Schlacht um Tauron - Rainer Stecher - E-Book

Schlacht um Tauron E-Book

Rainer Stecher

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Beschreibung

Seit Jahrtausenden wachen die Feen von Atragon über die Ordnung des Lebens auf der Erde. Eine Ordnung, die durch Verrat und Machtgier eines unheilvollen Paktes plötzlich zerstört wird - in der nun das Böse regiert, die Angst den Mut beherrscht, der Tod über das Leben triumphiert und wo selbst die Nacht zur Ewigkeit wird. Mit Gleichgesinnten deckt Adinofis, die Hüterin der Menschen, das verräterische Komplott auf. Im Strudel der Ereignisse wendet sich das Böse gegen Atragon, um sich allmächtig über das Leben zu erheben. Ein hoher Blutzoll ist die Folge. Vor den Toren Taurons, der letzten Bastion der Menschen, soll es nun zu einer alles entscheidenden Schlacht kommen.

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Seitenzahl: 271

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Der Stoff, aus dem der Mensch die Wahrheit webt,

gleicht dem Gewand, das er vor Angst und

Kälte zitternd, sich schützend um die Schultern legt.

Denn wisst!

Es ist die Vielzahl seiner Art, die ihn im Geist

beschränkt, in die er sinkt, wenn menschliches

Gesetz ihn dazu zwingt.

Doch wirft er ab das schützende Gewand

und flieht der stumpfen Masse Wahrheit,

ein flammend Licht wird seinen Geist erhellen,

ins Dunkle schwinden Angst und Hoffnungslosigkeit.

Handelnde Personen

Anja: Tochter der alten Seherin Meriste.

Adinofis: Halbfee, Hüterin der Menschen.

Antill: König des Königreiches Pragon.

Argonat: König des Königreiches Targona.

Brag: Armeegeneral von Sartos.

Cenotes: das von Adinofis gesegnete Kind, Sohn von König Argonat und Königin Terofem.

Centuren: Generäle der Streitkräfte von Atragon.

Dalia: Hohepriesterin im Rat der Feen.

Gill: Gehilfe und Ratgeber von Adinofis und ehemaliger

Gehilfe der Feenkönigin Nora.

Isonde: Kriegerfee, Priostine im Rat der Feen.

Isrim: Schwester König Antills.

Krygon: Hüter des Volkes der Seher.

Loke: Torwächter Taurons und Vater von Adinofis.

Meriste: Anjas Mutter, Oberhaupt des Volkes der Seher.

Metron: Protokollführer des Königs von Targona.

Nora: Feenkönigin von Atragon, Adinofis’ Mutter.

Reimer: General der Armee des Königreiches Targona.

Rodolf: Gehilfe von Krygon.

Sartos: Herrscher über die innere Erdwelt.

Sidonis: die Amme des Kronprinzen Cenotes.

Salina: Hüterin des Volkes der Waldfaunen.

Terofem: Cenotes’ Mutter und Königin von Targona.

Thyra: Waldfaune und Adinofis’ Kampfgefährtin.

Wrong: General des Wächterheeres.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Prolog

Nachdem die Elemente des Lebens die Erde erschaffen und dem Mensch Leben eingehaucht hatten, stritten sie darüber, wer von ihnen am Mächtigsten sei. Zügellos erprobten sie ihre Kräfte. Dabei verliehen sie ihrer neuen Schöpfung versehentlich Verstand – scharfe Krallen in anderem Gewand. Eine Waffe, die der Urkraft des Lebens Tod und Zerstörung brachte und die der Mensch letztlich gegen sich selbst richtete. Das Streben nach Macht und Reichtum dominierte fortan sein Denken und Handeln und führte zu zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Völkern.

Und als wäre das noch nicht genug Unheil, erschufen die Elemente in ihrem Streit auch ein untotes Wesen mit einer langen zottligen Löwenmähne, glutroten Augen und glühender Erdschmelze als Blut, das im Inneren der Erde lebte und sich an der menschlichen Bosheit nährte.

Als die Elemente die Folgen ihres Streits erkannten, begannen sie ihren fatalen Eingriff in die Ordnung des Lebens zu korrigieren. Für diese Jahrtausende andauernde Veränderung öffneten sie die Sphären der Magie und beriefen Feen zu Hütern der Welt. Nora, die erste Fee und spätere Feenkönigin, erschuf den Berg Atragon, die Heimstatt ihres Volkes. Im Grenzgebiet zwischen den Königreichen Pragon und Targona gelegen ragte das gewaltige Felsmassiv in den Himmel auf. Die Ausmaße seines in 3.000 Meter Höhe gelegenen Plateaus erlaubten den Bau eines weitläufigen Areals von miteinander verbundenen Kuppelbauten sowie Wohn- und Wehranlagen. Das Zentrum bildete die Cella: eine kugelförmige Halle, in der die „Flamme des Lebens“ brannte.

Doch Jahrtausende später, als sich die untote Kreatur an der Bösartigkeit des Menschen satt gefressen hatte, brach eines Morgens im rauen eisbedeckten Norden ein gewaltiges Beben die Erde auf. Beißender Rauch und höllische Glut katapultierten explosionsartig in den Himmel und aus der rotglühenden Schmelze im Innern stieg der Herrscher der inneren Welt empor. Ihm folgte eine Armee von Bestien (halb Mensch, halb Tier). Sie waren so zahlreich, dass ein Tag und eine Nacht verging, bis der letzte seine feurigen Hufe in diese Welt gesetzt hatte.

Als die Sonne am nächsten Morgen in blutigem Rot den Horizont überstieg, als ihr zarter Schein endlich an Kraft gewann und die graue staubgetränkte Wolkendecke zerriss, war der nördliche Erdkreis mit Zehntausenden dieser Kreaturen bedeckt. Sie marschierten in Schlachtordnung nach Atragon, um das Reich der Feen zu unterwerfen und die „Flamme des Lebens“ zu erobern. Auf ihrem Weg hinterließen sie eine blutige Spur der Verwüstung. Fünf Tage lang verdunkelten Wolken die Sonne, zerrissen Blitze den Himmel. Sie brandschatzten Dörfer und Städte und machten sie dem Erdboden gleich, tranken Seen und Bäche leer, veränderten Flussläufe und verbrannten Wälder zu Asche.

Am sechsten Tag lagerten sie am Fuß des Feenberges und erstürmten ihn am siebten im Dunkel der Nacht. Die dicken Mauern der Wehranlagen und die eisenbeschlagenen Tore der Cella hielten dem Angriff nicht lange stand. Hunderte Feen starben im Blutrausch dieser Bestien und wieder Hunderte lagen schwer verletzt danieder. Doch bei Sonnenaufgang des achten Tages, die dunklen Wolken hatten sich gerade erst verzogen, ruhten plötzlich die Waffen. Die Kreatur zog sich mit seiner Armee in den eisigen Norden zurück – nach Trong.

Im Hohen Rat der Feen dachte man, mit dem Abzug des untoten Herrschers (in ihrer Sprache nannten sie ihn Sartos) Gnade gefunden zu haben. Doch das war ein Irrtum. Die Fee Dalia hatte die „Flamme des Lebens“ Sartos ausgehändigt und mit ihm ein machtteilendes Bündnis geschlossen, damit er herrsche über das Leben auf der Erde und sie als Hohepriostine über Atragon.

Vier Jahrzehnte vergingen, in denen Sartos Heerscharen die Königreiche Pragon, Saragon und Mertona überfielen und alles niedermetzelten, was vor ihre Schwerter kam. Sie zerstörten Burgen und Schlösser, brandschatzten Dörfer und Städte und nahmen an Menschen mit, was sie tragen konnten. So verschwanden Hunderttausende. Jene aber, die dem Zugriff der Wächter entkamen, flohen mit ihrer Habe nach Tauron, in die von mächtigen Mauern umgebene Residenzstadt von Targona – der letzten Bastion der Menschen.

Jede Nacht läuten in Tauron die Glocken der Kirche, dann dringt ein vielstimmiges Gemurmel aus den Häusern der Menschen: „Herrin des Himmels und der Erde, erlöse uns von dem Bösen, erlöse uns von dem Grauen, erlöse uns von den schwarzen Reitern.“

Manchmal trägt der Wind die Gebete nach Atragon, in die große Halle des Lebens. Doch die Feen schweigen.

Die Zeit bestimmt, wann eine Macht,

die blutbesudelt sich erhebt

auf einem Berg aus Leichen,

sich selbst verschlingt.

Kapitel 1

Noras Tagebuch

Im Flur der Cella krachte eine Tür ins Schloss. Salina fuhr hoch und rieb sich verschlafen die Augen. Es war früh am Morgen. Fahles Licht fiel durch das offene Fenster und warf einen gespenstig-blassen Schleier in den Raum. Alles war so bekannt und so verschwommen wie der eigene Umriss an der Wand gegenüber. Sie sprang aus dem Bett, warf hastig ihren blauen Morgenmantel über und schlich zur Tür ihrer Schlafkammer, als draußen erneut eine Tür laut ins Schloss fiel.

Dem Geräusch nach hatte offenbar jemand den Ratssaal betreten und ihn gleich darauf wieder verlassen. Salina vernahm hin und her eilende Schritte, als würde jemand den Flur absuchen. Krygon konnte das nicht sein. Zu so früher Stunde pflegte ihr Gefährte noch zu schlafen. Außerdem hatte er freien Zugang zu ihrer Kammer und keinen Grund, davor Auf und Ab zu gehen. Auch ihre Freundin Adinofis konnte das nicht sein, die war auf dem Weg zum Greimberg, um über der Stadt Tauron den Schutzschild zu prüfen. Anschließend wollte sie das Neugeborene der Königsfamilie segnen und sich mit der Amme Sidonis treffen.

Salinas Herz schlug ihr bis zum Hals: Hatte Dalia etwa die geheimen Pläne der Gruppe um Adinofis entdeckt und Wachen vor ihren Schlafkammern postiert? Gehetzt irrte ihr Blick durch den Raum. Wo war das verdammte Zepter, diese mächtige Waffe, die Leben erschaffen, es wieder nehmen und jeden Angriff vereiteln konnte? Wo war es nur?

Salina stürzte zum Bett, holte mit fahrigen Bewegungen ihr Zepter unter dem Kissen hervor, eilte auf Zehenspitzen zurück zur Tür und lauschte erneut. Doch jetzt waren die Geräusche verschwunden. Da war kein Klacken, kein Schlurfen, kein Türschlagen, nichts. Es herrschte absolute Stille. Leise öffnete sie einen Spaltbreit die Tür und spähte hindurch. Aber sie entdeckte nichts als einen blassen Schein, der von den brennenden Fackeln an den groben Steinwänden abgestrahlt und in den Flur geworfen wurde.

„Niemand zu sehen“, stöhnte sie erleichtert und lehnte sich einen Augenblick später mit dem Rücken gegen die Tür. Sie war vor Angst nass geschwitzt. Das Nachthemd klebte auf ihrer Haut und ihre Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg, während sie zu Boden rutschte und darüber nachdachte, warum ausgerechnet sie sich der Gruppe um Adinofis angeschlossen hatte – sie, die jüngste Fee im Reich, die sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als Priostine im Hohen Rat zu werden.

„Habe ich dafür nicht all die Demütigungen von Dalia ertragen“, flüsterte sie und lauschte noch mal an der Tür, „all die Entbehrungen und Niederlagen? Warum soll ich also Adinofis jetzt helfen, den Rat zu stürzen?“ Salina warf ihr langes Haar zurück. „Nein, so einfach kannst du dir das nicht machen. Schließlich gibt es da auch eine Kehrseite: Im Rat herrschen intrigante Spiele um Macht und Einfluss. Kaum jemand wagt es, dagegen vorzugehen. Nur Adinofis spricht immer aus, worüber die anderen lieber schweigen. Also steh’ jetzt auf und finde heraus, was da draußen vorgeht, du Angsthase.“

Mühsam stand sie auf, ihre Beine waren gefühllos und kalt. Sie rieb sich das Blut in die Adern zurück, woraufhin sich ihre Haut rötete und von wohliger Wärme durchströmt wurde. Dann beförderte sie mit Schwung das Zepter auf ihr Bett, ging zum Fenster und drückte ihre Stirn dagegen. Die Kühle tat ihr gut. Sie wusste, dass dies wohl der einzige ruhige Moment an diesem Tag sein würde – ein Tag, der in jeder Hinsicht aus dem Rahmen fallen würde. So wie jeder Tag, an dem der Hohe Rat eine Sitzung abhielt. Und dazu brauchte sie wie immer ihre schwarze Robe mit dem weißen Zierbesatz am Saum und am Revers. Alle Ratsmitglieder trugen diese Roben. In ihrem Schrank lag ein halbes Dutzend davon.

Sie griff sich eine heraus und zog sie über, schlüpfte in ihre mit Lederstreifen über dem Fuß gefertigten Sandalen, nahm ihr Zepter vom Bett, schnallte es mit einem breiten Lederriemen um ihre Hüfte und verließ den Raum. Sie hörte noch hinter sich die Tür ihrer Kammer klappernd ins Schloss fallen. Es musste repariert werden, schon seit langer Zeit. Auch die Scharniere waren rostig und locker. Aber seit Dalias Machtantritt kümmerte sich niemand mehr um solche Kleinigkeiten.

Auf dem Weg zum Sitzungssaal des Rates war alles still, niemand kam ihr entgegen. Ihr Blick schweifte durch den mit rotem Backstein gemauerten Flur und über die noch geschlossenen grünen Schlafkammertüren der auf vier Etagen untergebrachten Feen. Und plötzlich musste sie an den Tag der großen Schlacht gegen Sartos denken. Damals hatten seine Wächter dieselbe Stille in Blut ertränkt: Im Morgengrauen waren sie in die Bogengänge und Schlafkammern eingedrungen und hatten Hunderte Feen abgeschlachtet. In Strömen war ihr Blut ins Erdgeschoss und zwischen den weißen Granitsäulen hindurch in den runden Innenhof geflossen. Noch heute, vierzig Jahre später, konnte man den Blutgeruch in den Winkeln der Gänge und Kammern riechen, und der weiße Granit war bis in Knöchelhöhe noch so rot als hätte er das Blut der Feen für immer in sich aufgesogen.

Am Eingang des Saales nahm sie eine der schmiedeeisernen und mit Pech gefüllten Fackeln von der Wand, zog die schwere Eichentür einen Spaltbreit auf und schlüpfte hindurch. Ehrfurchtgebietend standen die braunen Buchenholzmöbel des Hohen Rates vor ihr. Der mit zwölf weißen Säulen ausgestattete kreisförmige Raum wirkte durch seine dunkle Wandvertäfelung bedrückend und düster. Es roch muffig. Die an den Himmelsrichtungen ausgerichteten vier Fenster waren noch geschlossen und die schweren Vorhänge zugezogen. In drei Stunden würde es hier wieder um Macht und Einfluss gehen, das wusste sie, aber jetzt war es so still wie in einem Grab.

Salina zog die Vorhänge zurück und öffnete ein Fenster. Vogelgezwitscher drang an ihr Ohr, eine duftgeschwängerte warme Brise streifte sie. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht.

Ja, sie war nicht die Mutigste, das wusste sie. Doch sie wusste auch, wem sie vertrauen konnte und wem nicht, auch wenn sie sich ihrer eigenen Meinung manchmal unschlüssig war. Und dieser Saal hier war jetzt so ein Fall. Was hatte sie nur dazu getrieben, diesen Raum zu betreten? Jeden Moment konnte eine von Dalias Wachen kommen, der sie Rede und Antwort stehen musste. War es dieses Türgeräusch, vielleicht die seltsamen Schritte vor ihrer Kammer? Jetzt im Morgengrauen, wo alle anderen Feen noch schliefen, tapste sie verunsichert um sich blickend in diesem Saal umher und wusste eigentlich nicht so recht wieso.

Vom Rauch der Fackel tränten ihre Augen. Sie sah an der Flamme vorbei in den Raum und wischte mit dem Handrücken die Nässe aus ihrem Gesicht. Dabei war ihr so seltsam zumute, als hätte jemand einen Zauber über sie geworfen. Sie sah plötzlich alle Priostinen steif auf ihren Stühlen sitzen: schattenhaft, stumm, mit starrem Blick, blass im Gesicht und in weiße Roben gehüllt. Einzig Dalia lächelte, kalt wie immer. Aber da war auch noch was anderes. Etwas, zu dem sie immer aufgeblickt und das ihr Kraft und Zuversicht gegeben hat, die Demütigungen Dalias zu ertragen. ... Da! Über der halbkreisförmigen Sitzordnung der Ratsmitglieder hing das etwa zwei Mal zwei Meter große Bild der verstorbenen Feenkönigin Nora, der ersten Fee von Atragon. Ihren Namen hat man früher mit Ehrfurcht und Respekt ausgesprochen. Aber das war vor Dalia, heute wagt man das nur noch flüsternd und hinter vorgehaltener Hand. Und wie Dalia nach Noras Tod alles Gute im Reich zunichtegemacht hat, so war auch das Bild durch den Staub der Zeit verblasst. Selbst der einst so prächtig verzierte schwere goldfarbene Rahmen war größtenteils beschädigt und verfiel zusehends.

Salina stand vor dem Gemälde und strich liebevoll darüber hinweg, als plötzlich ein Teil des unteren Querrahmens zu Boden fiel. Erschrocken kniete sie nieder, um den Schaden näher zu betrachten. Da entdeckte sie in der etwa ein Zentimeter breiten Nut ein kleines schmales Büchlein aus braunem Leder, das vollständig von Staub und Spinnweben bedeckt war. Interessiert drehte und wendete sie das Buch. Vielleicht sollte sie es besser in der Nut lassen und stattdessen den Rahmen reparieren, bevor jemand kommt? Sie wollte schon damit beginnen, aber ihre Neugier hielt sie zurück. Und so hob sie es auf und wischte nach einem Titel suchend vorsichtig über den Ledereinband. Aber da war nichts zu sehen. Nichts, was eine Deutung auf seine Herkunft oder den Besitzer hätte zulassen können. Trotzdem schien irgendein Geheimnis darin zu stecken. Warum sollte sonst jemand ein Buch hinter einem Bild verstecken?

Salina steckte die Fackel in eine auf dem Tisch dafür vorgesehene metallene Vorrichtung, setzte sich auf einen der gepolsterten Lederstühle und öffnete das Buch. Die Seiten waren steif und vergilbt, als wären sie bereits hundert Jahre alt, und sie wiesen zahlreiche Textlücken auf. Ungeduldig bog sie den Einband zurück und fächerte die Seiten auf. Da erkannte sie, wem das Buch gehörte. Es war Noras Tagebuch, denn ihr Zeichen prangte in der rechten oberen Ecke der Innenseite des Einbandes: ein traubenförmiges Gebilde mit einem etwas unleserlichen Spruch in der Mitte. Salina rückte sich auf ihrem Stuhl zurecht und schlug die erste Seite auf. Sie war unbeschrieben. Auf der zweiten Seite begann sie im fahlen Schein der Fackel zu lesen.

Nach dem gestrigen Tag empfinde ich es als wohltuend, in der Sphäre des Lichts endlich Ruhe zu finden. Die Sphäre wird meine Wunden nicht heilen, meinen Tod nicht verhindern. So bleibt mir nur wenig Zeit, das Erlebte aufzuschreiben und es mit einigen Anweisungen in die Hände meines treuen Gehilfen Gill zu geben. Hier mein Bericht über die Ereignisse, die letztlich zu meinem und dem Tod zahlloser Feen geführt haben. Vor meinem geistigen Auge zieht noch mal die gestrige Schlacht gegen Sartos’ Wächter vorüber: Ich sehe die verzerrten Gesichter unserer Feen, die heldenhaft gegen diesen übermächtigen Feind gekämpft haben. Und ich sehe das verräterische Treffen der Fee Dalia mit Sartos, dem Herrscher der inneren Welt. Ich bin den beiden in die Cella gefolgt und musste mit Entsetzen feststellen, dass Dalia die Flamme des Lebens an Sartos übergeben hat. Hütet euch, Dalias Machtgier nachzugeben und sie in den Stand einer Hohepriostine zu erheben. Denn darauf wird es hinauslaufen. Wir alle wären verloren in der Zeit und in der Weite des Universums ...

An dieser Stelle brach der Eintrag ab, die Schrift war zu einem unwirklichen Gekrakel verblichen. Salina schob das Buch von sich und starrte nachdenklich in den Raum. Konnte es wahr sein? Hielt sie hier den Schlüssel zur Macht in den Händen? Eröffnete ihr das Wissen um Dalias Verrat nicht ganz neue Möglichkeiten? Vor ihr tauchte das Bild der Hohepriostine auf. Sie sah ihr kantiges Gesicht, das wie aus einem Stück gemeißelt schien, und ihre kleinen kalten Augen, die alles irgendwie im Blick behielten, alles überwachten und nicht gefällige Regungen mit stechender Härte zur Ordnung riefen. Dalias Verrat war durch dieses Tagebuch bewiesen, so viel stand fest. Doch was fing sie nun mit diesem Wissen an? Nachdenklich blätterte sie zu einem anderen Eintrag.

Es war früh am Morgen, als alles begann. Ich hatte gerade das große Portal der Cella passiert und war über den steinigen Vorplatz geschlendert, da dröhnte ein schwerer Gongschlag durch die Luft, dann ein zweiter, ein dritter. Immer schneller und lauter peitschte das mächtige Geläut durch die Luft. Noch bevor ich begriffen hatte, was geschehen war, stürmten unsere Kriegerfeen an mir vorbei zum nördlichen Rand des Hochplateaus. Jemand packte mich. Ich sah mich um und blickte in die entsetzten Augen von Adinofis.

„Schnell, die Wächter kommen über den Nordhang!“, brüllte sie und drängte mich vorwärts, hinein in den ohrenbetäubenden Lärm einer immer größer werdenden Menge an Kriegerfeen. Dann war sie verschwunden. Mich erfasste panische Angst. Ich fühlte mich hilflos und von der Menge gehetzt, mal hierhin und mal dorthin gestoßen. Und das Blut hämmerte wild in meinen Schläfen. Über die erhitzten Leiber hinweg suchte ich nach einer Möglichkeit, aus dem Hexenkessel auszubrechen. Letztlich hatte ich Erfolg, die Menge teilte sich an einem Felsen, unweit vom Rand des Plateaus. Ich stieß und schlug mich dorthin durch. Und als ich diese rettende Insel erreicht hatte, sah ich sie kommen – Hunderte von schwarzen Kapuzenmänteln verhüllte Reiter, die auf einem breiten sich um den Berg windenden Pfad zum Gipfel ritten und die staubige Luft mit dumpfem Getöse erfüllte. Ich spürte, wie der Boden unter mir erbebte, als wäre der Berg selbst lebendig geworden. Mein Herz klopfte so heftig, dass ich dachte, es würde zerspringen. Mein Blick schweifte über das weitläufige Plateau und ich sah, wie die ersten Wächter mit ihren schweren Schlachtrössern den Gipfel erreichten und mit schwingenden Schwertern blutrünstig durch die Reihen unserer Feen ritten. Unter ihren Kapuzen konnte ich ihre Gesichter ausmachen. Sie waren kalt und ausdruckslos und in ihren schwarzen Umhängen kaum voneinander zu unterscheiden. Entsetzt wandte ich mich ab, während meine Gedanken fieberhaft nach einem Ausweg suchten. Doch es gab keinen. Je länger ich darüber nachdachte, umso deutlicher hatte ich das Ende unseres Volkes vor Augen. Die Übermacht der Angreifer war einfach zu groß, der Überraschungserfolg ihnen sicher.

„Aber so ist es nicht gekommen, Nora!“, rief Salina scharf. Ihre Stimme hallte von den Wänden des Ratssaales wider, während sie ihre Hand erschrocken zum Mund führte, und etwas leiser fortfuhr: „Es kam viel schlimmer. Über uns liegt heute ein Leichentuch. Nichts haben wir mehr in der Hand. Sartos herrscht über die Erde und Dalia über den Hohen Rat. Seit vierzig Jahren ist das so.“ Sie rieb sich mit den Händen stöhnend das Gesicht, warf einen flüchtigen Blick zur Tür und las dann weiter.

Die Angreifer bahnten sich durch unsere Reihen eine todbringende Schneise. Das Blut unserer Schwestern tränkte den Boden, floss in schmalen Rinnsalen, füllte Löcher und Ritzen. Doch sie stellten sich tapfer jeder Angriffswelle, trotz der Übermacht und der hohen Verluste. Ich sah vier Wächter ausscheren. Ihre schweren Rösser kamen im gestreckten Galopp auf mich zu. Als sie mich erreicht hatten, schlug ich mit meinem Zepter den Ersten vom Pferd, bevor er zu einem tödlichen Hieb ansetzen konnte. Da wich meine Angst. Ich drehte mich um und mit nur einem Hieb teilte ich den Leib des Zweiten mitten durch, samt seinem Pferd. Der nächste Hieb traf den Dritten in Gürtelhöhe. Ich schleuderte das Zepter durch die Luft und trennte dem Letzten seinen Kopf vom Rumpf. Dann stand ich inmitten von Blut, zerfetzten Leibern und abgerissenen Gliedmaßen. Mein Herz raste und ich war ohne Gedanken und Gefühl. Erst nach einer Weile hatte ich mich beruhigt und war imstande einen klaren Gedanken zu fassen. Ich sah mich um und mein Blick traf das Portal der Cella. Dorthin musst du, dachte ich. Das Feuer des Lebens muss in Sicherheit gebracht werden. Aber es war bereits zu spät. Als ich dort ankam, hielt Sartos den brennenden Silberkelch triumphierend über seinen Kopf. Ein Eingreifen war mir nicht möglich. Eine unbekannte Kraft hatte mich zu Boden geworfen. Meine Finger kratzten noch über den kalten Marmor, dann war es still um mich. Ich sah in die Kuppel der Cella auf und spürte, wie mich der Geist verließ, wie ich allmählich in die Sphäre des Lichts überging ...

Salina vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann leise zu schluchzen. Sie erinnerte sich an den schmerzvollen Tag, als Gill mit der Nachricht über Noras Tod aus der Sphäre des Lichts kam, an ihre Tränen, die erstickende Wut und wie sich plötzlich alles um sie herum gedreht hat – die Kuppel, der Boden und die bestürzten Gesichter der Feen, als würde ihr Körper ohnmächtig hinter einem geisterhaften Vorhang verschwinden.

Tränenüberströmt schlug sie das kleine Büchlein zu und wischte ihr Gesicht trocken. Sie war entschlossen, Noras Aufzeichnungen nicht auf sich beruhen zu lassen. Alle mussten von Dalias Verrat erfahren. Und sie, sie würde es allen erzählen. Sie würde heute im Hohen Rat neben Adinofis und Krygon stehen und Dalia anklagen. Mit festen Schritten ging sie zum Fenster. Der Tag war angebrochen, die Sonne stand über dem Horizont.

Ihr Blick wanderte am Rand des Plateaus entlang und verlor sich irgendwo in der Tiefe, wo dichtstehende Fichten den Fuß des Berges umschlossen. Es war Frühling und seit Tagen zu warm für diese Jahreszeit. Doch wen kümmerte das? Sie wusste, die Natur würde sich selbst helfen, sie würde ihr Gleichgewicht wiederfinden. Anders im Hohen Rat. Dort ging es heute um Erneuerung und um Macht. Und ob der Tag blutig enden und Adinofis ihn künftig anführen würde, das wusste zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Kapitel 2

Adinofis

Die Stadt am Fuß des Greimberges hieß Tauron. Es war die Residenzstadt Argonats, des Königs von Targona. Manche Tauraner behaupten, die starken Mauern und Türme hätten Dutzende Kriege und Belagerungen überstanden und wären unüberwindlich. Adinofis hingegen waren die eingefallenen Schießscharten und Türme nicht entgangen, ebenso wenig die langen Risse in den wuchtigen Steinblöcken der Außenmauer. Das raue Klima in dieser Gegend hatte über die vielen Jahrzehnte hinweg an vielen Stellen zahlreiche Steine zum Bersten gebracht. In den Löchern wucherten allerlei Moose, Flechten, wilde Blumen und Gras, das in der feuchten Luft lang und dicht wuchs. Vor einigen Wochen hatte sie ihr Wissen über die marode Befestigungsanlage Taurons mit Salina und Krygon besprochen. Sie wollten einen Schutzschild über die Stadt legen, der an Größe und Kraft alle im Arsenal Atragons lagernden Schilde übertraf.

Die Rechte auf ihr Zepter gestützt stand sie auf dem rauen, nur spärlich mit Gras und einigen Beerbüschen bewachsenen Plateau des Greimberges und starrte prüfend hinunter auf das für die Bewohner unsichtbare Geflecht, das sich wie eine mächtige Glocke über die Stadt stülpte. Tausende blau fluoreszierende Kristalle verflochten sich dort mit grellen Leuchtfäden zu einem schillernden Netz und malten geisterhafte Lichtfiguren in die Luft. Das Leuchten war so hell, dass es dem grauen Morgen Form verlieh und die Umrisse der Felder enthüllte, entlang der Stadtmauer, die düster aufragte.

„Es wird Zeit“, wisperte eine zarte Stimme am Ohr der Fee, „oder willst du die Geburt des Kindes verpassen?“

„Hab Geduld, Gill! Menschen gebären langsam.“

Müde legte sie ihren Kopf in den Nacken und strich sich eine lange schwarze Haarsträhne aus der Stirn, die ihr der Wind über die Augen geblasen hatte. Seit neun vollen Monden hatte sie kaum geschlafen, immer in Sorge, dass das Kind der Königin auch gesund geboren würde. So oft hatte sie ihre magischen Kräfte gegen die Wächter einsetzen müssen, um sie von Tauron fernzuhalten. Jetzt, da der Schild fertig war und den Bewohnern der Stadt ausreichend Schutz bot, spürte sie ein heftiges Verlangen nach ihrer durchgelegenen Matratze aus Gänsefedern, auf der sie immer geschlafen hatte wie im siebten Himmel und geträumt: von der Liebe, von einem neuen Rat, vom Sieg über Sartos und wieder von der Liebe. Fröstelnd schlug sie die Kapuze ihres bis zu den Knöcheln reichenden azurblauen Umhanges über den Kopf und schnürte ihn unter dem Kinn fest, als sie im Augenwinkel Gill erblickte, wie er heftig flatternd in der Luft hing. Sie drehte ein wenig den Kopf in seine Richtung, doch nur so weit, dass er es nicht bemerken konnte, und musste sich ein Lächeln verkneifen. Das Gesicht ihres kleinen Gehilfen war puterrot, denn er hatte ständig damit zu tun, seine winzige Mütze aus roten Weinmoosgarben gegen den Wind zu rücken.

Gill war der älteste Gehilfe in Atragon und diente bereits der Feenkönigin Nora. Da er aber so schlank und sein Rücken leicht gebeugt war, kam es ihr manchmal so vor, als trage er das Gewicht der ganzen Welt auf seinen Schultern. Sie liebte den kleinen Kerl: seine Klugheit, seinen Witz und seine warmen und manchmal unergründlichen schwarzen Augen. Nur vom hochprozentigen Weinmoos konnte er nicht lassen. Das war schon seit Jahren so und führte zwischen ihnen oft zu heftigen Auseinandersetzungen.

„Und, was sagst du?“, fragte Adinofis.

„Zum Schild?!“, schrie Gill gegen den Wind.

„Zu was sonst?“

„Gute Arbeit ... denk ich.“

„Mehr hast du nicht zu sagen?“ Wieder ging ihr Blick zu Gill, der sich mit all seinen Flugkünsten verzweifelt abmühte, dem aufkommenden Wind zu trotzen und zugleich versuchte, seine geliebte rote Mütze nicht zu verlieren. War er davon genervt oder hatte er mit Rodolf nur wieder mal die Nacht zum Tag gemacht, fragte sich Adinofis belustigt.

„Er wird den Angriffen der Wächter standhalten, sei ohne Sorge. Aber ich dachte, wir hätten größere Probleme als den Schild.“

„Du meinst den Hohen Rat?“ Adinofis verstummte nachdenklich. In ihrer Nähe hämmerte ein Specht, im taufeuchten Gras sprangen Grashüpfer auf und die Unterseiten ihrer Flügel glänzten im Schein des Schildes silbern.

„Ja, genau den.“ Inzwischen hatte sich Gill erfolgreich gegen die Windböen gewehrt und war auf Adinofis’ Schulter gelandet. „Und als dein Berater solltest du dir auch anhören, welche Meinung ich dazu habe.“

„Und die ist, wie?“ Adinofis drehte sich abrupt um und verschränkte abweisend ihre Arme vor der Brust. Ihr Blick verhärtete sich. Gills Gerede über den Rat behagte ihr nicht. Auch hatte sie den Eindruck, dass er glaubte, sie würde ihn als Berater nicht ernst nehmen. Zugegeben, sie hatten beide ihre Schwächen. Sie ließ sich ungern in ihre Pläne reinreden und er war eben manchmal eine Mimose. Aber damit konnte sie leben. Sie liebte ihn eben.

„Der Rat muss erfahren, dass Königin Terofem durch dein Eingreifen ein Kind bekommt und dass du damit die Gesetze des Hohen Rates verletzt hast.“

Adinofis Mundwinkel verzogen sich zu einem vielsagenden Grinsen, während sie verneinend den Kopf schüttelte: „Wie kannst du annehmen, dass ich auch nur einen Gedanken daran verschwenden würde? Nein, mein Lieber. Der Rat kann das tun, was er schon immer getan hat, heroische Phrasen von Liebe und Freiheit verkünden. Seine Zeit ist ohnehin abgelaufen.“

„Was meinst du mit abgelaufen? Das klingt so nach Aufruhr.“

„Aufruhr?“ Adinofis lachte herzhaft. „Ja, das trifft den Kern.“ Sie nahm Gill von der Schulter und platzierte ihn auf ihre Handfläche. „Die Mitglieder des Hohen Rates müssen endlich verstehen, dass wir gegenüber Sartos nicht weiter untätig bleiben dürfen. Seit Jahren beschwöre ich den Rat, den Kampf gegen diese Bestie aufzunehmen. Und was geschieht? Nichts! Jeder Vorstoß von mir, einen Schlachtplan gegen ihn auszuarbeiten, wurde von Dalia bisher vereitelt. Inzwischen hat er die Königreiche erobert, gebrandschatzt, gemordet und Hunderttausende Menschen nach Trong verschleppt, wobei bis heute nicht klar ist, was er dort mit ihnen macht. Die überlebt haben, ziehen scharenweise hierher nach Tauron, falls sie hier ankommen und von den Wächtern unterwegs nicht erwischt werden oder vor Hunger sterben. Also hoffen wir inständig, dass dieser Schild dort unten einem Angriff der Wächter standhält.“ Adinofis hob einen Stein auf und warf ihn zornig den Berg hinunter.

„Du willst also gegen Sartos kämpfen, ohne den Rat?“ Gill stand auf, stemmte seine kleinen Fäuste in die Hüfte und flatterte von ihrer Hand. „Wie kannst du nur? Ohne den Rat? Denkst du nicht nach?“

„Schon gut, reg dich nicht auf!“ Adinofis senkte nachdenklich den Blick, sah dann auf den fluoreszierenden Schild unter sich und flüsterte bedrohlich: „Nicht ohne den Rat, nur nicht mit ihm.“

„Augenblick mal.“ Gill verschluckte sich fast vor Aufregung, während er sich Adinofis mit ein paar Flügelschlägen näherte. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Bist du von Sinnen? Dalia wird sich das nicht bieten lassen. Was willst du mit ihr machen?“

„Na ja, den alten Rat ersetzen wir durch einen handlungsfähigen und Dalia schicken wir für ihre Verbrechen nach Moron, in die Sphäre der Verdammten. Im Geheimen hatte ich das mit Salina und Krygon schon besprochen, nur die Details noch nicht.“

„Und du denkst, dass der Umsturz gelingt?“

„Er darf nicht scheitern. Wir müssen gut planen, uns gut vorbereiten und dann zum richtigen Zeitpunkt zuschlagen, am besten während einer Ratssitzung.“ Adinofis sah Gill zornig an. „So kann es jedenfalls nicht weitergehen.“

„Das ist nicht gut, Adinofis, gar nicht gut. Dalia ist doch nicht blöd. Sie wird es wissen, bevor du auch nur eine Hand gerührt hast. Sie wird dich aus dem Rat werfen, dir Macht und Würde nehmen und dich selbst nach Moron schicken. Sie könnte es schon jetzt tun, schließlich hast du Königin Terofem ein Kind geschenkt, das nicht existieren darf.“

„Und wenn schon.“ Adinofis winkte mürrisch ab. „Ich musste etwas für die Zukunft tun, falls wir in unserem Kampf versagen. Mit diesem Kind habe ich einen Trumpf im Ärmel, von dem nur wenige wissen. Vielleicht sollten wir mit den Menschen einen Bund schließen, was meinst du?“

„So, du scheinst vergessen zu haben, dass das Kind ein Mensch ist. Menschen sind egoistisch und haben ihre eigenen Vorstellungen von Verlässlichkeit, Loyalität oder Treue. Mit denen willst du einen Bund schließen?“ Gill war aufgebracht, tiefe Falten durchzogen seine kleine Stirn, sein Mund war so schmal wie ein Strich. Und obgleich Adinofis wusste, dass er sich bald wieder beruhigen würde, überraschte sie der Ausbruch ihres Gehilfen so sehr, dass sie nicht gleich eine Antwort darauf fand. Und als sie etwas erwidern wollte, war es bereits zu spät. Gill fuchtelte so wild mit seinen dünnen Ärmchen in der Luft herum, dass er die Kontrolle über seine Flügel verlor und nach hinten wegkippte. Er ruderte, ruckte, schlug verzweifelt mit seinen Flügeln und verschwand schließlich unsanft in einem der wild wachsenden Beerbüschen, die den Hügelrand zahlreich säumten.

Adinofis ließ vor Schreck ihr Zepter fallen.

„Gill, du verdammter Narr!“, rief sie besorgt und eilte zu der Stelle, wo sie ihren Gehilfen verschwinden sah. Staub wirbelte auf, als sie vor dem Busch auf die Knie fiel. Sie krempelte die weit ausladenden Ärmel ihres Umhanges hoch, griff in den Strauch und bog die dornigen Zweige vorsichtig auseinander. Da zog ein verschmitztes Lächeln über ihre Mundwinkel. Der rote Leinenumhang ihres Gehilfen hatte sich in den Zweigen verhangen, und nun zappelte er mit seinen dünnen Beinchen wie ein Fisch am Haken. Dabei sah er zu Adinofis auf und rollte mit den Augen, wie er es immer tat, wenn ihm etwas besonders peinlich war.

„Komm, ich helfe dir raus“, sagte Adinofis amüsiert lächelnd und griff nach ihm. Doch da riss das Leinen plötzlich und Gill stürzte kopfüber in ein weiches Bett aus alten Blättern, die der Wind unter den Strauch geblasen hatte. Zerknirscht krabbelte er unter den trockenen Blättern hervor, schlug den Schmutz von seiner ledernen Kniehose und seinem Rock und sah dann Adinofis vom Boden aus abwartend an.

Sie wirkte etwas alt mit ihren einhundertneun Jahren, dabei war sie eine der jüngsten und schönsten Feen im Reich. Ihr hüftlanges schwarzes Haar schimmerte im Glanz des fluoreszierenden Lichts des tauronischen Schildes. Sie besaß einen leicht sonnengebräunten Teint, volle Lippen und ungewöhnlich schöne blaue Augen, die etwas ins Grünliche gingen und von langen schwarzen Wimpern eingefasst waren. Solche Augen hatte vor Adinofis nur Nora besessen. Aber das war ein Kapitel, über das er im Augenblick nicht nachdenken wollte, noch heute quälten ihn die Erinnerungen daran.

Adinofis streckte Gill ihre offene Handfläche entgegen, hob ihn auf und platzierte ihn auf der Schulter unter