Das Kunstversprechen - Marianne Karabelnik - E-Book

Das Kunstversprechen E-Book

Marianne Karabelnik

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Beschreibung

Zum Hodler-Jahr 2018, das den 100. Todestag des berühmten Schweizer Malers feiert, erzählt die Kunsthistorikerin Marianne Karabelnik das Leben eines einzelnen Bildes. Die Zeitreise der Heiligen Stunde beginnt im aufregenden Kunstmilieu Berlins der 1910er-Jahre bei Hodlers legendärem Kunsthändler Paul Cassirer und verknüpft mit den geographischen Stationen der nachfolgenden Besitzer das Persönliche mit einer facettenreichen Zeitgeschichte und ihrem wechselvollen Umgang mit der Kunst. Elegant im Stil und mit feinem Humor zeichnet Marianne Karabelnik atmosphärisch dichte Momentaufnahmen und verleiht schillernden Persönlichkeiten und Orten einen ganz gegenwärtigen Herzschlag. Mitreißend erzählt, gelingt der Autorin ein raffinierter Essay über die weiterhin relevanten Fragen, was die Kunst verspricht, was sich die Kunstwelt von der Kunst verspricht und ob sie sich dabei manchmal auch versprechen kann.

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»Ist das Werk einmal dem Urteil der Menschen entzogen, geht es unter entsetzlichen Qualen zugrunde.«Samuel Beckett

Marianne Karabelnik

Das Kunstversprechen

Lebensgeschichte eines Bildes

Ferdinand Hodler, Heilige Stunde (Sitzende weibliche Figur), 1910Öl auf Leinwand, 180×90 cmPrivatbesitz (Abbildung siehe auch Seite 135 | I)

Dieses Buchbeschreibt das Leben eines einzelnen Bildes, das in der vorläufigen Gegenwart endet.

Als stummer Zeuge seines Schicksals nimmt es den Leser mit auf eine Reise von hundert Jahren, und auf den Stationen seiner Biografie treten die Geistesepochen und die Akteure auf, die es gemacht, gesehen, beurteilt und bewegt haben. Damit klingt auch schon an, dass dieses Bild nicht vordringlich aus der Perspektive einer kunsthistorischen Einordnung und Deutung gesehen wird, sondern als Wegweiser durch das Kunstmilieu mit seinen Schauplätzen und seinen Beteiligten dient.

Seine Geschichte beginnt im Epizentrum der Moderne, die wir mit den bahnbrechenden Leistungen in den Künsten und im Denken assoziieren und die mit ihrem Wind der Zukunft das ganze 20. Jahrhundert versorgte. Auch der Schweizer Maler Ferdinand Hodler stand mittendrin und bediente mit seinen symbolistischen Spätwerken die Geistesstimmung und die Rhetorik seiner Zeitgenossen. 1910, als die hier zum Gegenstand erhobene Heilige Stunde entstand, war er bereits ein gereifter Künstler. Er war umgeben von einer erregten Gleichzeitigkeit künstlerischer Erneuerungen, und er war einer erschöpften Meinungsvielfalt in gesellschaftlichen und kulturellen Fragen ausgesetzt. Dass er in diese Dekade einer »entzauberten Welt« dennoch eine Ausdrucksform für das »Heilige« einbrachte, kann als Gegenwehr zur rationalen Erkundung dieser Welt und als Suche nach etwas Reinem und Ganzheitlichem verstanden werden.

Die Besonderheit von Hodlers Standpunkt begreift sich auch aus dem Nebeneinander mit der französischen Malerei der Impressionisten und Nachimpressionisten, die damals in die Wahrnehmung der europäischen Kunstlandschaft vorgedrungen waren und für ihren freien Pinsel und den Glanz der Sinneseindrücke gefeiert wurden. Aus einem impressionistischen Verfahrensbericht, wie ihn Claude Monet formuliert hatte, könnte man für Hodler nur die halbe Summe ziehen: »Ich stand am Bett einer Toten, einer Frau, die ich – nun ja, sehr geliebt hatte … und noch sehr liebte. Ich betrachtete ihre Schläfe und folgte dem Tod in den Schattierungen des Kolorits und ich sagte mir: das sind blaue, gelbe, graue Töne, was weiß ich!« Hodlers Kunst sprach über den rein malerischen Prozess hinaus auch die stillschweigende Frage nach dem Menschlichen und dem Empfinden an, oder mit anderen Worten: Schufen die Franzosen mit ihrer absoluten Augenkunst herrliche Bilder, dann gab Hodler Ideen eine Form.

Wie aber gerade Ideen einer Verfallszeit unterliegen, wenn sie veränderten weltanschaulichen Erwartungen nicht mehr genügen, damit ist auch die Heilige Stunde untrennbar verbunden. Ihre Geschichte spiegelt nicht nur ihre Epoche, sondern auch die charakteristischen Wellen, denen Hodlers Wertschätzung als Künstler unterlag, selbst wenn er damals wie heute wieder als einer der bedeutungsvollsten und von der Kunstliteratur entsprechend ausgedeutetsten Schweizer Künstler gilt.

Zum anderen ist der Kunstfreund unserer Gegenwart mit der wechselvollen Wirkung zwischen Kunstwerk und pekuniärem Wert durchaus vertraut. Er weiß nur zu gut, dass das künstlerische Feld ein diffuses Gelände ist, auf dem sich die Wert-Schätzung eines Kunstwerks leicht verirren kann. Hodler war ein arrivierter Künstler, als er 1910 das Gemälde Heilige Stunde schuf, und er produzierte für einen Markt, dessen Hunger nach mehr und nach Neuem den heutigen Verhältnissen in nichts nachstand. In seinen Erfolgsjahren wiederholte er häufig Motive und sorgte mit Neufassungen von gern gesehenen Bildvorwürfen auch für einen geschäftstüchtig betriebenen Absatz. Ein solches Produkt ist auch die hier begleitete Heilige Stunde. Man stelle sie sich als eines von zahlreichen Kindern aus gut bestelltem Hause vor, die am richtigen Ort geboren und doch ganz unterschiedlich geraten sind. Die Biografie verdient dann das bedeutendste unter ihnen.

Deshalb ist die Frage angebracht, ob man sich mit einem weniger spektakulären Werk aufhalten darf, wenn es doch die repräsentativen Werke eines Künstlers sind, die für sein Gesamtbild die entscheidenden Markierungen setzen und damit seinen Ruhm herstellen? Auch auf kleinen Spaziergängen kann sich eine gute Weitsicht eröffnen, und im Sinne der Redensart, dass das Durchschnittliche der Welt ihren Bestand und das Außergewöhnliche ihr ihren Wert gibt, wird sich gerade an der Fallstudie zur Heiligen Stund modellhaft zeigen, wie die Zusammenhänge zwischen Kunstwerk und Zeit wirken und wie sie die Wahrnehmung leiten.

Wenn diese Ausführungen über ein Jahrhundert hinweg zwischen Fakten und Episoden, zwischen führenden Köpfen, Apologeten, Trittbrettfahrern, Vermarktern, Profiteuren, kenntnisreichen und ahnungslosen Kunstliebhabern mäandern, treten die gleichen Gesetzmäßigkeiten der Kunstindustrie immer wieder ins helle Licht; vielleicht mit anderen Gewichtungen und mit anderen Worten formuliert, doch immer angefeuert von den gleichen Impulsen. Wir alle bauen nur an der Bühne, auf der das Kunstwerk seinen Auftritt hat und von dem man sich etwas Außergewöhnliches verspricht.

1.Die Nummer

2.Genf – Kartografie eines Künstlers

3.Berlin – Hauptstadt der Widersprüche

4.Sitzende weibliche Figur

5.Heilige Stunde

6.Hodlers Weib(er)

7.Außenstation Königsberg

8.Was ist Gegenwart?

9.»O Torheit der Zeit«

10.Nächste Station Zürich

11.Verloren

12.Sichtungen

13.Bildleben

14.Die letzte Nummer

15.Die falsche Fälschung?

16.Nachruf

Anmerkungen

Abbildungen

Bildnachweis

Dank

1.

Die Nummer

Das Datum des 15. Januar 1912 ist insofern bedeutungsvoll, als das von Ferdinand Hodler gemalte und mit 1910 datierte Bild Heilige Stunde eine Nummer erhält.1 Einstweilen ist sie die erste von vielen, die noch folgen werden, und jede Zahl wird das Werk an einen anderen Ort verweisen und ein Stück seiner Geschichte erzählen.

Jetzt ist dieses mittelgroße Werk des auch in Deutschland gefeierten Schweizer Künstlers erst einmal in Berlin angekommen und hat einen Eintrag in die wohl signifikantesten Geschäftsbücher des Kunstmarktes gefunden, die es je gegeben hat: in die Ein- und Ausgangsbücher der Kunsthandlung Paul Cassirer. Jener Teil dieser Bücher, der ein Vierteljahrhundert später über die Abgründe des 20. Jahrhunderts hinweggerettet wird, ist zum Vademecum für die Forschung und für den Nachweis vieler der mitunter glanzvollsten Meisterwerke der modernen Kunst geworden, die heute weltweit in Museumssammlungen zu finden sind. Doch über die durchaus sachliche Buchführung hinaus sind die dort verzeichneten Künstlernamen und ihre Werke zur beredten Chronik einer vibrierenden, aufregenden, wenn auch kurzen Epoche geworden, die sich mit dem Begriff der Moderne und auch mit ihrer Verbreitung verknüpft.

Ja, nach Berlin zieht es die Menschen aus der Kunstwelt. Nicht erst in diesem Jahr 1912. Der Boden für den Boom war schon seit der Jahrhundertwende bereitet worden, und inzwischen wurde er auch im Kunstmarkt in einer Weise beackert, dass nach den Speerspitzen und Vorausdenkern – wie sie Paul Cassirer als Typus eines neuen Kunsthändlers und als einer ihrer schillerndsten Figuren vertrat – in gewohnter Weise auch die Lanzenträger auftraten. Auch sie wollten ihr Futter an der Krippe holen, in einer Reihe hinter den Titanen und von der Geschichte oft nur mit einer Fußnote bedacht, aber gemeinsam mit diesen strebten sie nach geschäftlichem Erfolg und arbeiteten sich in die Hände. Und gemeinsam arbeiteten sie auch an den geistigen Fiktionen der Zeit, denen sie sich begeistert, hingebungsvoll und durchaus selbstgewählt unterordneten.

Ein Hauptwort der damaligen Gegenwart war »modern«, gefolgt vom anderen Lieblingswort »neu«. Während der erste Begriff auf die eigene, unmittelbar erlebte Zeit verweist, bezeichnet der zweite die vordringlichste Aufgabe, dass alles neu und anders zu sein und auszusehen hatte: in der Politik, in der Gesellschaft und mit einer besonders augenfälligen Dynamik in der Bildenden Kunst, der Literatur und der Musik. Freilich operiert jede Gegenwart mit der Hoffnung auf Erneuerung, doch im Fokus auf die Kunst herrschte damals eine Goldgräberstimmung, die überzeugende Belege dafür geliefert hat, wie der Umgang mit der Zeitgenossenschaft zu einer Form finden kann.

Ein solches Bild der Erneuerung und entsprechend eingangswürdig für diese erste Kunstadresse in Berlin findet nun zu diesem Jahresbeginn 1912 das Notat »a meta von Schall erworben«. Metageschäfte (a metà, was soviel wie zur Hälfte bedeutet) waren damals, und sind es auch heute noch, eine gängige Praxis im Kunstgeschäft. Sie bezeichnet Kommissionsware, deren Provision man bei einem geglückten Verkauf teilt, oder es wird gemeinsam gekauft und der Erlös geteilt. Solche Vereinbarungen waren an der Tagesordnung und tragen die merkantile Handschrift aller großen Händler der Moderne, von Berlin bis München, von Paris bis Berlin, von Paris bis Düsseldorf und im Falle von Hodler in den 1920er Jahren auch von Genf nach Deutschland. Die Konkurrenz soll das Geschäft beleben, lautet eine Binsenwahrheit, doch hier ging es oft auch um die Absicherung des finanziellen Wagnisses und nicht zuletzt um das Überleben, denn dass die Kämpfe um die Anerkennung der Moderne, vor allem der französischen Kunst – der Impressionisten und der darauffolgenden Generation – in Deutschland nur mit größtem Getöse ablief, wird noch weiter zu erläutern sein.

Herr Schall nun, der zusammen mit der Heiligen Stunde drei weitere Hodler-Werke bei Cassirer deponierte, von denen das eine später als ganz ungeschickte und damit offensichtliche Fälschung erkannt werden sollte, kann mit Josef Theodor Schall (1854–1925) identifiziert werden. Er war einer dieser amateurs-marchands, die an Ort und Stelle auftauchen, wenn das Geschäft mit Geist und Passion auch etwas zum Leben abwerfen soll. Er macht mit Cassirer nachweisbar ab und an Geschäfte, wird 1921 von Max Liebermann gemalt, und das Bild zeigt eine milde, freundliche Natur mit einem sympathischen Charakterkopf. Seine kleine, feine Sammlung, die er sich über die Jahre privat zugelegt hatte, wird nach seinem Tod 1926 denn auch bei Cassirer versteigert werden.2 »Jeder im Berliner Kunstleben kannte ihn, aber keiner wusste viel von ihm«, schrieb Emil Waldmann im Vorwort zu diesem Auktionskatalog. Dass Theodor Schall offene Augen für das Neue hatte, bewies sich vor seiner Umsiedlung nach Berlin in Baden-Baden. Unter seiner Leitung wurden bereits in den 1890er Jahren während der Sommermonate für die Gäste des Kurorts Ausstellungen eingerichtet, die neben den regelmäßigen Jahresausstellungen deutscher Künstler schon früh auch Ausnahmen für die französische Kunst machten. Es sollen Werke von Millet, Rousseau, Corot, Courbet, Manet, Renoir und Cézanne gezeigt worden sein. Der Keim, der dort im Konversations- und späteren Kurhaus von Schall gelegt wurde, nämlich die deutsche Aufmerksamkeit für einen anderen, befreiteren und helleren Stil in der Kunst, setzte sich wie in anderen deutschen Städten auch hier in die Köpfe der Künstlerschaft. Im benachbarten Karlsruhe wie anderswo rief die zeitgenössische Kunst nach Räumen, die ihr ein geeignetes Forum bereitstellen sollten, und Josef Theodor Schall soll hier eine treibende Kraft für ein Unternehmen gewesen sein, das 1909 zur Errichtung der Kunsthalle Baden-Baden führte.3 Vielleicht ist es seinem Unmut zuzuschreiben, wenn solche Forderungen noch lange am zeitbedingten Widerstand der behördlichen Einsicht scheiterten, dass er in der Folge nach Berlin gezogen war.

Nun also wartet unsere Heilige Stunde auf einen Käufer in Berlin. Oder hat Cassirer, dieser »Napoleon der Kunstwelt«, wie ihn der Maler Max Liebermann in einer Mischung aus Scharfsinn und Bewunderung nannte,4 schon einen potentiellen Käufer in Aussicht? Dabei ist sie noch gar keine »heilige Stunde«. Vorerst ist sie als Sitzende weibliche Figur gelistet und wird es auch bei weiteren Handwechseln noch bleiben, bis die ordentliche Kunstwissenschaft ihr die endgültige Identität zugewiesen hat. Für die Wahrnehmung hingegen ist es nicht ganz unerheblich, ob diese hier dargestellte weibliche Figur ihren Betrachter nur als weibliche Figur, zumal sitzend, anspricht, oder ob das spätere Beiwort »heilig« für einen fernen Ort spricht, der mit einem irdischen Kanon wenig zu tun hat.

Ungewissheiten lösen sich oft ganz pragmatisch auf, selbst in der Kunst. Und wieder können Cassirers Geschäftsbücher dazu eine vorerst praktische Erklärung liefern, denn sie verweisen darauf, dass schon im März des vorhergehenden Jahres eine andere und ebenfalls mit 1910 datierte Sitzende weibliche Figur Ferdinand Hodlers erworben wurde, in diesem Fall von dem Luzerner Kunsthändler Theodor Fischer,5 und auch sie ist heute unter dem Bildtitel Heilige Stunde gelistet.6 Diese Version wurde 1912 in der Großen Kunstausstellung Dresden gezeigt und aus dieser Ausstellung für die Königliche Gemäldegalerie Dresden erworben, fiel jedoch im Zweiten Weltkrieg der Bombardierung Dresdens zum Opfer und wurde zerstört. Zwei vorerst irritierende Forschungsdetails sind hier anzumerken: Der Katalog dieser Großen Kunstausstellung wies das Gemälde noch als »Privatbesitz«7 aus, gekauft wurde es danach allerdings »aus dem Berliner Kunsthandel«8. Auch dafür findet sich im Eingangsbuch der Kunsthandlung Cassirer eine Erklärung. Es hält fest, dass während der Dauer der Ausstellung das Werk von Hugo Cassirer, dem Cousin von Paul Cassirer, zurückgekauft wurde.9 Von Fischer also zu Cassirer, von Cassirer in Cassirer’sche Familienhände und von da zurück zum Händler und weiter in öffentlichen Museumsbesitz. Und das alles in wenigen Monaten. Von außen mag es als komplexes Traden erscheinen oder die jetzige Terminologie würde es als opportunes Insider-Geschäft bewerten; man kann aber auch von einer glücklichen Hand sprechen. Für die Kunsthandlung Paul Cassirer darf dies als vernachlässigbare Routine gewertet werden, denn bedeutenderes Geschehen und markantere Zwischenspiele der Kunstwelt standen in dieser Zeit an.

Zwei Aspekte fallen bei diesen Marginalien dennoch ins Gewicht. Sie stehen für die Möglichkeiten und Grenzen der kunstwissenschaftlichen Forschung, die ihre Ergebnisse und Einsichten aus der Summe kleinster Fakten gewinnt. Manchmal aber fehlen die Brücken zwischen den einzelnen Fakten, die im besten Fall zu logischen und im schlechteren zu spekulativen Rückschlüssen zwingen. Dann kann der Disziplin Kunstwissenschaft schon mal das »Wissen« aus der Wortverbindung fallen. Die ordentlich geführten Cassirer’schen Geschäftsbücher überlebten weniger ordentlich Vertreibung und Flucht in der Zeit des Nationalsozialismus. So kommt es, dass die vorhandenen Restbestände nur mit Brücken zu interpretieren sind.

Mit den Fakten dieser Inventur lässt sich jedoch eine Lücke schließen: dass unsere Heilige Stunde, alias Sitzende weibliche Figur, zu einem Zeitpunkt zum Kunstsalon Paul Cassirer fand, als die andere Heilige Stunde schon bei seinem Vetter Hugo Cassirer hing und in Kürze für den Transport nach Dresden an die Große Kunstausstellung verpackt werden musste.

Die zwei Schwesternbilder mit demselben Motiv, derselben Größe und der identischen Bildanlage werden sich in Berlin also kaum physisch begegnet sein. Und also müssen sie dort zusammen gesehen werden können, wo die Wahrscheinlichkeit sie zusammen sehen kann: am Ort ihres Entstehens, im Atelier des Künstlers, bei Ferdinand Hodler im Jahr 1910. Die Spur führt zurück nach Genf.

2.

Genf – Kartografie eines Künstlers

1910 ist Ferdinand Hodler 57 Jahre alt und dort »angekommen«, wo man einen Künstler an seinem Ruf in der Kunstwelt und am materiellen Erfolg misst. Sein Hauptatelier an der Rue du Rhône 29 in Genf, in der bescheidenen Dachetage eines vornehmen Häuserblocks mit Aussicht über den See und die dahinterliegende Jurakette, kann kaum soviel produzieren wie gewünscht, gefordert und ersehnt wird. Die angestammten Schweizer Freunde und Sammler, die Hodlers ruhmlose Elendsjahre treu und unbeirrt begleitet haben, dürfen sich jetzt über die Bestätigung ihres frühzeitigen Urteils freuen, und die später hinzu Gekommenen freuen sich, wenn Hodler-Bilder in ihrem Wertmesser aufgenommen sind. Dieser Glanz der Äußerlichkeiten mag vorerst erklären, weshalb die beiden Schwesternbilder der Heiligen Stunde in Berlin angekommen sind, wo viele Sammler auf Nachschub warten, die der Händler befriedigen will.

Ferdinand Hodler war durchaus ein Schwerarbeiter. Aber das lag in seiner Natur und nicht am Ruhm. Er hätte, so berichtet sein erster Biograf Carl Albert Loosli, Tag für Tag ununterbrochen gemalt. »Er malte, wie wir anderen atmen.«1 Ein halbes Jahrhundert lang. Der neueste Stand der Forschung weist 1695 Nummern an »eigenhändig eingestuften« Gemälden auf.2 Dazu kommen Tausende von vorbereitenden Zeichnungen und Skizzenbüchern. Selbst die stattliche Anzahl von Varianten, Repliken und Kopien, die Hodler in seinen Triumphjahren bewusst auch für den Markt herstellte, kann diese physische Leistung nicht klein machen. Sie entsprang einer besonders ausgeprägten Willenskraft, und es war gerade diese charakterliche Disposition, die ihm wiederholt als herausragendes Merkmal bescheinigt und für die er offen bewundert wurde.

Hodler brauchte viel Kraft und Willen, um das ihm zugewiesene Schicksal abzuweisen. Die Welt, in die er 1853 hinein geboren wurde, war arm und trostlos, unerbittlich und aussichtslos. Von hier aus loszuziehen und sich von der »Mission des Künstlers«3 leiten zu lassen, war ein ganz außergewöhnlicher Weg für einen unbemittelten jungen Mann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie in anderen Ländern befand sich auch die Schweiz im Wandel vom Bauern- zum Industriestaat, und bis die Gesellschaft demokratischer wurde, erwies sie sich für die meisten Menschen noch als enttäuschend und ernüchternd.

Nun aber, in den Jahren 1910 bis 1912, hatte sich eine solche »Emporkömmlingsunverschämtheit«, wie Robert Walser sein Selbstgefühl zur gleichen Zeit in Berlin notierte,4 für Hodler in einen Erfolgsrausch verwandelt. Für seinen Teil hielt er ihm allerdings seine robuste Disposition und eine gesunde Schweizer Natur entgegen. Sein Aufstieg markierte sich für ihn weniger an der Außenseite der Lebensdinge, auch wenn ihn die ganz gewöhnliche menschliche Sozialnatur mit ihren kleinen Eitelkeiten zwischenzeitlich einholen konnte. In der eleganten Wohnung, die er 1913/14 von Josef Hoffmann im modernen Stil der Wiener Werkstätte in Gehweite seines Ateliers am Quai du Mont-Blanc einrichten ließ, fühlte er sich jedenfalls fremd. Sie war, wie er zu sagen pflegte, die Wohnung von Madame Hodler, seiner Frau. Der Drang zur Selbstinszenierung fiel bei ihm bescheiden aus. Wenn er ihm nachgab und sich ablichten ließ, dann zeigen die erhaltenen Fotografien den Künstler vorwiegend beim Arbeiten im Atelier, vor den Bergen oder beim Ausführen seiner Großprojekte. Und wenn er von seinem entscheidenden und endgültigen Durchbruch in der Wiener Secession 1904, als er in der Mitte einer internationalen Aufmerksamkeit stand und durch die vielen Verkäufe als reicher Mann zurückkehrte, triumphierend an seinen Berner Malerfreund Eduard Boss aus Wien schrieb, »jetzt bin ich materiell unabhängig; jetzt endlich kann ich frei schaffen und die Sachen malen, die ich schon lange gemacht hätte, wenn es mir meine Verhältnisse nur erlaubt hätten. Möglich, dass dann mit der Zeit auch die Schweizer einsehen lernen, dass ich nicht der erste beste Pfuscher bin. Die Wiener haben mir nun aus dem Dreck herausgeholfen«5, dann sieht man ihm diese Gemütsbewegung einer späten Rache für einen langen äußeren und inneren Kampf nach.

Der Zugang zur Welt des Erfolgs entscheidet sich jedoch grundsätzlich im Lebensraum des Ateliers. Das gilt für Hodler wie für jeden Künstler. Die Arbeit im Atelier ist ein einsames Geschäft. Hier geht es nicht um weltliche Dinge, sondern um ein immerwährendes Fortschreiten durch Wahrnehmung und Erkenntnis und um deren Umsetzung in die malerische Form. Hier herrscht Ausstieg aus der Wirklichkeit. Hier gilt es weiterzugehen und zu vervollkommnen, was begonnen wurde, und zu tun, was noch nicht erreicht ist.

Das stand für Hodler über allem. »Vor der Heiligkeit des Werkes« sei für Hodler »alles Persönlichmenschliche bedeutungslos« geworden, kommentierte Maria Waser dieses Künstlerleben.6