Das Kunstpublikum - Oskar Bätschmann - E-Book

Das Kunstpublikum E-Book

Oskar Bätschmann

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Beschreibung

Neben Produktion und Verbreitung ist die Rezeption das dritte große Forschungsgebiet der Kunstgeschichte. In der Regel erfolgt dabei eine Fokussierung auf die individuelle Rezeption. Das Kunstpublikum. Eine kurze Geschichte untersucht dagegen erstmals die Bedeutung eines notwendigen, aber meist übersehenen Akteurs im Kunstbetrieb. Bildliche und schriftliche Zeugnisse aus allen Zeiten dokumentieren das Verhalten des Publikums und die unterschiedlichen Beurteilungen durch Künstlerinnen und Künstler, Sammlerinnen und Sammler sowie Kritikerinnen und Kritiker. Bätschmann zeigt auf, dass die Sachverständigen im Kunstsystem stets zwischen zwei Extremen schwanken: Sie stehen dem Publikum entweder skeptisch gegenüber und verachten dessen Geschmack oder sie schmeicheln der Masse und wollen ihren Applaus. Oskar Bätschmann (*1943) gehört zu den wichtigsten Kunsthistorikern unserer Zeit. Er lehrte in Zürich, Freiburg i.Br., Gießen und Bern und hatte längere Forschungsaufenthalte am Getty Center, Santa Monica, an der Bibliotheca Hertziana, Rom, sowie am Center for Advanced Study in the Visual Arts an der National Gallery of Art, Washington, D.C. Bätschmanns Bücher, darunter Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik und Ausstellungskünstler, gelten als Klassiker des Fachs.

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Seitenzahl: 301

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Das Kunstpublikum

Das Kunstpublikum

Eine kurze Geschichte

Oskar Bätschmann

Impressum

Autor

Oskar Bätschmann

Projektmanagement

Fabian Reichel

Korrektorat

Nicola von Velsen, Fabian Reichel

Gestaltungskonzept und Cover

Neil Holt

Satz

Calibar Services, Bukarest

Schrift

Arnhem

Verlagsherstellung

Thomas Lemaître

Reproduktionen

DLG Graphic, Paris

Druck

Livonia Print, Riga

Papier

Munken Print White Vol. 1.5, 90 g/m2

© 2023 Hatje Cantz, Berlin, und Autor

The Art Public: A Short History von Oskar Bätschmann ist zuerst erschienen bei Reaktion Books, London 2023.

© Oskar Bätschmann 2023

Erschienen im

Hatje Cantz Verlag GmbH

Mommsenstraße 27

10629 Berlin

www.hatjecantz.de

Ein Unternehmen der Ganske Verlagsgruppe

ISBN 978–3-7757-5527-6 (Print)

ISBN 978–3-7757-5528-3 (ePub)

ISBN 978–3-7757-5529-0 (ePDF)

Printed in Latvia

Für MTh

G & K & L

Inhalt

Prolog

Der Anteil des Publikums

Hierarchische Kategorien

Das Apelles-Problem

Teilung des Publikums

Sensationelle Attraktionen

Genuss, Bildung und Erhöhung

Das fruchtbare Publikum

Empfindsame und Gerührte

Grinsen, Lachen, Spotten

Die Massen

Trauernde Mengen

Geschätztes Publikum

Die Befragung in Dresden 1871

Ästhetische Erziehung

Große Player

Epilog

Anmerkungen

Ausgewählte Literatur

Bildnachweis

Dank

Seine vollendeten Werke stellte er [Apelles] im Vorbau seines Hauses für die Vorübergehenden aus und hörte, hinter der Tafel verborgen, die Fehler, die man anführte, wobei er das Volk als einen sorgfältigeren Richter betrachtete als sich selbst.

Plinius d.Ä., 1. Jh. n. Chr

Schließlich kommt es darauf an, dass alles – sowohl das Zusammenspiel dieser Personen mit den Zuschauern als auch dasjenige der gemalten Personen untereinander – übereinstimmt zum Zwecke der Darstellung und der Vermittlung der Historia.

L. B. Alberti, 1435/36

Endlich fertigte er einen Karton über Unsere Frau und die Hl. Anna mit dem Christus, der nicht nur alle Künstler zur Bewunderung brachte, sondern auch nach der Fertigstellung während zwei Tagen im Zimmer ein Kommen und Gehen von Männern und Frauen, Jungen und Alten andauerte, wie an einem feierlichen Fest, um die Wunder Leonardos zu sehen, die all dies Volk in Erstaunen versetzten.

Giorgio Vasari über Leonardo da Vinci, 1550

Dieses hervorragende Werk [der Genter Altar] wurde nur hier und da für hohe Herren geöffnet und gezeigt oder wenn jemand dem Schließer ein gutes Trinkgeld gab. Auch wurde sie manchmal an gewissen hohen Festtagen gezeigt. Da drängten sich die Leute dann dermaßen, dass man kaum herankommen konnte; denn die Kapelle, in der sie zu sehen war, war den ganzen Tag voll von allerlei Volk.

Carel van Mander, 1606

Annibale Carracci, wiederholte er [Bernini], wollte ein Gemälde sofort nach der Herstellung der öffentlichen Kritik ausgesetzt wissen; denn das Publikum irre sich nicht und schmeichle nie, sondern halte sich nicht zurück zu sagen: ‚Das ist trocken, das ist hart‘ und so weiter.

Gian Lorenzo Bernini, 1665

Denn nicht nur die gebildeten und die vornehmen Leute, die höchstwahrscheinlich immer die vernünftigsten sind, setzen ihren Stolz darauf, sich in der Malerei auszukennen, sondern auch das gemeine Volk mischt sich ein, um seine Empfindung zu äußern: so dass es scheint, sie sei gewissermaßen die Angelegenheit von allen.

Roland Fréart de Chambray, 1662

Die Dafne des Bernini, zu der ich nur sage, dass als sie fertiggestellt und zu sehen war, sich sofort ein derartiges Geschrei erhob, dass ganz Rom herbeieilte, um dieses Wunder zu sehen.

Filippo Baldinucci, 1682

Der Begriff Publikum schließt hier nur die Personen ein, die sich Bildung erworben haben, sei es durch die Lektüre, sei es durch die Weltkenntnis.

Jean-Baptiste Dubos, 1733

Wie der Beifall des aufgeklärten Publikums jeder Art von Arbeit den richtigen Wert zuerkennt, so formt sich sein [des Künstlers] Ansehen durch die Bündelung des Beifalls.

Anonym, Explication des Peintures, Sculptures, et autres Ouvrages de Messieurs de l’Academie Royale, Paris 1742

Oder verlangt man, dass das Publikum so gelehrt seyn soll, als der Kenner aus seinen Büchern ist? Dass ihm alle Scenen der Geschichte und der Fabel, die ein schönes Gemälde geben können, bekannt und geläufig seyn sollen?

Gotthold Ephraim Lessing, 1766

Wenn je ein Bild Aufsehen gemacht hat, so war es dieses. Es war viele Tage hindurch wie eine Prozession! Fürsten und Fürstinnen fuhren hin, um es zu sehen; Kardinäle und Prälaten, Monsignori und Pfaffen, Bürger und Arbeitsleute, alle eilten hin.

Johann Heinrich Tischbein, 1786

Ich selbst kenne keine größere Ehre als die, das Publikum zum Richter zu haben. Ich fürchte von seiner Seite weder Leidenschaft noch Parteilichkeit, Seine Belohnungen sind freiwillige Spenden, die seinen Geschmack für die Kunst beweisen. Sein Lob ist ein freier Ausdruck des Vergnügens, das es erlebt, und solche Belohnungen wiegen ohne Zweifel die aus der Zeit der Akademie auf.

Jacques-Louis David, 1800

Ohne das Geschrei der Gegenpartei zu beachten, werde ich dem Publikum mit Offenheit und Einfachheit das mitteilen, was ich bei jedem der Werke empfinde, die von ihm mit Aufmerksamkeit beehrt werden.

Stendhal, 1824

Dieses chaotische Wesen [das Publikum] recht ins Auge zu fassen, ist nicht unwichtig, denn es steht der ganzen Kunstwelt gegenüber als ein Chor von Stimmen, Meinungen, Urtheilen, Entscheidungen, und übt den bedeutendsten Einfluss auf die vorhandene wie auf die werdende Kunst aus.

Anonym, ‚Das kunstliebende Publikum‘, 1830

In Bezug auf die Festlichkeit einer Gemäldeausstellung verhält es sich gleich wie bei einer Theatervorstellung: es ist das Publikum, das der einen wie der andern die Seele, das Leben einhaucht. Ohne das Publikum ist alles tot! Wenn das Drama vor leerem Haus gespielt wird, erhalten auch die schönsten Stücke keinen Applaus.

Hilaire Sazerac, 1834

Die Kunstvereine sind gegenwärtig unleugbar die wesentlichsten materiellen Träger der Malerei; sie zuerst haben ihr wieder ein größeres Publicum gewonnen und somit bei aller Einseitigkeit, die sich zuweilen hineinmischt, mit dem schwierigen Werke, die Kunst von neuem mit dem Leben zu vermitteln, einen kühnen und erfolgreichen Anfang gemacht.

Jacob Burckhardt, 1845

Die wissenschaftliche Betrachtung der Kunst hat mit der producierenden Kunst des Tages in directem Verkehr gar nichts zu schaffen. Nicht an die Künstler, sondern an das Publikum wendet sie sich. Dieses will sie belehren und dadurch allein der Kunst nützen.

Herman Grimm, 1865

Setzen Sie zehn Personen von ausreichender Intelligenz vor ein Gemälde, das neu und originell aussieht, und alle diese zehn Personen werden sich wie ein großes Kind verhalten; sie werden sich mit den Ellbogen stupsen, sie werden das Werk auf die komischste Art der Welt kommentieren. Die Schaulustigen werden in Reih und Glied kommen und die Gruppe vergrößern, bald wird daraus ein wirklicher Trubel, ein Anfall von einfältigem Wahnsinn.

Emile Zola, 1867

Das Plakat in seiner neuen Form ist vielleicht der mächtigste Agent in der Erziehung des Volkes zum Kunstempfinden und zum Kunstbedürfnis.

Jean Louis Sponsel, 1897

Seltsames und verrücktes Publikum, das vom Maler die größtmögliche Originalität verlangt, aber ihn nur dann akzeptiert, wenn er den anderen gleicht.

Paul Gauguin, 1900

Die Täuschung des Publikums gelingt dem Künstler leichter als irgend einem anderen Beruf, weil ihm, abgesehen von der leichten Empfänglichkeit des Volkes für alles Seichte, der Nimbus zu Hilfe kommt und eine Fülle von gerade die Mittelmäßigkeit begünstigenden Einrichtungen, die dem Stand als solchem eine scheinbare Bedeutung erhalten, und die der Geschickte auszunutzen versteht.

Julius Meier-Graefe, 1904

Wir betrachten ja bekanntlich die Ausstellung keineswegs als die ideale Form zur Herstellung des Kontaktes zwischen Künstler und Publikum; die Lösung großer öffentlicher Kunstaufgaben z. B. wäre uns für diesen Zweck ungleich erwünschter.

Gustav Klimt, 1908

Die Zeit der Entfremdung zwischen Künstler und Publikum sollte ihr Ende finden. Das innere unzertrennbare Band zwischen diesen beiden Elementen muss auch eine Form finden, in welcher es sich verkünden kann.

Wassily Kandinsky, 1910

Wir haben noch nicht diese letzte Kraft, denn: uns trägt kein Volk. Aber wir suchen ein Volk, wir begannen damit, drüben am staatlichen Bauhaus.

Paul Klee, 1924

Es ist unerlässlich, das Publikum daran zu erinnern, dass es nicht zum Beurteilen taugt, und ihm beizubringen, dass weder die Malerei noch die Bildhauerei oder die Architektur ‚Vergnügungskünste‘ sind, sondern Quellen unendlicher Qualen und bedeutender Widerwärtigkeiten.

André Lhote, 1944

Das Publikum wollte mehr. Das Stadion war ausgefüllt von einem Bild, aber sie wollten noch mehr. Sie wünschten neue Wünsche. Sie hatten eine neue Angst. Eine neue Sehnsucht. Der Maler musste von vorn beginnen. Neue Farbfässer wurden herbeigerollt. Die Farbe spritzte in den Himmel hinauf, die Leute jubelten.

Martin Disler, 1983

In einem Bereich, der so rammelvoll ist mit Taschenspielertricks wie die Kunstwelt, zählt am Ende des Tages nur, dass das Publikum die Show genossen hat. Mit seinem Starauftritt bei Sotheby’s hat Banksy uns allen eine souveräne Vorstellung geboten.

Lenny Schachter, 2018

Prolog

Die Kunstgeschichte hat die Entdeckung des Kunstpublikums noch vor sich. Meist gilt dieses als passiver und stummer Empfänger, dem nach Belieben eine Meinung zugeteilt werden kann. In der Kunstgeschichte ist die Rezeption nach Produktion und Distribution das dritte wichtige Forschungsgebiet. Vom Rezipienten wird fast ausschließlich in der männlichen Form gesprochen, vom Betrachter (analog spectator, beholder, viewer, spettatore, spectateur usw.), und man hält ihn für ein Kollektivsingular, in das die Betrachterinnen eingeschlossen sind. Ein Unterschied zum Publikum wird kaum je erwogen.1 Im Bereich Produktion bleibt das Publikum weitgehend unbeachtet, da Künstlerinnen, Künstler und Auftraggeber alle Aufmerksamkeit für sich beanspruchen und ihre Antizipation allfälliger Publikumsvorgaben vernachlässigbar scheint. Der Forschungsbereich Distribution, der sich mit dem Kunstmarkt und den Sammlungseinrichtungen beschäftigt, kommt meist ohne Bezug auf das Publikum aus und weiß allenfalls von Statistiken für Museen, Ausstellungen und Auktionen.2

Die Kunstgeschichte überlässt die Analyse des Publikums gerne der Kunstsoziologie, die sich dem Thema Kunst und Gesellschaft widmet und Befragungen veranstaltet. In den 1950er Jahren lieferte Arnold Hauser die Muster für die Kunstsoziologie, und in den 1960er Jahren wurden die Analysen von Pierre Bourdieu und Alain Darbel zum Vorbild für die Publikumsforschung.3 1997 erschien ein repräsentativer Querschnitt unter dem Titel Soziologie der Kunst, der Aufsätze zu den Kunstproduzenten, den Vermittlern und den Rezipienten enthält.4 In Deutschland wurde 1984 bis 1989 eine Befragung der Museumsbesucher durchgeführt, die Alter, Herkunft, Geschlecht, Gruppenzugehörigkeit usw. erfasste und statistisch auswertete.5 Die Besucherforschung von Museen und Ausstellungen erhebt Daten zu Herkunft, Bildung, Verhalten und Besuchsverlauf. Die Evaluation erfasst die Beurteilung des Museums- und Ausstellungsangebots durch Besucherinnen und Besucher.6 Die inzwischen erreichte Dichte der Befragungen wird bereits als enge »Vermessung« des Publikums empfunden.7 Die Kenntnis von »(potenziellen) Nutzerinnen und Nutzer der Kulturangebote« ist für die Kulturpolitik und das Kulturmanagement notwendig, um den »Legitimationsbedarf« abzuschätzen und »zielgruppengerechte« Angebote zu entwickeln.8 Im Anschluss an Bourdieu publizierte eine Forschergruppe der Universität St. Gallen 2015 eine eingehende soziologische Analyse der Art Basel.9

Soll und kann die Kunstgeschichte gegenüber den soziologischen Untersuchungen und statistischen Erhebungen eigene Fragestellungen zum Kunstpublikum ausarbeiten? Im Kunstbetrieb war das Publikum immer präsent, verschaffte sich Aufmerksamkeit, beobachtete und wurde umworben, bewundert, gemalt, verspottet und von den Ausgeschlossenen verachtet. Die Einstellung gegenüber dem Publikum ist ambivalent: die Künstlerinnen und Künstler berücksichtigen es im Schaffensprozess oder glauben, es zu ignorieren zu können, stellen es respektvoll dar, loben oder verhöhnen es, stoßen es zurück oder verbünden sich mit ihm. Die Kunstliebhaber sind irritiert vom massenhaften Auftreten des Publikums in Museen und Ausstellungen oder sie begrüßen es als Popularisierung des Kunstinteresses.10 In der Mitte des 18. Jahrhunderts störte das Auftreten des erweiterten Publikums die Kunstliebhaber, die sich einen privilegierten Zugang zur Kunst durch Kennerschaft gesichert zu haben glaubten. Der große Maler Charles-Antoine Coypel wollte 1747 das exklusive Publikum mit seinem sicheren Urteil von der schwankenden Menge separieren.11 Doch das Publikum ist weder einheitlich noch organisiert, und sein Verhalten erscheint vielfach als erratisch, wie es etwa im Brief von Paul Gauguin an den Prinzen Emmanuel Bibesco von 1900 zum Ausdruck kommt:

Seltsames und verrücktes Publikum, das vom Maler die größtmögliche Originalität verlangt, aber ihn nur dann akzeptiert, wenn er den anderen gleicht.12

Zu erwarten wäre, dass eine Arbeit wie Umberto Ecos Opera aperta – Das offene Kunstwerk von 1962 wenigstens in den visuellen Künsten den Beitrag des Publikums nicht übersehen hätte, doch auch hier sind primär die Objekte und ihre Urheber interessant und die Betrachterinnen und Betrachter sekundär.13 In der kunstgeschichtliche Literatur wird das Publikum häufig, aber meist flüchtig gestreift, und die eingehenderen Bearbeitungen gehen nicht über ein Jahrhundert und ein begrenztes Territorium hinaus.14 Beispielsweise widmeten Ernst Kris und Otto Kurz in Die Legende vom Künstler von 1934 dem Publikum einen Abschnitt, begnügten sich aber mit Hinweisen auf die Überlegenheit des Künstlers.15 Einige bildliche und literarische Materialien zum Kunstpublikum sind bekannt, ebenso Beziehungen anderer Akteure zum Publikum.

2009 publizierte Charlotte Klonk ihre große Untersuchung zur Organisation und zum Publikum der Galerien und Museen, die sich insbesondere mit der ästhetischen Erfahrung von Frauen und Männern und mit den Zusammenhängen zwischen den Besucherinnen und Besuchern und dem Display der Werke beschäftigt. Der geographische Raum ist Westeuropa und Nordamerika, und der Zeitraum der Untersuchungen erstreckt sich von 1800 bis 2000.16

Der hier vorgelegte Versuch zu einer Geschichte des Kunstpublikums konzentriert sich im Wesentlichen – gemäß gängigen Verabredungsbegriffen – auf Neuzeit und Moderne. Es wird einer Verdichtung in materieller und methodologischer Hinsicht bedürfen, um aus dem aktuellen Stand einer »histoire anecdotique« mehr als eine kurze Geschichte des Kunstpublikums zu erreichen. Die Sammlung von sprachlichen und bildlichen Dokumenten und deren Analyse scheint mir ein dazu geeigneter Einstieg zu sein. Die zeitliche, territoriale und sprachliche Beschränkung hängt selbstverständlich sowohl mit den erreichbaren Texten und Bilddokumenten zusammen als auch mit der Arbeits- und Sprachkapazität.

1 Thomas Struth, Museo del Prado 7, 2005

Der Anteil des Publikums

1989 entdeckte der Photograph Thomas Struth in Wien das Museumspublikum als Sujet und dokumentierte fortan Besuchergruppen und einzelne Personen vor Gemälden und Skulpturen.1 1990 entstanden Aufnahmen in den Vatikanischen Museen, unter anderen die Photographie des Publikums vor Raffaels Borgobrand.2 Der Photograph nimmt einen erhöhten Standpunkt hinter der Gruppe ein, die in Rückenansicht anonym bleibt, allein der Kunstführer und zwei weitere Personen sind im Profil erfasst. Die Besucher sind durch biedere Mäntel einander angeglichen, nur eine Dame trägt ein Pelzcape. Der verhüllte Haufen kontrastiert mit den bewegten nackten Figuren in der gemalten Basis. Der Photograph ist der unbemerkte Beobachter des Publikums, der abwartet, bis sich eine günstige Konstellation für seine Aufnahme einstellt. Indem wir seine Photographie betrachten, treten wir in seine Rolle als Beobachter ein.3

Im Museo del Prado in Madrid entstanden 2005 einige Aufnahmen aus schrägem Blickwinkel (Abb. 1), sodass Velázquez’ Gemälde Las Meninas an den Rand und das Publikum in die Mitte rückt. Wie auf vielen Aufnahmen Struths ist das Publikum gemischt. Vor den Meninas bearbeiten und diskutieren Internatsschülerinnen ihre Aufgaben und Notizen zum Gemälde. Ein Mädchen stellt sich allein vorne vor das Gemälde, was zu einem Vergleich mit der Infantin Margarita Teresa und ihren Hofdämchen im Bild einlädt. Links ist zahlreiches Publikum aus Frauen und Männern aufgereiht, darunter sind eine Frau mit Photoapparat, ein Kunstgelehrter und eine Galerieführerin zu erkennen. Weiter hinten hebt ein Mann einen Apparat in die Höhe. Ein Paar studiert die Erläuterung des Museums zum Gemälde. Die Aufmerksamkeit des Publikums gehört ganz den Meninas, und auf das Gemälde der Infantin links daneben fällt kein Blick. Wie in vielen Museumsphotographien Struths handelt es sich um interessierte Museumsbesucher, nicht um Touristen, die einem Werk nur zwanzig Sekunden widmen bevor sie weiter schlendern.

Manchmal nimmt Struth eine einzelne Person auf: eine Photographie von 1989 z. B. zeigt einen weißhaarigen Mann als Betrachter im Kunsthistorischen Museum in Wien vor zwei Gemälden von Rembrandt.4 Der Mann ist bekleidet mit einem dunkelblauen Regenmantel, hält die Hände hinter den Rücken und umfasst mit der Rechten drei Finger seiner linken Hand. Es ist unvermeidlich, bei diesem konzentrierten Betrachter an das alter ego des anderen Thomas zu denken, den keifenden Reger, dem sich im Kunsthistorischen Museum vor Tintorettos Gemälde Weißbärtiger Mann all der Ekel über Österreich und die Welt hochwürgt.5 In der Alten Pinakothek in München stellt sich ein einzelner Mann vor Albrecht Dürers Selbstbildnis von 1500, das frontal an der Wand gezeigt ist, während vom Betrachter in der blauen Jacke nur der linke Arm, etwas von der Hose und vom Kinn zu sehen ist.6 Die Betrachter der Porträts von Rembrandt und Dürer bleiben anonym wie die von hinten aufgenommenen Gruppen. Dagegen wendet sich der Photograph für die Aufnahmen in der Galleria dell’ Accademia in Florenz von 2004 dem Publikum zu, das sich staunend vor Michelangelos kolossalem David gruppiert.7 Die Kleidung verrät die Touristen: die Männer in Shorts, die Frauen in Jeans und Shirts.

Zuweilen platziert Struth für seine Aufnahmen auch Statisten, wie etwa im Berliner Pergamonmuseum, wo sie in kleinen Gruppen sitzen, stehen oder eine Gesprächssituation vorspielen. In einer Aufnahme vom Art Institute in Chicago stehen sieben Personen vor der Absperrung der Grande Jatte von George Seurat und wiederholen die Beziehungslosigkeit der Figuren im Gemälde. Die Aufnahmen zeigen den gleichartigen Gebrauch der Gemälde und Skulpturen durch das Publikum, das sich ordnungsgemäß verhält. Alle Museen und Ausstellungshallen versuchen das Verhalten der Besucherinnen und Besucher durch Gebote, Verbote und Erlaubnisse zu steuern. In Italien verlangen die Reglemente der Museen noch immer angemessene Bekleidung und schickliches Verhalten.8 Diese Wünsche sind Relikte aus der Vergangenheit, als die Damen und Herren im Deux-Pièces, Hut und Handschuhen oder mit Anzug und Krawatte in die Museen gingen. Das Règlement de visite für den Louvre, erlassen vom Président-Directeur, umfasst 36 Artikel, wovon Nr. 3 detailliert die Verbote aufzählt, wie z. B. Essen und Trinken, Rauchen, Schreien, Rennen, Berühren. In Italien und im Louvre ist das Mitbringen von Waffen untersagt; in großen Häusern wird ein »security check« vorgeschrieben; erlaubt ist das Photographieren ohne Blitz, Stativ oder Stick; auf den Diebstahlalarm und die Videoüberwachung wird aufmerksam gemacht, die Benützung der Garderobe ist vorgeschrieben usw. Überall werden dem Publikum Vorschriften gemacht und Sanktionen angedroht.

Struth deckt weder ein Fehlverhalten auf, noch karikiert er die Besucher. An seinen sachlichen Photographien von Einzelnen und Gruppen können wir zur Frage überleiten, ob wir das Kunstpublikum für eine Vervielfältigung der Betrachterin oder des Betrachters halten: kann der »Anteil des Betrachters« addiert werden zu einem »Anteil des Publikums«, oder müssen wir diesen etwa nach Geschlechtern, Ethnien und Dynamik neu und anders bestimmen? Die Rezeptionsästhetik erkennt den Anteil des Betrachters am Kunstwerk in Wahrnehmung und Empfindung. Sie begreift das Kunstwerk »als Ergebnis einer Interaktion von Werk und Betrachter« und analysiert die Mittel, »die dieses dialogische Verhältnis auslösen«.9 Ließe sich analog ein Anteil des Publikums annehmen? Könnte man sich ein »dialogisches Verhältnis« einer Menge vorstellen, die sich vor einem Gemälde versammelt, und wie wäre das Ergebnis zu fassen? Wenn man von einer Betrachterin oder einem Betrachter spricht, meint man eine einzelne Person oder ein Kollektivsingular und ist ein kollektiver oder ein privater Gebrauch eines Werkes impliziert? Ein Privatgebrauch kann von einem Auftraggeber intendiert oder vom Besitzer gewollt sein, wie etwa bei erotischen Darstellungen. Bekanntlich erwarb der osmanische Diplomat Khalil Bey in Paris erotische Gemälde und ließ das schamloseste, das Gustave Courbet für ihn malte, mit einer abnehmbaren harmlosen Landschaft verdecken.10 Im Gegensatz zu diesen privaten Lustobjekten sind die Ausstellungsbilder Courbets für das Publikum bestimmt, für »le public« oder »le grand public« – die breite Öffentlichkeit.11

Martin Disler, der als Maler, Plastiker, Schriftsteller und Dichter rastlos tätig war und 1996 im Alter von 47 Jahren an einem Hirnschlag starb, malte 1981 in einer wilden Aktion über Tage und Nächte das Kolossal-Panorama Die Umgebung der Liebe im Format von 4,4 ˣ 140 Metern für den Württembergischen Kunstverein in Stuttgart.12 1983 schrieb er für sein Buch Bilder vom Maler zwei Parabeln über die Beziehung von Publikum und Künstler sowie ein Märchen über das Volk als Künstler. In den Parabeln verhält sich das Kunstpublikum genau wie das Massenpublikum der Sportanlässe.13 Das Märchen erzählt von einem Maler, der unter dem Druck der Öffentlichkeit und dem Zwang der Farbe steht. Diese hat Gewalt über ihn, der nicht mit dem Malen aufhören darf, weil sonst die Farbe für immer versiegt. Von den Milliarden Bildern, die bald das Land überschwemmen, ist das Volk begeistert, doch König und Minister fühlen sich bedroht und lassen die Bilder von fünftausend Reitern zertrampeln. Die Attacke lenkt den Maler ab, die Farbe versiegt und die Kunst ist am Ende. Der Maler flieht, der König triumphiert, doch das Volk trauert und verwandelt sich selbst in den Maler. Die Verwandlung des Kollektivs Volk in den Maler folgt der Vorstellung vom Staat als Kompositkörper, wie ihn das Frontispiz von Thomas Hobbes’ Leviathan von 1651 zeigt: ein Riese der kirchlichen und staatlichen Gewalt, gebildet aus unzähligen gleich ausgerichteten Menschenkörpern.14

Die Parabeln handeln vom Künstlerstar: in der einen zieht der Künstler eine Supershow in einem Sportstadion vor fünfzigtausend Zuschauern ab, in der anderen hetzt das blutgierige Publikum den Künstler-Gladiator zu Tode. Der Maler rennt mit fünf riesigen Pinseln im Stadion umher und erfüllt in weltrekordlerischer Geschwindigkeit die Wünsche, Sehnsüchte und Ängste der Zuschauer. Die Menge gerät außer sich, und über achtzig Fernsehstationen ermöglichen es der halben Menschheit, ihre millionenfachen Wünsche und Ängste live zu übermitteln:

Der Maler verarbeitete Millionen und Abermillionen Wünsche der halben Menschheit. Er lief mit dem roten Pinsel, er lief mit dem schwarzen Pinsel, er lief mit dem gelben, dem blauen, dem weißen. Das Publikum johlte. Die Spannung stieg ins Unerträgliche. Die Wünsche vergifteten die Luft. Die Sehnsucht umnebelte den Maler. Die Angst der Millionen erhellte das Stadion.

Auf den Maler als ein vom johlenden Publikum umtosten Star folgt die Parabel vom Künstler, den das Publikum zum Tod verurteilt und hinrichtet. Der Maler wird an einen Computer angeschlossen, die Augen werden ihm, der wie ein Opfer Kafkas nicht ahnt, dass er getötet wird, mit einer schwarzen Binde verbunden. Dann zappelt er an den Elektroden und stolpert über die Farbfässer, während das Publikum sich in einen Blutrausch steigert und den Maler in der Arena zu Tode hetzt:

Das Publikum wollte mehr. Das Stadion war ausgefüllt von einem Bild, aber sie wollten noch mehr. Sie wünschten neue Wünsche. Sie hatten eine neue Angst. Eine neue Sehnsucht. Der Maler musste von vorn beginnen. Neue Farbfässer wurden herbeigerollt. Die Farbe spritzte in den Himmel hinauf, die Leute jubelten. Der Maler konnte nicht aufatmen. Die Farbe floss ihm über den ganzen Körper. Die Reporter gestikulierten wild. Ihre Stimmen überschlugen sich. Im Stadion liefen die Farben ineinander. Eine graue Soße machte sich breit. Die Bewegungen des Malers wurden matter. Er blieb an den Farben kleben, er rutschte auf den Pfützen aus. Er sah aus wie ein übergossener Pudel. Ein Buntscheck. Das Publikum schnappte nach Luft, der Maler konnte sich aus der Farbe nicht mehr erheben.

Der Maler im Stadion ist ein Sklave der Masse, die den Künstler-Sportler zu Erhöhung oder Vernichtung treibt. Disler adaptiert aus dem Sport die Masse, die sich bei Boxkämpfen, Football- und Fußballspielen fanatisch zur Gewalttätigkeit aufputscht. Lässt sich das Verhalten des Publikums in Stadien, Musikhallen oder Theatern tatsächlich auf das Kunstpublikum übertragen? Steigert sich das Publikum einer Ausstellung in einen Zustand der Wut, der Raserei und des Jubel ähnlich wie in den Sportstadien, wird es von den Sitzen gerissen, reißt es die Arme in die Höhe, tanzt es wie das Publikum der Pop-Konzerte oder klatscht es Beifall?15 Niemals wird ein Kunstereignis eine derartige Menge von Fans schaffen wie etwa das Endspiel der Fußball-WM 1998, das 1,7 Milliarden Zuschauer am Fernsehen verfolgt haben sollen, wovon eine Million sich in der Nacht zur frenetischen Titelfeier auf die Champs-Elysées begab.

Dionysische Wirkungen sind von der Musik, aber kaum von Gemälden oder Plastiken bekannt. Natalie Bauer-Lechner überliefert eine Beobachtung:

[Gustav] Mahler erzählte mir von seiner Aufführung der Siebenten Beethovenschen Symphonie, daß der letzte Satz eine dionysische Wirkung auf alle Hörenden ausgeübt habe; die Leute seien wie betrunken hinausgegangen.16

1913 erfuhr das Publikum in Paris eine betäubende und aufrührerische Wirkung von den heidnischen Tänzen, mitreißenden Rhythmen und frechen Dissonanzen des Sacre du Printemps von Igor Strawinsky. In Le coq et l’arlequin von 1918 schildert Jean Cocteau aus der Erinnerung die zwanghafte Reaktion des Publikums während der Uraufführung am 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Elysées:

Der Saal spielte die Rolle, die er spielen musste: er revoltierte von Anfang an. Man lachte, höhnte, pfiff, ahmte die Schreie von Tieren nach, und vielleicht wäre man auf die Dauer ermüdet, wenn die Menge der Ästheten und einige Musiker, mitgerissen von ihrem maßlosen Eifer, nicht das Publikum in den Logen beleidigt, ja bedrängt hätten. Der Tumult artete in eine Schlägerei aus.17

Das Publikum reagierte auf die Provokation nach Plan. Cocteau gibt eine Beobachtung über die alte Gräfin de Pourtalès wieder, die in ihrer Loge entrüstet aufsteht, empört ihren Fächer schwingt und mit rotem Gesicht schreit, zum ersten Mal seit sechzig Jahren mache man sich über sie lustig. Dass die Gräfin im Alter von 77 Jahren zur Aufführung von Strawinskys Sacre du Printemps kam, nötigt größten Respekt ab.18

Es ist kaum möglich, ähnlich tumultuöse Reaktionen des Publikums von Ausstellungen und Museen aufzuspüren wie sie vom Théâtre des Champs-Elysées von 1913 erzählt werden. Es fehlt zwar nicht an Provokationen des Kunstpublikums etwa durch die Grande Serate der Futuristen, die in Theatern aufgeführt wurden, oder durch die vielfachen Actions und Performances seit den 1950er Jahren. Nach Meinung der Veranstalter erzielten die Futuristen im Teatro Verdi in Florenz vom 12. Dezember 1913 triumphale Resultate: Irritation des Publikums, Gewinn an Sympathien und Abneigungen, augenblickliche Bekehrungen und nachträglichen Spott über die dumme Feigheit der Zuschauer.19 Mit den Aktionen und Performances suchten Künstlerinnen und Künstler, aus den Passanten ein interessiertes Publikum für eine zeitlich begrenzte Vorstellung zu gewinnen.

Was ereignet sich in einer Gruppe von Ausstellungs- oder Museumsbesuchern, die sich in ein Gebäude begeben und sich vor Kunstwerken einfinden? Entsteht eine Neugierde, die sich von einer Teilnehmerin oder einem Teilnehmer auf die anderen verbreitet? Will man sich einen Anteil an dem sichern, was die anderen sehen, oder entwickelt sich ein »Gefühl der Teilhabe« an außergewöhnlichen Ereignissen und Dingen?20 Kann eine ähnliche Begeisterung entstehen wie im Theater- und Konzertsaal, die auf Schauspielerinnen und Schauspieler, auf Musikerinnen und Musiker wie auf das Publikum stimulierend wirkt, oder sind solche Reaktionen auf Performances begrenzt? Reagieren im Kunstpublikum die einzelnen unabhängig oder erfolgt eine Übertragung von einer und einem Beteiligten zu den anderen? Versuche von Antworten gibt es seit mehr als zweitausend Jahren. Der römische Dichter Horaz verlangt von der Dichtung mehr als Formschönheit, nämlich »Mitreißen«, und fügt zur Begründung an, das Menschenantlitz lache mit den Lachenden und weine mit den Weinenden.21 1435/36 schreibt Leon Battista Alberti im Traktat De Pictura – Della Pittura, die Natur bewirke, »dass wir mit den Trauernden trauern, dass wir die Lächelnden anlächeln, dass wir mit den Leidenden mitleiden.«22 Weder bei Horaz noch bei Alberti wird die Übertragung der Empfindungen eingeschränkt auf die Wirkung eines Gemäldes, eines Schauspiels oder einer Lesung auf das Publikum. Vielmehr wird eine Übertragung von psychischen Reaktionen sowohl unter Zuhörerinnen und Zuhörern wie unter Betrachterinnen und Betrachtern angenommen, doch wie könnten solche Phänomene erklärt werden? Wollen wir einen unsichtbar sich ausbreitenden Stoff annehmen und ihn metaphorisch »Fluidum« nennen?23 Oder wollen wir versuchen, mit »Ansteckung« wie Gustave Le Bon einem Phänomen der Übertragung der Reaktionen auf die Spur zu kommen? Diese Metaphern sind um einiges älter als die »Spiegelneuronen«, mit denen heute eine Erklärung der psychischen Übertragung angestellt wird.24 Gegenüber den früheren Metaphern hat die neueste den Vorteil, dass die Übertragung von körperlichen und seelischen Bewegungen, Stimmen oder Geruchsempfindungen an Aktivierungen von ähnlichen Regionen des Gehirns gemessen werden können.25

Die seit den 1960er Jahren zahlreich entwickelten Formen der »performance art« nutzen die Anwesenheit von Künstlerinnen, Künstlern und Publikum für die Gleichzeitigkeit von Schaffen und Rezipieren.26 Wie beim Schauspiel kann man bei den Performances annehmen, dass die Reaktionen der Zuschauer durch Stimulation, Empathie, Ergriffenheit, Geräusche oder Langeweile und Unruhe auf die Agierenden zurückwirken. Weltbekannt wurde Marina Abramović, die 1969 dem Kulturzentrum in Belgrad ihre erste Idee zu einer Performance vorschlug, dann in den 1970er Jahren einen Einfall und den Mut zur öffentlichen Selbstverstümmelung hatte, den sie selbst als »vollkommen verrückt« bezeichnete.27 Am 14. März 2010 begann sie die Performance »The Artist is present« im Museum of Modern Art in New York, für die sie drei lange wollene Röcke in Blau, Rot und Weiß anfertigen ließ, die sie als Hohepriesterin erscheinen ließen und sie warmhielten.28 Wie immer stellte sie Regeln für das Publikum auf: jede und jeder konnte sich ihr gegenüber setzen, die ganze Zeit wurde Blickkontakt gehalten, und niemand durfte sie ansprechen oder anfassen. Die Künstlerin wurde, wie sie schreibt, in der Ausgesetztheit »extrem empfänglich«, verstand plötzlich den Geisteszustand von van Gogh und spürte, dass von jeder Person, die sich ihr gegenübersetzte und wieder fortging, »eine ganz spezielle Energie« zurückblieb. Sie empfand die unglaubliche seelische Bewegung der Personen, die vor allem Publikum, das sich an den Wänden aufstellte, sich ihr allein aussetzten. Viele waren überrascht von starken Emotionen und begannen zu weinen, was auch die Künstlerin zu Tränen trieb, was wir ähnlich von Alberti kennen. Wissenschaftler wollten an den Gehirnströmen die Wirkung des Blickkontakts messen. Ein einfaches Experiment fand bereits 2011 statt, eine umfangreichere Messung der nonverbalen Kommunikation während des Blickkontakts wurde im November 2018 in Moskau im Laboratory for Neurophysiology and Neuro-Computer Interface mit Abramović und Daria Parkhomeno durchgeführt.29 In »The Artist is present« isolieren sich Einzelne aus dem Publikum für die unmittelbare Konfrontation mit der Künstlerin und erhalten gegenüber eine unvergleichlich größere Aufwertung als in anderen Performances.

Hierarchische Kategorien

Das »Kunstpublikum« lässt sich umschreiben als jener Teil der Bevölkerung, der während einer begrenzten Zeit sich bei Kunstwerken aufhält oder auf Kunst gerichtete Interessen (z. B. Lektüre, Studium, Autorschaft, Zuhören, Handel usw.) pflegt. Das Lexikon zur Soziologie liefert für »Publikum« die folgende Umschreibung:

Bezeichnung für eine formal nicht organisierte Gruppierung, deren Mitglieder die gleichen Interessen haben, dessen sie sich durch unpersönlichen Verkehr und Kontakt bewusst sind und die aus dieser Interessenlage heraus Informationen auswählen und rezipieren.1

Der lange Artikel »publicus« in Georges’ Handwörterbuch belegt die Zusammenhänge mit Öffentlichkeit, Volk, Staat, der ganzen Bevölkerung zugehörig, allgemein üblich.2 In der englischen Sprache umfasst »public« mehr als »Publikum« in der deutschen Sprache: »public« heißt sowohl Öffentlichkeit als auch Gegensatz zu »privat«, und so heißt das Kollektiv, das kulturelle, soziale oder politische Interessen teilt. Ein zuhörendes Publikum wird »audience« genannt, was auch gebraucht wird für »the readers of a book«.3 In französischer Sprache heißt »public, publique« soviel wie Öffentlichkeit, öffentlich, oder von allen geteilt wie etwa »bruit public« – das Gerücht in der Öffentlichkeit. Unter »le public« wird die Gesamtheit der Personen verstanden, die ein Buch lesen oder einem Spektakel beiwohnen; und ferner wird unterschieden »le grand public« im Gegensatz zu den weniger zahlreichen Eingeweihten und Kennern.4 Im Italienischen heißt »pubblico« gleicherweise »öffentlich«, es gilt auch für die Gesamtheit der Personen, die aus Interesse einer kulturellen oder politischen Veranstaltung beiwohnen.5

Wie andere Publika ist das Kunstpublikum weder eine homogene noch eine geschlossene Einheit. Jürgen Habermas wies schon 1962 auf die »prinzipielle Unabgeschlossenheit« jedes Publikums hin, das sich »niemals ganz abriegeln und zur Clique verfestigen« konnte und sich stets »inmitten eines größeren Publikums« befand.6 Nahezu alle Museen teilen ihr Publikum in hierarchisch gestaffelte Kategorien ein. Das Museum of Modern Art in New York, das ich hier als erstes Beispiel erwähne, arbeitet mit einer steilen Hierarchie: das allgemeine Publikum, das den Eintritt bezahlt und nur zu ordentlichen Öffnungszeiten Zutritt erhält, macht die Basis aus. Darauf folgt die einfache Mitgliedschaft mit freiem Eintritt und etwas Rabatt im Museum Store bis zum Supporting für einen höheren Betrag, das mit zusätzlichen Vergünstigungen belohnt wird. Darüber angesiedelt ist das Patron Program mit verschiedenen Stufen, deren höchste »Leader« heißt. Für diese Stufe, die 15.000 USD im Jahr kostet, sind Vergünstigungen aller Art bis zu persönlichen Treffen mit dem Direktor vorgesehen. Ein wichtiger Vorteil für die Kategorie »Leader« ist, dass von den 15.000 USD wieder 14.776 von den Steuern abgesetzt werden können, letztlich also die Allgemeinheit die Gönner entschädigt.7 Auf der Website enden die Kategorien bei »Leader«, in Wirklichkeit kommen darüber die großen Mäzeninnen und Mäzene, deren Vergabungen zu einem Trustee-Sitz und zur gegenseitigen Erhebung zum höchsten gesellschaftlichen Ansehen in Abendkleid und Black Tie an den »Receptions« berechtigen. Als größte Kategorie des Publikums kommen Millionen von anonymen »Followers« im Niemandsland des »Instagram«, die lediglich kostenlosen Internet-Zugang haben.8 Wenige Kunstmuseum kennen eine derart hohe und steile Stufenpyramide wie das Museum of Modern Art in New York, aber alle unterscheiden zwischen einem allgemeinen Publikum und Mitgliedern oder einem Verein der engeren Unterstützer, und alle belohnen Sponsoren, Mäzene und Donatoren mit gesteigerter Aufmerksamkeit und exklusiven Anerkennungen.

Die National Gallery London etwa offeriert auf ihrer Website nur die »membership« für einen jährlichen Beitrag von 60 GBP. Als Gegenleistungen gelten der freie Eintritt (ohnehin für alle), Veranstaltungen für Mitglieder und Previews bei Ausstellungen usw. Das wichtigste Argument für die Mitgliedschaft ist die Solidarität, denn der Beitrag ermöglicht es der National Gallery, das Museum weiterhin für alle zugänglich zu halten:

Kunst für alle. Indem Sie uns helfen, unterstützen Sie den freien Zugang für alle zur Kunst. Kunst kann nicht nur Ihrem eigenen Wohlbefinden zugutekommen, Sie helfen auch anderen.9

Das dritte Beispiel ist das Van Gogh-Museum in Amsterdam. Es wirbt auf der Website um Förderung durch das Publikum und bietet für Einzelpersonen drei Kategorien an: die niedrigste Stufe ist »The Sunflower Collective« mit einem jährlichen Mindestbeitrag von 1.000 Euro, wofür es eine Jahreskarte gibt, ein Abendessen, Einladungen zu Vernissagen und 10 % Rabatt im Shop. Die nächste Stufe »Theo-van-Gogh-Kreis« liegt beim Betrag von 5.000 Euro, der bestimmt ist für junge Kuratoren und Restauratoren. Der Eintritt in die höchste Kategorie für Sammler und Kunstliebhaber, genannt »Das Gelbe Haus«, kostet 15.000 Euro und bietet zusätzliche Privilegien wie Previews oder Führungen mit der Museumsleitung. Zudem existiert die Gruppe »Vincent’s Freunde«, die jährlich eine Spende abliefert. Ein wichtiges Argument für alle Kategorien ist die steuerliche Absetzbarkeit der Förderbeiträge in den Niederlanden.10

Museen liefern mit ihren Kategorien des Publikums eine der zahlreichen Hierarchien, die der Kunstbetrieb nach unterschiedlichen Kriterien ausbildet. Die geheime Hierarchie des höflichen Kunsthandels richtet sich nach den letzten Auktionen, nach den künftig zu erwartenden Ergebnissen und nach der Finanzkraft der Kunden, deren Spitze von jenen gebildet wird, die über 100 Millionen USD für ein Werk ausgeben können, während jene, die nur 1 Million jährlich aufzubringen bereit sind, gerade noch ins Fußvolk eingereiht werden.11 Die Verlagshäuser dürften zu ihren großen Zeiten eine Stufung nach Umsatz und Preisen eingehalten haben.

Eine ausformulierte hierarchische Schichtung des Publikums mit zugehörigen Künstlern legte Wassily Kandinsky 1912 in München vor. Kandinsky, der 1893 in Moskau über die Arbeiterlöhne doktorierte, entwarf eine hierarchische Ordnung des geistigen Lebens in einem mystischen Dreieck. Kriterium ist das »geistige« Kapital:

Ein großes spitzes Dreieck in ungleiche Teile geteilt, mit der spitzesten, kleinsten Abteilung nach oben gewendet – ist das geistige Leben schematisch richtig dargestellt. Je mehr nach unten, desto größer, breiter, umfangreicher und höher werden die Abteilungen des Dreiecks.12

Im mystischen Dreieck sah Kandinsky eine Aufstiegsmöglichkeit von einem niedrigen zu einem höheren Verständnis vor. Mit großem Pathos beschreibt er den einsamen und unverstandenen Seher an der Spitze, von Feinden »Schwindler oder Irrenhauskandidat« genannt. In den vielen Schichten sieht Kandinsky unterschiedliche Künstler mit eigenem Publikum vor: die einen blicken als Propheten in die nächsthöhere Abteilung hinauf und reichen ihren Zeitgenossen das »geistige Brot«; andere schmeicheln den niedrigen Bedürfnissen, betrügen das Publikum und bringen als Künstler des »großen toten schwarzen Flecks« das geistige Dreieck zum Verfall.13

Neben der hierarchischen Kategorisierung des Publikums durch die Institutionen existierten weltweite Rankings der Kunstmuseen und Ausstellungen gemäß den Besucherzahlen. Die Liste der meistbesuchten Kunstmuseen von Wikipedia führt 2017 den Louvre mit 8,1 Millionen Besuchern an der Spitze, gefolgt vom Chinesischen Nationalmuseum in Peking mit 8,06 und vom Metropolitan Museum of Art (MMA) in New York mit 6,7 Millionen Besuchern. Das Ranking von Statista 2020 führt den Louvre an erster Stelle an, gefolgt vom chinesischen Nationalmuseum mit etwa 8 Millionen und den Vatikanischen Museen, die 2019 auf 6,75 Millionen Besucher kommen, an vierter Stelle steht das Metropolitan Museum of Art in New York, an fünfter das British Museum in London mit 5,86 Millionen.14 Für alle der rund 6.800 Museen in Deutschland vermeldeten die Staatlichen Museen zu Berlin für das Jahr 2019 die Besucherzahl von 111,6 Millionen.15 Die Zeitschrift The Art Newspaper veröffentlicht ein Ranking der populärsten Ausstellungen und illustriert es mit Photographien von Warteschlangen. Wie die Daten für diese Rankings erhoben werden, und welche Rolle Annahmen, Hochrechnungen und Schätzungen spielen, ist in keinem Fall offengelegt. Alle diese Rankings werden für politische und finanzielle Zwecke und für oder gegen die Institutionen eingesetzt, unter anderem auch zur Motivation von Sponsoren und Donatoren.