiner Trinkfestigkeit geprahlt hat.“ Sie blieb stehen, zog lächelnd die Augenbrauen hoch und zeigte versöhnlich auf ihren Nacken. „Na los, setz dich schon, du alter Trunkenbold!“