Das Kronjuwel der Unterscheidung - Shankaracharya - E-Book

Das Kronjuwel der Unterscheidung E-Book

Shankaracharya

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Beschreibung

Shankaracharya, ein Erleuchteter, der größte indische Philosoph seit Beginn unserer Zeitrechnung und Großmeister des Advaita-Vedanta, zeigt in diesem Klassiker indischer Spiritualität mit 581 Strophen unübertreffbarer dichterischer Vollendung den Weg aus der Begrenzung in die Freiheit, den Weg zur Erleuchtung, den Pfad zur immerwährenden, ununterbrochenen Glückseligkeit im Selbst. Wortgewaltig, mit kristallklarer Logik unterscheidet er zwischen Unwirklichem und Wirklichem, zwischen Vergänglichem und Unvergänglichem, zwischen dem Nicht-Selbst und dem Selbst. Er beschreibt das Wesen der ewig unveränderlichen Absoluten Wirklichkeit, die körperlich-seelische und okkulte Anatomie des Menschen, die Anforderungen an den geistig Strebenden und die zeitlosen Methoden innerer Einkehr und der Meditation über die Absolute Wirklichkeit. Im Anhang sind die geistigen Lehren im "Kronjuwel der Unterscheidung" unter den drei Stichworten "Die Gebote", "Die Sinnbilder und Gleichnisse" und "Die rhetorischen Fragen" in Shankaracharyas eigenen Worten auf 25 Seiten zusammengefasst. Emanuel Meyer hat das Originalwerk nach langjährigem Sanskrit-Studium in Indien und Europa zusammen mit Christoph Rentsch, einem Absolventen der Kailash-Sanskrit-Akademie in Muni-ki-Reti, Vers für Vers ins Deutsche übersetzt und die deutsche Fassung - inspiriert von einem Erleuchteten unserer Zeit - mit einem auslegenden Beiwort versehen. Er lebt heute als Sannyasin eines Ordens der Tradition von Shankaracharya in einem europäischen Ashram.

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Aus dem Sanskrit-Originalmit dem Titel ‘Vivekacūḍāmaṇi’übersetzt von:

Emanuel Meyer

Christoph Rentsch

2. Auflage 2007

Alle Rechte vorbehalten

© 2002 by Heinrich Schwab Verlag

Eglofstal 42, D-88260 Argenbühl

Tel. 0049-7566-941957

www.heinrichschwabverlag.de

Einbandgestaltung: Georg Weber

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

ISBN 978-3-7964-0526-6

Śrī Śaṅkarācārya

(788–820 A.D.)

DAS KRONJUWEL DER UNTERSCHEIDUNG

mit Kommentar von

Emanuel Meyer

HEINRICH SCHWAB VERLAG

ARGENBÜHL-EGLOFSTAL

Inhalt

Cover

Impressum

Titel

Vorwort

Angaben über Kommentator und Übersetzer

Kurzbiographie von Śaṅkarācārya

Abkürzungsverzeichnis

Das Kronjuwel der Unterscheidung

Verehrung dem Heiligen Govinda

Die Gnade menschlicher Geburt und anderer Voraussetzungen

Wahres geistiges Leben

Voraussetzungen für den geistigen Weg

Die vier Anforderungen an den geistig Strebenden

Liebevolle Hingabe an Gott (bhakti)

Der erleuchtete Meister

Der erleuchtete Meister spricht

Der Schüler spricht

Die Fragen des Schülers

Die Antwort des Meisters

Beginn der Unterweisung

Der grobstoffliche Körper, die Elemente, die Sinnesobjekte

Das innere Instrumentarium (antaḥkaraṇam)

Die fünf Lebenskräfte (prāṇa)

Der feinstoffliche Körper

Māyā, Ursache der Welt des Scheins

Die drei Grundeigenschaften von Māyā

Der Kausalleib

Das Nicht-Selbst

Das Selbst, die Höchste Seele

Bindung an den Kreislauf von Geburt und Tod

Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst

Die fünf Hüllen der Seele

1. Der grobstoffliche Leib

2. Der Energiekörper

3. Der Mentalkörper

4. Der Körper der Erkenntnis

5. Der Körper der Glückseligkeit

Das Selbst, der ewige Beobachter

Brahman, die Höchste Absolute Wirklichkeit

Das bist du (tat tvam asi)

Meditation über die Absolute Wirklichkeit

Wünsche, Eindrücke, Neigungen (vāsanāḥ)

Beseitigung der Projektionen auf das Selbst

Verharre in der Stille, sei vollkommen!

Sei eine Verkörperung vollkommener Glückseligkeit!

Die Meditation als Beobachter

Die richtige Einstellung des Gottsuchers als beobachtendes Bewusstsein

Bindung an das Ichgefühl

Anlagen und Triebe (vāsanāḥ) und deren Wirkungen

Das Gebot höchster Wachsamkeit

Angst und Leid

Meditation über die Wahrheit

Alles ist das Selbst

Totale Gedankenstille

Klare Unterscheidung, wahre Erkenntnis

Meditative Versenkung (samādhi)

Der Weg des Yoga

Losgelöstheit

Das wahre Ziel

Brahman, das Absolute

Das Absolute ohne Vielfalt

Die Erfahrung des Absoluten

Losgelöstheit vom Körper

Die Frucht der Erkenntnis

Merkmale eines zu Lebzeiten Erlösten

Karma

Das nicht-duale Absolute ohne Vielfalt

Selbstverwirklichung durch meditative Versenkung (samādhi)

Der erlöste Gottsucher

Das Schlusswort des Meisters

Epilog

Anhang

Zusammenfassung der geistigen Lehren im ‘Kronjuwel der Unterscheidung’

Die Gebote im ‘Kronjuwel der Unterscheidung’

Die Sinnbilder und Gleichnisse im ‘Kronjuwel der Unterscheidung’

Die rhetorischen Fragen im ‘Kronjuwel der Unterscheidung’

Regeln für die Aussprache von Sanskritwörtern

Original-Sanskrit-Text in Umschrift

Vorwort

‘Kronjuwel der Unterscheidung’ (im Original: ‘Vivekacūḍāmaṇi’) heisst eines der bekanntesten philosophischen Lehrgedichte der alt-indischen Literatur. Das Werk wird dem grossen Mystiker, Philosophen und Reformator des Hinduismus, Śaṅkarācārya (A.D. 788–820), zugeschrieben. Ihm ist die untenstehende kurze Biographie gewidmet.

Śaṅkarācārya zeigt dem geistig strebenden Menschen, der bestimmte Voraussetzungen erfüllt, den Weg zum Himmelreich im Inneren, zur Selbsterkenntnis, zur Gotterfahrung im Bewusstsein der Absoluten Wirklichkeit und ewigen Glückseligkeit jenseits von Zeit und Raum, Ursache und Wirkung.

Absolut wahr, absolut wirklich ist, was ungeboren, unsterblich, unbeweglich, unveränderlich, unendlich, überall und ewig gleichbleibend ist, was keine Form, keine Merkmale und keine Eigenschaften hat: das ungeteilte, unteilbare, weder mit den Sinnen noch mit dem Gemüt wahrnehmbare, von allem unabhängige, all-umfassende, in sich selbst ruhende homogene SEIN. Es ist vom Wesen reinen Bewusstseins. Es ist die Absolute Wahrheit und Wirklichkeit, der “Ich bin der Ich Bin”, Gott. Unoffenbart, unausdenkbar, undefinierbar, unaussprechbar ist Es von einem reinen Herzen erfahrbar.

Von diesem einen Sein handelt die Philosophie des ‘Advaita-Vedānta’, wonach – absolut betrachtet – nichts existiert ausser Gott. Dieser ist die Seele von allem, das Selbst des unendlichen Kosmos und auch das, was den Kosmos transzendiert, der innerste Kern und das Substrat von allem, was geht und steht, des Belebten wie des Unbelebten, das Selbst alles Offenbarten.

Der Ausdruck ‘Advaita’ bedeutet: nicht dual, nicht dualistisch, das Eine ohne Vielfalt, Eines ohne ein Zweites, das Eine ohne etwas anderes.

Im Bewusstsein der Absoluten Wirklichkeit gibt es weder den Beobachter noch das Beobachtete noch den Vorgang des Beobachtens. Die drei Begriffe lösen sich im Absoluten auf. Es gibt kein du, kein er, sie, es und keinen anderen. Nur der Ich bin der Ich Bin existiert.

Auch die Gegensatzpaare wie jung und alt, schön und hässlich, gut und böse, heiss und kalt, nah und fern, hoch und tief, oben und unten, Werden und Vergehen, Mann und Frau, Norden und Süden, Westen und Osten, Gegenwart und Zukunft, usw. sind Merkmale dualistischen Bewusstseins, Eigenschaften einer begrenzten, relativen und vergänglichen Welt der Erfahrungen, die im selben Augenblick der Erkenntnis des Absoluten erlischt und dem Erkennenden wie Schuppen von den Augen fällt.

Das scheinbar ‘unmögliche’ Gebot von Jesus Christus:

Ihr sollt also vollkommen sein wie euer himmlischer Vater vollkommen ist! (Mat. 5,48)

bedeutet nicht: Ihr sollt also vollkommen werden, wie Euer himmlischer Vater vollkommen ist. ‘Werden’ ist ein Begriff der Dualität. Die Absolute Wirklichkeit wird nicht, sie ist. Deshalb sagt Jesus Christus: “Ihr sollt also vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!”

Der Mensch ist vollkommen, aber er weiss es gewöhnlich nicht, und wenn er es weiss, dann weiss er es nur verstandesmässig. Sein Bewusstsein ist begrenzt. Es ist nicht unbegrenzt. Noch nicht.

Der Mensch ist ein Opfer kosmischer Täuschung (māyā). Er lebt in einer Illusion. Im Traum, wenn die fünf Sinne ‘schlafen’, gaukelt ihm das Gemüt eine Welt unwirklicher Erscheinungen und Erlebnisse vor. Diese lösen sich beim Erwachen in nichts auf wie Nebel in der Mittagssonne. Und wenn er wach ist, gaukeln ihm die fünf Sinne und das Gemüt jene Welt vor, die wir alle für wirklich halten. Aber auch sie ist relativ, begrenzt, vergänglich und daher – absolut gesehen – unwirklich. Sie verhüllt unser Selbst und lenkt von der Schau Gottes ab. Es ist eine Welt geistiger Finsternis. Sobald das Licht der Erkenntnis leuchtet, weicht die Finsternis schlagartig von uns wie die Dunkelheit im Keller, wenn wir das elektrische Licht einschalten.

Advaita-Vedānta zeigt den Weg aus der Finsternis ins Licht, aus dem Schein ins Sein, aus der Unwissenheit zur Erkenntnis des ewig unveränderlichen Absoluten, den Lehrpfad zum geistigen Endziel der Menschheit, den ‘schmalen Weg durch das enge Tor’ zum Bewusstsein der einen ungeteilten, unteilbaren, nicht-dualen Absoluten Wirklichkeit.

Im ‘Kronjuwel der Unterscheidung’ unterweist der erleuchtete Meister den würdigen Gottsucher über die Quintessenz der Lehre des Advaita-Vedānta. Er nimmt ihn liebevoll bei der Hand und führt ihn Schritt für Schritt in die Absolute Wahrheit ein. Er zeigt dem Schüler den sicheren Weg und die bewährten Methoden, um die Identität seiner innersten Seele mit Gott bewusst zu erfahren. Der geistige Lehrer zeigt ihm den Unterschied zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst, zwischen dem Vergänglichen und dem Ewigen.

In Begriffen der westlichen Kultur kommt Advaita-Vedānta dem Panentheismus am nächsten, der religiösphilosophischen Lehre, nach der die Welt in Gott eingeschlossen ist und in Gott ihren Halt hat.

Dem himmlischen Vater der Bibel steht die Göttliche Mutter des Vedānta gegenüber. ‘Brahma’ ist der Name Gottes als das unoffenbarte Absolute, der ‘Ich bin der Ich Bin’, die Quelle, das Wesen und Substrat alles Offenbarten. Auch im Advaita-Vedānta ist die Rede von ‘Göttern’. Das entsprechende Sanskrit-Wort lautet ‘Deva’ von ‘div’ (leuchten) und hat auch den Sinn von Lichtwesen. ‘Götter’ sind Aspekte des Einen Göttlichen Lichts.

Mit diesem Vorwort beginnt das systematische Studium des ‘Vivekacūḍāmaṇi’, des Kronjuwels der Unterscheidung, anhand der ursprünglichen Fassung im zehnbändigen Sammelwerk der Lehren Śaṅkarācāryas, dem geistigen Vermächtnis des grössten Mystikers und Philosophen im antiken Indien. Das Sanskrit-Original besteht aus 581 Strophen in Deva-Nāgarī-Schrift. Übersichtshalber schicken wir den einzelnen Gedankengängen der Unterweisung kennzeichnende Überschriften voraus, ohne die Reihenfolge der Verse zu ändern.

Einen über tausend Jahre alten Sanskrit-Text von lebensentscheidender Bedeutung, inhaltlicher Präzision und überragender dichterischer Schönheit in eine westliche Sprache zu übertragen, ist ein anspruchvolles Unterfangen. Es gestattet bestenfalls eine dem Sinn nach richtige, klar verständliche und sprachlich saubere Wiedergabe unter Verzicht auf den dynamischen Rhythmus und die Klangbilder des Originals.

Das vorliegende Buch ist unseres Wissens die erste deutsche Ausgabe von ‘Vivekacūḍāmaṇi’, welche direkt aus dem Sanskrit, ohne den Umweg über eine andere Fremdsprache, übertragen wurde. Es möchte dem interessierten Leser deutscher Sprache Gelegenheit bieten, solide Kenntnisse der Advaita-Vedānta-Lehre zu erarbeiten, und ihm das Rüstzeug für den Weg der Erkenntnis nach der höchsten metaphysischen Methode in die Hand geben.

Die Übersetzungsarbeit ist das Gemeinschaftswerk von zwei Sanskritisten, die sich so eng wie möglich an Śaṅkārācāryas eigene Worte hielten und zugleich um korrektes Deutsch bemühten. Andere Übersetzungen, die zum Teil auslegenden Charakter haben, wurden stets zu Rate gezogen.

Kenner der Sanskrit-Sprache finden den Originaltext in der internationalen Einheits-Umschrift im Anhang. Wichtige Sanskrit-Ausdrücke folgen den deutschen Begriffen in Klammern. Sanskrit-Namen wurden in Fussnoten erläutert.

Emanuel Meyer Christoph Rentsch

Angaben über Kommentator und Übersetzer

Emanuel R. Meyer, geb. 6. April 1918 in Rickenbach ZH (Schweiz). 20 Jahre Sanskrit-Studium in Indien und Europa. Seit 1969 Schüler von Swami Omkārānanda. Vor 1986 Leiter eines Schweizer Konzerns für Leichtmetall und Chemie.

Christoph Rentsch, Winterthur ZH (Schweiz). Absolvent der Sanskrit-Akademie Kailāsa Brahma-vidyā Pītḥa in Muni-ki-Reti (Nordindien).

Kurzbiographie von Śaṅkarācārya

Geburt und Jugend

Śaṅkarācārya (Meister Śaṅkara) – auch Śaṅkara Bhagavatpāda oder nur Śaṅkara genannt – wurde 788 A.D. in die orthodoxe Priesterfamilie der Nambūdarīs im Dorf Kalāḍi, Kerala, Südindien, geboren.1) Sein Vater hiess Śivaguru, seine Mutter Āryambal.

Schon im zarten Alter zeigte Śaṅkara seine überragende Geisteskraft. Dank seines aussergewöhnlichen Gedächtnisses konnte er lange Sanskrit-Texte nach nur einmaligem Anhören vollständig wiedergeben. Die Biographen Śaṅkaras – Mādhava und Ānandagiri – erzählen von vielen Ereignissen in seiner Jugend, die das grosse geistige Potential und seine philosophisch-mystische Veranlagung erkennen liessen.

Noch nicht 16-jährig, hatte Śaṅkara das Studium der gesamten vedischen Literatur hervorragend abgeschlossen. Äusserst interessiert an Philosophie und inneren Werten entschloss er sich, Mönch zu werden und die Wahrheit über die Welt und Gott in unmittelbarer, mystischer Erfahrung zu erkennen.

Auf der Suche nach einem erleuchteten Meister fand er Govinda Bhagavatpāda, der am Fluss Narmadā in Zentralindien mit seinen Schülern lebte. Dort übte sich Śaṅkara in geistigen Disziplinen und vertiefte sich ins Studium der Upaniṣaden und der mystischen Lehren. Durch die harte Schule des Meisters erreichte er in kurzer Zeit das Ziel seines geistigen Strebens. Gleich danach beauftragte ihn Govinda Bhagavatpāda, die Lehre des Advaita – der Einheit der Seele mit Gott, dem absoluten Bewusstsein – in ganz Indien den Menschen aller Schichten und Stände zu vermitteln.

Verbreitung der Advaita-Lehre

Im hochgelegenen Himālaya-Wallfahrtsort Badrīnāth verfasste Śaṅkara zunächst ausführliche Kommentare zu den drei wichtigsten Werken der vedāntischen Lehre: den Brahma-Sūtras, den ersten 12 Upaniṣaden und zur Bhagavad-Gītā. Darin legte er seine Erkenntnis nieder, dass die individuelle Seele und das Absolute Bewusstsein in ihrer Essenz ein und dasselbe sind.

Da die Menschen im Indien der damaligen Zeit nur schriftgelehrten Philosophen und Meistern gegenüber Herzoffenheit und Lernbereitschaft entgegenbrachten, nutzte Śaṅkara sein Genie nicht allein im Unterweisen ehrfuchtsvoller Schüler. Er setzte sich als Lebensziel, den Leitern sämtlicher philosophischen Schulen, welche die Einheit der Seele mit Gott nicht erfassten und die Menschen in die Irre führten, durch philosophische Debatten das tiefere Verständnis zu ermöglichen. Wohl aus diesem Grund ist Advaita-Vedānta im heutigen Indien so weit verbreitet.

Mit diesem Ziel vor Augen reiste Śaṅkara durch ganz Indien, von Stadt zu Stadt und verbreitete seine Lehre. Neben seiner intellektuellen Arbeit setzte er Hunderte von Tempeln instand und errichtete Klöster und Akademien für Philosophie. Von manchen wurde er als religiöser Rebell verachtet. Den meisten Menschen Indiens aber schenkte er Hoffnung. Sie gewannen durch ihn die Aussicht, dass jeder, der sich im Geist der alles Leben und alle Existenz durchdringenden göttlichen Gegenwart zuwendet, diese im Inneren zu erfahren und erkennen vermag. Daher wurde er als ‘Meister’ (Ācārya) und sogar ‘Welten-Lehrer’ (Jagad-Guru) bezeichnet.

Nach seinen schriftlichen Kommentaren zu den drei vedāntischen Hauptwerken verfasste der Meister inhaltlich übersichtliche philosophische Lehrbücher in einer für den Laien verständlichen, aber hoch poetischen Sprache. Dazu gehören: Vivekacūḍāmaṇi (‘Kronjuwel der Unterscheidung’), Ātma-Bodha (‘Selbst-Erkenntnis’), Sarva-Vedānta-Siddhānta-Sāra-Saṅgraha (‘Zusammenfassung der Kernlehren aller Upanishaden’), Upadeśa-Sāhasrī (‘Tausend Lehrsätze’) und viele andere. Sein literarischer Nachlass umfasst zehn Bände in Deva-Nāgarī-Silbenschrift.

Am Ende seines kurzen Erdenlebens – Śaṅkara waren nur 32 Jahre beschieden – hatte er der Advaita-Lehre ein derart solides Fundament gegeben, dass sie in den 1200 Jahren, die seither vergangen sind, nichts an ihrer ursprünglichen Bedeutung verloren hat.

1) Das Geburtsdatum von Śaṅkara ist umstritten. Einige setzen es auf das 5. Jh.v.Ch. zurück, manche auf das 6. Jh.n.Ch. Die allgemein anerkannte Lebensspanne ist 788–820 A.D.

Abkürzungsverzeichnis

1. Thess.

Die Bibel, 1. Brief an die Thessaloniker

Ait.U.

Aitareya-Upaniṣad

Bṛh.U.

Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad

B.Jñ.A.M.

Brahma-jñāna-āvali-mālā

Bhāv.U.

Bhāvana-Upaniṣad

Bh.G.

Bhagavad-Gitā

Bh.S.

Bhakti-Sūtras

Chā.U.

Chāndogya-Upaniṣad

Jes.

Die Bibel, Jesaias

Joh.

Johannes-Evangelium

Kā.U.

Kātḥaka-Upaniṣad

Kauṣ.U.

Kauṣītaki-brāhmaṇa-Upaniṣad

Ke.U.

Kena-Upaniṣad

LNKRS

Lakṣmī-Nṛsiṁha-karuṇā-rasa-stotram

Luk.

Lukas-Evangelium

LVV

Laghu Vākya Vṛtti

Mā.Kā.

Māṇḍūkya-Kārikas

Mā.U.

Māṇḍūkya-Upaniṣad

Mat.

Matthäus-Evangelium

Mbh.

Mahābhāratam

MNU

Mahā-Nārāyaṇa-Upaniṣad

Mu.U.

Muṇḍaka-Upaniṣad

Ps.

Die Bibel, Psalm

RV

Ṛg-Veda

SLS

Śrī Lalitā-sahasra-nāma-stotram

SLT

Śrī Lalitā-Triṣatī

Tai.U.

Taittirīiya-Upaniṣad

Śvet.U.

Śvetāśvatara-Upaniṣad

Das Kronjuwel der Unterscheidung

Verehrung dem Heiligen Govinda

Das Kronjuwel der Unterscheidung beginnt mit einer Verbeugung des Verfassers vor seinem geistigen Lehrer Govinda:

Vers 1

Ich verneige mich vor Govinda, dem Lehrer der Wahrheit, der Verkörperung höchster Glückseligkeit, der jenseits der Sinne und Gedanken durch die volle Wahrheit der Vedānta-Philosophie erfahren werden kann.

Śrī Govinda war seinerseits Schüler von Gaudapāda-Ācārya, des Begründers der Advaita-Vedānta-Lehre in unserem Zeitalter und Verfassers des grundlegenden Kommentars zur Māṇḍūkya-Upaniṣad. – Diese Worte der Verehrung gelten wohl auch dem anderen, Jahrtausende früher lebenden Govinda: Govinda ist ein Name Kṛṣṇas, des erleuchteten Lehrers der Bhagavad-Gitā und Avatāras von Mahāviṣṇu1).

Der Einleitung folgen sechs Strophen über:

1) als Erhalter des Universums

Die Gnade menschlicher Geburt und anderer Voraussetzungen

Vers 2

Für die einzelnen Seelen ist eine menschliche Geburt schwer zu erlangen. Noch schwerer zu erreichen ist eine mannhafte Natur. Schwieriger noch ist die Gabe der Weisheit. Noch schwieriger die Berufung für den Weg der vedischen Gesetze. Höher als dies ist das Verstehen dieser Gesetze. Unerreichbar ohne gute Werke in Hunderten von Millionen Geburten ist die Fähigkeit, zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst zu unterscheiden, richtige Erkenntnis, das Verweilen im Wesen der Absoluten Wirklichkeit und endgültige Erlösung.

Diese inhaltsträchtige Strophe vermittelt fundamentale Lehrsätze der Geisteswissenschaft. Zunächst warnt sie den Gottsucher vor falschen Illusionen und unrealistischen Erwartungen. Der Weg zur Gotterfahrung erstreckt sich über viele Leben. Dem tapferen Arjuna, dem grossen Feldherrn der Pāṇḍavas in der Schlacht von Kurukṣetra, antwortet der Erhabene Kṛṣṇa mit folgenden Worten:

Am Ende vieler Wiedergeburten nimmt der Weise Zuflucht zu Mir und erkennt, dass Gott (Vāsudeva) alles ist … (Bh.G. 7,19)

Mit der Geburt als Menschenkind tritt die verkörperte Seele in eine entscheidende Entwicklungsphase ein. Das Eine ewig unveränderliche Selbst hat im Verlauf von Äonen, über unvorstellbar lange Zeiträume hinweg Myriaden von Formen angenommen. Es war als Amöbe verkleidet, als Insekt, als Fisch, als Reptil, als Vogel, als Säugetier. Mit einem komplexen Erbgut aus mannigfaltigen Erfahrungen wird ihm mit der menschlichen Geburt erstmals der freie Wille, der Drang nach Vollendung und das Bewusstsein moralisch-ethischer Werte auf den Weg gegeben. Durch freud- und leidvolle Erfahrungen erahnt es das unerbittliche karmische Gesetz von Ursache und Wirkung. Gute Werke bescheren der Seele Körperhüllen, die Freude spenden und den Sinn für geistige Werte wecken. Schlechte Taten suchen sie mit schmerzvollen Zwangsjacken heim. Dann kommt dereinst der Tag, an dem die Seele den Ruf für den Weg der vedischen Gesetze, den Vaidika-dharma-mārga vernimmt, mit dem Gebot der Entsagung von weltlichen Freuden (saṁnyāsa), der Leidenschaftslosigkeit (vairāgya) und der Läuterung des Herzens (citta-śuddhi). An diesem Punkt beginnt der Lehrpfad des Advaita-Vedānta.

Nicht in Worten und dennoch unüberhörbar wird dem Gottsucher schon im zweiten Vers zu verstehen gegeben, dass das Eine unveränderliche Selbst und die unzähligen Gestalten, die es bei den Geburten angenommen hat, zwei grundverschiedene Dinge sind. Entscheidendes verkündet der Autor auch in den folgenden Strophen:

Vers 3

Eine Geburt als Mensch, Sehnsucht nach Erlösung und Zuflucht zu einer grossen Seele: diese drei Dinge sind schwer und nur durch die Gnade Gottes zu erlangen.

Und jetzt nimmt Śaṅkarācārya den Vorschlaghammer zur Hand:

Vers 4

Wem die schwer erhältliche menschliche Geburt irgendwie zuteil geworden ist und dazu noch eine mannhafte Natur, wer den tiefen Sinn der Heiligen Schriften kennt, verblendeten Geistes aber nicht nach Erlösung seiner Seele strebt, der tötet seine Seele, der richtet sich zugrunde. Er hält am Unwirklichen fest.

Millionen von Jahren warten die Lebewesen auf die seltene Gelegenheit, sich als Mensch zu verkörpern. Selbst Götter beneiden die Menschen um ihre Aufstiegschancen. Wer diese Gelegenheit nicht am Schopf packt, nicht mit dem Feuer der Sehnsucht Gott sucht und sich stattdessen an die Sinnesobjekte einer illusionären Welt klammert, der richtet sich im Urteil Śaṅkarācāryas, der hier kein Blatt vor den Mund nimmt, schlicht zugrunde. Es folgt eine rhetorische Frage, die der Leser selbst beantworten darf:

Vers 5

Wer aber ist so töricht, dass er das eigene Interesse missachtet, nachdem er den schwer erlangbaren menschlichen Körper und dazu noch eine mannhafte Natur erhalten hat?

‘Puṁstvam’, mannhafte Natur, übersetzen zwei von drei indischen Autoren mit ‘männlichem Körper’ und ‘Körper männlichen Geschlechts’. Das mag in früheren Zeiten richtig gewesen sein, als Frauen vom Studium der Vedas und von vedischen Ritualen ausgeschlossen und auch in gesellschaftlicher Hinsicht benachteiligt waren. Heute ist das wohl auch in Indien anders, abgesehen davon, dass die Diskrimination der Frauen und Angehörigen niedrigerer Kasten in der tantrischen Tradition nie ein Thema war. Unter ‘Puṁstvam’, mannhafte Natur, sind Eigenschaften wie Mut, Ausdauer, Zielstrebigkeit, Willenskraft zu verstehen, lauter Merkmale, die gewiss nicht allein in der Männerwelt anzutreffen sind.

Vers 6

Man muss die Heiligen Schriften rezitieren, den Göttern opfern, Rituale feiern, den Gottheiten huldigen; doch ohne Erkenntnis der Einheit von Seele und Absoluter Wirklichkeit gibt es auch in Hunderten von Zeitaltern keine Erlösung.

Nach Vers 4 richtet sich zugrunde, wer am Unwirklichen festhält und nicht nach Erlösung seiner Seele strebt, obschon er um die lebensrettende Botschaft der Heiligen Schriften weiss und einen festen Charakter hat. Mit derselben Schock-Therapie rüttelt Śaṅkarācārya jetzt jene wach, die ein Gott geweihtes Leben führen, sich aber über den steilen, steinigen Weg zur Gotterfahrung nicht ganz im Klaren sind. In die gleiche Kerbe schlägt die nächste Strophe:

Vers 7

“Es gibt keine Hoffnung auf Unsterblichkeit mit Hilfe von Macht und Reichtum”, verkündet die Heilige Schrift. Es ist daher offensichtlich, dass Werke nicht die Ursache der Erlösung bilden können.

‘Macht und Reichtum’ stehen hier für unbeschränkte Sinnesfreuden. Sie lenken den Menschen ab und hindern ihn am Erforschen der Absoluten Wirklichkeit. Taten wiederum schaffen neues Karma, wenn ihnen der Gedanke an ein Entgelt innewohnt. Nur selbstlose Taten erzeugen kein Karma. Sie läutern Herz und Gemüt und bereiten den Gottsucher für höhere Einsichten vor. Sie führen ihn aber nicht zur Selbsterkenntnis, wie wir in Vers 11 sehen werden.

Warum sagt Śaṅkarācārya: “Man muss die Heiligen Schriften rezitieren, den Göttern opfern, Rituale feiern, den Gottheiten huldigen: doch ohne Erkenntnis der Einheit von Seele und Absoluter Wirklichkeit gibt es auch in Hunderten von Zeitaltern keine Erlösung”? Die Antwort liegt im Wesen von Advaita-Vedānta. Die Lehre von der nicht-dualen Absoluten Wirklichkeit unterscheidet sich fundamental von allen anderen Glaubensbekenntnissen.

Das Sanskritwort für die sechs philosophischen Schulen des Hinduismus heisst ‘Darśana’, abgeleitet von der Verbalwurzel ‘dṛś’, sehen. ‘Darśana’ ist soviel wie Gesichtspunkt, Standpunkt, Ansicht, Vision. Vereinfachend kann man paarweise drei verschiedene Denksysteme unterscheiden:

1. Die logisch-analytischen Denkordnungen der Seher Gotama und Kaṇada, auf Sanskrit die Nyāya- und Vaiśeṣika-Darśanas.

2. Die metaphysisch-synthetischen Denkordnungen der Weisen Kapila und Patañjali, auf Sanskrit die Sāṁkhya- und Yoga-Darśanas.

3. Die Abhandlungen über vedische Liturgie von Śrī Jaimini, das Pūrva-mīmāṁsā-Darśana und das Uttara-mīmāṁsā- oder Vedānta-Darśana über vdisches Wissen von Vyāsa (Badarāyana) mit ihren sechs Schulen und Exponenten.

Aus den fünf Nicht-Vedānta-Darśanas und den sechs Schulen des Vedānta ragt als einsame Spitze die Lehre vom reinen nicht-dualen Bewusstsein des Erhabenen Śaṅkarācārya hervor, die Doktrin vom Kevala-Advaita-Vedānta. Sie ist in ihrer kompromisslosen Strenge revolutionär und von atemberaubender Kühnheit.

Alle anderen Denksysteme, selbst die bedingt nichtduale Schule von Rāmānuja-Ācārya, der Viśiṣṭa-Advaita-Vedānta, unterscheiden das menschliche Selbst und die Höchste Göttliche Seele als zwei verschiedene, voneinander getrennte Realitäten. Die menschliche Seele muss sich der Höchsten Seele schrittweise nähern und schliesslich mit Ihr vereinigen. Je nach dem Grad der Läuterung seines Herzens erreicht der Mensch einen Zustand der Glückseligkeit, indem er:

• in der Nähe Gottes wohnt (samīpatā),

• am gleichen Ort wie Gott lebt (salokatā),

• eine ähnliche oder dieselbe Gestalt annimmt wie Gott (sarūpatā) und schliesslich

• sich mit Gott vereinigt (sayujyatā).

Nicht so beim reinen Advaita-Vedānta. Nach der von Tausenden von Gott liebenden Menschen gemachten Erfahrung kann sich das Selbst der Lebewesen nicht mit Gott vereinigen, aus dem ganz einfachen Grund, weil es selbst Gott ist. Alles, was der Mensch zu tun hat, besteht darin, die uranfängliche, unveräusserliche Identität seiner innersten Seele mit der Höchsten Gottheit bewusst zu erleben. Śaṅkarācārya kleidet diese unumstössliche Wahrheit in einen einzigen Satz:

Brahma satyam

Gott ist die Wahrheit

jagan mithyā

Die Welt ist ein Trugbild

jivo brahma

Die Seele der Lebewesen ist Gott

nāparaḥ

nichts anderes

(B.Jñ.A.M., 20)

Jesus Christus sagt:

Denn siehe, das Reich Gottes ist in eurem Innersten. (Luk. 17, 21)

Ich und der Vater sind eins. (Joh. 10,30)

Für den Verstand ist es ein Leichtes, die Gleichung:

theoretisch nachzuvollziehen. Aber das an Namen und Formen gewöhnte, in unzähligen Leben zementierte dualistische Bewusstsein weigert sich ganz einfach mitzumachen, weigert sich, diese wesenhafte Gleichheit zur Kenntnis zu nehmen. Zu tief sitzt die Vorstellung vom ‘Ich und dem anderen’ in der Seele, einerlei, ob dieses Andere ein Gedanke, ein Gefühl, ein Gegenstand, eine Person oder eine Macht ist.

“Gross ist die Mühe derer, die sich auf das Unoffenbarte konzentrieren. Für die verkörperte Seele ist das transzendente Ziel schwer zu erreichen”,

sagt der Erhabene Kṛṣṇa in der Bhagavad-Gītā (Bh.G. 12,5).

Meister Śaṅkaras Worte in Vers 6: “Man muss die Heiligen Schriften rezitieren, den Göttern opfern, Rituale feiern und den Gottheiten huldigen”, sind ein wichtiges Gebot auch auf dem Pfad des Advaita-Vedānta. Brahma Saguṇa, die Höchste Gottheit mit Eigenschaften, ist das vollkommene, allgegenwärtige, allwissende, allmächtige Symbol, die Personifikation von Brahma-Nirguṇa, der Höchsten Gottheit ohne Eigenschaften, in der offenbarten, relativen, vergänglichen Welt (Raphael: Kronjuwel der Unterscheidung, S. 23 unten). Gott als Person ist der einzige Retter, wenn das Schiff unseres Lebens, von Sturm und Wind geschüttelt, in Seenot gerät. Er ist der treue Begleiter im Kreislauf von Geburt und Tod.

Advaita-Vedānta führt die gottwärts strebende Seele aus der Scheinwelt der Offenbarungen in das transzendente Licht der Wahrheit. Auf diesem Weg verliert das kleine empirische ‘Ich’ jeden äusseren Halt, jede Stütze, und am Ziel angelangt, selbst die personifizierte Gottheit, denn auch SIE ist eine Erscheinung der Zweiheit vom ‘Ich und dem anderen’. Erst wenn der Gottsucher seine wahre Natur, die Einheit mit der unteilbaren unendlichen Absoluten Wirklichkeit begriffen hat, ist er erlöst. Erst dann ruht er im Wesen von Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit, nimmt er – in den Worten der Śvetāśvatara Upaniṣad:

Zuflucht zu jenem unaussprechlichen, reinen, nicht handelnden, friedvollen, untadeligen Gott ohne Teile, dessen Begierden und Leidenschaften wie Brennholz im Feuer verbrannt sind, zur hohen Brücke der Unsterblichkeit. (Śvet.U. 6,18b–19)

Advaita-Vedānta ist der Weg der Vollendung, auf dem sich der geistig strebende Mensch stets höher, stets näher zur göttlichen Vollkommenheit emporschwingt.

Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist. (Mat. 5,48)

ruft Jesus Christus seinen Jüngern in der Bergpredigt zu.

Der eine Satz in Vers 6:

“Ohne Erkenntnis der Einheit von Seele und Absoluter Wirklichkeit gibt es auch in Hunderten von Zeitaltern keine Erlösung”

rückt das Grundproblem des Advaita-Vedānta in bewusst provokativen Worten ins Rampenlicht. Die Erkenntnis dieser Identität ist das Alpha und Omega der Lehre vom einen ungeteilten Bewusstsein. Śaṅkarācārya verkündet es gleich am Anfang seiner Unterweisung. Wie diese Erkenntnis zustandekommt, erfahren wir aus dem Studium des Kronjuwels der Unterscheidung.

Wahres geistiges Leben

Vers 8

So möge der Weise nach Erlösung streben, indem er dem Wunsch nach Glück aus äusserlichen Dingen entsagt, einen wahren geistigen Meister aufsucht und sich auf die von Ihm verkündeten Lehren konzentriert.

Weise ist, wer zwischen Vergänglichem und Ewigem zu unterscheiden vermag. Das Glück aus äusserlichen, durch die Sinne und das Denken wahrgenommenen Dingen, ist vergänglich. Dazu die einprägsamen Worte des Erhabenen Kṛṣṇa in der Bhagavad-Gītā:

Denn der Genuss der Sinnenwelt,

O Arjuna, gebiert den Schmerz.

Was anfängt und zu Ende geht,

Erfreut niemals des Weisen Herz! (Bh.G. 5,22)

Weil Sinnesfreuden kurzlebig, teuer und schädlich sind, entsagt der Weise dem Glück aus äusserlichen Dingen. – Anders als in den westlichen Kulturen hat das zentrale Erfordernis des vollendeten geistigen Lehrers in der östlichen Tradition tiefe Wurzeln. In der Kātḥaka-Upaniṣad spricht Yama, der Todesengel, folgende Worte zum wissbegierigen Jüngling Naciketas:

Wenigen ist es gegeben, von der Seele der Seele, vom Selbst zu hören. Viele, die davon hören, begreifen es nicht. Rar und wunderbar ist der Verkünder, begnadet der Empfänger. Wunderbar, wer es – von einem Meister gelehrt – erfasst. (Kā.U. 1,2,7)

Nicht leicht ist das Selbst – von einem Geringeren verkündet – zu verstehen. Es wird auf mancherlei Art erdacht. Von einem Meister aber kundgetan, der eins ist mit dem Selbst, bleibt kein Zweifel mehr bestehen. Denn unausdenkbar ist das Selbst und feiner als des Atomes Kern. (Kā.U. 1,2,8)

Der springende Punkt sind die nagenden Zweifel. Selbst wenn jemand, der wie Naciketas nach Erkenntnis lechzt, ein Leben lang die Heiligen Schriften erforschte, käme er ohne Gottes Gnade, ohne die Hilfe einer vollendeten Seele, nicht ans Ziel. Zuviele Aussagen der Vedas sind rätselhaft kurz oder mehrdeutig lang. Nur wer das dualistische Bewusstsein überwunden hat, kann den Gottsucher aus der Finsternis heraus ins Licht emporführen. Hat dann dieser Gottsucher das Glück des Lebens, einem wahren Meister zu begegnen, soll er dessen Lehren gesammelten Geistes zuhören, darüber nachdenken, meditieren – manana, śravaṇa, nididhyāsana –, mit Gleichgesinnten darüber sprechen, vor allem aber sie zu Herzen nehmen und befolgen.

Vers 9

Fest gegründet im Yoga, verwurzelt in der vollendeten Einsicht, soll er die im Ozean des Geburtenkreislaufs versunkene Seele mit dem reinen Selbst emporheben.

Was heisst “festgegründet im Yoga”? Der Erhabene Kṛṣṇa erklärt es in der Bhagavad-Gītā wie folgt:

Wer weder an Sinnesobjekten noch an Taten haftet, wer allen Wünschen entsagt, der gilt als im Yoga fest gegründet. (Bh.G. 6,4)

“Wer nicht an Taten haftet”, ist einer, der selbstlos dient, seine Arbeit ohne Anspruch auf Entgelt verrichtet! Der Kreislauf von Geburt und Tod wird hier mit dem Ozean verglichen: Kummer und Leid, Unwissenheit, Ichsucht, Bindungen und Angst vor dem Tod sind die stürmischen Wogen, Irrtum und Verblendung die gefährlichen Strudel, Familie, Freunde, Verwandte und Reichtum die See-Ungeheuer, Lust und Zorn die Netze, in die sich der Mensch verstrickt.

In Śaṅkarācāryas Buch der Hymnen, im Lakṣmī-Nṛsiṁha-karuṇā-rasa-stotram, gibt es ein wunderschönes Gebet an Lakṣmī und Viṣṇu als Verkörperungen der Liebe und Barmherzigkeit, worin der Autor namens der im Ozean der Seelenwanderung Versunkenen um die rettende Hand Gottes fleht. Die Strophen 9 und 10 dieser ergreifenden Gebetshymne lauten:

O Lakṣmi-Nṛsiṁha, reich’ mir Deine rettende Hand, mir, der ich von den Wellen der Leidenschaft fortgerissen und von Angst gelähmt bin, dessen Körper gefangen ist, gepackt von den Reisszähnen des Krokodils, von der gewaltigen, unaufhaltsamen Zeit im Ozean der Seelenwanderung!

Schau mich an, o Herr, o Meer des Erbarmens, der ich im Ozean der Seelenwanderung versunken und verloren bin, den Elenden, o Höchste Verkörperung der Freude, der Du mich von Kummer und Leid befreist! O Lakṣmi-Nṛsiṁha, reich’ mir Deine rettende Hand!

(LNKRS 9-10)

In Vers 9 des Kronjuwels der Unterscheidung mahnt Śaṅkarācārya den Gottsucher, der zwischen Vergänglichem und Unvergänglichem zu unterscheiden weiss und nicht den Körper mit dem Selbst verwechselt, die im Ozean der Seelenwanderung versunkene Seele durch wahre Gotterkenntnis herauszuziehen. Allein kann er es nicht, wohl aber mit der Hilfe seines Meisters und der Göttlichen Mutter, denn Lalitā Devī1) ist, wie einer Ihrer tausend Namen im Śrī Lalitā-sahasra-nāma-stotram lautet:

Geschickt im Herausziehen der im Schlamm der Wiedergeburten Versunkenen. (SLS 880)

Vers 10

Um sich von den Fesseln der Seelenwanderung zu befreien, müssen die Weisen, die fest Entschlossenen und dazu Bereiteten, ständig nach Selbstbesinnung streben und den Früchten aller Arbeit entsagen.

Dass die Weisen auf die Früchte der Arbeit, auf den Gedanken an Lohn für geleistete Dienste verzichten sollen, haben wir schon bei der Definition des Ausdrucks “fest gegründet in Yoga” gesehen. Fest entschlossen sind diejenigen, welche vom Feuer der Sehnsucht nach Gotterfahrung (mumukṣutvam) beseelt sind. “Dazu bereitet” sind Menschen, welche die grundlegenden Voraussetzungen für das geistige Leben erfüllen. Davon ist im nächsten Abschnitt die Rede. Unter Selbstbesinnung ist gemäss dem ‘Pañcadaśī’ von Śrī Vidyāraṇya Svāmin die Regel gemeint, ständig über das Selbst und die Absolute Wirklichkeit nachzudenken, darüber zu reden und einander zu belehren, kurz: sich intensiv mit dem Selbst zu beschäftigen.

Vers 11

Werke dienen der Läuterung des Herzens, führen aber nicht zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Wahrheit erschliesst sich durch kritisch unterscheidendes Nachdenken und Abwägen (Vicāra) und nicht im Geringsten durch Millionen von Werken.

In Vers 7 haben wir den Satz gelesen: “Es ist daher offensichtlich, dass Werke nicht die Ursache der Erlösung sein können.” Und jetzt heisst es, die Wahrheit erschliesse sich nicht im Geringsten durch Millionen Werke.

Worauf es ankommt, ist Besinnung auf das Selbst, ständig überlegen, erforschen, durchdenken, prüfend hinterfragen, was mit dem Selbst, der Seele der Seele, zu tun hat. Werke – gemeint sind hier Zeremonien, Rituale, Feueropfer – stimmen die Gottheit gnädig, erzeugen kein nachteiliges Karma, reinigen das Herz vom Unrat, der die Kanäle göttlicher Eingebung verstopft, und schaffen die Voraussetzungen, unter denen höheres Wissen aufdämmert. Letzte Erkenntnis aber kommt durch Meditation über das Selbst zustande.

Vers 12

Die Feststellung der Tatsache, dass man es mit einem Seil zu tun hat, kommt durch sorgfältiges Überprüfen zustande. Sie beseitigt Angst und Schrecken vor der grossen Schlange, die durch eine Verwechslung entstanden sind.

Das Beispiel vom Seil und der Schlange benützt Śaṅkarācārya immer wieder als einprägsames Bild, um die ‘Kraft der Projektion’ (vikṣepa-śakti), eine der beiden schwer ergründbaren Kräfte, zu deuten, die zusammen mit der ‘Kraft der Verhüllung’ (āvaraṇa-śakti) das Phänomen der kosmischen Täuschung (māyā) begründet:

Zwei Wanderer gehen bei anbrechender Dunkelheit und leichtem Nieselregen auf einem Waldweg einher. Unversehens reisst einer den anderen entsetzt am Arm zurück. Quer über dem Weg bemerkt er ein schwarzes, gekrümmtes Etwas, das er – keine Seltenheit in dieser Gegend und Jahreszeit – für eine gefährliche Giftschlange hält. Auch dem anderen ist mittlerweile der Schreck in die Glieder gefahren. Aus respektvoller Entfernung starren beide wie gebannt auf das krumme Etwas und überlegen, was zu tun sei. Das verdächtige Ding bewegt sich nicht. Schliesslich nimmt einer einen langen Ast und schiebt es zur Seite. Noch immer rührt es sich nicht. Ist es am Ende eine tote Giftschlange? Sie fassen Mut und treten näher. Nach sorgfältiger Prüfung stimmen die beiden überein, dass es keine Giftschlange, sondern ein halb verrottetes Seil ist, das jemand verloren oder weggeworfen hat. Was ist passiert? Die beiden müden Wanderer haben auf das harmlose Seil die irrige Vorstellung einer Giftschlange projiziert. Sie haben das Seil mit einer Schlange verwechselt. Sie sind der ‘Kraft der Projektion’ zum Opfer gefallen.

Vers 13

Sicherheit in Bezug auf Wahrheit erlangt man durch intensives Nachdenken und aus den Lehren des Meisters, nicht durch Baden in heiligen Wassern, nicht durch Almosen, nicht durch Hunderte von Atemübungen.

Man ist geneigt hinzuzufügen: “und auch nicht allein durch das Studium der Heiligen Schriften”. Letzte Sicherheit geben uns der Meister und meditative Versenkung.

1) die Göttliche Mutter

Voraussetzungen für den geistigen Weg

Vers 14

Vollendung kann nur erhoffen, wer die Voraussetzungen im Wesentlichen erfüllt. Ort und Zeit sind lediglich Begleitumstände.

Diese Strophe verrät Śaṅkarācārya, den Reformator, der sich gegen die erstarrten Formen brahmanischer Liturgie auflehnt. Im Veda heisst es: Man opfert im östlichen Hausfeuer; man bringt das Opfer zu Füssen eines Pferdes dar; das Vaiśvadeva-Opfer ist in der West-Ost-Achse zu zelebrieren; die Opfergabe wird am Abend, am Morgen dargereicht; jeden Frühling soll das Lichterfest, das ‘Jyotiṣṭoma’ gefeiert werden. Alle diese Ort- und Zeitregeln haben ihre Bedeutung, sagt Śaṅkarācārya, aber im Vergleich zu den wesentlichen Voraussetzungen, die der Gottsucher erfüllen muss, sind sie nebensächlich. Von diesen Voraussetzungen ist im Folgenden die Rede.

Vers 15

Wer das Wesen des Selbst zu erkennen wünscht, muss deshalb nachdenken, forschen und abwägen, nachdem er einen von Barmherzigkeit erfüllten Meister aufgesucht hat, den Höchsten unter den Kennern der Absoluten Wirklichkeit.

Wenn der Mensch über das Selbst nachdenkt, das Selbst erforscht, sich ins Selbst vertieft, dämmert ihm, wie er die Unwissenheit und ihre verheerende Folge, die Wiedergeburt, zerstört. Der geistige Meister wird in dieser Strophe mit einem Meer der Barmherzigkeit verglichen. Wie der Ozean von Wasser erfüllt ist, so ist der wahre Meister von Mitleid erfüllt. Er hat nichts zu gewinnen, wenn Er anderen hilft, aus dem Kreislauf von Geburt und Tod auszubrechen. Er tut es aus Liebe und Barmherzigkeit. In der Gurugītā finden wir folgende Erklärung über die Herkunft des Wortes ‘Guru’: Die Silbe ‘gu’ bedeutet Finsternis, ‘ru’ ist soviel wie Beseitiger. Guru ist, wer die Finsternis beseitigt. So wie man im Dunkeln den Weg nicht findet, so irrt der geistig Unwissende in der Finsternis umher. Der Guru bringt Licht in diese Finsternis. Er zeigt dem Sucher den Weg und die Methoden zur Gotterfahrung.

Vers 16

Weise und inspiriert ist ein Mensch, der geschickt im Abwägen von Pro und Kontra ist. Wer die genannten Eigenschaften besitzt, der erfüllt die Voraussetzungen zur Selbsterkenntnis.

Oder: ‘Weise’ ist, wer die Lehren des Meisters stets vor Augen hält und sie in den mannigfaltigen Situationen des täglichen Lebens befolgt. ‘Inspiriert’ ist, wer in den mannigfaltigen Situationen des täglichen Lebens nach dem Gebot eines reinen Herzens handelt.

Vers 17

Als geeignet für die Suche nach der Absoluten Wirklichkeit gilt nur, wer zwischen Wirklichem und Unwirklichem unterscheiden kann (viveka), wer Losgelöstheit besitzt (vairāgya), wer die sechs Tugenden wie Stille, Selbstbeherrschung usw. hat (śamādi-ṣaṭkam) und wer sich nach Erlösung sehnt (mumukṣutvam).

Strophe 17 nennt die anspruchsvollen Voraussetzungen für erfolggekröntes Mühen um Selbsterkenntnis. Diese sind:

1. Unterscheidung zwischen Wirklichem und Unwirklichem, zwischen Vergänglichem und Ewigem

2. Leidenschaftslosigkeit, Losgelöstheit von Sinnesobjekten

3. Die sechs Tugenden: Stille, Selbstbeherrschung, Gemütsruhe, Geduld, Glauben, tiefe Meditation

4. Sehnsucht nach Gotterfahrung

Die Grundbedingungen für den geistigen Weg werden in der Folge näher beschrieben.

Die vier Anforderungen an den geistig Strebenden

Vers 18

Vier Voraussetzungen wurden in diesem Zusammenhang von den Weisen verkündet. Nur wenn sie erfüllt sind, ist Vollkommenheit erreichbar. Wo sie fehlen, kommt man nicht ans höchste Ziel.

Die vier Erfordernisse sind sowohl Mittel zum Zweck als auch Gradmesser für den geistigen Fortschritt. Wenn immer wir das Gefühl haben, auf dem geistigen Lebensweg stehen zu bleiben, macht uns ein kritischer Vergleich zwischen ‘Soll’ und ‘Ist’ auf Schwachstellen aufmerksam. Gedankenstille, Sinnesbeherrschung, absolute Gemütsruhe, Geduld im Ertragen von Leid und tiefe Meditation sind die in der Heiligen Schrift (Bṛh.U. 4,4,23) bezeugten fünf Tugenden des Erleuchteten. Diese gilt es zu entfalten. Hinzu kommt für den Gottsucher als sechstes Erfordernis der unerschütterliche Glaube an die Worte des Meisters und an die Heilige Schrift.

Die vier Anforderungen an den geistig Strebenden sind der tragende Unterbau für die verschiedenen Wege zur Gotterfahrung wie der achtgliedrige königliche Weg (Rāja-Yoga), der Weg selbstlosen Dienens (Karma-Yoga), der Weg hingabevoller Liebe zu Gott (Bhakti-Yoga), der Weg unablässiger Wiederholung mystischer Silben und göttlicher Namen (Mantra-Yoga) oder eine Kombination dieser Methoden.

Es ist eine Illusion, wenn man meint, die Gnade der Erlösung falle dem Gottsucher ohne nachhaltige Anstrengungen in diesen Disziplinen in den Schoss. Vers 18 ist ein kaum verhüllter Wink mit dem Zaunpfahl: Wenn wir auf dem geistigen Pfad an Ort und Stelle treten oder nur kleine Fortschritte machen, dann liegt der Fehler bei uns und nicht an den Methoden des Meisters. Die nächste Strophe bestimmt die logische Reihenfolge der vier Erfordernisse.

Vers 19

Zuerst wird die Unterscheidung zwischen Vergänglichem und Unvergänglichem (viveka) erwähnt, als Nächstes die Gleichgültigkeit darüber, ob man in diesem Leben oder im Jenseits in den Genuss der Früchte für Mühen und getane Arbeit (vairāgya) kommt, schliesslich die Voraussetzung der sechs Tugenden wie Stille der Gedanken und Gefühle (śamādi-ṣaṭkam) und die Sehnsucht nach Erlösung (mumukṣutvam). Soweit ist es klar.

Ausnahmslos alle Menschen der Welt suchen im Grunde genommen immer nur eines: Gesundheit, Glück, Frieden, Freude, Schönheit, Wohlstand, Reichtum. Aber die meisten suchen mit untauglichen Mitteln am falschen Ort. Warum? Sie sind sich nicht im Klaren darüber, was ewig und was vergänglich ist, was wirklich ist und was sich als Täuschung herausstellt. Statt an das Unvergängliche klammern sie sich an das Vergängliche. Sie leiden an einem grundlegenden Mangel an Unterscheidungskraft. Die unmittelbare Folge fehlenden Unterscheidungsvermögens ist irregeleitete Interesselosigkeit und Gleichgültigkeit. Statt vom Vergänglichen distanziert sich der weltliche Mensch vom Unvergänglichen. Statt des Unwirklichen ist ihm das Wirkliche gleichgültig. Viveka und Vairāgya, Unterscheidungsvermögen und Losgelöstheit, gehen Hand in Hand.

Es ist nicht so, dass Unterscheidungskraft wichtiger wäre als Losgelöstheit. Man muss einfach wissen, dass Vairāgya – Gleichgültigkeit, Interesselosigkeit – durchaus berechtigt, sogar unumgänglich und vom Standpunkt des geistigen Fortschritts zwingend ist; aber es kommt darauf an, wo sich der innere Abstand aufdrängt. Das weiss nur, wer die Gabe der Unterscheidung hat. Daher nimmt Viveka den ersten, Vairāgya den zweiten Platz ein. Ähnlich verhält es sich mit den sechs Tugenden wie Gedankenstille, Sinnesbeherrschung usw. Die sechs Vorzüge des Śamādi-ṣaṭkam gedeihen, wenn der Mensch zu unterscheiden vermag, wenn er Schädliches, Belangloses, Vergängliches aus seinem Blickfeld ausblendet, und nicht, wenn die Skala seiner Werte auf dem Kopf steht.

In dieser Optik leuchtet ein, dass Śaṅkarācārya seine Erläuterungen zu den vier Erfordernissen des geistig Strebenden mit dem Stichwort ‘Unterscheidungskraft’, Viveka, beginnt. Er tut es auf bewusst provokative Art:

Vers 20

“Brahman, die Absolute Wirklichkeit, ist wahr, die Welt ein Trugbild”, lautet das Urteil. Das wird als Unterscheidung (viveka) zwischen Vergänglichem und Unvergänglichem verkündet.

Diese Strophe nimmt die erste Hälfte eines legendären geflügelten Wortes als Richtschnur für die Unterscheidung zwischen Vergänglichem und Ewigem.

Gott, die Absolute Wirklichkeit, ist wahr. Die Welt ist ein Trugbild. Wer sinnend über diese Aussage nachdenkt, wird sich ihrer ungeheuren Tragweite bewusst. Unter ‘Welt’ ist die Totalität aller lebenden, leblosen, sichtbaren und unsichtbaren Erscheinungen, der ganze Kosmos zu verstehen mit allem, was geht und steht, von der Ameise bis zu den Milchstrassen, vom Atomkern bis zu den Magnetfeldern. All das hat einen Anfang und ein Ende. All das wird, Gott ist. Die Welt ist vergänglich, Gott ist ewig. Die Welt ist Schein, Gott Sein. Viveka besteht darin, diesen fundamentalen Unterschied klar zu erkennen.

Nicht immer ist der Unterschied mit den Händen greifbar. Manchmal ist unser Scharfsinn gefordert. Dafür gibt es das schöne Beispiel in der Bṛhadāraṇyaka-Upaniṣad, wo der Weise Yajñavalkya seine Gattin Maitreyī wie folgt unterweist:

Fürwahr, nicht um des Gatten willen ist der Gatte (seiner Gattin) lieb, sondern um des Selbstes willen ist der Gatte lieb; fürwahr, nicht um der Gattin willen ist die Gattin (dem Gatten) lieb, sondern um des Selbstes willen ist die Gattin lieb … (Bṛh.U. 2,4,5; Deussen)

Mit anderen Worten sind es nicht die Vorzüge wie Aussehen und Charaktereigenschaften, die wir im Nächsten lieben, sondern unser eigenes und des Nächsten Selbst, die ein und dasselbe sind.

Die nächste Strophe erklärt Vairāgya.

Vers 21

Losgelöstheit (vairāgya) ist der innere Abstand gegenüber den Dingen der Sinneserfahrung, die vergänglich sind und gesehen, gehört oder sonstwie wahrgenommen werden, vom Körper bis zum Schöpfergott.

Vairāgya ist das Gegenteil von ‘rāga’ im Sinn von Leidenschaft, heftigem Verlangen nach Personen und Dingen oder Bindung an diese. Man kann ‘vairāgya’ mit Leidenschaftslosigkeit, Losgelöstheit, Gelassenheit, innerem Abstand, Gleichgültigkeit, Interesselosigkeit, aber auch mit Überdruss und Widerwillen gegenüber Sinnesobjekten auslegen.

Die Strophen 22 bis 26 befassen sich mit den sechs Tugenden, angefangen mit Gedankenstille (śamādiṣaṭkam). Drei dieser Vorzüge (śama, dama und uparati) betreffen die Fähigkeit des Wahrheitssuchers, sich gedanklich gegen Sinneseindrücke abzuschirmen. Die anderen drei sind Geduld im Ertragen von Kummer und Leid, Glaube und meditative Versenkung. Gehen wir der Reihe nach:

Vers 22

Stille (śama) der Gedanken heisst dauerndes Verharren im wahren eigenen Ziel, indem man sich von den zahllosen Gegenständen der Sinneswahrnehmung loslöst und sich deren Mängel immer wieder vor Augen führt.

Śama kommt von ‘śam’ – aufhören, anhalten, ruhen, stille sein – und bedeutet Gedankenstille, Gedankenkontrolle. Der Autor empfiehlt zwei Methoden: einerseits soll man die Aufmerksamkeit von den Sinnesobjekten ablenken, andererseits sich auf das geistige Ziel konzentrieren.

Auch die Bibel ruft zur Gedankenstille auf:

Wenn ihr stille bliebet, würde euch geholfen.

Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.

(Jes. 30,15)

Es sei vor Ihm still alle Welt. (Habakuk 2,20)

Ringet danach, dass ihr stille seid. (1. Thess. 4,11)

Sei stille dem Herrn und warte auf Ihn. (Ps. 37,7)

Seid stille und erkennet, dass Ich Gott bin.

(Ps. 46,11)

“Sei still” ist leichter gesagt als getan. In einem seiner kleineren Werke, dem Laghuvākyavṛtti, vergleicht Śaṅkarācārya den Gedankenfluss mit einer Perlenkette: so wie die Perlen auf einer Schnur aufgezogen sind, die alle Perlen durchdringt, so sind alle Gedanken gleichsam auf dem unveränderlichen, reinen Bewusstsein aufgereiht, das sie durchdringt. Wenn man zwei benachbarte Perlen auseinanderzieht, kommt die Schnur zum Vorschein. Ebenso offenbart sich am Ende eines Gedankens, bevor ein neuer anhebt, für einen Augenblick das reine Bewusstsein. Śaṅkarācārya fordert uns auf, den Augenblick der Gedankenstille durch unablässiges Üben auf zwei, drei Augenblicke zu verlängern und sich auf diese Art als das Höchste Selbst, Brahman, zu erkennen (LVV 12-13).

Die Erfahrung lehrt, dass es schwer fällt, Gedanken längere Zeit zu unterdrücken. Es scheint leichter, Inhalt und Richtung der Gedanken zu ändern, das heisst – wie hier im Vers 22 gesagt ist – sie von den Sinnesobjekten abzulenken und auf das geistige Ziel auszurichten.

Vers 23

Selbstbeherrschung (dama) heisst das Festhalten der Sinne und Sinnesorgane in den betreffenden Zentren, indem man sich von den zahllosen Gegenständen der Sinneswahrnehmung abwendet. Vollkommene Ruhe (uparati) bedeutet, dass das Denkorgan nicht auf äussere Sinneseindrücke reagiert.

Dama, abgeleitet von der Wurzel ‘dam’ – zähmen, unterwerfen, überwältigen –, ist Beherrschung der Sinne, Sinneskontrolle: Schauen ohne zu sehen, lauschen ohne zu hören oder eben Augen schliessen, Ohren verstopfen, Nase zudrücken, kurz sich von den Sinnesobjekten abwenden.

Beides – Herrschaft über Gedanken und Sinne – soll uns vor den schädlichen Einflüssen sinnlicher Wahrnehmung auf das Gemüt, vor allem auf das Unterbewusstsein, bewahren.

Welch gigantisches Problem die Beherrschung der Sinne in der heutigen Zeit im pausenlosen Trommelfeuer von Radio, Fernsehen, Zeitungen und Illustrierten für Menschen in der Welt, besonders für Kinder bedeutet, bedarf keines Kommentars. Diese Art der Umweltverschmutzung ist eine tödliche Gefahr.

Gemütsruhe (uparati) ist ein fortgeschrittenes Stadium von Gedanken- und Sinneskontrolle, wo das Denkorgan von den Sinnesreizen aus der Umwelt unberührt bleibt. Im weiteren Sinn bedeutet uparati Verzicht auf Sinnesfreuden.

Folgendes über titikṣā, die Gabe, Härten und Leid zu ertragen:

Vers 24

Langmut (titikṣā) nennt man das Ertragen aller Art von Leid ohne den Gedanken an Rache, ohne Angst und Kummer, ohne Klagen.

Das Wort ‘titikṣā’, abgeleitet von der Wurzel ‘tij’ – schärfen, scharf werden –, bedeutet geduldig sein, Unangenehmes ertragen können, die Fähigkeit zu leiden ohne zu klagen: titikṣā ist die von Freude getragene Bereitschaft, sich dem Willen Gottes zu fügen, das eigene Karma als gerecht und im Glauben anzunehmen, dass es uns zum Guten gereicht.

Vers 25

Glaube (śraddhā) ist das Festhalten an der Überzeugung von der Wahrheit der Heiligen Schrift und der Worte des Meisters. Dadurch erkennt man die Wahrheit.

In der lexikalischen Überlieferung ist ‘śraddhā’ soviel wie Glaube, Vertrauen, Zuversicht, jene Kraft, die im Geiste der Bibel Berge versetzt. Śaṅkarācārya – ein Meister der präzisen Formulierungen – will das Wort ‘Śraddhā’ als den Willen und die Gabe verstanden wissen, durch dick und dünn an der unerschütterlichen Überzeugung festzuhalten, dass die Heilige Schrift wahr ist, dass die Worte des Meisters wahr sind.

Vers 26

Meditative Versenkung (samādhānam) ist dauernde gedankliche Konzentration auf die ewig reine Absolute Wirklichkeit (Brahman), nicht aber der freie Lauf der Gedanken.

Als sechste unerlässliche Tugend des Gottsuchers nennt der Autor, nicht ohne einen Seitenhieb auf die weitverbreitete Disziplinlosigkeit im Denken, dauernde gedankliche Konzentration auf die ewig reine Absolute Wirklichkeit, das Eine Brahman ohne ein Zweites. Das ist ‘samādhānam’, tiefe Meditation.

Das sind die sechs Vorzüge, die zusammen das dritte Erfordernis des geistig Strebenden bilden. Sie umfassen – wir wiederholen – Gedankenstille, Herrschaft über die Sinne, vollkommene Gemütsruhe, Langmut im Ertragen von Leid, Glaube und tiefe Meditation.

Aufschlussreich ist der Zusammenhang, in dem die sechs Tugenden in der Heiligen Schrift, und zwar in der Bṛhadāraṇyaka (der neben der Chāndogya umfassendsten aller Upaniṣaden) verankert sind. Dort gibt es folgende Strophe:

Das ist die ewige Grösse des Erleuchteten … Wer sie kennt, dessen Gedanken sind still, die Sinne beherrscht. Er bleibt unberührt von Sinneseindrücken, ist fähig, Unangenehmes zu ertragen, und konzentriert. Er sieht das Selbst im Selbst. Er sieht alles als das Selbst. (Bṛh.U. 4,4,23)

Es sind sinngemäss genau die gleichen Ausdrücke in der exakten Reihenfolge der sechs Tugenden im Kronjuwel der Unterscheidung, mit einer Ausnahme: śraddhā, Glaube, fehlt. Warum fehlt der Glaube? Weil der Erlöste nicht mehr an die Absolute Wahrheit glauben muss, er sieht sie, erfährt sie, lebt in ihr.

Die sechs Tugenden, die es gemäss dem Kronjuwel der Unterscheidung zu entfalten gilt, sind die des Erleuchteten. Soviel über das dritte Erfordernis des geistig Strebenden, das śamādi-ṣaṭkam.

Als vierte Voraussetzung nennt Śaṅkarācārya die Sehnsucht nach Erlösung, mumukṣutā. Mumukṣutā ist die eigentliche Triebfeder, der Düsenmotor auf dem Weg zur Gotterfahrung, das, was uns antreibt, göttliche Tugenden zu entfalten, den langen Weg immer wieder unter die Füsse zu nehmen und allen Widerständen und Rückschlägen zum Trotz bis ans Ende zu gehen. Lesen wir darüber:

Vers 27

Sehnsucht nach Erlösung (mumukṣutā) ist der brennende Wunsch, sich durch Erkenntnis des ureigenen wahren Wesens von den Fesseln wie Ichbezogenheit und Körperverhaftung zu befreien, die aus Unwissenheit entstanden sind.

Man kann sich fragen, warum Śaṅkarācārya den brennenden Wunsch nach Erlösung erst an vierter Stelle erwähnt. Oberstes Gebot ist für ihn die Gabe der Unterscheidung zwischen Vergänglichem und Ewigem, zwischen Wirklichem und Unwirklichem (viveka). Ohne Viveka treibt der Mensch wie ein steuerloses Schiff auf dem Ozean der Sinneseindrücke umher.

Der weltliche Mensch hält für wirklich, was die Sinne wahrnehmen, was er mit eigenen Augen sieht, selber hört, selber berührt, selber riecht und schmeckt. Ohne die Kraft der Unterscheidung beschränkt er sich darauf, unangenehmen Sinneseindrücken nach Möglichkeit aus dem Wege zu gehen und sich soviel Sinnesfreuden wie möglich zu verschaffen. Gelingt ihm das schlecht und recht, hat er keinen Anlass, seine Denkgewohnheiten von Grund auf zu ändern, keinen Bedarf für radikale Reme dur. Er gibt sich mit wenig zufrieden und nimmt Kummer und Leid als unvermeidlich in Kauf. – Daher der Imperativ der Unterscheidung als erstes Erfordernis auf dem geistigen Weg. Wo diese fundamentale Voraussetzung gegeben ist, nimmt das Bedürfnis nach Erlösung, selbst wenn es anfänglich kaum da oder nur lauwarm ist, mit der Zeit feste Gestalt an. Mehr darüber in der nächsten Strophe:

Vers 28

Auch wenn der Wunsch nach Erlösung (mumukṣutā) nur schwach oder mässig ist, wird er durch Losgelöstheit (vairāgya), die sechs Tugenden wie Stille der Gedanken, Selbstbeherrschung usw. (śamādi-ṣaṭkam) und die Gnade des Meisters grösser und stärker und trägt Früchte.

Je mehr der Mensch erkennt, wie die Sinnesobjekte – alles, was geboren oder erschaffen wurde, alles, was Namen und Form hat und von den Sinnen wahrgenommen oder vom Gemüt erdacht wird – vom Zahn der Zeit langsam aber sicher zerstört werden, desto mehr nimmt er innerlich Abstand von ihnen, desto weniger verlässt er sich auf sie. Er ändert seine Einstellung, sein Verhältnis zu den Sinnesobjekten, löst sich von ihnen, lockert seine Bindung an sie. Das ist Vairāgya. In dem Mass, in dem er aufhört, sich an vergängliche Werte zu klammern, in dem Mass wächst der Wunsch, von den Fesseln an die Materie befreit zu werden. Das ist Sehnsucht nach Erlösung (mumukṣutā). Śaṅkarācārya weist hier ausdrücklich auf die Gnade des Meisters hin.

Die vier Anforderungen für den geistigen Weg:

• Unterscheidung zwischen Vergänglichem und Ewigem

• Gelassenheit gegenüber Sinnesobjekten

• Die sechs Tugenden: Gedankenstille, Herrschaft über die Sinne, absolute Gemütsruhe, Geduld im Ertragen von Leid, Glaube und tiefe Meditation

• Sehnsucht nach Gotterfahrung

stehen mit den geheimen, machtvollen Mantras1), in die der Meister den Schüler einweiht, in enger Wechselbeziehung: Je intensiver, je feuriger wir das Mantra wiederholen, desto klarer unterscheiden wir Vergängliches von Unvergänglichem, desto lockerer wird unser Verhältnis zu den Sinnesobjekten, desto schöner blühen die sechs Tugenden der Gedankenstille, Zügelung der Sinne usw., desto heller leuchtet der Wunsch nach Gotterfahrung.

Umgekehrt entfaltet das Mantra desto umfassendere göttliche Kräfte, je vollständiger die vier Voraussetzungen für den geistigen Weg erfüllt sind.

In der nächsten Strophe unterstreicht der Autor die grosse Bedeutung der Gelassenheit gegenüber Sinnesobjekten und der Sehnsucht nach Erlösung. Für das Gedeihen der sechs Tugenden – der Gedankenstille, der Herrschaft über die Sinne, der Gemütsruhe, der Geduld, des Glaubens und tiefer Meditation – sind sie unerlässlich.

Vers 29

Denn nur wo Losgelöstheit (vairāgya) und die Sehnsucht nach Erlösung (mumukṣutā) in hohem Mass vorhanden sind, erfüllen die sechs Tugenden wie Stille der Gedanken (śamādi-ṣaṭkam) ihren Sinn und tragen Früchte.

Viveka, die Kraft der Unterscheidung, wird als gegeben vorausgesetzt.

Vers 30

Wo die Losgelöstheit und die Sehnsucht nach Befreiung schwach sind, dort sind die sechs Tugenden, wie Stille der Gedanken, Zügelung der Sinne, nichts anderes als eine Sinnestäuschung, wie Wasser in der Wüste.

Hier treibt Śaṅkarācārya denselben Gedanken auf die Spitze: Ohne Losgelöstheit, ohne Sehnsucht nach Erlösung – von fehlender Unterscheidungskraft ganz zu schweigen – kann man die sechs fundamentalen Tugenden, das śamādi-ṣaṭkam, vergessen. Sie sind wie Wasser in der Wüste: Selbst-Täuschung.

Soviel über die vier Anforderungen an den geistig Strebenden. Von einem ganz anderen Erfordernis, von der hohen Schule des geistigen Lebens, ist im nächsten Abschnitt die Rede.

Liebevolle Hingabe an Gott (bhakti)

Vers 31

Unter den vielen Wegen zur Befreiung ist Gottliebe fürwahr entscheidend. Liebevolle Hingabe an Gott (bhakti) bedeutet unablässiges Suchen nach dem ureigenen, wahren Wesen.

Der Schlüsselsatz: “Unter den vielen Wegen zur Befreiung ist Gottliebe fürwahr entscheidend” ist eine deutsche Version, aber nicht die einzig zulässige. Einer von drei indischen Autoren, es ist Jagadguru Śrī Candraśekhara Bhāratī, vierunddreissigster Hohepriester des von Śaṅkarācārya gegründeten Heiligtums, des Śāradā-Pītḥa in Śṛṅgeri, übersetzt die Aussage etwas frei mit:

“Among the best means to bring out mokṣa, bhakti is the greatest” – von den Methoden, die zur Erlösung führen, ist bhakti die beste.

Aufschlussreich ist Śaṅkarācāryas eigene Definition von Bhakti: “Liebevolle Hingabe an Gott bedeutet unablässiges Suchen nach dem ureigenen wahren Wesen.”

Vers 32

Andere sagen, Gottliebe sei das Suchen nach der Wahrheit der eigenen Seele. Der Sucher nach der Wahrheit der Seele, der die genannten Voraussetzungen erfüllt (siehe Vers 19), möge bei einem weisen Meister Zuflucht nehmen, der ihn von den Fesseln des Geburtenkreislaufs erlöst.

Beide Begriffsbestimmungen betonen die Selbsterkenntnis als das zentrale Anliegen der Advaita-Vedānta-Philosophie. In den Bhakti-Sūtras von Nārada, einem uralten Text über Gottliebe, wird Bhakti von massgebenden Sehern und Heiligen wie folgt definiert:

Vedavyāsa ist der Ansicht, Bhakti sei Inbrunst bei den Zeremonien und anderen Formen der Gottverehrung. (Bh. S. 16)

Garga meint, Bhakti bedeute über Gott reden, von Gott hören, nach Gott fragen. (Bh. S. 17)

Śāndilya denkt, Bhakti sei ungehinderte Glückseligkeit im Selbst. (Bh. S. 18)

Nārada aber findet, Bhakti sei der Zustand desjenigen, der sein ganzes Tun und Lassen Gott weiht, verbunden mit grosser Angst, Gott zu vergessen. (Bh. S. 19)

Der erleuchtete Meister

Die zehn Strophen dieses Abschnitts schildern abwechselnd das Wesen des erleuchteten Meisters und die Gemütsverfassung derer, die sich ihm in der entscheidenden Schicksalsfrage rückhaltlos anvertrauen. Über 25 Strophen hinweg, von Vers 8 bis Vers 32, beschreibt der Autor das wahre Geistesleben, die Voraussetzungen für den geistigen Weg und die Anforderungen an den geistig Strebenden, kurz all das, was der Gottsucher tun und sein sollte, um das ersehnte Ziel zu erreichen, um die Einheit mit der Absoluten Wirklichkeit bewusst zu erfahren. In diesem Abschnitt erklärt er, was der erleuchtete Meister ist, was ihn von unechten Gurus, die im Osten wie im Westen zuhauf ihre Dienste anbieten, unterscheidet. Mehr darüber im:

Vers 33

Der Meister versteht die Schriften, ist frei von Sünde, nicht von Wünschen geplagt, ein wahrer Kenner der Absoluten Wirklichkeit. Er ruht in der Höchsten Wahrheit, gütig und still, wie ein Feuer ohne Brennholz, ein Meer bedingungsloser Barmherzigkeit, der Freund jener Aufrichtigen, die sich Ihm anvertrauen.

Der Ausdruck “gütig und still, wie ein Feuer ohne Brennholz” ist zweideutig. Entweder ist dem Feuer der Brennstoff ausgegangen. Es prasselt, knistert, faucht, flammt nicht mehr, glüht nur still und sanft vor sich hin. Bis auf glimmende Holzstücke ist es ein erloschenes Feuer. Dieses Bild passt insofern zum Wesen des Meisters, als seine Begierden erloschen sind, sein Denken still geworden ist.

Oder es ist ein Feuer, das ohne Brennstoff hell brennt, ein von allem unabhängiges Feuer. Auch dieses Bild passt zum erleuchteten Meister, denn das Feuer seiner Liebe, das Feuer seiner steten Hilfsbereitschaft, das Feuer seiner Hingabe ans Göttliche, das Feuer seiner Weisheit brennt, leuchtet und wärmt aus sich selbst heraus. Es ist ein unerschaffenes, unverursachtes Feuer.

Vers 34

Diesen Meister soll man aufsuchen, mit liebevoller Hingabe verehren und durch demütig-respektvolles Dienen gnädig stimmen. Dann mag man Ihn fragen, was man über die Seele wissen muss.

Nach dem altbewährten Sprichwort “Trau, schau wem!” ist das der Meister, von dem Śaṅkarācārya wiederholt gesprochen hat (siehe Verse 8, 13, 15, 28). Diesen soll man aufsuchen und mit liebevoller Hingabe verehren. Im Gegensatz zu weltlichen Respektspersonen, die geehrt und bedient werden wollen, hat der erleuchtete Meister kein Ego. Liebevolle Verehrung und demütiges Dienen seitens seiner Anhänger mehren seine wesenhafte Glückseligkeit nicht im Geringsten.

Hingabe und ehrerbietiges Dienen sind unumgänglich, weil sie den Schüler für die geistigen Unterweisungen empfänglich machen. “Gnädig stimmen” heisst, den Meister von besagter Empfänglichkeit zu überzeugen. Seine bedingungslose Barmherzigkeit wartet nur darauf, würdige Gottsucher bei der Hand zu nehmen.

Die nächsten zwei Strophen schildern den Zustand eines Menschen, der die Vergänglichkeit irdischen Glücks bis zur Neige gekostet hat und sich statt trügerischer Freuden nach ewigem Frieden sehnt.

Vers 35

“Verehrung sei Dir, o Meister, o Freund der Demutsvollen, o Meer des Erbarmens! Errette mich, den im Ozean der Seelenwanderung Versunkenen, mit Deinem wohlwollenden Seitenblick, der vom Nektar grosser Barmherzigkeit überfliesst!”

Diese und die folgende Strophe sind ein inniges Gebet an den Meister in hoch poetischen Worten, deren Wohlklang und Rhythmus beim Übersetzen in eine andere Sprache bei weitem nicht erreicht werden. Es rückt das Ego des Betenden in den Hintergrund und schafft den Einklang mit den Schwingungen des Meisters. Anders als in der westlichen Kultur ist dem Gottsucher im Indien der Antike die Tatsache der Wiedergeburt eine Selbstverständlichkeit. Mit dem Flammenmeer sind die Konflikte und Leiden, die Begierden und negativen Gedanken des dualistischen Bewusstseins gemeint.

Vers 36

“Schütze mich vor dem Tod! Ich schmachte im unerträglichen Flammenmeer der Wiedergeburten und bin von den Stürmen eines unerbittlichen Schicksals hin- und hergerissen. Angsterfüllt nehme ich Zuflucht zu Dir. Ich kenne keinen anderen Schutz.”

Das Gebet um Schutz vor dem Tod gilt sowohl dem vorzeitigen Tod des Körpers durch Unfall oder Krankheit als auch jeder Art Geist tötender, eingrenzender Fesseln und negativen Denkens.

Das nächste Verspaar ist wiederum der wesenhaften Barmherzigkeit des wahren Meisters gewidmet:

Vers 37